BVerfG-Urteile

"Recht auf Gegenschlag" Kachelmann-Beschluss

Beitragvon MARS » Mo 16. Mai 2016, 14:04

Beschluss vom 10. März 2016
- 1 BvR 2844/13 -




IM NAMEN DES VOLKES
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
der Frau D…

- Bevollmächtigter:

Rechtsanwalt Dr. Gerd F. Hegemann
in Sozietät Rechtsanwälte Eckart, Köster & Kollegen,
Widenmayerstraße 48, 80538 München -

gegen


a)


den Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 30. Juli 2013 - VI ZR 518/12 -,


b)


das Urteil des Oberlandesgerichts Köln vom 6. November 2012 - 15 U 97/12 -,


c)


das Urteil des Landgerichts Köln vom 30. Mai 2012 - 28 O 1065/11 -

hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch

den Vizepräsidenten Kirchhof,

den Richter Masing

und die Richterin Baer

am 10. März 2016 einstimmig beschlossen:

Das Urteil des Landgerichts Köln vom 30. Mai 2012 - 28 O 1065/11 -, das Urteil des Oberlandesgerichts Köln vom 6. November 2012 - 15 U 97/12 - und der Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 30. Juli 2013 - VI ZR 518/12 - verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 5 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes.

Die Entscheidung des Oberlandesgerichts vom 6. November 2012 - 15 U 97/12 - wird aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Oberlandesgericht Köln zurückverwiesen. Der Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 30. Juli 2013 - VI ZR 518/12 - wird damit gegenstandslos.

Das Land Nordrhein-Westfalen hat der Beschwerdeführerin die ihr im Verfassungsbeschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu erstatten.

Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit im Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 25.000 € (in Worten: fünfundzwanzigtausend Euro) festgesetzt.

G r ü n d e :
I.

1

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen eine zivilgerichtliche Unterlassungsverurteilung.

2

1. Der Kläger des Ausgangsverfahrens ist Moderator, Journalist und Unternehmer. Er war mit der Beschwerdeführerin liiert, bis sie ihn wegen Vergewaltigung und gefährlicher Körperverletzung Anfang des Jahres 2010 anzeigte. Der Kläger wurde im darauf folgenden Strafprozess vor dem Landgericht freigesprochen, da ihm eine Straftat nicht nachgewiesen werden konnte. Zum Zeitpunkt der streitgegenständlichen Äußerungen war das Strafurteil noch nicht rechtskräftig.

3

Am Tag des Freispruchs sowie am Tag darauf äußerten sich der Strafverteidiger und der für das Zivilverfahren mandatierte Rechtsanwalt des Klägers in Fernsehsendungen über die Beschwerdeführerin. Etwa eine Woche nach der Verkündung des freisprechenden Urteils erschien in einer wöchentlich erscheinenden Zeitschrift ein dreiseitiges Interview mit dem Kläger unter der Überschrift „Mich erpresst niemand mehr“, in dem er sich wie folgt äußerte:

(…) vor Gericht hatte mir mein Verteidiger … geraten zu schweigen. Was sollte ich auch mehr sagen als die kurze Wahrheit: „Ich war es nicht!“ und: „Ich habe keinem Menschen Gewalt angetan!“ (…) Ich hätte an jedem Prozesstag hundertmal aufstehen und sagen müssen: „Das ist gelogen!“ Was soll ich über lügende Zeuginnen sagen, (…)

4

und über die Beschwerdeführerin sagte:

Ich weiß, ich habe mich mies benommen. Ich habe Menschen verarscht. Es gibt keine Entschuldigung dafür. Aber das, was die Nebenklägerin mit mir gemacht hat, als sie sich den Vorwurf der Vergewaltigung ausdachte - das ist keine Verarsche. Das ist kriminell. Dafür gibt es keine Rechtfertigung. (…) Ich habe keinen Sprung in der Schüssel. Viel interessanter wäre doch zu erfahren, was psychologisch in der Frau vorging, die mich einer Tat beschuldigt, die ich nicht begangen habe. Die Nebenklägerin soll ja nach dem Urteil in einem Nebenraum des Gerichts erheblich randaliert haben.

5

Der Kläger und seine Anwälte äußerten sich in der Folge auch bei weiteren Gelegenheiten öffentlich zum Strafverfahren und zur Person der Beschwerdeführerin.

6

Die Beschwerdeführerin gab nach Erscheinen des Interviews mit dem Kläger einer Illustrierten ein Interview, das eine Woche nach der Veröffentlichung des Interviews mit dem Kläger erschien. Zu Beginn des Hefts wird der Artikel mit den Worten angekündigt, dass die Beschwerdeführerin erstmals ihr Schweigen brechen wolle, auch im Hinblick auf das ausführliche Interview des Klägers und das Auftreten seiner Anwälte in zahlreichen Talkshows.

7

Die unter anderem mit mehreren teilweise ganzseitigen Fotografien der Beschwerdeführerin bebilderte Heftstrecke enthält neben dem Interview mit der Beschwerdeführerin auch einen mehrseitigen redaktionellen Beitrag.

8

Die Beschwerdeführerin wird unter anderem wie folgt zitiert:

Das Gericht unterstellt mir mit diesem Freispruch, dass ich so dumm und so niederträchtig sein könne, eine solche Vergewaltigungsgeschichte zu erfinden (…). Wer mich und ihn kennt, zweifelt keine Sekunde daran, dass ich mir diesen Wahnsinn nicht ausgedacht habe. Ich bin keine rachsüchtige Lügnerin.

9

Die Beschwerdeführerin äußert sich im nachfolgenden Interview - textlich nicht zusammenhängend - wie folgt:

(…) Fast unerträglich aber war für mich, die Aussagen der [vom Kläger] bezahlten Gutachter in der Presse lesen zu müssen. Diese Herren erklären vor Gericht, die Tat könne sich nicht so abgespielt haben, wie es die Nebenklägerin, also ich, behauptet - und man selbst sitzt zu Hause, liest das und weiß ganz genau: ES WAR ABER SO! (…)

10

Zu den Aktivitäten des Klägers im Internet:

Ja, das kann er. Andere beschimpfen und bloßstellen (…) In seinen Augen hat er in der besagten Nacht ja nichts falsch gemacht. Er hat nur die Machtverhältnisse wieder so hergestellt, wie sie seiner Meinung nach richtig sind.

11

Weiter erklärte die Beschwerdeführerin, dass sie eigentlich drei Traumata zu verarbeiten habe. Eines davon sei die Tat. Zudem schilderte sie, dass der Kläger sie beim Verlassen ihrer Wohnung in jener Nacht mit dem Tod bedroht habe. Gegen Ende des Interviews äußert die Beschwerdeführerin, dass sie nie vorgehabt habe, in die Öffentlichkeit zu gehen. Vor allem das „heuchlerische Interview“ des Klägers zwinge sie aber dazu.

12

2. Der Kläger begehrte von der Beschwerdeführerin die Unterlassung der Äußerungen „wer mich und ihn kennt, zweifelt keine Sekunde daran, dass ich mir diesen Wahnsinn nicht ausgedacht habe“, „die Tat könne sich nicht so abgespielt haben, wie es die Nebenklägerin, also ich, behauptet - und man selbst sitzt zu Hause, liest das und weiß genau: ES WAR ABER SO!“, „in seinen Augen hat er in der besagten Nacht ja nichts falsch gemacht. Er hat nur die Machtverhältnisse wieder so hergestellt, wie sie seiner Meinung nach richtig sind“, sie habe drei Traumata, „einmal die Tat“ zu verarbeiten sowie der Äußerung, dass er sie mit dem Tod bedroht habe. In einem weiteren Zivilverfahren verklagte er die Illustrierte auf Unterlassung.

13

3. Das Landgericht verurteilte die Beschwerdeführerin antragsgemäß. Der Kläger habe gegen die Beschwerdeführerin einen Anspruch auf Unterlassung der streitgegenständlichen Äußerungen aus §§ 823 Abs. 1 BGB, 1004 Abs. 1 Satz 2 BGB analog, 186 StGB in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 GG. Die Äußerungen „diesen Wahnsinn“ und „Machtverhältnisse wieder hergestellt“ seien als Meinungsäußerungen einzuordnen. Die Äußerungen „ES WAR ABER SO!“, „Traumata: einmal die Tat“ und die geschilderte Drohung des Klägers seien als Tatsachenbehauptungen zu qualifizieren. Alle Äußerungen fielen in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit der Beschwerdeführerin und beträfen das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Klägers. Es liege keine unwahre Tatsachenbehauptung vor. Die Beschwerdeführerin mache zu Recht geltend, dass die äußerungsrelevanten Tatsachen, das heißt die Frage, ob der Kläger eine Vergewaltigung und schwere Körperverletzung zu ihren Lasten begangen habe, jedenfalls nicht erwiesen unwahr seien. Zugunsten der Beschwerdeführerin sei zu berücksichtigen, dass der Kläger sie dem öffentlichen Verdacht der Falschbeschuldigung ausgesetzt habe. Andererseits könne nicht außer Betracht bleiben, dass die Äußerungen der Beschwerdeführerin zugleich einen schwerwiegenden Verbrechensvorwurf gegen den freigesprochenen Kläger in sich bergen würden. Im Ergebnis gingen die Äußerungen der Beschwerdeführerin in ihrer Detailtiefe sowie in der emotionalisierenden Darstellungsweise über das reine - weiterhin in großem Umfang bestehende - Informationsinteresse der Öffentlichkeit hinaus. Eine auf die wesentlichen Fakten beschränkte, sachliche Äußerung wäre ausreichend gewesen. Der Detaillierungsgrad der Äußerungen gehe auch über das für die Rehabilitierung der Beschwerdeführerin Notwendige hinaus. Hinsichtlich der angegriffenen Äußerung, der Kläger habe sie mit dem Tod bedroht, fehle es überhaupt an einer Rechtsverteidigung der Beschwerdeführerin, so dass die Kammer insoweit davon ausgehen müsse, dass es sich um eine unwahre und damit persönlichkeitsrechtsverletzende Tatsachenbehauptung handle.

14

4. Das Oberlandesgericht wies die Berufung hinsichtlich der untersagten Äußerungen im Wesentlichen zurück. Unter Bezugnahme auf die Entscheidung des Landgerichts führte es aus, dass die angegriffenen Meinungsäußerungen der Beschwerdeführerin letztlich eigennützigen Zielen dienten, nämlich klarzustellen, dass sie bei Gericht und Anzeigenerstattung nicht die Unwahrheit gesagt habe. Der Meinungsäußerungsfreiheit sei hier auch nicht unter dem Gesichtspunkt des geistigen Meinungskampfes in öffentlichen Angelegenheiten der Vorzug zu geben. Vielmehr seien die angegriffenen Meinungsäußerungen von besonders gewichtiger Eingriffsintensität, denn durch diese verbreite die Beschwerdeführerin weiterhin einen schwerwiegenden Tatvorwurf, von dem der Kläger nach einem umfangreichen Strafverfahren freigesprochen worden sei.

15

Zudem habe das Landgericht zu Recht darauf verwiesen, dass die angegriffenen Äußerungen in der konkreten Darstellungsweise über das reine Informationsinteresse der Öffentlichkeit hinausgingen und sich eben nicht allein auf die Auskunft beschränkten, dass der Tatbestand der Vergewaltigung aus Sicht der Beschwerdeführerin erfüllt sei. Die Äußerungen enthielten eine nicht erforderliche Detailtiefe und wirkten emotionalisierend. Dies müsse der freigesprochene Kläger letztlich nicht hinnehmen. Dem Grunde nach könne zwar ein Recht auf Gegenschlag der Beschwerdeführerin angenommen werden. Dies vermöge indessen die angegriffenen konkreten Äußerungen der Beschwerdeführerin nicht zu rechtfertigen. Im Hinblick darauf, dass der Tatvorwurf nicht bewiesen worden sei, müsse die Beschwerdeführerin bei der Wahrnehmung eines Gegenschlages Zurückhaltung zeigen. Der ergangene Freispruch könne nicht schlichtweg ignoriert werden.

16

5. Der Bundesgerichtshof wies die Nichtzulassungsbeschwerde zurück.

17

6. Mit der Verfassungsbeschwerde wendet sich die Beschwerdeführerin gegen alle drei Entscheidungen und rügt im Wesentlichen die Verletzung ihrer Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG, sowie ihres allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG, der Garantie des Wesensgehalts von Grundrechten aus Art. 19 Abs. 2 GG, des Rechtsstaatsprinzips aus Art. 20 Abs. 3 GG und ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör, Art. 103 Abs. 1 GG.

18

7. Die Verfassungsbeschwerde wurde dem Bundesjustizministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, dem Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen und dem Kläger des Ausgangsverfahrens zugestellt. Der Kläger des Ausgangsverfahrens hat sich geäußert. Die Akten des Ausgangsverfahrens lagen dem Bundesverfassungsgericht vor.
II.

19

Die Verfassungsbeschwerde wird gemäß § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Entscheidung angenommen, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte der Beschwerdeführerin angezeigt ist. Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Das Bundesverfassungsgericht hat die maßgeblichen Fragen im Bereich des Äußerungsrechts und des allgemeinen Persönlichkeitsrechts bereits entschieden (vgl. BVerfGE 85, 1; 99, 185; 114, 339).

20

1. Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist im Sinne des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG offensichtlich begründet. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen die Beschwerdeführerin in ihrer Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG.

21

2. Die Urteile des Landgerichts und des Oberlandesgerichts berühren den Schutzbereich der Meinungsfreiheit der Beschwerdeführerin. Die Einordnung der Äußerungen als Werturteile und Tatsachenbehauptungen ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Die Gerichte sind zutreffend davon ausgegangen, dass auch die als Tatsachenbehauptungen eingeordneten Äußerungen durch das Grundrecht der Meinungsfreiheit geschützt sind, da sie Voraussetzung für die Bildung von Meinungen sind (vgl. BVerfGE 54, 208 <219>; 61, 1 <8>; 85, 1 <15>). Die Tatsachenbehauptungen sind nicht erwiesen unwahr. Im Strafverfahren konnte nicht geklärt werden, ob die Angaben der Beschwerdeführerin oder die des Klägers der Wahrheit entsprechen. Nach dem Freispruch des Klägers stellen sich deshalb die verschiedenen Wahrnehmungen als subjektive Bewertungen eines nicht aufklärbaren Geschehens dar, die nicht als Tatsachenbehauptungen, sondern als Meinungen zu behandeln sind.

22

3. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen die Meinungsfreiheit der Beschwerdeführerin. Die Untersagung der streitgegenständlichen Äußerungen bewegt sich nicht mehr im fachgerichtlichen Wertungsrahmen.

23

a) Die Meinungsfreiheit ist nicht vorbehaltlos gewährleistet, sondern findet gemäß Art. 5 Abs. 2 GG ihre Schranken in den allgemeinen Gesetzen. Zivilrechtliche Grundlage zur Durchsetzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts im Wege eines Unterlassungsanspruches ist hier § 1004 Abs. 1 Satz 2 BGB analog in Verbindung mit § 823 BGB. Die Anwendung dieser verfassungsrechtlich unbedenklichen Vorschriften ist Sache der hierfür zuständigen Zivilgerichte. Doch müssen diese die betroffenen Grundrechte interpretationsleitend berücksichtigen und ihrer Bedeutung und Tragweite Rechnung tragen, damit der wertsetzende Gehalt der Grundrechte auch auf der Rechtsanwendungsebene gewahrt bleibt (vgl. BVerfGE 114, 339 <348> m.w.N.; stRspr). Die Gerichte haben die betroffenen unterschiedlichen Interessen und das Ausmaß ihrer Beeinträchtigung zu erfassen. Die sich gegenüberstehenden Positionen sind in Ansehung der konkreten Umstände des Einzelfalles in ein Verhältnis zu bringen, das ihnen jeweils angemessen Rechnung trägt.

24

Von Bedeutung ist für die insoweit gebotene Abwägung unter anderem, ob die Äußerung lediglich eine private Auseinandersetzung zur Verfolgung von Eigeninteressen betrifft oder ob von der Meinungsfreiheit im Zusammenhang mit einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage Gebrauch gemacht wird. Handelt es sich bei der umstrittenen Äußerung um einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung, so spricht eine Vermutung zugunsten der Freiheit der Rede (vgl. BVerfGE 7, 198 <212>; 93, 266 <294>). Allerdings beschränkt sich die Meinungsfreiheit nicht allein auf die Gewährleistung eines geistigen Meinungskampfs in öffentlichen Angelegenheiten und kann Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG nicht auf ein rein funktionales Verständnis zur Förderung einer öffentlichen Debatte mit Gemeinbezug reduziert werden. Vielmehr ist das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung als subjektive Freiheit des unmittelbaren Ausdrucks der menschlichen Persönlichkeit ein grundlegendes Menschenrecht (vgl. BVerfGE 7, 198 <208>). Die Meinungsfreiheit ist als individuelles Freiheitsrecht folglich auch um ihrer Privatnützigkeit willen gewährleistet und umfasst nicht zuletzt die Freiheit, die persönliche Wahrnehmung von Ungerechtigkeiten in subjektiver Emotionalität in die Welt zu tragen.

25

Zu berücksichtigen ist weiter, dass grundsätzlich auch die überspitzte Meinungsäußerung der durch Art. 5 Abs. 1 GG geschützten Selbstbestimmung unterliegt (vgl. BVerfGE 54, 129 <138 f.>). Dabei kann insbesondere bei Vorliegen eines unmittelbar vorangegangenen Angriffs auf die Ehre eine diesem Angriff entsprechende, ähnlich wirkende Erwiderung gerechtfertigt sein (vgl. BVerfGE 24, 278 <286>). Wer im öffentlichen Meinungskampf zu einem abwertenden Urteil Anlass gegeben hat, muss eine scharfe Reaktion auch dann hinnehmen, wenn sie das persönliche Ansehen mindert (vgl. BVerfGE 12, 113 <131>; 24, 278 <286>; 54, 129 <138>).

26

b) Die angegriffenen Entscheidungen genügen diesen verfassungsrechtlichen Maßstäben nicht. Die von den Gerichten vorgenommene Abwägung zwischen dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Klägers und der Meinungsfreiheit der Beschwerdeführerin schränkt die Meinungsfreiheit der Beschwerdeführerin in verfassungsrechtlich nicht mehr tragbarer Weise ein.

27

Die Gerichte haben zunächst zutreffend einerseits auf Seiten der Meinungsfreiheit das große Informationsinteresse der Öffentlichkeit und andererseits zu Gunsten des allgemeinen Persönlichkeitsrechts des Klägers den Freispruch berücksichtigt, der dazu führt, dass die schweren Vorwürfe die Gegenstand des Strafverfahrens waren, jedenfalls nicht unbegrenzt wiederholt werden dürfen. Auch haben sie berücksichtigt, wieweit die Äußerungen sich auf öffentliche Angelegenheiten bezogen. Indem die Gerichte aber davon ausgingen, dass sich die Beschwerdeführerin auf die Wiedergabe der wesentlichen Fakten und eine sachliche Darstellung des behaupteten Geschehens zu beschränken habe, verkennen sie die durch das Grundrecht des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG geschützte Freiheit, ein Geschehen subjektiv und sogar emotionalisiert zu bewerten. Diese Auffassung übersieht auch das öffentliche Interesse an einer Diskussion der Konsequenzen und auch Härten, die ein rechtsstaatliches Strafprozessrecht aus Sicht möglicher Opfer haben kann. Zudem haben die Gerichte in die erforderliche Abwägung nicht den Druck eingestellt, der auf der Beschwerdeführerin lastete und sie dazu brachte, das Ergebnis des weithin von der Öffentlichkeit begleiteten Prozesses kommunikativ verarbeiten zu wollen.

28

Zu Gunsten der Beschwerdeführerin war in die Abwägung zudem einzustellen, dass sie sich in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu dem (noch nicht rechtskräftigen) Freispruch äußerte und in Bezug auf die dem Kläger im Strafverfahren vorgeworfene Straftat keine neuen Tatsachen vorbrachte, sondern lediglich wiederholte, was der Öffentlichkeit aufgrund der umfänglichen Berichterstattung zu dem Verfahren bereits bekannt war.

29

Die Gerichte haben überdies das vorangegangene Verhalten des Klägers nicht in der gebotenen Weise berücksichtigt. Der Kläger hatte sich zuvor in einem Interview, dass für die Beschwerdeführerin Anlass war, in die Öffentlichkeit zu treten, diffamierend über die Beschwerdeführerin geäußert. Das Oberlandesgericht geht insoweit zwar zutreffend davon aus, dass der Beschwerdeführerin ein „Recht auf Gegenschlag“ zusteht. Die Gerichte verkennen aber, dass sie dabei nicht auf eine sachliche, am Interview des Klägers orientierte Erwiderung beschränkt ist, weil auch der Kläger und seine Anwälte sich nicht sachlich, sondern gleichfalls in emotionalisierender Weise äußerten. Der Kläger, der auf diese Weise an die Öffentlichkeit trat, muss eine entsprechende Reaktion der Beschwerdeführerin hinnehmen.

30

4. Die Entscheidungen beruhen auf den aufgezeigten verfassungsrechtlichen Fehlern. Es ist nicht auszuschließen, dass das Oberlandesgericht bei erneuter Befassung zu einer anderen Entscheidung in der Sache kommen wird. Wegen der festgestellten Verletzung der Meinungsfreiheit der Beschwerdeführerin kann offenbleiben, ob weitere - von der Beschwerdeführerin gerügte - Grundrechte verletzt worden sind.

31

5. Da weitere Tatsachenfeststellungen nicht erforderlich sind und die Beschwerdeführerin ein berechtigtes Interesse daran hat, möglichst rasch eine das Verfahren abschließende Entscheidung zu erhalten (vgl. BVerfGE 84, 1 <5>; 94, 372 <400>), wird lediglich das Urteil des Oberlandesgerichts aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Oberlandesgericht zurückverwiesen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG). Der Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 30. Juli 2013 über die Nichtzulassungsbeschwerde ist damit gegenstandslos.

32

6. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen der Beschwerdeführerin beruht auf § 34a Abs. 2, 3 BVerfGG.

33

7. Die Festsetzung des Gegenstandswerts der anwaltlichen Tätigkeit für das Verfassungsbeschwerdeverfahren folgt aus § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG.
Kirchhof Masing Baer
MARS
 
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kein Anspruch auf ein Handeln des Gesetzgebers ?

Beitragvon DER SPIEGEL » So 30. Okt 2016, 17:44

Beschluß

des Ersten Senats vom 19. Dezember 1951 gem. § 24 BVerfGG
-- 1 BvR 220/51 --




1. Der einzelne Staatsbürger hat grundsätzlich keinen mit der Verfassungsbeschwerde verfolgbaren Anspruch auf ein Handeln des Gesetzgebers.

2. Voraussetzung für die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde gegen ein erlassenes Gesetz ist, daß der Beschwerdeführer selbst, gegenwärtig und unmittelbar durch das Gesetz, nicht erst mittels eines Vollziehungsaktes, in einem Grundrecht verletzt ist.

3. Der Beschwerdeführer ist jedenfalls dann unmittelbar durch das Gesetz verletzt, wenn sein von dem angegriffenen Gesetz unter Grundrechtsverletzung betroffener Anspruch durch das zuständige Gericht abgewiesen werden müßte, gleichviel, ob das angegriffene Gesetz gültig ist oder nicht, so daß also das zuständige Gericht keine Gelegenheit bitte, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gemäß Art. 100 GG herbeizuführen.

4. Weder Art. 1 Abs. 1 noch Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG begründet ein Grundrecht des Einzelnen auf gesetzliche Regelung von Ansprüchen auf angemessene Versorgung durch den Staat.


Beschluß

des Ersten Senats vom 19. Dezember 1951 gem. § 24 BVerfGG
-- 1 BvR 220/51 --

in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde der Frau M. Sch.

Entscheidungsformel:

Die Verfassungsbeschwerde wird verworfen.

Gründe:

Die Beschwerdeführerin ist die Witwe eines im Krieg gefallenen Rechtsanwaltes aus F. und hat drei Kinder im Alter von 6, und 16 Jahren. Sie erstrebt für sich und ihre Kinder eine bessere Versorgung, als das Bundesversorgungsgesetz (BVersG) sie gewährt.

1

Die Beschwerdeführerin trägt vor:

2

Sie erhalte nach dem BVersG vom 20. Dezember 1950 für sich und ihre Kinder monatlich folgende Beträge:

3


Für sich selbst: Grundrente DM 40

4

Ausgleichsrente DM 50

5

Für die Kinder: je DM 10.- Grundrente = DM 30

6

je DM 21.- Ausgleichsrente = DM 63 zusammen DM 183

7

Bei den für ihre Kinder ausgeworfenen Renten bleibe der Umstand unberücksichtigt, daß sie, die Beschwerdeführerin, erwerbsunfähig sei. Ferner sei es unbillig, daß ihre Kinder mit ihr zusammen nur DM 3.- monatlich mehr erhielten als sie erhalten würden, wären sie Vollwaisen.

8

Außerdem habe sie nach dem Soforthilfegesetz vom 8. August 1949 in der Fassung vom 8. August 1950 (SHG) Anspruch auf eine Monatsrente von DM 130.-; von der Soforthilfe würden jedoch - gemäß § 36 Abs. 4 SHG - die obenerwähnten Ausgleichsrenten, d. h. DM 63.- + DM 50.- = rd. DM 110.- abgezogen, so daß sie neben den DM 183.- Versorgungsrenten tatsächlich nur DM 20.- Soforthilfe bekomme. Wäre sie nicht erwerbsunfähig, so würde die Ausgleichsrente zwar DM 20.- weniger, dafür aber die Soforthilfe DM 20.- mehr ausmachen. Sie gehe also durch die Anrechnung der Ausgleichsrente auf die Soforthilfe des ihr um ihrer Erwerbsunfähigkeit willen zugestandenen Mehrbetrages an Ausgleichsrente verlustig.

9

Die Beschwerdeführerin ist der Ansicht, daß durch diese Regelung das Grundgesetz verletzt sei, und zwar:

10

einmal durch die allgemeine Unzulänglichkeit der Versorgung (Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1; 2 Abs. 2; 6 Abs. 1, 2 und 4 GG); ferner dadurch, daß

11

a) ihre Kinder als Kinder einer erwerbsunfähigen Mutter keine höhere Rente erhalten als die Kinder einer erwerbsfähigen Mutter,

12

b) ihre Kinder als Halbwaisen mit ihr, einer erwerbsunfähigen Mutter, zusammen nur DM 3.- mehr bekommen als drei Vollwaisen,

13

c) sie und ihre Kinder als Hinterbliebene eines Rechtsanwaltes nach dem BVersG ebenso behandelt werden, wie Hinterbliebene eines Mannes mit weit niedrigerem Einkommen, während außerhalb des BVersG, z. B. im Beamtenrecht, die Versorgung der Hinterbliebenen nach dem Einkommen des verstorbenen Ernährers gestaffelt ist,

14

d) sie selbst infolge der Anrechnung der Ausgleichsrente auf die Soforthilfe nicht mehr bekommt als eine erwerbsfähige Mutter (Verstoß gegen den Gleichheitssatz Art. 3 Abs. 1 und 2 GG).

15

Es sei hier teils im wesentlichen Gleiches ungleich, teils im wesentlichen Ungleiches gleich behandelt. Die Beschwerdeführerin begehrt deshalb, wenn man ihre Ausführungen sinngemäß auslegt:

16

I.

1. Die Feststellung, daß durch die Unterlassung einer besseren Versorgung erwerbsunfähiger und erwerbsloser Witwen und unversorgter Kinder im BVersG die Grundrechte der Artikel 1 Abs. 1; 2 Abs. 2; 3 Abs. 1, 2 und 6 Abs. 1, 2, 4 GG verletzt sind.

17

2. Die Feststellung, daß die Bundesregierung zu sofortiger Vorlage eines Ergänzungsgesetzes zum BVersG verpflichtet ist, das die Hinterbliebenenversorgung unter Beseitigung der bezeichneten Mängel angemessen erhöht und neu regelt, und zwar unter Berücksichtigung eines Teuerungsindexes, einer Staffelung nach dem Einkommen des gefallenen Ernährers und Gewährung einer einmaligen größeren Zahlung zur Wiederbeschaffung von Hausrat.

18

II.

Die Feststellung, daß die Anrechnung der Hinterbliebenenrente auf die Soforthilfe das Grundrecht des Art. 3 Abs. I GG verletzt, und infolgedessen die Nichtigerklärung des § 36 Abs. 4 SHG.

19

Die Verfassungsbeschwerde ist zu verwerfen.

20

Sie richtet sich in allen ihren Teilen gegen ein Tun oder Unterlassen des Gesetzgebers.

21

Zu I. des obigen Antrags (BVersG):

22

Es ergibt sich aus §§ 93 Abs. 2 und 95 Abs. 3 BVerfGG, daß die Verfassungsbeschwerde auch gegen ein Gesetz zulässig ist; ferner läßt § 95 keinen Zweifel daran, daß die Verletzung eines Grundrechts im Sinne dieses Gesetzes im allgemeinen auch durch eine Unterlassung erfolgen kann. Aber bei solchen verfassungswidrigen Unterlassungen kann es sich regelmäßig nur um die Unterlassung von Handlungen der verwaltenden oder rechtsprechenden Instanzen handeln, nicht um Unterlassungen des Gesetzgebers. Dafür spricht schon der Wortlaut des § 95 BVerfGG, der sich mit Inhalt und Wirkung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts befaßt; dort ist für den Fall, daß der Verfassungsbeschwerde gegen ein erlassenes Gesetz stattgegeben wird, vorgeschrieben, daß das Gesetz für nichtig zu erklären sei. Die Folgen einer etwa zulässigen Verfassungsbeschwerde aber gegen eine Unterlassung des Gesetzgebers sind nicht besonders geregelt. Vor allem jedoch liegt es in der Natur der Sache, daß der einzelne Staatsbürger grundsätzlich keinen gerichtlich verfolgbaren Anspruch auf ein Handeln des Gesetzgebers haben kann, wenn anders nicht eine vom Grundgesetz schwerlich gewollte Schwächung der gesetzgebenden Gewalt erfolgen soll. Ein Recht zu schaffen, das den Idealen der sozialen Gerechtigkeit, der Freiheit, Gleichheit und Billigkeit entspricht, ist eine ewige Aufgabe des Gesetzgebers, an welcher der einzelne Staatsbürger nur durch die Ausübung des Wahlrechts mittelbar Anteil hat. Das Bundesverfassungsgericht ist keine gesetzgebende Körperschaft, und es ist nicht seine Sache, sich an die Stelle des Gesetzgebers zu setzen. Die gerichtliche Feststellung aber, daß eine Unterlassung des Gesetzgebers verfassungswidrig sei, würde eine solche Verschiebung der staatlichen Zuständigkeiten auslösen. Die Frage, ob ein Gesetz zu erlassen sei, hängt von wirtschaftlichen, politischen und weltanschaulichen Erwägungen ab, die sich richterlicher Nachprüfung im allgemeinen entziehen. Soweit das Bundesverfassungsgericht zur Kontrolle von Gesetzen berufen ist, kann daher grundsätzlich seine Aufgabe nur sein, zu prüfen, ob erlassene Gesetze mit der übergeordneten Norm des Grundgesetzes in Einklang stehen. Auch aus der Rechtsprechung des bayrischen, des schweizerischen und des Verfassungsgerichts der Vereinigten Staaten ist kein Fall bekannt, der eine Unterlassung des Gesetzgebers zum Gegenstand gehabt hätte.

23

Die Besonderheit des Falles liegt darin, daß es nicht um die gesetzliche Regelung einer bisher vom Gesetzgeber überhaupt nicht geregelten Materie geht, sondern darum, daß die bisherige Regelung im Bundesversorgungsgesetz von der Beschwerdeführerin als unzulänglich empfunden wird. Versteht man den zu I wiedergegebenen Antrag dahin, daß die Beschwerdeführerin die Gültigkeit des Bundesversorgungsgesetzes keinesfalls angreifen, sondern daß sie mit der Verfassungsbeschwerde nur ein Ergänzungsgesetz herbeiführen will, so ist die Verfassungsbeschwerde aus den angeführten Gründen unzulässig.

24

Versteht man aber das Begehren der Beschwerdeführerin dahin, daß sie wegen der gerügten Verstöße gegen das Grundgesetz die Nichtigerklärung des erlassenen Bundesversorgungsgesetzes erstrebt, so kommt man zu dem Ergebnis, daß die Verfassungsbeschwerde zwar zulässig, jedoch nicht begründet ist.

25

Voraussetzung für die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde gegen ein erlassenes Gesetz ist die Behauptung, daß der Beschwerdeführer selbst, gegenwärtig und unmittelbar durch das Gesetz nicht erst mit Hilfe eines Vollziehungsaktes, in einem Grundrecht verletzt sei.

26

Daß der Beschwerdeführer selbst in einem seiner Grundrechte oder einem der diesen gleichgestellten Rechte (§ 90 Abs. 1 BVerfGG) verletzt sein muß, unterscheidet die Verfassungsbeschwerde des Grundgesetzes von der "Popularklage", wie sie z. B. das bayerische Verfassungsrecht kennt (Art. 98 Satz 4 der bayer. Verfassung i. V. mit § 54 des bayer. Gesetzes über den VerfGH vom 22. Juli 1947). Zwar rügt die Beschwerdeführerin neben der Verletzung eigener Rechte auch die Verletzung von Rechten ihrer Kinder. Insoweit darf aber unterstellt werden, daß sie als gesetzliche Vertreterin ihrer Kinder handelt.

27

Ob eine gegenwärtige ("aktuelle") Verletzung des Beschwerdeführers vorliegt, kann nur von Fall zu Fall entschieden werden. Jedenfalls aber ist die - in anderer Hinsicht vergleichbare - Praxis des schweizerischen Bundesgerichts zu Art. 113 der Schweizer Bundesverfassung auf die deutsche Verfassungsbeschwerde insoweit nicht übertragbar. Nach dieser schweizerischen Praxis braucht der Beschwerdeführer nur zu behaupten, daß er irgendwann einmal in der Zukunft ("virtuell") von der gerügten Gesetzesbestimmung betroffen werden könnte (vgl. BGE 48 I 265, 594; 65 I 240; 64 I 386 und dazu Giacometti, Verfassungsgerichtsbarkeit des schweizerischen Bundesgerichts, Zürich 1933, S. 166 ff.; ferner Fleiner- Giacometti, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, Zürich 1949, S. 892 ff.).

28

Da ein "virtuelles" Betroffen-werden des Staatsbürgers fast stets zu bejahen wäre, würde die Übernahme dieser Praxis die Verfassungsbeschwerde - entgegen dem Sinn des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht - im Ergebnis doch zu einer Popularklage ausweiten.

29

Mag dies aktuelle Betroffen-werden der Beschwerdeführerin hier selbst zu bejahen sein, so bedarf die Frage, ob die Beschwerdeführerin unmittelbar durch das BVersG betroffen ist, einer näheren Prüfung.

30

Setzt das Gesetz nämlich zu seiner Durchführung rechtsnotwendig oder auch nur nach der tatsächlichen Verwaltungspraxis einen besonderen, vom Willen der vollziehenden Gewalt beeinflußten Vollziehungsakt voraus (z. B. in Gestalt einer Steuerveranlagung oder eines sonstigen Verwaltungsaktes), so kann sich die Verfassungsbeschwerde nur gegen diesen Vollziehungsakt als den unmittelbaren Eingriff in die Rechte des Einzelnen richten, und der Beschwerdeführer hat einen gegen den Vollziehungsakt etwa gegebenen Rechtsweg zu erschöpfen, bevor er die Verfassungsbeschwerde erhebt. Teilt das mit der Sache befaßte Gericht die Bedenken des Betroffenen gegen die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes, so wird es von sich aus die Akten nach Art. 100 GG in Verbindung mit § 80 ff. BVerfGG dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vorlegen. Unterbleibt diese Vorlegung durch das Gericht, so ist dem Beschwerdeführer die Verfassungsbeschwerde nach Erschöpfung des Rechtsweges unbenommen.

31

Nur eine solche einschränkende Auslegung entspricht dem Grundgedanken des § 90 Abs. 2 BVerfGG und dem Zweck der Verfassungsbeschwerde. Denn sie soll im Hinblick auf den umfassenden Rechtsschutz durch die ordentliche und die Verwaltungsgerichtsbarkeit nicht einen wahlweisen Rechtsbehelf neben den sonstigen Rechtswegen gewähren, sondern nur dann zulässig sein, wenn sie trotz Erschöpfung der regelmäßigen verfahrensrechtlichen Möglichkeiten zur Verhinderung einer Grundrechtsverletzung erforderlich wird.

32

Im vorliegenden Fall ist der Beschwerdeführerin zwar wegen ihrer Versorgungsansprüche in § 84 Abs. 3 BVersG ein Verwaltungs- und Spruchverfahren eröffnet, das sie noch nicht erschöpft hat. Dieses Verwaltungs- und Spruchverfahren aber bezieht sich naturgemäß nur auf die im BVersG geregelten Ansprüche: die Beschwerdeführerin müßte also mit ihren darüber hinausgehenden Ansprüchen jedenfalls abgewiesen werden, ohne daß das mit der Sache befaßte Gericht Gelegenheit hätte, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Gültigkeit des Gesetzes anzurufen; denn, ob das Gesetz gültig ist oder nicht, mehr als darin bestimmt ist, kann der Beschwerdeführerin von den zuständigen Stellen keinesfalls zugebilligt werden. Sie ist also trotz des vorgesehenen Verwaltungs- und Spruchverfahrens in den mit der Verfassungsbeschwerde geltend gemachten Rechten unmittelbar durch das Gesetz betroffen. Das bedeutet, daß die Verfassungsbeschwerde insoweit zwar zulässig ist; sie ist jedoch unbegründet, da weder Art. 1 noch Art. 2, 3 oder 6 GG durch das Bundesversorgungsgesetz verletzt sind.

33

Es ist zwar richtig, daß die Hinterbliebenenrenten des Bundesversorgungsgesetzes die allgemeinen Fürsorgesätze nur in bescheidenem Maße übersteigen und das tragische Schicksal der Kriegshinterbliebenen nicht zu wenden vermögen. Dadurch ist aber ein Grundrecht nicht verletzt. Die Grundrechte haben sich aus den im 18. Jahrhundert proklamierten Rechten der Freiheit und Gleichheit entwickelt. Ihr Grundgedanke war der Schutz des Einzelnen gegen den als allmächtig und willkürlich gedachten Staat, nicht aber die Verleihung von Ansprüchen des Einzelnen auf Fürsorge durch den Staat. Im Wandel der Zeiten ist der Gedanke der Fürsorge des im Staat repräsentierten Volkes für den Einzelnen immer stärker und diese Fürsorge vor allem durch die Folgen des zweiten Weltkrieges zu einer elementaren staatlichen Notwendigkeit geworden. Aber dieser - vergleichsweise neue - Gedanke des Anspruchs auf positive Fürsorge durch den Staat hat in die Grundrechte nur in beschränktem Maße Eingang gefunden.

34

Wenn Art. 1 Abs. 1 GG sagt: "Die Würde des Menschen ist unantastbar", so will er sie nur negativ gegen Angriffe abschirmen. Der zweite Satz: "... Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt" verpflichtet den Staat zwar zu dem positiven Tun des "Schützens", doch ist dabei nicht Schutz vor materieller Not, sondern Schutz gegen Angriffe auf die Menschenwürde durch andere, wie Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung, Ächtung usw. gemeint.

35

Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG räumt dem Einzelnen kein Grundrecht auf angemessene Versorgung durch den Staat ein. Die vom Ausschuß für Grundsatzfragen des Parlamentarischen Rates vorgeschlagene Bestimmung über das Recht auf ein Mindestmaß an Nahrung, Kleidung und Wohnung ist später gestrichen und in das Grundgesetz nicht aufgenommen worden. Man hat sich darauf beschränkt, negativ ein Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit zu statuieren, d. h. insbesondere den staatlich organisierten Mord und die zwangsweise durchgeführten Experimente an Menschen auszuschließen. Aus Art. 2 GG kann daher ein Recht auf Zuteilung bestimmter, das allgemeine Maß öffentlicher Fürsorge übersteigender Renten nicht hergeleitet werden.

36

Damit ist zwar nicht gesagt, daß der Einzelne überhaupt kein verfassungsmäßiges Recht auf Fürsorge hat. Wenn auch die Wendung vom "sozialen Bundesstaat" nicht in den Grundrechten sondern in Art. 20 des Grundgesetzes (Bund und Länder) steht, so enthält sie doch ein Bekenntnis zum Sozialstaat, das bei der Auslegung des Grundgesetzes wie bei der Auslegung anderer Gesetze von entscheidender Bedeutung sein kann. Das Wesentliche zur Verwirklichung des Sozialstaates aber kann nur der Gesetzgeber tun; er ist gewiß verfassungsrechtlich zu sozialer Aktivität, insbesondere dazu verpflichtet, sich um einen erträglichen Ausgleich der widerstreitenden Interessen und um die Herstellung erträglicher Lebensbedingungen für alle die zu bemühen, die durch die Folgen des Hitlerregimes in Not geraten sind. Aber nur wenn der Gesetzgeber diese Pflicht willkürlich, d. h. ohne sachlichen Grund versäumte, könnte möglicherweise dem Einzelnen hieraus ein mit der Verfassungsbeschwerde verfolgbarer Anspruch erwachsen.

37

Davon kann hier wegen des Umfanges der allgemeinen Notlage auf der einen Seite und im Hinblick auf die nach sorgfältiger Prüfung gewährten Rentenansprüche auf der anderen Seite offenkundig nicht gesprochen werden.

38

Wenn die Beschwerdeführerin ausführt: "Was man einem anderen genommen hat, das ist man ihm schuldig. Dieser Rechtsgrundsatz ist unumstößlich", so verkennt sie einmal, daß nicht die Bundesrepublik ihr den Ernährer, die Heimat und ihre Habe genommen hat, sondern daß ihre furchtbaren Verluste die Schicksalsfolgen des von einer verantwortungslosen Regierung angefangenen Krieges sind - einer Regierung, die viele Millionen Menschen ins Elend gestürzt hat, und ferner mag die Beschwerdeführerin bedenken, daß zwar in allen Zeiten die Gemeinschaft versucht hat, den Opfern allgemeiner Katastrophen, besonders den Opfern der Kriege, zu helfen. Stets aber hat es sich dabei um Maßnahmen besonderer Art gehandelt, die mit einem zivilrechtlichen Schadensersatz für weggenommenes Gut oder verschuldeten Körperschaden nicht verglichen werden können.

39

Nach einer Aufstellung in den "Finanzpolitischen Mitteilungen" des Bundesministeriums der Finanzen vom 24. November 1951 (Nr. 3 S. 1) betrug die gesamte Sozialbelastung 1913 3% des Brutto- Volkseinkommens, 1951 17% des Brutto-Volkseinkommens. Nicht nur diese Zahlen, sondern auch Vergleiche mit der Kriegsopferversorgung anderer Länder ergeben, daß dem Bundesgesetzgeber willkürliche Vernachlässigung der Kriegsopferversorgung nicht zum Vorwurf gemacht werden kann. Die Bemessung der Renten verstößt also weder gegen das Grundrecht des Art. 1 noch gegen die Grundrechte der Art. 2 und 6 GG. Aber auch der Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 GG ist durch das Bundesversorgungsgesetz nicht verletzt.

40

Dem Unterschied in der Fürsorgebedürftigkeit erwerbsfähiger und nicht erwerbsfähiger Kriegerwitwen ist in den §§ 40 und 41 bei der Bemessung der Witwenrenten Rechnung getragen; es ist also sachgemäß Ungleiches auch ungleich geregelt. Die Frage der Erwerbsfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit der Mutter bei der Waisenrente nochmals zu berücksichtigen, lag kein zwingender Grund vor.

41

Wenn drei minderjährige Vollwaisen nur um DM 3.- weniger bekommen als die drei Kinder der Beschwerdeführerin mit ihr zusammen, so ist auch hierfür ein sachlicher Grund vorhanden; denn drei völlig verwaiste minderjährige Kinder bedürfen der Sorge durch einen fremden Erwachsenen, und diesem muß regelmäßig aus ihrer Rente für seine Arbeit eine Vergütung bezahlt werden. Das fällt fort, wenn die Kinder eine selbst rentenberechtigte Mutter haben.

42

Die bessere Versorgung der Beamtenwitwen endlich beruht nicht auf dem Bundesversorgungsgesetz - dieses behandelt alle Kriegerwitwen gleich -, sondern auf der Lebensstellung des Gefallenen als Beamter. Es wird viele Kriegerwitwen geben, die - ebenso wie die Beamtenwitwen - unabhängig von der Kriegshinterbliebenenversorgung ein Einkommen aus Versicherungen, Privatrenten oder Vermögen haben. Insoweit liegt ein objektiv verschiedener Tatbestand vor, den gleichzumachen der Art. 3 nicht gebietet. Art. 3 fordert nur, daß der Gesetzgeber im wesentlichen gleiche Tatbestände ohne Ansehen der Person gleich regelt. Das ist im Bundesversorgungsgesetz geschehen.

43

Die Anträge zu I sind hiernach offensichtlich unbegründet.

44

Zu II des Antrags (SHG):

45

Ob die Verfassungsbeschwerde, auch soweit sie sich gegen § 36 Abs. 4 SHG (Anrechnung der Ausgleichsrenten auf die Soforthilfe) richtet, zulässig ist, erscheint nicht zweifelsfrei.

46

Zwar wird hier eindeutig nicht ein Unterlassen des Gesetzgebers, sondern eine positive Gesetzesbestimmung als grundgesetzwidrig bezeichnet; auch ist die Beschwerdeführerin selbst und gegenwärtig von dieser Gesetzesbestimmung betroffen. Aber vollzogen wurde die beanstandete Anrechnungsbestimmung des § 36 in einem besonderen Verfahren, dessen Rechtsbehelfe über den Soforthilfeausschuß und Beschwerdeausschuß bis zum Spruchsenat führen konnten (§§ 60, 61, 62, 69 Abs. 2 SHG). Nach den Ausführungen zu I wäre hiernach die Verfassungsbeschwerde nicht unmittelbar gegen das Soforthilfegesetz, sondern nur gegen den Vollziehungsakt zulässig gewesen.

47

Im vorliegenden Fall war jedoch das Vollziehungsverfahren zwangsläufig schon wirksam abgeschlossen, ehe die Verfassungsbeschwerde - am 16. April 1951 - eingeführt wurde, und eine Möglichkeit, das Soforthilfeverfahren unter den hier maßgebenden Gesichtspunkten nochmals in Gang zu bringen, ist im Soforthilfegesetz nicht vorgesehen. Die Beschwerdeführerin auf das Vollziehungsverfahren verweisen, hieße also in diesem besonderen Fall, die Verfassungsbeschwerde unmöglich machen, obwohl die angegriffenen Bestimmungen des Soforthilfegesetzes in den allmonatlichen Zahlungen dauernd fortwirken und § 93 Abs. 3 BVerfGG die Verfassungsbeschwerde bis zum 1. April 1952 auch gegen frühere Gesetze ausdrücklich zuläßt. In einem solchen Falle, d. h. wenn der Vollziehungsakt vor dem 16. April 1951 wirksam geworden ist und die angegriffene Norm außerdem eine Dauerwirkung erzeugt, müßte möglicherweise die Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen das Gesetz zugelassen werden, um dem Sinne des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht gerecht zu werden.

48

Die Frage bedarf aber hier keiner endgültigen Entscheidung; denn selbst wenn man die Zuständigkeit unterstellt, so ist die Verfassungsbeschwerde jedenfalls unbegründet: Wenn das Bundesversorgungsgesetz einer nicht arbeitsfähigen Frau eine höhere Ausgleichsrente gewährt als einer arbeitsfähigen, so geschieht das, um auch der nicht arbeitsfähigen Frau aus Gründen der Fürsorge ein gewisses Mindesteinkommen zu sichern. Steht ihr dieses Mindesteinkommen aus dem Soforthilfegesetz, also auch in Gestalt einer staatlichen Rente, nochmals zu, so ist es durch den gleichartigen Fürsorgecharakter beider Renten in der Sache begründet, daß die Ausgleichsrente auf die Soforthilfe angerechnet wird. Wenn das auch für den Betroffenen schwer ist, so kann es doch nicht als willkürlich bezeichnet werden.

49

Auch der Antrag zu II ist deshalb als offensichtlich unbegründet zu verwerfen.
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Schleyer Entführung : Eilantrag abgelehnt

Beitragvon DER SPIEGEL » So 30. Okt 2016, 18:56

Schleyer - Entführung : Urteil vom 16. Oktober 1977
- 1 BvQ 5/77 -






Urteil

des Ersten Senats vom 16. Oktober 1977 auf die mündliche Verhandlung vom 15. Oktober 1977
-- 1 BvQ 5/77 --

in dem Verfahren über den Antrag des Herrn Dr. Hanns-Martin Sch..., ... gegen 1. die Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland, ... 2. die Regierung des Landes Baden Würtemberg, ... 3. die Regierung des Freistaats Bayern, ... 4. die Regierung des Landes Nordrhein-Westfalen, ... 5. den Senat der Freien und Hansestadt Hamburg, ... auf Erlaß eines einstweiligen Anordnung.

Entscheidungsformel:

Der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.

Gründe:

A.

1. Der Antragsteller ist am 5. September 1977 nach Ermordung seiner Begleitpersonen von Terroristen entführt worden und befindet sich seither in deren Gewalt. Die Entführer haben gegenüber der Bundesregierung und dem Bundeskriminalamt die Freilassung des Antragstellers von der Erfüllung bestimmter Forderungen abhängig gemacht und bei Nichterfüllung dessen "Hinrichtung" angedroht. Sie fordern u. a., daß elf namentlich benannte, in Untersuchungshaft oder Strafhaft einsitzende Terroristen freizulassen sind und ihnen die Ausreise aus der Bundesrepublik zu gestatten ist.

1

Die Rechtsvertreter des Antragstellers begehren den Erlaß folgender einstweiliger Anordnung:

2


"Die Antragsgegner sind gehalten, den Forderungen der Entführer des Dr. Hanns-Martin Sch ... auf Freilassung und Gewährung freier Ausreise aus der Bundesrepublik Deutschland von namentlich von den Entführern benannten Häftlingen als unabdingbare Voraussetzung zur Abwendung gegenwärtiger, drohender Gefahr für das Leben des Antragstellers stattzugeben.


3


Hilfsweise: Die Antragsgegner haben es zu unterlassen, die Freilassung und Gewährung freier Ausreise aus der Bundesrepublik Deutschland von namentlich von den Entführern des Antragstellers benannten Häftlingen zu verweigern, die zur Abwendung der gegenwärtigen, nicht anders zu beseitigenden Gefahr für Leben und Leib des Antragstellers unabdingbar erforderlich sind."


4

Sie machen geltend:

5

Die politische Entscheidung und Verantwortung für die Erfüllung oder Ablehnung der Forderungen der Entführer sei der Antragsgegnerin zu 1 auferlegt; die Antragsgegner zu 2 bis 5 seien als Träger der Verwaltungshoheit über die Straf- und Vollzugsanstalten, in denen die betreffenden Häftlinge einsäßen, passiv legitimiert.

6

Es sei gerichtsbekannt, daß das Leben des Antragstellers in höchstem Maße bedroht sei. Angesichts der Entschlossenheit der Terroristen komme die Weigerung, auf deren Hauptforderung einzugehen, einem bewußten Einwirken der staatlichen Gewalt auf Leib und Leben des Antragstellers gleich. Auf Grund des Art. 2 Abs. 2 GG sei der Staat zum Lebensschutz verpflichtet, das heiße vor allem, das Leben vor rechtswidrigen Eingriffen von seiten anderer zu bewahren (vgl. BVerfGE 39, 1 [42]). Demgegenüber dürften sich die Antragsgegner nicht darauf berufen, der Schutz höherwertiger Rechtsgüter verpflichte sie, das Leben des Antragstellers zu opfern; denn es gebe kein höherwertiges Rechtsgut als das Leben. Sie seien auch nicht durch Rechtsvorschriften an der Freilassung der Gefangenen gehindert; denn sie könnten sich auf rechtfertigenden Notstand (§ 34 StGB) berufen.

7

Der Antragsteller habe ferner einen grundrechtlich durch Art. 3 Abs. 1 GG verbürgten Anspruch gegen die staatliche Gewalt auf Gleichbehandlung. Im Entführungsfall Peter Lorenz sei den Forderungen der Entführer auf Freilassung mehrerer Gefangener stattgegeben worden, um das bedrohte Leben des Entführten zu retten.

8

Die Antragsgegner hätten die Forderungen der terroristischen Entführer bislang nicht akzeptiert, obwohl seit dem 13. Oktober 1977 nach der Entführung einer Lufthansa-Maschine das Leben weiterer 91 Menschen von der Entscheidung der Antragsgegner abhänge. Dies belege die Dringlichkeit und Begründetheit des Antrages.

9

2. Für die Bundesregierung hat der Bundesminister der Justiz Stellung genommen. Er hält den Antrag für nicht begründet. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG binde den Staat, das Leben eines Menschen auch gegen Angriffe Dritter zu schützen. Im vorliegenden Falle ständen die verantwortlichen staatlichen Organe jedoch vor folgender Abwägung: Einerseits gehe es darum, alles Menschenmögliche zu tun, um das Leben des Antragstellers zu schützen. Auf der anderen Seite werde aber mit dem Eingehen auf die Forderungen der Entführer das Leben weiterer Unbeteiligter in höchstem Maße gefährdet; denn die elf inhaftierten Terroristen seien besonders gefährlich. Nach ihrer Freilassung würden sie, wie die Erfahrungen nach dem Entführungsfall Lorenz gezeigt hätten, ihr verbrecherisches Tun fortsetzen. Mit diesen Forderungen solle die Grundlage der Rechtsstaatlichkeit getroffen werden. Ihre Erfüllung würde den Staat um die Fähigkeit bringen, Schutz zu gewähren. In dieser außerordentlichen Notsituation gebe es keine Entscheidung, die, an den Maßstäben des Grundgesetzes gemessen, als die allein richtige bezeichnet werden könne. Vielmehr müsse den verantwortlichen staatlichen Organen ein Beurteilungs- und Entscheidungsspielraum verbleiben. Der Grundsatz des judicial self-restraint (vgl. BVerfGE 36, 1 [14 ff.]), der darauf abziele, den von der Verfassung für die anderen Verfassungsorgane garantierten Raum freier politischer Gestaltung offenzuhalten, müsse deshalb auch hier gelten.

10

3. In der nichtöffentlichen mündlichen Verhandlung haben sich für den Antragsteller die Rechtsanwälte Dr. Mailänder und Dr. Gerstenmaier sowie für die Bundesregierung und die Regierung des Landes Nordrhein-Westfalen Bundesjustizminister Dr. Vogel geäußert.

11


B.

Der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung ist zulässig. Zwar darf durch eine einstweilige Anordnung die Hauptsache nicht vorweg genommen werden (vgl. BVerfGE 3, 41 [43] und ständige Rechtsprechung). Die vom Antragsteller begehrten Maßnahmen kommen einer solchen Vorwegnahme zumindest sehr nahe. Dadurch wird jedoch die Zulässigkeit des Antrages nicht in Frage gestellt, da unter den obwaltenden Umständen eine Entscheidung in der Hauptsache möglicherweise zu spät kommen würde (BVerfGE 34, 160 [163]). Allerdings kann in Fällen dieser Art die Prüfung des Antrages nicht auf die üblicherweise gebotene Abwägung der Folgen (vgl. BVerfGE 12, 276 [279] und ständige Rechtsprechung) beschränkt werden. Vielmehr muß bei der summarischen Prüfung darauf abgestellt werden, wie die Entscheidung in der Hauptsache ausfallen würde.

12


C.

Diese Prüfung ergibt, daß der Antrag keinen Erfolg haben kann.

13

I.

Art. 2 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG verpflichtet den Staat, jedes menschliche Leben zu schützen. Diese Schutzpflicht ist umfassend. Sie gebietet dem Staat, sich schützend und fördernd vor dieses Leben zu stellen; das heißt vor allem, es auch vor rechtswidrigen Eingriffen von seiten anderer zu bewahren (BVerfGE 39, 1 [42]). An diesem Gebot haben sich alle staatlichen Organe, je nach ihren besonderen Aufgaben, auszurichten. Da das menschliche Leben einen Höchstwert darstellt, muß diese Schutzverpflichtung besonders ernst genommen werden.

14

II.

Wie die staatlichen Organe ihre Verpflichtung zu einem effektiven Schutz des Lebens erfüllen, ist von ihnen grundsätzlich in eigener Verantwortung zu entscheiden. Sie befinden darüber, welche Schutzmaßnahmen zweckdienlich und geboten sind, um einen wirksamen Lebensschutz zu gewährleisten (BVerfGE a.a.O. S. 44). Ihre Freiheit in der Wahl der Mittel zum Schutz es Lebens kann sich in besonders gelagerten Fällen auch auf die Wahl eines bestimmten Mittels verengen, wenn ein effektiver Lebensschutz auf andere Weise nicht zu erreichen ist. Entgegen der durchaus verständlichen Meinung des Antragstellers ist ein solcher Fall hier jedoch nicht gegeben.

15

Die Eigenart des Schutzes gegen lebensbedrohende terroristische Erpressungen ist dadurch gekennzeichnet, daß die gebotenen Maßnahmen der Vielfalt singulärer Lagen angepaßt sein müssen. Sie können weder generell im voraus normiert noch aus einem Individualgrundrecht als Norm hergeleitet werden. Das Grundgesetz begründet eine Schutzpflicht nicht nur gegenüber dem Einzelnen, sondern auch gegenüber der Gesamtheit aller Bürger. Eine wirksame Wahrnehmung dieser Pflicht setzt voraus, daß die zuständigen staatlichen Organe in der Lage sind, auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalles angemessen zu reagieren; schon dies schließt eine Festlegung auf ein bestimmtes Mittel aus. Darüber hinaus kann eine solche Festlegung insbesondere deshalb nicht von Verfassungs wegen erfolgen, weil dann die Reaktion des Staates für Terroristen von vornherein kalkulierbar würde. Damit würde dem Staat der effektive Schutz seiner Bürger unmöglich gemacht. Dies stünde mit der Aufgabe, die ihm durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG gestellt ist, in unaufhebbarem Widerspruch.

16

Aus den gleichen Gründen kann auch unter dem Gesichtspunkt des allgemeinen Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) nicht in allen Entführungsfällen eine schematisch gleiche Entscheidung geboten sein.

17

Angesichts dieser verfassungsrechtlichen Lage kann das Bundesverfassungsgericht den zuständigen staatlichen Organen keine bestimmte Entschließung vorschreiben. Es liegt in der Entscheidung der Antragsgegner, welche Maßnahmen zur Erfüllung der ihnen obliegenden Schutzpflichten zu ergreifen sind.

18

Dr. Benda, Dr. Böhmer, Dr. Simon, Dr. Faller, Dr. Hesse, Dr. Katzenstein
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§ 218 - Abtreibung verfassungswidrig

Beitragvon Gedankenpolizei » Mo 31. Okt 2016, 07:59

§ 218 : BVerfG - Urteil vom 25. Februar 1975

1 BvF 1/74, 2/74, 3/74, 4/74, 5/74, 6/74



1. Das sich im Mutterleib entwickelnde Leben steht als selbständiges Rechtsgut unter dem Schutz der Verfassung (Art. 2 Abs. 2 Satz 1, Art. 1 Abs. 1 GG). Die Schutzpflicht des Staates verbietet nicht nur unmittelbare staatliche Eingriffe in das sich entwickelnde Leben, sondern gebietet dem Staat auch, sich schützend und fördernd vor dieses Leben zu stellen.

2. Die Verpflichtung des Staates, das sich entwickelnde Leben in Schutz zu nehmen, besteht auch gegenüber der Mutter
.
3. Der Lebensschutz der Leibesfrucht genießt grundsätzlich für die gesamte Dauer der Schwangerschaft Vorrang vor dem Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren und darf nicht für eine bestimmte Frist in Frage gestellt werden.

4. Der Gesetzgeber kann die grundgesetzlich gebotene rechtliche Mitbilligung des Schwangerschaftsabbruchs auch auf andere Weise zum Ausdruck bringen als mit dem Mittel der Strafdrohung. Entscheidend ist, ob die Gesamtheit der dem Schutz des ungeborenen Lebens dienenden Maßnahmen einen der Bedeutung des zu sichernden Rechtsgutes entsprechenden tatsächlichen Schutz gewährleistet. Im äußersten Falle, wenn der von der Verfassung gebotene Schutz auf keine andere Weise erreicht werden kann, ist der Gesetzgeber verpflichtet, zur Sicherung des sich entwickelnden Lebens das Mittel des Strafrechts einzusetzen.
5. Eine Fortsetzung der Schwangerschaft ist unzumutbar, wenn der Abbruch erforderlich ist, um von der Schwangeren eine Gefahr für ihr Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung ihres Gesundheitszustandes abzuwenden. Darüber hinaus steht es dem Gesetzgeber frei, andere außergewöhnliche Belastungen für die Schwangere, die ähnlich schwer wiegen, als unzumutbar zu werten und in diesen Fällen den Schwangerschaftsabbruch straffrei zu lassen.

6. Das Fünfte Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 18. Juni 1974 (BGBl. I S. 1297) ist der verfassungsrechtlichen Verpflichtung, das werdende Leben zu schützen, nicht in dem gebotenen Umfang gerecht geworden.



Urteil

des Ersten Senats vom 25. Februar 1975 auf die mündliche Verhandlung vom 18./19. November 1974

1 BvF 1/74, 2/74, 3/74, 4/74, 5/74, 6/74



A.

Gegenstand des Verfahrens ist die Frage, ob die sogenannte Fristenregelung des Fünften Strafrechtsreformgesetzes, wonach der Schwangerschaftsabbruch in den ersten zwölf Wochen seit der Empfängnis unter bestimmten Voraussetzungen straffrei bleibt, mit dem Grundgesetz vereinbar ist.

1

I.
1. Das Fünfte Gesetz zur Reform des Strafrechts (5. StrRG) vom 18. Juni 1974 (BGBl. I S. 1297) hat die Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs neu geregelt. Die §§ 218 bis 220 StGB sind durch Bestimmungen ersetzt worden, die gegenüber dem bisherigen Rechtszustand hauptsächlich folgende Änderungen enthalten:

2

Bestraft wird zwar grundsätzlich, wer eine Schwangerschaft später als am dreizehnten Tag nach der Empfängnis abbricht (§ 218 Abs. 1). Jedoch ist der mit Einwilligung der Schwangeren von einem Arzt vorgenommene Schwangerschaftsabbruch nicht nach § 218 strafbar, wenn seit der Empfängnis nicht mehr als zwölf Wochen verstrichen sind (§ 218a - Fristenregelung). Ferner ist der mit Einwilligung der Schwangeren von einem Arzt nach Ablauf der Zwölfwochenfrist vorgenommene Schwangerschaftsabbruch nicht nach § 218 strafbar, wenn er nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft indiziert ist, entweder um von der Schwangeren eine Gefahr für ihr Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung ihres Gesundheitszustandes abzuwenden, sofern diese nicht auf andere zumutbare Weise abgewendet werden kann (§ 218b Nr.1 - medizinische Indikation), oder weil dringende Gründe für die Annahme sprechen, daß das Kind wegen einer Erbanlage oder schädlicher Einflüsse vor der Geburt an einer nicht behebbaren Schädigung seines Gesundheitszustandes leiden würde, die so schwer wiegt, daß von der Schwangeren die Fortsetzung der Schwangerschaft nicht verlangt werden kann, und wenn seit der Empfängnis nicht mehr als zweiundzwanzig Wochen verstrichen sind (§ 218b Nr. 2 - eugenische Indikation). Wer eine Schwangerschaft abbricht, ohne daß die Schwangere zuvor von einer Beratungsstelle oder von einem Arzt sozial und ärztlich beraten worden ist, wird bestraft (§ 218c). Ebenso macht sich strafbar, wer nach Ablauf von zwölf Wochen seit der Empfängnis eine Schwangerschaft abbricht, ohne daß eine zuständige Stelle vorher bestätigt hat, daß die Voraussetzungen des § 218b (medizinische oder eugenische Indikation) vorliegen (§ 219). Die Schwangere selbst wird nicht nach § 218c oder § 219 bestraft.

3

Im einzelnen haben die für das vorliegende Verfahren wesentlichen Vorschriften des Fünften Strafrechtsreformgesetzes folgenden Wortlaut:

4


"§ 218 Abbruch der Schwangerschaft


5


(1) Wer eine Schwangerschaft später als am dreizehnten Tage nach der Empfängnis abbricht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.


6


(2) Die Strafe ist Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren, wenn der Täter


7


1. gegen den Willen der Schwangeren handelt oder


8


2. leichtfertig die Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung der Schwangeren verursacht.


9


Das Gericht kann Führungsaufsicht anordnen (§ 68 Abs. 1 Nr. 2).


10


(3) Begeht die Schwangere die Tat, so ist die Strafe Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe.


11


(4) Der Versuch ist strafbar. Die Frau wird nicht wegen Versuchs bestraft.


12


§ 218a Straflosigkeit des Schwangerschaftsabbruchs in den ersten zwölf Wochen


13


Der mit Einwilligung der Schwangeren von einem Arzt vorgenommene Schwangerschaftsabbruch ist nicht nach § 218 strafbar, wenn seit der Empfängnis nicht mehr als zwölf Wochen verstrichen sind.


14


§ 218b Indikation zum Schwangerschaftsabbruch nach zwölf Wochen


15


Der mit Einwilligung der Schwangeren von einem Arzt nach Ablauf von zwölf Wochen seit der Empfängnis vorgenommene Schwangerschaftsabbruch ist nicht nach § 218 strafbar, wenn nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft


16


1. der Schwangerschaftsabbruch angezeigt ist, um von der Schwangeren eine Gefahr für ihr Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung ihres Gesundheitszustandes abzuwenden, sofern die Gefahr nicht auf eine andere für sie zumutbare Weise abgewendet werden kann, oder


17


2. dringende Gründe für die Annahme sprechen, daß das Kind infolge einer Erbanlage oder schädlicher Einflüsse vor der Geburt an einer nicht behebbaren Schädigung seines Gesundheitszustandes leiden würde, die so schwer wiegt, daß von der Schwangeren die Fortsetzung der Schwangerschaft nicht verlangt werden kann, und seit der Empfängnis nicht mehr als zweiundzwanzig Wochen verstrichen sind.


18


§ 218c Abbruch der Schwangerschaft ohne Unterrichtung und Beratung der Schwangeren


19


(1) Wer eine Schwangerschaft abbricht, ohne daß die Schwangere


20


1. sich wegen der Frage des Abbruchs ihrer Schwangerschaft vorher an einen Arzt oder eine hierzu ermächtigte Beratungsstelle gewandt hat und dort über die zur Verfügung stehenden öffentlichen und privaten Hilfen für Schwangere, Mütter und Kinder unterrichtet worden ist, insbesondere über solche Hilfen, die die Fortsetzung der Schwangerschaft und die Lage von Mutter und Kind erleichtern, und


21


2. ärztlich beraten worden ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft, wenn die Tat nicht nach § 218 strafbar ist.


22


(2) Die Frau, an der der Eingriff vorgenommen wird, ist nicht nach Absatz 1 strafbar.


23


§ 219 Abbruch der Schwangerschaft ohne Begutachtung


24


(1) Wer nach Ablauf von zwölf Wochen seit der Empfängnis eine Schwangerschaft abbricht, ohne daß eine zuständige Stelle vorher bestätigt hat, daß die Voraussetzungen des § 218b Nr. 1 oder Nr. 2 vorliegen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft, wenn die Tat nicht nach § 218 strafbar ist.


25


(2) Die Frau, an der der Eingriff vorgenommen wird, ist nicht nach Absatz 1 strafbar."


26

2. Nach bisherigem Recht war die Abtötung der Leibesfrucht einer Schwangeren generell eine strafbare Handlung (§ 218 StGB). Allerdings wurde spätestens seit der Entscheidung des Reichsgerichts vom 11. März 1927 (RGSt 61, 242) von der Rechtsprechung im Falle der sogenannten medizinischen Indikation der Rechtfertigungsgrund des übergesetzlichen Notstands nach den Grundsätzen der Pflichten- und Güterabwägung anerkannt. Danach entfiel die Rechtswidrigkeit der Tat bei einer ernsten, auf andere Weise nicht abwendbaren Gefahr für das Leben oder die Gesundheit der Schwangeren, sofern der Eingriff von einem Arzt mit Einwilligung der Schwangeren nach den Regeln der ärztlichen Kunst vorgenommen wurde. Durch § 14 Abs. 1 des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses in der Fassung des Änderungsgesetzes vom 26. Juni 1935 (RGBl. I S. 773) wurden diese Voraussetzungen für die aus medizinischen Gründen zulässige Schwangerschaftsbeendigung gesetzlich festgelegt. Diese Vorschrift galt auch nach 1945 in einzelnen Bundesländern fort; wo sie aufgehoben wurde, waren die darin angeführten Voraussetzungen nach der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 15. Januar 1952 (BGHSt 2, 111) als Mindestvoraussetzungen für die Zulässigkeit der Schwangerschaftsunterbrechung nach den Grundsätzen des übergesetzlichen Notstandes zu beachten.

27

3. Die Strafvorschrift des § 218 StGB geht in ihrem Kern auf die §§ 181, 182 des Strafgesetzbuchs für die Preußischen Staaten vom 14. April 1851 (Gesetz-Sammlung S. 101) zurück; denn diese Vorschriften dienten als Vorbild für die Regelung im Strafgesetzbuch des Norddeutschen Bundes vom 31. Mai 1870 (Bundes-Gesetzblatt des Norddeutschen Bundes S. 197), die wörtlich in das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich vom 15. Mai 1871 (RGBl. S. 127) übernommen wurde. Die Bestimmung lautete in ihrer ursprünglichen Fassung:

28


"§ 218



Eine Schwangere, welche ihre Frucht vorsätzlich abtreibt oder im Mutterleibe tötet, wird mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren bestraft.

30

Sind mildernde Umstände vorhanden, so tritt Gefängnisstrafe nicht unter sechs Monaten ein.

31

Dieselben Strafvorschriften finden auf denjenigen Anwendung, welcher mit Einwilligung der Schwangeren die Mittel zu der Abtreibung oder Tötung bei ihr angewendet oder ihr beigebracht hat."

32

Die Strafvorschrift blieb mehr als 50 Jahre lang unverändert. Erst das Gesetz zur Abänderung des Strafgesetzbuchs vom 18. Mai 1926 (RGBl. I S. 239) milderte die Strafandrohungen (grundsätzlich Gefängnisstrafe, jedoch Zuchthausstrafe für den gewerbsmäßigen Fremdabtreiber).

33

Durch die Verordnung zur Durchführung der Verordnung zum Schutz von Ehe, Familie und Mutterschaft vom 18. März 1943 (RGBl. I S. 169) wurden die Strafandrohungen wieder erheblich verschärft.

34

Das erste Gesetz zur Reform des Strafrechts (1. StrRG) vom 25. Juni 1969 (BGBl. I S. 645) milderte die Strafdrohung bei Selbstabtreibung, indem der besonders schwere Fall entfiel. Die Fremdabtreibung wurde zu einem Vergehen herabgestuft.

35

4. a) Das generelle Abtreibungsverbot war von Anfang an Gegenstand von Angriffen. Insbesondere nach der wende begann auch innerhalb der Rechtswissenschaft eine lebhafte Diskussion über die Strafwürdigkeit der Abtreibung. Die Zweifel setzten schon bei der Frage ein, welches Rechtsgut durch das Abtreibungsverbot geschützt werden solle. Aber auch die Zulassung von Ausnahmen von dem uneingeschränkten Verbot und die richtige Bemessung der anzudrohenden Strafen wurden erörtert.

36

Der 1909 vom Reichsjustizamt veröffentlichte Vorentwurf für ein deutsches Strafgesetzbuch, der Gegenentwurf der Professoren Kahl, v. Lilienthal, Franz v. Liszt und Goldschmidt von 1911, der Entwurf nach den Beschlüssen der Strafrechtskommission von 1913 und der Entwurf von 1919 wollten lediglich die Strafandrohung mildern. In der Begründung zum Entwurf von 1919 wurde die Straflosigkeit des Schwangerschaftsabbruchs "im Hinblick auf die schweren Schädigungen, die aus dem Umsichgreifen der Abtreibung für das Volkswohl erwachsen", abgelehnt.

37

b) Während der Weimarer Republik war im Rahmen der - allerdings nicht zum Abschluß gekommenen - Arbeiten an einer großen Strafrechtsreform auch § 218 StGB Gegenstand lebhafter Erörterungen. Eine große Zahl von Gesetzesinitiativen und Interpellationen zur Reform dieser Strafvorschrift wurden im Reichstag eingebracht. Sie verfolgten teils das Ziel, die §§ 218 bis 220 StGB ersatzlos zu streichen, teils schlugen sie vor, die Strafandrohung für die ersten drei Schwangerschaftsmonate zurückzunehmen. Ein Antrag, den Frau Schuch, Professor Radbruch und 53 andere Mitglieder der SPD-Fraktion am 31. Juli 1920 im Reichstag stellten, sah die Straflosigkeit der Abtreibung vor, "wenn sie von der Schwangeren oder einem staatlich anerkannten (approbierten) Arzt innerhalb der ersten drei Monate der Schwangerschaft vorgenommen worden" ist (vgl. auch zur Begründung Radbruch in: Grotjahn-Radbruch, Die Abtreibung der Leibesfrucht, 1921). Sämtliche Anträge hatten letztlich keinen Erfolg.

38

Der Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs, den Radbruch als damaliger Reichsjustizminister im Jahre 1922 vorlegte und der zur Grundlage der weiteren Strafrechtsreformarbeiten wurde, drohte für die Abtreibung Gefängnisstrafe an (vgl. "Gustav Radbruchs Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches [1922]", Tübingen 1952, S. 28, § 225). Ähnliche Regelungen sahen die Entwürfe von 1925, 1927 und 1930 vor.

39

c) In der nationalsozialistischen Zeit wurde die Abtreibung vornehmlich unter den Gesichtspunkten "Schutz der Volkskraft", "Angriffe auf die Lebenskraft des Volkes", "Angriffe auf Rasse und Erbgut" gesehen. Die Bestrebungen zielten, abgesehen von einigen Indikationsfällen, die straflos bleiben sollten (vgl. auch § 10a des Gesetzes zur Verhütung des erbkranken Nachwuchses), auf strenge Strafen.

40

5. Als vorläufiges Ergebnis der nach 1945 wiederaufgenommenen Reformarbeiten am Strafgesetzbuch stellte das Bundesjustizministerium im Jahre 1960 auf der Grundlage der Beschlüsse der Großen Strafrechtskommission einen Gesamtentwurf mit Begründung zusammen, der auch die Beratungen einer Länderkommission verwertete (Entwurf eines Strafgesetzbuches [StGB] - E 1960 - mit Begründung, Bonn 1960).

41

Danach blieb die Abtreibung grundsätzlich strafbar (§§ 140, 141); jedoch wurde für den Fall der medizinischen Indikation (§ 157) Straffreiheit gewährt. Ferner sollte nach § 160 die Strafbarkeit einer von einem Arzt mit Einwilligung der Schwangeren vorgenommenen Abtötung der Leibesfrucht entfallen, wenn das Gericht festgestellt hat, daß jemand an der Frau eine Notzucht, eine schwere Schändung, während sie geisteskrank, willenlos, bewußtlos oder zum Widerstand körperlich unfähig war, begangen hat oder ihr Samen von einem anderen als ihrem Ehemann ohne ihre Einwilligung übertragen hat und dringende Gründe für die Annahme sprechen, daß die Schwangerschaft auf der Tat beruht, sofern seit dem Ende des Monats, in den der Beginn der Schwangerschaft fällt, nicht mehr als zwölf Wochen verstrichen sind.

42

Diese ethische Indikation war jedoch in der von der Bundesregierung den gesetzgebenden Körperschaften vorgelegten Fassung des Entwurfs 1960 nicht mehr enthalten (vgl. BRDrucks. 270/60, S. 38 und S. 278). Zu einer Beratung dieses Entwurfs kam es in der 3. Wahlperiode des Bundestages nicht mehr.

43

Im Jahre 1962 wurde den Gesetzgebungsorganen ein neuer Regierungsentwurf zugeleitet, der die §§ 140, 141, 157 des Entwurfs 1960 im wesentlichen unverändert übernommen hatte (vgl. BRDrucks. 200/62, S. 35/36, 38). Auch dieser Entwurf konnte in der 4. Wahlperiode des Bundestages nicht verabschiedet werden.

44

Im November 1965 wurde der Entwurf 1962 von einer Gruppe von Bundestagsabgeordneten als Initiativgesetzentwurf eingebracht (BTDrucks. V/32). Der Bundestag überwies den Entwurf an den Sonderausschuß für die Strafrechtsreform, der unter Berücksichtigung des von deutschen und schweizerischen Strafrechtslehrern im Jahre 1966 veröffentlichten sogenannten Alternativ-Entwurfs (AE) eines Strafgesetzbuchs (Allgemeiner Teil) zwei Teilentwürfe zur Reform des Strafrechts vorlegte, die vom Bundestag im Jahre 1969 als Erstes und Zweites Gesetz zur Reform des Strafrechts verabschiedet wurden. Durch das erste Gesetz erhielten die Strafandrohungen des § 218 StGB den bereits erwähnten milderen Strafrahmen. Man war sich bei der Beratung im Strafrechtssonderausschuß jedoch darin einig, daß mit der Korrektur des Strafmaßes die Problematik des § 218 StGB nicht gelöst sei, daß vielmehr eine umfassende Reform dieses Bereichs erfolgen müsse (vgl. die Ausführungen des Abgeordneten Dr. Müller-Emmert, Deutscher Bundestag, 5. Wp., 144. Sitzung des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform, StenBer. S. 3195).

45

Von dieser Auffassung ging auch der im Frühjahr 1970 veröffentlichte Besondere Teil des Alternativ-Entwurfs aus (AE, Bes. Teil, Straftaten gegen die Person, Erster Halbband, Tübingen 1970, S. 25 ff.). Schwangerschaftsabbrüche seien zwar - so wurde dargelegt - fast ausnahmslos verboten und strafbar. Die soziale Wirklichkeit habe sich jedoch von diesen Rechtsnormen so weit entfernt, daß die Strafandrohungen kaum noch eine Wirkung ausüben könnten. Dies sei in hohem Maße schädlich und unzureichend; denn die Vernichtung werdenden Lebens sei - von Ausnahmesituationen abgesehen - nicht nur ethisch verwerflich, sondern stelle auch die Vernichtung eines Rechtsgutes dar. Über die gesetzgeberischen Maßnahmen, mit denen ein wirksamer Schutz des werdenden Lebens zu erreichen sei, konnten sich die Verfasser indes nicht einigen.

46

Die Mehrheit entschied sich dafür, in den ersten drei Monaten der Schwangerschaft den Abbruch straffrei zu lassen, und zwar innerhalb von vier Wochen nach der Empfängnis generell, im zweiten und dritten Monat unter der Voraussetzung, daß der Abbruch von einem Arzt vorgenommen wird, nachdem die Schwangere eine Beratungsstelle aufgesucht hat (§ 105 AE). Dazu wurden folgende Erwägungen vorgetragen:

47

"Der Grundgedanke dieses Vorschlags ist der, daß dem Entschluß einer Frau zur Schwangerschaftsunterbrechung und seiner Verwirklichung nur dadurch entgegengewirkt werden kann, daß der Schwangeren in den Grenzen des Möglichen Hilfe bei der Behebung der materiellen, sozialen und familiären Schwierigkeiten gewährt wird, die sie zur Schwangerschaftsunterbrechung drängen, und daß ihr durch eine persönliche Beratung und offene Aussprache eine überlegte und verantwortliche Entscheidung ermöglicht wird. Diesem Zweck soll die Institution der Beratungsstellen dienen, ... .

48

Die Beratungsstellen sollen deshalb die Möglichkeit besitzen, finanzielle, soziale und familiäre Hilfe zu leisten. Sie sollen ferner der Schwangeren und ihren Angehörigen durch geeignete Mitarbeiter seelische Betreuung gewähren und dabei den Beteiligten namentlich verdeutlichen, daß die Schwangerschaftsunterbrechung auch medizinisch keine Bagatelle darstellt, sondern ein schwerwiegender und u.U. folgenreicher Eingriff ist und daß die Unterbrechung selbst bei noch so drängenden Motiven eben die Vernichtung werdenden Lebens darstellt, also eine hohe ethische Verantwortung berührt und verletzt" (a.a.O., S. 27)."

49

Die zum Schwangerschaftsabbruch neigende Frau solle die Beratungsstelle aufsuchen können, ohne befürchten zu müssen, daß ihr damit die Verwirklichung ihrer Absicht rechtlich unmöglich gemacht werde. Eine später als drei Monate nach der Empfängnis vorgenommene Schwangerschaftsunterbrechung solle nur bei Vorliegen medizinischer oder eugenischer Indikation straflos sein, wobei die Voraussetzungen dieser Indikationen durch eine ärztliche Gutachterstelle festzustellen seien (§ 106 AE).

50

Die Minderheit sah in diesem Vorschlag keinen wirksamen, sondern allenfalls einen mittelbaren Schutz des werdenden Lebens, der in all den Fällen aufgegeben sei, in denen die Schwangere von der Beratungsstelle nicht überzeugt werden könne. Deshalb hielten die Vertreter dieser Meinung grundsätzlich an der Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs mit Ausnahme der ersten vier Wochen fest, sahen jedoch Straflosigkeit vor, "wenn der Schwangeren die Austragung der Schwangerschaft unter Berücksichtigung der gesamten Lebensumstände nicht zumutbar ist", und konkretisierten diese Generalklausel durch einen Katalog von fünf Indikationen. Weitere Voraussetzung der Straflosigkeit sollte sein, daß die Einwilligung der Schwangeren sowie die Genehmigung einer ärztlichen Gutachterstelle vorliege und daß der Abbruch in den ersten drei Monaten seit der Empfängnis vorgenommen werde.

51

6. Anfang 1972 legte die Bundesregierung den Entwurf eines Fünften Gesetzes zur Reform des Strafrechts (5. StrRG) vor (BRDrucks. 58/72). Er hielt an der grundsätzlichen Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs fest. In der Begründung wurde ausgeführt, menschliches Leben sei auch vor der Geburt ein schutzwürdiges und schutzbedürftiges Rechtsgut. Das Grundgesetz habe in den Art. 1 und Art. 2 Abs. 2 eine Wertentscheidung für das Leben getroffen. Bei der Reform der Abtreibungsvorschriften handele es sich demnach nicht um die Beseitigung von Straftatbeständen, die kein sozialschädliches Verhalten zum Gegenstand hätten. Vielmehr müsse eine an der Grundrechtsordnung orientierte Strafrechtsreform die Vorschriften über den Schwangerschaftsabbruch so ausgestalten, daß der Schutz des werdenden Lebens nach Lage der Dinge am ehesten gewährleistet sei. Zu diesem Zweck müsse die Neuregelung dem Grundsatz der Unantastbarkeit des werdenden Lebens gerecht werden, gleichzeitig aber einen Ausgleich zwischen dem Recht des ungeborenen Kindes und der Menschenwürde der Schwangeren sowie ihrem Recht auf freie Persönlichkeitsentfaltung herstellen. Dabei könne weder dem einen noch dem anderen Recht ein absoluter Vorrang eingeräumt werden. Es komme darauf an, für besondere, schwerwiegende Konfliktsituationen Lösungen zu finden, die den Wertentscheidungen der Verfassung Rechnung trügen (a.a.O., S. 8).

52

Die Fristenregelung könnte die mit ihr verbundenen gesundheitspolitischen Erwartungen nur erfüllen, wenn jeder Schwangerschaftsabbruch in den ersten drei Monaten als rechtlich gebilligt erscheine. Das sei mit der Wertordnung der Verfassung unvereinbar. Wenn die Gesellschaft das werdende Leben als schutzwürdiges Rechtsgut von vergleichsweise hohem Rang anerkenne, dann könne sie nicht, ohne in Widerspruch zu dieser Prämisse zu geraten, die Vernichtung dieses Rechtsgutes von dem freien Belieben des Einzelnen abhängig machen (a.a.O., S. 9).

53

Hiervon ausgehend lehnte der Entwurf die "in der Zeit der Weimarer Republik und neuerdings wieder lebhaft erörterte Fristenlösung" ab und entschied sich dafür, daß Ausnahmen von dem grundsätzlichen Verbot des Schwangerschaftsabbruchs nur beim Vorliegen einer gesetzlichen Indikation gelten sollten. Eine Indikation sollte angenommen werden,

54

a) wenn der Abbruch der Schwangerschaft nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft angezeigt ist, um von der Schwangeren eine Gefahr für ihr Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung ihres Gesundheitszustandes abzuwenden, sofern die Gefahr nicht auf eine andere für sie zumutbare Weise abgewendet werden kann (§ 219 - medizinische Indikation);

55

b) wenn nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft dringende Gründe für die Annahme sprechen, daß das Kind infolge einer Erbanlage oder infolge schädlicher Einflüsse vor der Geburt an einer nicht behebbaren Schädigung seines Gesundheitszustandes leiden würde, die so schwer wiegt, daß von der Schwangeren die Fortsetzung der Schwangerschaft nicht verlangt werden kann, sofern seit dem Beginn der Schwangerschaft nicht mehr als zwanzig Wochen verstrichen sind (§ 219b - eugenische oder kindliche Indikation);

56

c) wenn an der Schwangeren eine rechtswidrige Tat nach § 176 (sexueller Mißbrauch von Kindern), § 177 (Vergewaltigung) oder § 179 Abs. 1 (sexueller Mißbrauch Widerstandsunfähiger) vorgenommen worden ist und dringende Gründe für die Annahme sprechen, daß die Schwangerschaft auf der Tat beruht, sofern seit dem Beginn der Schwangerschaft nicht mehr als zwölf Wochen verstrichen sind (§ 219c - ethische oder kriminologische Indikation);

57

d) wenn der Abbruch der Schwangerschaft angezeigt ist, um von der Schwangeren die Gefahr einer schwerwiegenden Notlage abzuwenden, sofern die Gefahr nicht auf eine andere für die Schwangere zumutbare Weise abgewendet werden kann und wenn seit dem Beginn der Schwangerschaft nicht mehr als zwölf Wochen verstrichen sind (§ 219d - soziale oder Notlagen-Indikation).

58

Beim Vorliegen eines dieser Indikationsfälle sollte der von einem Arzt mit Einwilligung der Schwangeren vorgenommene Schwangerschaftsabbruch nicht nach § 218 strafbar sein. Als Beginn der Schwangerschaft im Sinne des Gesetzes wurde der Abschluß der Einnistung des befruchteten Eies in der Gebärmutter bestimmt (§ 218 Abs. 5).

59

Zur gleichen Zeit legten die Abgeordneten Dr. de With und Genossen den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des § 218 des Strafgesetzbuches vor (BTDrucks. VI/3137), der einen Schwangerschaftsabbruch innerhalb der ersten drei Monate straflos lassen wollte, falls er mit Einwilligung der Schwangeren nach ärztlicher Beratung von einem Arzt vorgenommen werde (Fristenregelung).

60

Beide Entwürfe wurden im Sonderausschuß für die Strafrechtsreform gemeinsam behandelt. Am 10., 11. und 12. April 1972 fand eine öffentliche Anhörung von Sachverständigen und Auskunftspersonen aller einschlägigen Fachrichtungen statt, in der alle mit der Reform der Abtreibungsvorschriften zusammenhängenden Fragen umfassend erörtert wurden (vgl. Deutscher Bundestag, 6. Wp., 74., 75., 76. Sitzung des Sonderausschusses für Strafrechtsreform vom 10., 11. und 12. April 1972, StenBer. S. 2141 bis S. 2361). Die vorzeitige Auflösung des 6. Deutschen Bundestages führte zum Abbruch der Beratungen.

61

n der 7. Wahlperiode brachte die Bundesregierung keinen eigenen Gesetzentwurf ein. Statt dessen wurden vier Gesetzentwürfe aus der Mitte des Bundestages vorgelegt. Der Entwurf der Abgeordneten Dr. Müller-Emmert und Genossen hatte eine Indikationenregelung zum Inhalt und sah zusätzlich vor, daß die Schwangere stets straffrei bleiben sollte (BTDrucks. 7/443). Der Entwurf der Fraktionen der SPD, FDP (BTDrucks. 7/375) schlug dagegen eine Fristenregelung vor. In einem Entwurf der CDU/CSU-Fraktion war eine engere Indikationenregelung vorgesehen (medizinische - die eugenische einschließend - und ehtische Indikation; Absehen von Strafe bei Unzumutbarkeit - BTDrucks. 7/554 -). Ein von den Abgeordneten Dr. Heck und Genossen eingebrachter Entwurf wollte die Straflosigkeit des Schwangerschaftsabbruchs im wesentlichen auf den Fall einer - weitgefaßten - medizinischen Indikation begrenzen (BTDrucks. 7/561).

62

Alle vier Entwürfe wurden an den Sonderausschuß für die Strafrechtsreform zur gemeinsamen Beratung überwiesen. Keiner dieser Entwürfe erhielt jedoch hier die erforderliche Mehrheit (vgl. BTDrucks. 7/1982 S. 4). Der Ausschuß sah sich deshalb nicht in der Lage, dem Plenum "bestimmte Beschlüsse zu empfehlen", sondern legte alle vier Entwürfe in getrennten Berichten zur Entscheidung vor - vgl. die BTDrucks. 7/1982, 7/1981 (neu), 7/1983, 7/1984 (neu). Für die später vom Bundestag angenommene, von den Fraktionen der SPD, FDP vorgeschlagene Fristenregelung waren nach dem Bericht des Sonderausschusses - BTDrucks. 7/1981 (neu) S. 9/10 - insbesondere folgende Erwägungen maßgeblich

63


"Im Bereich des Strafrechts schlagen die Befürworter dieses Entwurfs für die ersten drei Schwangerschaftsmonate vor, die Strafandrohung im Interesse einer Verbesserung der Beratungssituation zurückzunehmen. Das heißt, strafrechtlich gesichert ist nur noch die Pflicht, sich einer umfassenden Beratung zu unterziehen und den Eingriff von einem Arzt vornehmen zu lassen. Das heißt weiter, daß in den ersten drei Monaten der Schutz des werdenden Lebens nicht mehr von der durchgängigen Strafdrohung, sondern von einem Beratungssystem gewährleistet wird, dessen Benutzung durch eine Strafdrohung verlangt wird. Die Befürworter der Fristenregelung gehen davon aus, daß die Strafdrohung erst nach dem dritten Monat wirklich 'greift'. Es hat sich gezeigt, daß ein durchgängiges strafrechtliches Verbot nicht geeignet ist, den Schutz des ungeborenen Lebens zu gewährleisten. Eine schwangere Frau, die ihre Schwangerschaft abbrechen lassen will, wird dies in aller Regel tun ohne Rücksicht auf das Strafgesetz, sie wird in jedem Fall einen Weg finden, einen Abbruch zu erreichen. Die Ursachen der Wirkungslosigkeit der Strafvorschrift wurden u.a. von Sachverständigen in der Öffentlichen Anhörung überzeugend damit erklärt, daß die Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch in aller Regel einer schwerwiegenden Konfliktsituation der Schwangeren entspringt und in den Tiefen der Persönlichkeit getroffen wird, die eine Strafdrohung nicht zu erreichen vermag (Rolinski AP VI S. 2219, 2225; Schulte AP VI S. 2200; Brocher AP VI S. 2209) ... .

64

Die Fristenregelung gibt nicht den Gedanken von der Schutzwürdigkeit und Schutzbedürftigkeit des ungeborenen Lebens auf. Die Befürworter dieses Entwurfs sind nur der Auffassung, daß das Strafrecht in seiner geltenden Form nicht das geeignete Mittel ist ... .

65

Bei einem Schwangerschaftsabbruch müssen (und können) Beratung und Hilfe einsetzen, bevor die schwangere Frau den entscheidenden Schritt getan hat. Solange jedoch die Frau irgendwelche strafrechtlichen Sanktionen befürchten muß, wird sie kaum Beratung und Hilfe in Anspruch nehmen. Eine Frau, die, aus welchen Gründen auch immer, einen Schwangerschaftsabbruch will, wird vielmehr den Eingriff entweder selbst vornehmen oder einen Arzt oder eine andere Person suchen, von der sie weiß, daß diese den Eingriff vornimmt, ohne viel zu fragen ... . Solange eine Strafvorschrift besteht, sind diese Frauen für eine Beratung und Hilfe schwerlich erreichbar, weil sie sich meist nur an solche Personen um 'Hilfe' wenden, von denen sie sicher sind, daß sie sie dem gewünschten Schwangerschaftsabbruch näher bringen. Sie kommen meist gar nicht in den Bereich irgendeiner Person, die ihnen echte Hilfe bieten könnte und wollte."

66

Bei der Abstimmung in der zweiten Beratung des Deutschen Bundestages erhielt keiner der Entwürfe die als erforderlich vereinbarte Mehrheit der Stimmen. Daraufhin wurden die beiden Fraktionsentwürfe, welche die höchsten Stimmenzahlen erhalten hatten, zur Entscheidung gestellt. 245 Abgeordnete stimmten für den Entwurf der SPD, FDP-Fraktionen, 219 Abgeordnete für den Antrag der CDU/CSU-Fraktion (vgl. im einzelnen Deutscher Bundestag, 7. Wp., 95. Sitzung, StenBer. S. 6443).


67

Bei der namentlichen Schlußabstimmung über den Entwurf der Fraktionen der SPD, FDP in der dritten Beratung stimmten von 489 voll stimmberechtigten Abgeordneten 247 mit Ja, 233 mit Nein, 9 enthielten sich der Stimme (Deutscher Bundestag, 7. Wp., 96. Sitzung, StenBer. S. 6503).

68

Der Bundesrat bezeichnete den Gesetzesbeschluß als zustimmungsbedürftig, versagte ihm nach erfolgloser Anrufung des Vermittlungsausschusses die Zustimmung und legte vorsorglich Einspruch gemäß Art. 77 Abs. 3 GG ein (Bundesrat, 406. Sitzung vom 31. Mai 1974, StenBer. S. 214). Diesen Einspruch wies der Bundestag, der das Gesetz nicht als zustimmungsbedürftig ansah, am 5.Juni 1974 mit 260 gegen 218 Stimmen bei 4 Enthaltungen zurück (Deutscher Bundestag, 7. Wp., 104. Sitzung, StenBer. S. 6947).

69

7. Zur Unterstützung der strafrechtlichen Reform durch sozialpolitische Maßnahmen beschloß der Deutsche Bundestag am 21. März 1974 auf einen Initiativantrag der Fraktionen der SPD, FDP (BTDrucks. 7/376) das Gesetz über ergänzende Maßnahmen zum Fünften Strafrechtsreformgesetz (Strafrechtsreform-Ergänzungsgesetz - StREG). Darin sind u.a. Ansprüche auf ärztliche Beratung über Fragen der Empfängnisregelung sowie auf ärztliche Hilfe bei straffreiem Schwangerschaftsabbruch als Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung und der Sozialhilfe vorgesehen (vgl. BTDrucks. 7/1753 und Deutscher Bundestag, 7. Wp., 88. Sitzung, StenBer. S. 5769).

70

Diesem Gesetzbeschluß verweigerte der Bundesrat nach erfolgloser Anrufung des Vermittlungsausschusses seine Zustimmung (Bundesrat, 410. Sitzung vom 12. Juli 1974, StenBer. S. 324). Daraufhin rief die Bundesregierung ihrerseits den Vermittlungsausschuß an. Dieser hat bisher noch keine Entschließung getroffen.

71

8. Am 21. Juni 1974 ordnete das Bundesverfassungsgericht auf Antrag der Regierung des Landes Baden-Württemberg im Wege der einstweiligen Anordnung u.a. an, daß § 218a Strafgesetzbuch in der Fassung des Fünften Gesetzes zur Reform des Strafrechts (5. StrRG) einstweilen nicht in Kraft tritt, jedoch der medizinisch, eugenisch oder der ethisch indizierte Schwangerschaftsabbruch innerhalb der ersten zwölf Wochen seit der Empfängnis straffrei bleibt (BVerfGE 37, 324; BGBl. 1974 I S. 1309). Die einstweilige Anordnung wurde bis zur Verkündung dieses Urteils verlängert.

72

II.

193 Mitglieder des Deutschen Bundestages sowie die Landesregierungen von Baden-Württemberg, Bayern, Rheinland-Pfalz, des Saarlandes und von Schleswig-Holstein haben gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, § 13 Nr. 6 BVerfGG den Antrag auf verfassungsrechtliche Überprüfung des § 218a StGB in der Fassung des Fünften Strafrechtsreformgesetzes gestellt. Sie halten die Vorschrift für unvereinbar mit dem Grundgesetz, weil die darin enthaltene Freigabe des Schwangerschaftsabbruchs während der ersten zwölf Wochen nach der Empfängnis (Fristenregelung) vor allem gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 und außerdem gegen die Art. 3 sowie 6 Abs. 1, 2 und 4 GG sowie gegen das Rechtsstaatsprinzip verstoße. Die antragstellenden Landesregierungen sind ferner der Meinung, für das Fünfte Strafrechtsreformgesetz sei die Zustimmung des Bundesrates erforderlich gewesen.

73

Zur Begründung sind im wesentlichen vorgetragen:

74

1. Das Gesetz enthalte in Art. 6 und 7 Änderungen der Strafprozeßordnung und des Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch, also von Gesetzen, die ihrerseits mit Zustimmung des Bundesrates ergangen seien. Dies allein begründe bereits die Zustimmungsbedürftigkeit. Die gegenteilige Auffassung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 37, 363) möge nochmals überprüft werden.

75

Abgesehen davon enthalte aber das Fünfte Strafrechtsreformgesetz selbst Vorschriften, welche die Zustimmungsbedürftigkeit gemäß Art. 84 Abs. 1 GG auslösten; denn in § 218c Abs. 1 Nr. 1 StGB sei die Einschaltung einer "ermächtigten Beratungsstelle" und in § 219 Abs. 1 StGB die Bestätigung der Indikation durch eine "zuständige Stelle" vorgesehen. Ferner sei auch nach der erwähnten Entscheidung (a.a.O., S. 383) ein Änderungsgesetz dann zustimmungsbedürftig, wenn es sich zwar auf die Regelung materiell-rechtlicher Fragen beschränke, in diesem Bereich jedoch Neuerungen in Kraft setze, die den nicht ausdrücklich geänderten Vorschriften über das Verwaltungsverfahren eine wesentlich andere Bedeutung und Tragweite verliehen. Das müsse zwangsläufig auch dann zur Zustimmungsbedürftigkeit eines Änderungsgesetzes führen, wenn das Ursprungsgesetz zwar noch keine Vorschriften über das Verwaltungsverfahren enthalte, das Änderungsgesetz aber durch die Ausgestaltung seiner materiell-rechtlichen Regelungen den notwendigen Vorschriften über das Verwaltungsverfahren derart vorgreife, daß die Länder in entscheidenden Punkten festgelegt würden. Dies sei hier der Fall; denn den Ländern werde bei der Ausgestaltung des Verwaltungsverfahrens nur noch ein geringer Spielraum belassen.

76

Schließlich müßten dieses Gesetz und das Strafrechtsreform-Ergänzungsgesetz rechtlich als eine Einheit angesehen werden, weil diese Gesetze der Sache nach unlöslich zusammengehörten. Ziel des Reformvorhabens sei eine "Fristenregelung mit Beratung"; die Beratung ihrerseits werde aber für alle im Mittelpunkt der Reform stehenden Fälle durch das Strafrechtsreform-Ergänzungsgesetz erst ermöglicht. Beide Gesetze stellten eine einheitliche politische Entscheidung dar. Es sei deshalb sachwidrig, wenn die Aufhebung der Strafandrohung und die Vorschriften über die Ermöglichung der Beratung in zwei verschiedenen Gesetzesvorlagen untergebracht worden seien. Offenbar sei dies deshalb geschehen, um die Zustimmung des Bundesrates zu umgehen; denn das Strafrechtsreform-Ergänzungsgesetz bedürfe zweifellos der Zustimmung des Bundesrates. Der Bundestag habe damit sein ihm prinzipiell zustehendes Ermessen, den zu regelnden Rechtsstoff auf mehrere Gesetze zu verteilen, überschritten.

77

2. Das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG als das fundamentalste und ursprünglichste Menschenrecht schütze in umfassender Weise auch das ungeborene Leben. Diese Rechtsauffassung stimme mit der Entstehungsgeschichte und der herrschenden Meinung überein, stehe in der Tradition deutscher Rechtskultur und könne sich auf den Wortlaut der Verfassung stützen. Vor allem aber werde nur diese Rechtsansicht der erkennbaren Funktion der Verfassungsnorm gerecht.

78

Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG enthalte nicht nur ein Abwehrrecht gegen unmittelbare staatliche Eingriffe, sondern bilde zugleich die Grundlage für einen positiven Schutzanspruch gegenüber dem Staat. Die Schutzpflicht könne der Grundwertentscheidung der Verfassung für das werdende Leben entnommen werden, deren spezifische Funktion es sei, die in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG zum Ausdruck kommende Wertung auch für das Verhältnis zu Dritten fruchtbar werden zu lassen. Diese Verpflichtung ergebe sich aber auch unmittelbar aus Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG.

79

Der Schutz entspreche verfassungsrechtlichen Anforderungen nur dann, wenn er prinzipiell umfassend ausgestaltet sei. Dies beruhe nicht nur auf dem besonders hohen Rang der Rechtsgüter des Art. 2 Abs. 2 GG und auf der Tatsache, daß jedes einzelne Leben den Schutz des Grundrechts genieße, vielmehr sei entscheidend, daß Verletzungen speziell des Grundrechts auf (biologisches) Leben zur totalen Vernichtung der Basis menschlicher Existenz führten.

80

Allerdings dürfe der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Schutzes für das werdende Leben etwaige kollidierende Rechtssphären Dritter, insbesondere der Mutter, berücksichtigen, soweit diese Drittinteressen ihrerseits von der Verfassung getragen würden. Auf der Hand liege dies im Falle einer Gefährdung des Lebens der Schwangeren. Aber auch bei andersartigen schwerwiegenden Gefahren für die Frau könne der Gesetzgeber zu dem Ergebnis gelangen, daß ihr die unfreiwillige Austragung der Leibesfrucht nicht zugemutet werden könne. Das besage nicht, daß das werdende Leben als Rechtsgut geringer geachtet werde als etwa die Gesundheit oder sonstige Rechtsgüter der Frau. Wohl aber stoße die vollständige Verwirklichung des Schutzes des werdenden Lebens an die Grenzen des rechtlich Durchsetzbaren. Dem Gesetzgeber sei deshalb die Befugnis zuzusprechen, einzelne (Indikations-) Tatbestände näher zu konkretisieren. Damit sei ausreichend Raum gegeben, um einem etwaigen Wandel der gesellschaftlichen Wertvorstellungen in den Bahnen der Verfassung Rechnung zu tragen. Dieser Gesichtspunkt müsse aber dort versagen, wo keinerlei relevante Rechtspositionen der Mutter tangiert seien, wo der Schwangerschaftsabbruch aus Gleichgültigkeit oder reiner Bequemlichkeit erfolge.

81

Die Pflicht des Staates, das ungeborene Leben zu schützen, gewinne dann einen besonderen Akzent, wenn es darum gehe, einen seit 100 Jahren bestehenden strafrechtlichen Schutz zu beseitigen. Dann bedürfe es einer besonders strengen Prüfung, ob die Schutzbeseitigung sich nicht mit der grundgesetzlichen Wertentscheidung für das Leben in Widerspruch setze.

82

Mit der Fristenlösung verstoße der Staat in mehrfacher Hinsicht gegen die ihm obliegende Schutzverpflichtung:

83

a) Der Gesetzgeber verletze seine Pflicht schon dadurch, daß er die Vernichtung ungeborenen Lebens innerhalb der ersten zwölf Schwangerschaftswochen rechtlich erlaube, sofern sie nur von einem Arzt mit Einwilligung der Schwangeren vorgenommen werde. Anders als im Sinne rechtlicher Billigung könne die strafrechtliche Freigabe des Schwangerschaftsabbruchs nicht gedeutet werden.

84

b) Ferner entziehe der Gesetzgeber durch die Aufhebung der Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs in den ersten zwölf Wochen dem werdenden Leben für die Zukunft die sozialethische Wertschätzung in der Bevölkerung. Es entspreche gesicherter rechtssoziologischer Erkenntnis, daß strafrechtliche Normen normbildende Kraft für das sozialethische Urteil der Bürger besäßen.

85

c) Aber selbst wenn man unterstelle, daß der Staat den Schwangerschaftsabbruch weiterhin diskriminiere, verletze er seine verfassungsrechtliche Schutzpflicht schon dadurch, daß er die bisherige Strafandrohung für die ersten zwölf Schwangerschaftswochen ausnahmslos aufhebe. Sozialfürsorgerische Maßnahmen allein könnten nicht verhindern, daß abtreibungswillige Schwangere ihre Absicht realisierten. Denn wenn sie das Hilfsangebot nicht anzunehmen gewillt seien, so könne auf diesem Wege der Schutz des werdenden Lebens nicht gewährleistet werden. Der Wegfall der Strafsanktion hinterlasse daher eine relevante Schutzlücke. Hinzu komme, daß die als einzige Hilfsmaßnahme vorgeschriebene Beratung, so wie sie im Gesetz geregelt sei, sich in der Praxis als wirkungslos erweisen werde. Wenn die Schwangere wisse, daß die Entscheidung letztlich von ihr allein abhänge, werde sie wenig Neigung verspüren, sich diese Entscheidung durch Ermahnungen des Beraters erschweren zu lassen. Aber auch die Berater seien in einer widersprüchlichen Situation: Erkläre eine Schwangere, sie sei zur Abtreibung entschlossen, so stünden sie vor der Alternative, entweder nur formularmäßig Abtreibungserlaubnisse auszuschreiben oder der Schwangeren gegen ihren Willen Gewissensskrupel aufzuzwingen, die ihr das spätere Leben nur noch mehr belasten würden. Im übrigen seien auch die Ärzte, die die Hauptlast der medizinischen Beratung zu tragen hätten, damit überfordert.

86

Zwar habe der Gesetzgeber bei der Abwägung, ob eine Strafsanktion eher schädlich als nützlich sei, einen gewissen Spielraum. Dieser werde aber durch das beherrschende rechtsstaatliche Prinzip der Erforderlichkeit (Übermaßverbot) eng begrenzt. Folge man der inzwischen herrschend gewordenen Lehre von der praktischen Konkordanz und des nach beiden Seiten hin schonendsten Ausgleichs, so müßten kollidierende Rechtsgüter einander so zugeordnet werden, daß jedes von ihnen Wirklichkeit gewinne. Es laufe auf die totale Verkehrung dieser Grundsätze hinaus, wenn einem der kollidierenden Güter generell der absolute Vorrang zugesprochen werde. Hierauf aber basiere die Fristenlösung, die der Selbstbestimmungsmacht der Frau, die in Wahrheit insoweit eine Fremdbestimmungsmacht sei, den ausschließlichen Vorrang einräume. Hinzu komme, daß hier einzelne Leben gegen andere einzelne Leben (oder Gesundheitsgüter) abgewogen werden sollten. Dabei gehe es um eine Art abstrakter staatlicher Abzählung und Aufrechnung von Leben gegen Leben. Dadurch werde aber der beherrschende und primäre individualrechtliche Gehalt des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG in Frage gestellt; es gebe kein anderes Grundrecht, das unmittelbarer auf den Schutz des Einzelnen als solchen abziele.

87

Im übrigen könne man eine solche Abwägung nur mit der Annahme zu legitimieren versuchen, daß die Zahl der geretteten Leben erwartungsgemäß die der preisgegebenen deutlich übersteige. Indes stehe das Gegenteil fest. Während der parlamentarischen Beratungen habe der Regierungsvertreter aufgrund umfangreicher Untersuchungen und Vergleiche erklärt, selbst bei niedriger Schätzung sei mit einer Steigerung der Gesamtzahl legaler und illegaler Aborte um 40% zu rechnen.

88

Schließlich sei auch zu beachten, daß die Fristenregelung gerade der bedrängten Frau jede Möglichkeit nehme, einen auf Abtreibung gerichteten Druck des Erzeugers oder sonstiger Beteiligter dadurch zu mildern, daß sie auf das Unrecht, die Strafbarkeit, das Risiko des ihr angesonnenen Verhaltens hinweise. Daran könne keine Beratung etwas ändern, am allerwenigsten eine solche, die wirkliche Gegendruck-Mittel nicht einsetzen dürfe. So sei es gerade die Fristenlösung, die die Schwangere in die Isolation treibe und sie unsachlichen Pressionen ausliefere. Sie sei die in Wahrheit unsoziale Regelung.

89

3. Die Freigabe des Schwangerschaftsabbruchs in den ersten zwölf Wochen verstoße auch gegen Art. 3 GG; denn unter keinem sachlichen Gesichtspunkt lasse sich eine Fristenregelung, innerhalb derer kein Rechtsschutz für das werdende Leben bestehe, rechtfertigen. Ferner verletze die Fristenregelung Art. 6 Abs. 1 und Abs. 4 GG sowie das Rechtsstaatsprinzip.

90

III.

Von den Verfassungsorganen, denen gemäß § 77 BVerfGG Gelegenheit zur Äußerung gegeben worden ist, haben der Bundestag und die Bundesregierung Stellung genommen. Die Regierung des Landes Nordrhein-Westfalen hat erklärt, daß sie sich der Stellungnahme der Bundesregierung anschließe.

91

1. Der Bundesminister der Justiz, der sich namens der Bundesregierung geäußert hat, hält die Anträge für unbegründet.

92

a) Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 25. Juni 1974 (BVerfGE 37, 363) habe das Fünfte Strafrechtsreformgesetz nicht der Zustimmung des Bundesrates bedurft. Es enthalte weder neue Vorschriften, welche die Zustimmungsbedürftigkeit begründeten, noch ändere es Regelungen, die der Zustimmungsbedürftigkeit unterlegen hätten. Der Gesetzgeber sei nicht gehindert gewesen, das Fünfte Strafrechtsreformgesetz und das Strafrechtsreform-Ergänzungsgesetz getrennt zu beraten und zu verabschieden.

93

b) Die im Fünften Strafrechtsreformgesetz vorgesehene Fristenregelung sei mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG vereinbar.

94

Die Bundesregierung sei stets davon ausgegangen, daß das ungeborene Leben in den Schutz des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG einbezogen sei. Auch in den ausführlichen Beratungen im Bundestag und Bundesrat seien der Verfassungsrang und die Verpflichtung zum Schutz des ungeborenen Lebens außer Streit gewesen.

95

Ungeachtet der Verpflichtung zu einem angemessenen und wirksamen Schutz des ungeborenen Lebens verlange Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG jedoch keinen Schutz des werdenden Lebens, der dem des geborenen gleichartig sei. Der Gesetzgeber müsse sich deshalb nicht für einen durchgängigen strafrechtlichen Schutz des ungeborenen Lebens entscheiden, sofern der Schutz auf andere Weise den Anforderungen der Schutzwürdigkeit und Schutzbedürftigkeit des ungeborenen Lebens entspreche.

96

Diese Auffassung werde zunächst durch die Entstehungsgeschichte des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG bestätigt. Aus ihr ergebe sich eindeutig, daß nicht von einem durchgehenden Pönalisierungszwang zum Schutz des ungeborenen Lebens ausgegangen werden müsse.

97

Gleichartigkeit des Schutzes sei allerdings erforderlich, soweit staatliche Angriffe abzuwenden seien. Es gehe jedoch weder darum noch um die Abwehr von Angriffen Dritter; denn das Verhältnis der Leibesfrucht zur Mutter sei von besonderer Art. Die Leibesfrucht sei mit Leib und Leben der Mutter in denkbar engster Weise verbunden, auch wenn sie als selbständiges Rechtsgut anerkannt werde. Den Schutz habe bereits die Natur in die unmittelbare Obhut der Mutter gelegt. Die Möglichkeiten der Rechtsordnung, das ungeborene Leben auch gegenüber der Mutter zu schützen, seien von der Sache her begrenzt. Strafrechtliche Sanktionen hätten nach den bisherigen Erfahrungen nur in beschränktem Maße Schwangere zum Austragen einer Leibesfrucht bewegen können, wenn bei ihnen dazu die Bereitschaft nicht vorhanden sei. Die Schutzpflicht könne deshalb für den Staat nicht eine durchgehende Strafpflicht begründen. Mit der Zurücknahme der Strafdrohung gegenüber einem Abbruch der Schwangerschaft in den ersten Schwangerschaftswochen verleihe der Staat der Mutter kein Recht zum Eingriff. Der Gesetzgeber begrenze lediglich die Strafdrohung im Hinblick darauf, daß andere Schutzvorkehrungen als geeigneter und wirksamer angesehen würden oder um schutzwürdigen Belangen der Schwangeren Rechnung zu tragen.

98

Verfassungsrechtlich könne von einer generellen Strafpflicht des Staates auch deshalb nicht ausgegangen werden, weil der Gesetzgeber gehalten sei, entgegenstehende Grundrechte der Schwangeren selbst und verfassungsrechtliche Wertentscheidungen zu berücksichtigen. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG wirke zugunsten schwangerer Frauen als ein auch ihnen zustehendes Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Dem Schutz des Lebens und der Gesundheit Schwangerer komme im Hinblick auf die große Zahl der nicht von Ärzten vorgenommenen Schwangerschaftsabbrüche ein beachtliches Gewicht zu. Das Kurpfuschertum sei zwar im Vergleich zu früheren Zeiten zurückgegangen, begründe aber immer noch für das Leben und die Gesundheit schwangerer Frauen eine erhebliche Gefahr. Auch bei rechtswidrigen Schwangerschaftsabbrüchen durch Ärzte sei in kritischen Fällen die erforderliche Not- sowie die Nachversorgung nicht unbedingt gewährleistet. Außerdem sei die Selbstverantwortung schwangerer Frauen zu beachten. Die Wertentscheidung zugunsten der Selbstverantwortung des Menschen habe hier insofern eine entscheidende verfassungsrechtliche Bedeutung, als der Gesetzgeber sie gerade bei der Regelung eines Lebensbereichs, der in starkem Maße von der natürlichen Verantwortung der Frau für ihre Leibesfrucht geprägt sei, mit zugrunde legen müsse. Der Gesetzgeber habe angesichts der sich gegenseitig beeinflussenden und begrenzenden Wertentscheidungen und Grundrechte die Aufgabe, alle Rechtspositionen zu berücksichtigen und zum Ausgleich zu bringen.

99

Beim Erlaß von Strafrechtsnormen sei überdies zu beachten, daß dem Strafrecht aus dem Gebot des sinn- und maßvollen Strafens Grenzen gesetzt seien. Nicht überall dort, wo verfassungsrechtliche Wertentscheidungen vorlägen, sei ihre Sicherung durch Strafsanktionen geboten. Eine durchgehende Parallelität von verfassungsrechtlicher und strafrechtlicher Wertordnung lasse sich nicht herstellen; beide Bereiche seien nicht identisch.

100

Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG könne hiernach grundsätzlich kein weitergehender Auftrag für die Ausgestaltung der allgemeinen Rechtsordnung entnommen werden, als der, einen dem ungeborenen Leben angemessenen und wirksamen Schutz zu gewährleisten. Der Gesetzgeber habe die von einer verfassungsrechtlichen Grundentscheidung ausgehenden Richtlinien und Impulse zu beachten. Im übrigen sei er jedoch in der Ausgestaltung dieser Maßnahmen frei.

101

c) Die Fristenregelung des Fünften Strafrechtsreformgesetzes genüge in Inhalt und Ausgestaltung den verfassungsrechtlichen Anforderungen des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG. Die Beratung schwangerer Frauen während der ersten zwölf Schwangerschaftswochen, das Kernstück der Fristenregelung, gewährleiste auch ohne Strafdrohung den erforderlichen Schutz des ungeborenen Lebens.

102

Der Gesetzgeber sei dabei davon ausgegangen, daß die Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch in aller Regel einer schwerwiegenden Konfliktsituation der Schwangeren entspringe und in den Tiefen der Persönlichkeit getroffen werde. Eine Strafvorschrift vermöge deshalb zum Schwangerschaftsabbruch geneigte oder bereite Frauen regelmäßig nicht zu erreichen. Andererseits liege, wenn eine Frau trotz des Risikos für ihre eigene Gesundheit oder gar das eigene Leben einen Schwangerschaftsabbruch erwäge, eine Situation vor, die Beratung und Hilfestellung erfordere. Beides erscheine auch nicht als aussichtslos, da viele dieser Frauen noch in ihrem Entschluß schwankten und keineswegs von vornherein auf den Schwangerschaftsabbruch fixiert seien. Solche Frauen könnten durch eine eingehende Beratung zu einer positiven Einstellung zur Schwangerschaft gebracht werden. Eine durchgehende Strafandrohung auch für die erste Zeit der Schwangerschaft, wie sie bei Indikationsregelungen vorgesehen sei, schwäche die Effektivität von Beratungs- und Hilfsangeboten entscheidend. Da eine Indikationsregelung zwangsläufig irgendeine Form eines Begutachtungssystems voraussetze, unterwerfe sie die Schwangere dem Zwang, sich dieser Begutachtung zu unterziehen. Dies sei aber einer offenen Beteiligung der Schwangeren an der Beratung abträglich und führe bei abtreibungsbereiten und -geneigten Frauen häufig dazu, daß der Weg zur Beratung und zur Gutachterstelle von vornherein vermieden werde.

103

Im übrigen ließen die im Zusammenhang mit der Reform des § 218 StGB angestellten Prognosen keine verfassungsrechtlichen Schlußfolgerungen zu. Sie müßten auf unbekannte Größen zurückgreifen und erlaubten deshalb keine zuverlässigen Rückschlüsse. Die Prognosefehler kumulierten sich überdies, wenn die dem Fünften Strafrechtsreformgesetz zugrunde liegende Regelung als Entkriminalisierung erklärt und mit der Rechtslage in Ländern verglichen werde, in denen diese tatsächlich so verstanden werden müsse. Der Zweck dieses Gesetzes sei nicht die Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs, sondern die Gewährleistung eines angemessenen und wirksamen Schutzes des ungeborenen Lebens, auch wenn anstelle einer durchgehenden Bestrafung des Schwangerschaftsabbruchs eine verbundene Regelung vorgesehen sei, die für die ersten zwölf Schwangerschaftswochen der Beratung als vorbeugender Maßnahme eine größere Eignung als der Strafandrohung beimesse.

104

Der Gesetzgeber habe die Beratung wirksam gestaltet. Neben einer Beratung, bei der ärztliche Gesichtspunkte im Vordergrund stünden, stehe die Unterrichtung über die zur Verfügung stehenden öffentlichen und privaten Hilfen für Schwangere, Mütter und Kinder sowie insbesondere über solche Hilfen, die die Fortsetzung der Schwangerschaft und die Lage von Mutter und Kind erleichtern. Unzweideutig sei, daß die Beratung auf Fortsetzung der Schwangerschaft ausgerichtet sein müsse. Der Gesetzgeber habe die Beratung durch eine Strafandrohung abgesichert. Durch das Strafrechtsreform-Ergänzungsgesetz werde sichergestellt, daß der Weg zum Arzt oder zur Beratungsstelle nicht aus Kostengründen erschwert werde. Die Befürchtung, die Fristenregelung führe zu einem "Dammbruch" im Rechtsbewußtsein unseres Volkes, sei bereits in der wissenschaftlichen Literatur überzeugend widerlegt.

105

d) Die bedingte Rücknahme der Strafdrohung für den Schwangerschaftsabbruch in den ersten zwölf Schwangerschaftswochen verstoße auch nicht gegen Art. 3 GG. Die unterschiedlichen Schutzvorkehrungen beruhten nicht auf einer verschiedenen Bewertung der Leibesfrucht nach ihrem Alter, sondern seien Teil einer einheitlichen Regelung, die nicht nur insgesamt, sondern auch in ihren Teilen auf einen gleichwertigen Schutz der Leibesfrucht ausgerichtet sei und diesen Schutz in einer dem jeweiligen Entwicklungsstadium angemessenen und wirksamen Weise ausgestalte. Auch Art. 6 Abs. 1 und 4 GG sowie das Rechtsstaatsprinzip seien nicht verletzt.

106

2. Für den Deutschen Bundestag hat der Bundestagsabgeordnete Rechtsanwalt Professor Dr. Ehmke eine Stellungnahme abgegeben. Er ist ebenfalls der Auffassung, die Fristenregelung des Fünften Strafrechtsreformgesetzes sei mit dem Grundgesetz vereinbar. Er verneint die Zustimmungsbedürftigkeit dieses Gesetzes aus den gleichen Gründen wie die Bundesregierung.

107

Weiter führt er aus:

108

Das Gesetz enthalte keine "perfekte", aber eine sinnvolle Lösung des seit Jahrzehnten diskutierten Reformproblems. Die hohen Dunkelziffern, die geringe Zahl der - nur auf leichte Strafen lautenden - Verurteilungen, die sich negativ auf die soziale Geltungskraft des § 218 StGB ausgewirkt habe, die Benachteiligung der Frauen aus sozial schwächeren Schichten, die sich Kurpfuschern hätten anvertrauen müssen, sowie die Folgekriminalität hätten dringend eine Reform des § 218 StGB verlangt. Gesundheitspolitisch wie gesellschaftspolitisch sei die Fristenlösung vorzuziehen; sie werde insbesondere mit hoher Wahrscheinlichkeit die Zahl der illegalen Schwangerschaftsabbrüche und die mit ihnen verbundenen gesundheitlichen Gefahren für die Mütter vermindern und im übrigen auch die Folgekriminalität eindämmen können. Im Gegensatz zu einer Indikationslösung schließe die Fristenlösung sowohl regionale wie individuelle Ungleichheit und damit Ungerechtigkeit bei der Anwendung der Indikationstatbestände als auch die soziale Ungleichheit hinsichtlich der Ausweichmöglichkeiten ins Ausland aus. Sie beseitige die Angst der Frauen vor dem Abgewiesenwerden, die sie wieder in die Illegalität treibe, und eröffne damit einer ohne Zeitdruck erfolgenden Beratung und selbstverantwortlichen Überlegung der Mutter überhaupt erst eine Chance. Es verspreche mehr Erfolg, die Einsicht und die Selbstverantwortung der Frauen zu stärken, als auf ihre Angst vor der Strafdrohung zu bauen.

109

Die Frage der Verfassungsmäßigkeit der Fristenlösung lasse sich nicht allein aus dem Wortlaut des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und der Entstehungsgeschichte dieser Vorschrift beantworten. Aus den Verhandlungen des Parlamentarischen Rates ergebe sich nur, daß er eine Reform der Strafvorschriften über den Schwangerschaftsabbruch bewußt nicht habe präjudizieren wollen und deshalb die Frage, ob und wieweit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG auch ungeborenes Leben schütze, nicht ausdrücklich entschieden habe. Daher sei auf anderem Wege über die Auslegung des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG Klarheit zu gewinnen.

110

Die Verwendung des Wortes "jeder" spreche gegen die Annahme eines Grundrechts des ungeborenen Lebens, da sowohl in der Umgangs- wie auch in der Rechtssprache mit "jeder" eindeutig eine menschliche Person bezeichnet werde. Auch im Rechtssinne beginne das Person- und Menschsein erst mit der Geburt.

111

Damit sei allerdings noch nicht entschieden, ob und inwieweit ungeborenes Leben ein durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG geschütztes Rechtsgut darstelle. In Übereinstimmung mit der in der Lehre überwiegend und im Deutschen Bundestag einhellig vertretenen Meinung sei Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nach seinem Sinn und Zweck dahin auszulegen, daß er als Grundsatznorm der Verfassung auch das ungeborene Leben als Vorstufe des Menschenlebens schütze. Damit sei aber noch völlig offen, wann der Rechtsschutz beginne, welcher Art er zu sein habe und wie er gegenüber verschiedenen potentiellen Verletzern zu differenzieren sei.

112

Diese Frage könne weder durch Rückgriff auf kirchliche Lehren oder religiöse Überzeugungen noch mit den Methoden der Naturwissenschaft beantwortet werden. Auch eine Berufung auf Art. 1 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 2 GG könne keine zusätzlichen Erkenntnisse bringen. Bei der Interpretation des Begriffs "Mensch" stellten sich die gleichen noch nicht beantworteten Auslegungsfragen. Art. 19 Abs. 2 GG bestimme nicht den Umfang eines Grundrechts, sondern seinen unverzichtbaren "Kern"; bevor diese Bestimmung herangezogen werden könne, müsse also zunächst geprüft werden, ob und inwieweit ungeborenes Leben durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG überhaupt geschützt werde.

113

Die Frage des Strafrechtsschutzes ungeborenen Lebens verlange differenzierte Antworten, je nachdem gegen welchen potentiellen Täter er sich richte und in welchem Entwicklungsstadium sich das ungeborene Leben befinde. Auch die Rechtsgeschichte zeige, daß das ungeborene Leben - sowohl im weltlichen wie im kirchlichen Recht - immer anders, und zwar schwächer geschützt worden sei als das geborene Leben.

114

Nach kirchlichem Recht sei bis zum Ende des 19. Jahrhunderts nur die Abtötung einer "beseelten" Leibesfrucht strafbar gewesen, wobei als Zeitpunkt der Beseelung in der Praxis der 80. Tag nach der Empfängnis angenommen worden sei. Das weltliche Recht sei zunächst nachhaltig von der kirchlichen Lehre und vom kirchlichen Recht beeinflußt worden; seit dem Aufkommen naturwissenschaftlichen Denkens habe es auf den Beginn der Kindesbewegungen (im Common Law: quickening) abgestellt, bis zu deren Einsetzen der Schwangerschaftsabbruch wesentlich milder bestraft worden sei. Aus bevölkerungspolitischen Gründen habe das Preußische Allgemeine Landrecht dann zwar den Schwangerschaftsabbruch schon von der Empfängnis an bestraft, die Strafdrohung aber nach der 30. Schwangerschaftswoche, also nach der Lebensfähigkeit des Kindes, abgestuft.

115

Daß ungeborenes Leben strafrechtlich nicht wie ein Menschenleben zu bewerten sei, zeige sich auch darin, daß selbst die Gegner der Fristenlösung über die medizinische Indikation hinausgehende weitere Indikationstatbestände vorgeschlagen hätten. Von dem irrigen Ausgangspunkt her, ungeborenes Leben sei strafrechtlich ein dem Menschenleben gleichwertiges Rechtsgut, käme diese Strafrechtslehre bei der eugenischen und der ethischen Indikation in Bedrängnis. Letztlich gehe es entscheidend um die Wahrung mütterlicher Interessen, wobei man gleichzeitig bemüht sei, die des nasciturus soweit als möglich zu schützen. Man müsse deshalb die Frage von den Rechten der Mutter her betrachten und die Strafvorschrift des § 218 StGB dogmatisch richtig als ein Gesetz verstehen, daß zum Schutz des objektiven Rechtsguts ungeborenes Leben in Grundrechte der Mutter eingreife. Diese Bewertung des Schwangerschaftsabbruchs sei allgemein im Rechtsbewußtsein der freien Welt zu beobachten, wie ein rechtsvergleichender Blick auf das westliche Ausland zeige.

116

Sehe man die Lage so, dann stärke die Fristenregelung die Grundrechte der Frau aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG. Das heiße zwar nicht, daß ihre individuelle Freiheit unbeschränkt sein könnte. Es sei jedoch für die Frage des Schwangerschaftsabbruchs zunächst von der Selbstverantwortung der Frau auszugehen, die allerdings nicht im Sinne eines "Verfügungsrechts" der Frau über die Leibesfrucht, die nicht Teil des Körpers der Frau sei, mißverstanden werden dürfe. Eine Strafvorschrift gegen den Schwangerschaftsabbruch verlange von der Frau nicht nur, wie von Dritten, eine bloße Unterlassung, sondern vielmehr das Aufsichnehmen von Gefahren für Leib und Leben, von körperlichen und psychischen Belastungen sowie der Pflichten, die sich später aus dem Muttersein und der Verantwortung für die Erziehung und Betreuung ihrer Kinder ergäben. Ferner garantiere Art. 6 Abs. 1 GG einen Bereich privater, familiärer Lebensgestaltung, der dem Eingriff des Staates grundsätzlich entzogen sei. Art. 6 Abs. 1 GG sei heute im Lichte des werdenden Menschenrechts auf Familienplanung zu interpretieren. Weiter ergebe sich aus Art. 6 Abs. 4 GG eine positive soziale Schutzpflicht des Staates. Schließlich seien in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG Leben und Gesundheit der Mutter im Gegensatz zum ungeborenen Leben nicht bloß als objektive Rechtsgüter, sondern als echte Grundrechte geschützt.

117

Bei Abwägung aller Umstände könne Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, der als Grundsatznorm auch ungeborenes Leben schütze, nicht dahin ausgelegt werden, daß er die durchgehende Pönalisierung des Schwangerschaftsabbruchs vom Beginn des Lebens an vorschreibe.

118

Der Gesetzgeber habe endlich den Weg eines positiven Schutzes ungeborenen Lebens betreten. Die vorgesehene Beratung solle der Frau einerseits zeigen, welche Hilfen sie bei Austragung der Schwangerschaft und für die Mutterschaft von der Gesellschaft erwarten könne, und solle ihr andererseits alle medizinischen Gesichtspunkte der Schwangerschaft wie des Schwangerschaftsabbruchs vor Augen führen. Das Strafrechtsreform-Ergänzungsgesetz solle die Beratung durch einen Beratungsanspruch absichern und im übrigen die soziale Sicherung für die werdende Mutter und damit für das werdende Leben verbessern.

119

Prognosen über die zukünftige Wirkung eines Gesetzes seien naturgemäß mit erheblicher Unsicherheit belastet. Dies gelte insbesondere in einem Bereich, in dem man angesichts der ungewöhnlich hohen Dunkelziffer nur von geschätzten Zahlen ausgehen könne. Auch hier müsse der vom Bundesverfassungsgericht aufgestellte Grundsatz gelten, daß eine gesetzliche Maßnahme nicht schon deshalb als verfassungswidrig angesehen werden dürfe, weil sie auf einer Fehlprognose beruhen könnte. Das Bundesverfassungsgericht habe vielmehr nur zu prüfen, ob die Annahmen des Gesetzgebers so verfehlt seien, daß sie als nicht sachgerecht und und unvertretbar bezeichnet werden müßten.
120

IV.

In der mündlichen Verhandlung am 18. und 19. November haben sich zu den verfassungsrechtlichen Fragen geäußert:

121

Für die Antragsteller der Justizminister des Landes Baden-Württemberg, Dr. Bender, der Minister für Familie, Gesundheit und Sozialordnung des Saarlandes, Frau Rita Waschbuesch, die Professoren Dr. Lerche, Dr. Ossenbühl und Dr. Rudolphi, Rechtsanwalt Erhard (MdB) sowie die Ministerialdirigenten Professor Dr. Odersky (Bayern) und Dr. Fischer (Rheinland-Pfalz), für den Deutschen Bundestag dessen Vizepräsidentin Frau Liselotte Funcke, Rechtsanwalt Professor Dr. Ehmke (MdB) und Professor Dr. Stratenwerth, für die Bundesregierung der Bundesminister der Justiz Dr. Vogel, die Professoren Dr. Baumann und Dr. Peter Schneider sowie Ministerialdirektor Bahlmann und Ministerialrat Harsdorf.

122

Auf Anregung der Bundesregierung ist ferner Professor Dr.Dr. Jürgens als Auskunftsperson angehört worden.

123

B.

Das Fünfte Strafrechtsreformgesetz bedurfte nicht der Zustimmung des Bundesrates.

124

1. Das Gesetz ändert zwar in den Artikeln 6 und 7 die Strafprozeßordnung und das Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch, die ihrerseits mit Zustimmung des Bundesrates ergangen sind. Deswegen allein ist es aber noch nicht zustimmungsbedürftig (BVerfGE 37, 363). Das Gesetz ändert ferner keine gesetzlichen Bestimmungen, die ihrerseits zustimmungsbedürftig waren.

125

2. Das Fünfte Strafrechtsreformgesetz enthält selbst keine gemäß Art. 84 Abs. 1 oder einer anderen Bestimmung des Grundgesetzes zustimmungsbedürftigen Vorschriften. Weder § 218c noch § 219 STgb n.F. regeln die Einrichtung von Behörden oder das Verwaltungsverfahren. Sie setzen vielmehr lediglich die materiell-rechtlich Voraussetzungen eines nicht strafbaren Schwangerschaftsabbruchs fest. Das gilt auch, soweit § 218c Abs. 1 Nr. 1 StGB verlangt, daß die Schwangere sich vor dem Abbruch an eine ermächtigte Beratungsstelle gewandt hat, und den Gegenstand der Beratung umschreibt. Die Errichtung und Einrichtung von Beratungsstellen sowie der Erlaß von Verwaltungsvorschriften für das von diesen Stellen zu praktizierende Verfahren bleiben in vollem Umfang den Ländern überlassen. Aus den gleichen Gründen löst § 219 StGB nicht das Zustimmungserfordernis des Bundesrates aus, wenn diese Vorschrift vor der Durchführung eines nach § 218b indizierten Schwangerschaftsabbruchs die Bestätigung der sachlichen Voraussetzungen durch "eine zuständige Stelle" fordert.

126

3. Den antragstellenden Landesregierungen kann auch nicht gefolgt werden, soweit sie bei der Beurteilung der Zustimmungsbedürftigkeit an den in der Entscheidung vom 25. Juni 1974 aufgestellten Rechtsgrundsatz anknüpfen, wonach ein Änderungsgesetz dann der Zustimmung des Bundesrates bedarf, "wenn durch die Änderung materiell- rechtlicher Normen die nicht ausdrücklich geänderten Vorschriften über das Verwaltungsverfahren bei sinnorientierter Auslegung ihrerseits eine wesentlich andere Bedeutung und Tragweite erfahren" (BVerfGE 37, 363, 4. Leitsatz und [383]). Die tatsächlichen Voraussetzungen für eine unmittelbare Anwendung dieses Leitsatzes liegen hier unbestrittenermaßen nicht vor. Ob eine Fortentwicklung dieses Rechtsgrundsatzes in dem von der Landesregierung von Rheinland-Pfalz vorgetragenen Sinn überhaupt in Betracht kommen könnte, mag dahinstehen. Auch nach dieser Rechtsansicht ergäbe sich keine Zustimmungsbedürftigkeit des Fünften Strafrechtsreformgesetzes, da den Ländern nach den materiell-rechtlichen Vorschriften für die ihnen obliegenden Verwaltungsregelungen noch ein weiter Gestaltungsspielraum verbleibt.

127

4. Schließlich kann auch aus dem engen Zusammenhang des Fünften Strafrechtsreformgesetzes mit dem Strafrechtsreform-Ergänzungsgesetz, das mit dem vom Bundestag beschlossenen Inhalt für zustimmungsbedürftig angesehen wird, kein Zustimmungserfordernis abgeleitet werden. Abgesehen davon, daß das Strafrechtsreform-Ergänzungsgesetz noch nicht zustande gekommen ist, ist der Gesetzgeber in Ausübung seiner gesetzgeberischen Freiheit grundsätzlich nicht gehindert, ein Gesetzesvorhaben in mehrere Einzelgesetze aufzuteilen. Das Bundesverfassungsgericht ist bisher von der Zulässigkeit solcher Aufspaltungen ausgegangen (vgl. BVerfGE 34, 9 [28]; 37, 363 [382]). In der Entscheidung BVerfGE 24, 184 (199 f.) - Apostille - hat es das Gericht offengelassen, ob der Aufspaltungsbefugnis verfassungsrechtliche Grenzen gezogen sind und wo diese Grenzen verlaufen. Hier sind solche Grenzen jedenfalls nicht überschritten.

128

Das Fünfte Strafrechtsreformgesetz un das geplante Strafrechtsreform-Ergänzungsgesetz sind zwar aufeinander abgestimmt, sie müssen aber nicht notwendig zu einer gesetzestechnischen Einheit miteinander verbunden werden. Das erstgenannte Gesetz enthält im wesentlichen nur Straf- und Strafverfahrensrecht. Demgegenüber hat das Strafrechtsreform-Ergänzungsgesetz sozial- und arbeitsrechtliche Maßnahmen zum Inhalt. Die inhaltliche Unabhängigkeit des Strafrechtsreform-Ergänzungsgesetzes vom Fünften Strafrechtsreformgesetz ergibt sich augenfällig schon daraus, daß das Strafrechtsreform-Ergänzungsgesetz seinem Wortlaut nach auf alle für die Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs vorgeschlagenen Lösungen, nämlich die "Fristenlösung" und die drei "Indikationslösungen", anwendbar wäre.

129

C.

Die Frage der rechtlichen Behandlung des Schwangerschaftsabbruchs wird in der Öffentlichkeit seit Jahrzehnten unter mannigfachen Gesichtspunkten diskutiert. In der Tat wirft dieses Phänomen des Soziallebens vielfältige Probleme biologischer, insbesondere humangenetischer, anthropologischer, ferner medizinischer, psychologischer, sozialer, gesellschaftspolitischer und nicht zuletzt ethischer und moraltheologischer Art auf, die Grundfragen menschlicher Existenz berühren. Aufgabe des Gesetzgebers ist es, die aus diesen verschiedenen Sichtweisen entwickelten, unter sich vielseitig verschränkten Argumente zu würdigen, sie durch spezifisch rechtspolitische Überlegungen sowie durch die praktischen Erfahrungen des Rechtslebens zu ergänzen und auf dieser Grundlage die Entscheidung zu gewinnen, in welcher Weise die Rechtsordnung auf diesen sozialen Vorgang reagieren soll. Die nach außergewöhnlich umfangreichen Vorarbeiten im Fünften Strafrechtsreformgesetz getroffene gesetzliche Regelung kann vom Bundesverfassungsgericht allein unter dem Gesichtspunkt geprüft werden, ob sie mit dem Grundgesetz als dem höchsten in der Bundesrepublik geltenden Recht vereinbar ist. Gewicht und Ernst der verfassungsrechtlichen Fragestellung werden deutlich, wenn bedacht wird, daß es hier um den Schutz menschlichen Lebens geht, eines zentralen Wertes jeder rechtlichen Ordnung. Die Entscheidung über Maßstäbe und Grenzen der gesetzgeberischen Entscheidungsfreiheit erfordert eine Gesamtschau des verfassungsrechtlichen Normenbestandes und der in ihm beschlossenen Wertordnung.

130

I.

1. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG schützt auch das sich im Mutterleib entwickelnde Leben als selbständiges Rechtsgut.

131

a) Die ausdrückliche Aufnahme des an sich selbstverständlichen Rechts auf Leben in das Grundgesetz - anders als etwa in der Weimarer Verfassung - erklärt sich hauptsächlich als Reaktion auf die "Vernichtung lebensunwerten Lebens", auf "Endlösung" und "Liquidierung", die vom nationalsozialistischen Regime als staatliche Maßnahmen durchgeführt wurden. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG enthält ebenso wie die Abschaffung der Todesstrafe durch Art. 102 GG "ein Bekenntnis zum grundsätzlichen Wert des Menschenlebens und zu einer Staatsauffassung, die sich in betonten Gegensatz zu den Anschauungen eines politischen Regimes stellt, dem das einzelne Leben wenig bedeutete und das deshalb mit dem angemaßten Recht über Leben und Tod des Bürgers schrankenlosen Mißbrauch trieb" (BVerfGE 18, 112 [117]).

132

b) Bei der Auslegung des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ist auszugehen von seinem Wortlaut: "Jeder hat das Recht auf Leben ... ". Leben im Sinne der geschichtlichen Existenz eines menschlichen Individuums besteht nach gesicherter biologisch-physiologischer Erkenntnis jedenfalls vom 14. Tage nach der Empfängnis (Nidation, Individuation) an (vgl. hierzu die Ausführungen von Hinrichsen vor dem Sonderausschuß für die Strafrechtsreform, 6. Wp., 74. Sitzung, StenBer. S. 2142 ff.). Der damit begonnene Entwicklungsprozeß ist ein kontinuierlicher Vorgang, der keine scharfen Einschnitte aufweist und eine genaue Abgrenzung der verschiedenen Entwicklungsstufen des menschlichen Lebens nicht zuläßt. Er ist auch nicht mit der Geburt beendet; die für die menschliche Persönlichkeit spezifischen Bewußtseinsphänomene z.B. treten erst längere Zeit nach der Geburt auf. Deshalb kann der Schutz des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG weder auf den "fertigen" Menschen nach der Geburt noch auf den selbständig lebensfähigen nasciturus beschränkt werden. Das Recht auf Leben wird jedem gewährleistet, der "lebt"; zwischen einzelnen Abschnitten des sich entwickelnden Lebens vor der Geburt oder zwischen ungeborenem und geborenem Leben kann hier kein Unterschied gemacht werden. "Jeder" im Sinne des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ist "jeder Lebende", anders ausgedrückt: jedes Leben besitzende menschliche Individuum; "jeder" ist daher auch das noch ungeborene menschliche Wesen.

133

c) Gegenüber dem Einwand, "jeder" bezeichne sowohl in der Umgangs- als auch in der Rechtssprache gemeinhin eine "fertige" menschliche Person, eine reine Wortinterpretation spreche daher gegen die Einbeziehung des ungeborenen Lebens in den Wirkungsbereich des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ist zu betonen, daß jedenfalls Sinn und Zweck dieser Grundgesetzbestimmung es erfordern, den Lebensschutz auch auf das sich entwickelnde Leben auszudehnen. Die Sicherung der menschlichen Existenz gegenüber staatlichen Übergriffen wäre unvollständig, wenn sie nicht auch die Vorstufe des "fertigen Lebens", das ungeborene Leben, umfaßte.

134

Diese extensive Auslegung entspricht dem in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aufgestellten Grundsatz, "wonach in Zweifelsfällen diejenige Auslegung zu wählen ist, welche die juristische Wirkungskraft der Grundrechtsnorm am stärksten entfaltet" (BVerfGE 32, 54 [71]; 6, 55 [72]).

135

d) Zur Begründung dieses Ergebnisses läßt sich auch die Entstehungsgeschichte des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG heranziehen.

136

Nachdem die Fraktion der Deutschen Partei (DP) wiederholt den Antrag gestellt hatte, im Zusammenhang mit dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit auch das "keimende Leben" ausdrücklich zu erwähnen (Drucks. des Parlamentarischen Rates 11.48 - 298 und 12.48 - 398), beriet der Parlamentarische Rat erstmalig in der 32. Sitzung seines Ausschusses für Grundsatzfragen am 11. Januar 1949 diesen Problemkreis. Bei der Erörterung der Frage, ob in das Grundgesetz eine Vorschrift aufgenommen werden solle, die ärztliche Eingriffe verbietet, die nicht der Heilung dienen, erklärte der Abgeordnete Dr. Heuss (FDP), ohne damit auf Widerspruch zu stoßen, gedacht sei hier an die Zwangssterilisation und beim Recht auf Leben an die Abtreibung. Der Hauptausschuß des Parlamentarischen Rates befaßte sich in seiner 42. Sitzung am 18. Januar 1949 bei der zweiten Lesung über die Grundrechte (Verhandlungen des Hauptausschusses des Parlamentarischen Rates, StenBer. S. 529 ff.) eingehender mit der Frage nach der Einbeziehung des werdenden Lebens in den Schutz der Verfassung. Der Abgeordnete Dr. Seebohm (DP) beantragte, dem damaligen Art. 2 Abs. 1 GG die beiden Sätze anzufügen: "Das keimende Leben wird geschützt" und "Die Todesstrafe wird abgeschafft". Dazu führte Dr. Seebohm (a.a.O., S. 533 f.) aus, das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit umfasse möglicherweise nicht unbedingt auch das keimende Leben. Deshalb müsse es hier besonders erwähnt werden. Mindestens müsse man aber, wenn eine andere Auffassung vorliegen sollte, hierzu ausdrücklich zu Protokoll geben, daß bei dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit das keimende Leben ausdrücklich eingeschlossen sei.

137

Die Abgeordnete Frau Dr. Weber erklärte namens der CDU/CSU, daß ihre Fraktion, wenn sie für das Recht auf Leben eintrete, das Leben schlechthin meine und für sie auch das keimende Leben und vor allem der Schutz des keimenden Lebens darin enthalten sei (a.a.O., S. 534). Dr. Heuss (FDP) stimmte an sich mit Frau Dr. Weber überein, daß der Begriff des Lebens auch das keimende Leben mit umfasse; in die Verfassung sollten aber nicht Dinge hineingenommen werden, die im Strafgesetz geregelt seien. Infolgedessen halte er die Erwähnung sowohl des keimenden Lebens als auch der Todesstrafe als Sonderfrage für überflüssig (a.a.O., S. 535).

138

"Nach den unwidersprochenen Erklärungen, wonach das keimende Leben in das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit einbezogen ist", wollte Dr. Seebohm seinen Antrag zurückziehen (a.a.O., S. 535). Indessen erklärte der Abgeordnete Dr. Greve (SPD): "Ich muß hier ausdrücklich zu Protokoll geben, daß zum mindesten, was mich angeht, ich unter dem Recht auf Leben nicht auch das Recht auf das keimende Leben verstehe. Ich darf auch für meine Freunde, zum mindesten in ihrer sehr großen Mehrzahl, eine Erklärung gleichen Inhaltes abgeben, um protokollarisch festzuhalten, daß der Hauptausschuß des Parlamentarischen Rates in seiner Gesamtheit nicht auf dem von Herrn Kollegen Dr. Seebohm soeben zum Ausdruck gebrachten Standpunkt steht". Der darauf von Dr. Seebohm wieder aufgenommene Antrag wurde zwar mit 11 gegen 7 Stimmen abgelehnt (a.a.O., S. 535). In dem Schriftlichen Bericht des Hauptausschusses (S. 7) führte der Abgeordnete Dr. von Mangoldt (CDU) jedoch zu Art. 2 GG aus: "Dabei hat mit der Gewährleistung des Rechts auf Leben auch das keimende Leben geschützt werden sollen. Von der Deutschen Partei im Hauptausschuß eingebrachte Anträge, einen besonderen Satz über den Schutz des keimenden Lebens einzufügen, haben nur deshalb keine Mehrheit gefunden, weil nach der im Ausschuß vorherrschenden Auffassung das zu schützende Gut bereits durch die gegenwärtige Fassung gesichert war".

139

Das Plenum des Parlamentarischen Rates stimmte dem Art. 2 Abs. 2 GG am 6. Mai 1949 in zweiter Lesung bei 2 Gegenstimmen zu. Bei der dritten Lesung am 8. Mai 1949 brachten sowohl der Abgeordnete Dr. Seebohm als auch die Abgeordnete Dr. Weber zum Ausdruck, daß nach ihrer Auffassung Art. 2 Abs. 2 GG auch das keimende Leben in den Schutz dieses Grundrechts einbeziehe (Verhandlungen des Parlamentarischen Rates, StenBer. S. 218, 223). Beide Redner blieben mit ihren Ausführungen ohne Widerspruch.

140

Die Entstehungsgeschichte des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG legt es somit nahe, daß die Formulierung "jeder hat das Recht auf Leben" auch das "keimende" Leben einschließen sollte. Jedenfalls kann aus den Materialien noch weniger für die gegenteilige Ansicht abgeleitet werden. Andererseits ergibt sich aus ihr kein Anhaltspunkt für die Beantwortung der Frage, ob das ungeborene Leben strafrechtlich geschützt werden muß.

141

e) Bei den Beratungen des Fünften Strafrechtsreformgesetzes bestand im übrigen Einigkeit über die Schutzwürdigkeit des ungeborenen Lebens, wobei allerdings die verfassungsrechtliche Problematik nicht abschließend behandelt wurde. In dem Bericht des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform zu dem von den Fraktionen der SPD und FDP eingebrachten Gesetzentwurf heißt es hierzu u.a.:

142


"Das ungeborene Leben ist ein Rechtsgut, das geborenem grundsätzlich gleich zu achten ist.


143

Diese Feststellung versteht sich für das Stadium, in dem das ungeborene Leben auch außerhalb des Mutterleibes lebensfähig wäre, von selbst. Sie ist aber bereits für das frühere, etwa mit dem 14. Tag nach der Empfängnis beginnende Entwicklungsstadium gerechtfertigt, wie u.a. Hinrichsen in der Öffentlichen Anhörung (AP VI S. 2142 ff.) überzeugend begründet hat ... . Daß in der gesamten späteren Entwicklung keine diesem Vorgang entsprechende Zäsur mehr festzustellen sei, ist die ganz überwiegende Auffassung in der medizinischen, anthropologischen und theologischen Wissenschaft ... .

144

Damit verbietet es sich, das ungeborene Leben ab dem Ende der Nidation zu negieren oder auch nur mit Indifferenz zu betrachten. Dabei braucht die in der Literatur umstrittene Frage, ob und ggf. inwieweit das Grundgesetz es in seinen Schutz einbeziehe, an dieser Stelle nicht beantwortet zu werden. Jedenfalls entspricht es, sieht man von extremen Auffassungen einzelner Gruppen ab, dem Rechtsverständnis der Allgemeinheit, das ungeborene Leben als Rechtsgut von hohem Rang zu bewerten. Dieses Rechtsverständnis liegt auch dem Entwurf zu Grunde." (BTDrucks.7/1981 neu, S. 5)

145

Nahezu gleichlautend sind insoweit die Ausschußberichte zu den übrigen Entwürfen (BTDrucks. 7/1982 S. 5; BTDrucks. 7/1983 S. 5; BTDrucks. 7/1984 neu, S. 4).

146

2. Die Pflicht des Staates, jedes menschliche Leben zu schützen, läßt sich deshalb bereits unmittelbar aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ableiten. Sie ergibt sich darüber hinaus auch aus der ausdrücklichen Vorschrift des Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG; denn das sich entwickelnde Leben nimmt auch an dem Schutz teil, den Art. 1 Abs. 1 GG der Menschenwürde gewährt. Wo menschliches Leben existiert, kommt ihm Menschenwürde zu; es ist nicht entscheidend, ob der Träger sich dieser Würde bewußt ist und sie selbst zu wahren weiß. Die von Anfang an im menschlichen Sein angelegten potentiellen Fähigkeiten genügen, um die Menschenwürde zu begründen.

147

3. Hingegen braucht die im vorliegenden Verfahren wie auch in der Rechtsprechung und im wissenschaftlichen Schrifttum umstrittene Frage nicht entschieden zu werden, ob der nasciturus selbst Grundrechtsträger ist oder aber wegen mangelnder Rechts- und Grundrechtsfähigkeit "nur" von den objektiven Normen der Verfassung in seinem Recht auf Leben geschützt wird. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts enthalten die Grundrechtsnormen nicht nur subjektive Abwehrrechte des Einzelnen gegen den Staat, sondern sie verkörpern zugleich eine objektive Wertordnung, die als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gilt und Richtlinien und Impulse für Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung gibt (BVerfGE 7, 198 [205] - Lüth -; 35, 79 [114] - Hochschulurteil - mit weiteren Nachweisen). Ob und gegebenenfalls in welchem Umfang der Staat zu rechtlichem Schutz des werdenden Lebens von Verfassungs wegen verpflichtet ist, kann deshalb schon aus dem objektiv-rechtlichen Gehalt der grundrechtlichen Normen erschlossen werden.

148

II.

1. Die Schutzpflicht des Staates ist umfassend. Sie verbietet nicht nur - selbstverständlich - unmittelbare staatliche Eingriffe in das sich entwickelnde Leben, sondern gebietet dem Staat auch, sich schützend und fördernd vor diese Leben zu stellen, das heißt vor allem, es auch vor rechtswidrigen Eingriffen von seiten anderer zu bewahren. An diesem Gebot haben sich die einzelnen Bereiche der Rechtsordnung, je nach ihrer besonderen Aufgabenstellung, auszurichten. Die Schutzverpflichtung des Staates muß um so ernster genommen werden, je höher der Rang des in Frage stehenden Rechtsgutes innerhalb der Wertordnung des Grundgesetzes anzusetzen ist. Das menschliche leben stellt, wie nicht näher begründet werden muß, innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung einen Höchstwert dar; es ist die vitale Basis der Menschenwürde und die Voraussetzung aller anderen Grundrechte.

149

2. die Verpflichtung des Staates, das sich entwickelnde Leben in Schutz zu nehmen, besteht grundsätzlich auch gegenüber der Mutter. Unzweifelhaft begründet die natürliche Verbindung des ungeborenen Lebens mit dem der Mutter eine besonders geartete Beziehung, für die es in anderen Lebenssachverhalten keine Parallele gibt. Die Schwangerschaft gehört zur Intimsphäre der Frau, deren Schutz durch Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich verbürgt ist. Wäre der Embryo nur als Teil des mütterlichen Organismus anzusehen, so würde auch der Schwangerschaftsabbruch in dem Bereich privater Lebensgestaltung verbleiben, in den einzudringen dem Gesetzgeber verwehrt ist (BVerfGE 6, 32 [41]; 6, 389 [433]; 27, 344 [350]; 32, 373 [379]). Da indessen der nasciturus ein selbständiges menschliches Wesen ist, das unter dem Schutz der Verfassung steht, kommt dem Schwangerschaftsabbruch eine soziale Dimension zu, die ihn der Regelung durch den Staat zugänglich und bedürftig macht. Das Recht der Frau auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit, welches die Handlungsfreiheit im umfassenden Sinn zum Inhalt hat und damit auch die Selbstverantwortung der Frau umfaßt, sich gegen eine Elternschaft und die daraus folgenden Pflichten zu entscheiden, kann zwar ebenfalls Anerkennung und Schutz beanspruchen. Dieses Recht ist aber nicht uneingeschränkt gewährt - die Rechte anderer, die verfassungsmäßige Ordnung, das Sittengesetz begrenzen es. Von vornherein kann es niemals die Befugnis umfassen, in die geschützte Rechtssphäre eines anderen ohne rechtfertigenden Grund einzugreifen oder sie gar mit dem Leben selbst zu zerstören, am wenigsten dann, wenn nach der Natur der Sache eine besondere Verantwortung gerade für dieses Leben besteht.

150

Ein Ausgleich, der sowohl den Lebensschutz des nasciturus gewährleistet als auch der Schwangeren die Freiheit des Schwangerschaftsabbruchs beläßt, ist nicht möglich, da Schwangerschaftsabbruch immer Vernichtung des ungeborenen Lebens bedeutet. Bei der deshalb erforderlichen Abwägung "sind beide Verfassungswerte in ihrer Beziehung zur Menschenwürde als dem Mittelpunkt des Wertsystems der Verfassung zu sehen" (BVerfGE 35, 202 [225]). Bei einer Orientierung an Art. 1 Abs. 1 GG muß die Entscheidung zugunsten des Vorrangs des Lebensschutzes für die Leibesfrucht vor dem Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren fallen. Diese kann durch Schwangerschaft, Geburt und Kindeserziehung in manchen persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten beeinträchtigt sein. Das ungeborene Leben hingegen wird durch den Schwangerschaftsabbruch vernichtet. Nach dem Prinzip des schonendsten Ausgleichs konkurrierender grundgesetzlich geschützter Positionen unter Berücksichtigung des Grundgedankens des Art. 19 Abs. 2 GG muß deshalb dem Lebensschutz des nasciturus der Vorzug gegeben werden. Dieser Vorrang gilt grundsätzlich für die gesamte Dauer der Schwangerschaft und darf auch nicht für eine bestimmte Frist in Frage gestellt werden. Die bei der dritten Beratung des Strafrechtsreformgesetzes im Bundestag geäußerte Meinung, es gehe darum, den Vorrang " des aus der Menschenwürde fließenden Selbstbestimmungsrechtes der Frau gegenüber allem anderen, auch dem Lebensrecht des Kindes, für eine bestimmte Frist herauszustellen" (Deutscher Bundestag, 7.Wp., 96. Sitzung, StenBer. S. 6492), ist mit der grundgesetzlichen Wertordnung nicht vereinbar.

151

3. Von hier aus erschließt sich die von der Verfassung geforderte Grundhaltung der Rechtsordnung zum Schwangerschaftsabbruch: Die Rechtsordnung darf nicht das Selbstbestimmungsrecht der Frau zur alleinigen Richtschnur ihrer Regelungen machen. Der Staat muß grundsätzlich von einer Pflicht zur Austragung der Schwangerschaft ausgehen, ihren Abbruch also grundsätzlich als Unrecht ansehen. In der Rechtsordnung muß die Mißbilligung des Schwangerschaftsabbruchs klar zum Ausdruck kommen. Es muß der falsche Eindruck vermieden werden, als handle es sich beim Schwangerschaftsabbruch um den gleichen sozialen Vorgang wie etwa den Gang zum Arzt zwecks Heilung einer Krankheit oder gar um eine rechtlich irrelevante Alternative zur Empfängnisverhütung. Der Staat darf sich seiner Verantwortung auch nicht durch Anerkennung eines "rechtsfreien Raumes" entziehen, indem er sich der Wertung enthält und diese der eigenverantwortlichen Entscheidung des Einzelnen überläßt.

152

III.

Wie der Staat seine Verpflichtung zu einem effektiven Schutz des sich entwickelnden Lebens erfüllt, ist in erster Linie vom Gesetzgeber zu entscheiden. Er befindet darüber, welche Schutzmaßnahmen er für zweckdienlich und geboten hält, um einen wirksamen Lebensschutz zu gewährleisten.

153

1. Dabei gilt auch und erst recht für den Schutz des ungeborenen Lebens der Leitgedanke des Vorranges der Prävention vor der Repression (vgl. BVerfGE 30, 336 [350]). Es ist daher Aufgabe des Staates, in erster Linie sozialpolitische und fürsorgerische Mittel zur Sicherung des werdenden Lebens einzusetzen. Was hier geschehen kann und wie die Hilfsmaßnahmen im einzelnen auszugestalten sind, bleibt weithin dem Gesetzgeber überlassen und entzieht sich im allgemeinen verfassungsgerichtlicher Beurteilung. Dabei wird es hauptsächlich darauf ankommen, die Bereitschaft der werdenden Mutter zu stärken, die Schwangerschaft eigenverantwortlich anzunehmen und die Leibesfrucht zum vollen Leben zu bringen. Bei aller Schutzverpflichtung des Staates darf nicht aus den Augen verloren werden, daß das sich entwickelnde Leben von Natur aus in erster Linie dem Schutz der Mutter anvertraut ist. Den mütterlichen Schutzwillen dort, wo er verlorengegangen ist, wieder zu erwecken und erforderlichenfalls zu stärken, sollte das vornehmste Ziel der staatlichen Bemühungen um Lebensschutz sein. Freilich sind die Einwirkungsmöglichkeiten des Gesetzgebers hier begrenzt. Von ihm eingeleitete Maßnahmen werden häufig nur mittelbar und mit zeitlicher Verzögerung durch eine umfassende Erziehungsarbeit und die dadurch erreichte Veränderung gesellschaftlicher Einstellungen und Anschauungen wirksam.

154

2. Die Frage, inwieweit der Staat von Verfassungs wegen verpflichtet ist, zum Schutz des ungeborenen Lebens auch das Mittel des Strafrechts als der schärfsten ihm zur Verfügung stehenden Waffe einzusetzen, kann nicht von der vereinfachten Fragestellung aus beantwortet werden, ob der Staat bestimmte Handlungen bestrafen muß. Notwendig ist eine Gesamtbetrachtung, die einerseits den Wert des verletzten Rechtsgutes und das Maß der Sozialschädlichkeit der Verletzungshandlung - auch im Vergleich mit anderen unter Strafe gestellten und sozialethisch etwa gleich bewerteten Handlungen - in den Blick nimmt, andererseits die traditionellen rechtlichen Regelungen dieses Lebensbereichs ebenso wie die Entwicklung der Vorstellungen über die Rolle des Strafrechts in der modernen Gesellschaft berücksichtigt und schließlich die praktische Wirksamkeit von Strafdrohungen und die Möglichkeit ihres Ersatzes durch andere rechtliche Sanktionen nicht außer acht läßt.

155

Der Gesetzgeber ist grundsätzlich nicht verpflichtet, die gleichen Maßnahmen strafrechtlicher Art zum Schutze des ungeborenen Lebens zu ergreifen, wie er sie zur Sicherung des geborenen Lebens für zweckdienlich und geboten hält. Wie ein Blick in die Rechtsgeschichte zeigt, war dies bei der Anwendung strafrechtlicher Sanktionen nie der Fall und traf auch für die bis zum Fünften Strafrechtsreformgesetz gegebene Rechtslage nicht zu.

156

a) Aufgabe des Strafrechts war es seit jeher, die elementaren Werte des Gemeinschaftslebens zu schützen. Daß das Leben jedes einzelnen Menschen zu den wichtigsten Rechtsgütern gehört, ist oben dargelegt worden. Der Abbruch einer Schwangerschaft zerstört unwiderruflich entstandenes menschliches Leben. Der Schwangerschaftsabbruch ist eine Tötungshandlung; das wird aufs deutlichste dadurch bezeugt, daß die ihn betreffende Strafdrohung - auch noch im Fünften Strafrechtsreformgesetz - im Abschnitt "Verbrechen und Vergehen wider das Leben" enthalten ist und im bisherigen Strafrecht als "Abtötung der Leibesfrucht" bezeichnet war - die jetzt übliche Bezeichnung als "Schwangerschaftsabbruch" kann diesen Sachverhalt nicht verschleiern. Keine rechtliche Regelung kann daran vorbeikommen, daß mit dieser Handlung gegen die in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verbürgte grundsätzliche Unantastbarkeit und Unverfügbarkeit des menschlichen Lebens verstoßen wird. Von hier aus gesehen ist der Einsatz des Strafrechts zur Ahndung von "Abtreibungshandlungen" ohne Zweifel legitim; er ist in den meisten Kulturstaaten - unter verschieden gestalteten Voraussetzungen - geltendes Recht und entspricht insbesondere auch der deutschen Rechtstradition. Ebenso ergibt sich hieraus, daß auf eine klare rechtliche Kennzeichnung dieses Vorgangs als "Unrecht" nicht verzichtet werden kann.

157

b) Indes kann Strafe niemals Selbstzweck sein. Ihr Einsatz unterliegt grundsätzlich der Entscheidung des Gesetzgebers. Er ist nicht gehindert, unter Beachtung der oben angegebenen Gesichtspunkte die grundgesetzlich gebotene rechtliche Mißbilligung des Schwangerschaftsabbruchs auch auf andere Weise zum Ausdruck zu bringen als mit dem Mittel der Strafdrohung. Entscheidend ist, ob die Gesamtheit der dem Schutz des ungeborenen Lebens dienenden Maßnahmen, seien sie bürgerlich-rechtlicher, öffentlichrechtlicher, insbesondere sozialrechtlicher oder strafrechtlicher Natur, einen der Bedeutung des zu sichernden Rechtsgutes entsprechenden tatsächlichen Schutz gewährleistet. Im äußersten Falle, wenn nämlich der von der Verfassung gebotene Schutz auf keine andere Weise zu erreichen ist, kann der Gesetzgeber verpflichtet sein, zum Schutze des sich entwickelnden Lebens das Mittel des Strafrechts einzusetzen. Die Strafnorm stellt gewissermaßen die "ultima ratio" im Instrumentarium des Gesetzgebers dar. Nach dem das ganze öffentliche Recht einschließlich des Verfassungsrechts beherrschenden rechtsstaatlichen Prinzip der Verhältnismäßigkeit darf er von diesem Mittel nur behutsam und zurückhaltend Gebrauch machen. Jedoch muß auch dieses letzte Mittel eingesetzt werden, wenn anders ein effektiver Lebensschutz nicht zu erreichen ist. Dies fordern der Wert und die Bedeutung des zu schützenden Rechtsgutes. Es handelt sich dann nicht um eine "absolute" Pflicht zu strafen, sondern um die aus der Einsicht in die Unzulänglichkeit aller anderen Mittel erwachsende "relative" Verpflichtung zur Benutzung der Strafdrohung.

158

Demgegenüber greift der Einwand nicht durch, aus einer Freiheit gewährenden Grundrechtsnorm könne niemals eine staatliche Verpflichtung zum Strafen abgeleitet werden. Wenn der Staat durch eine wertentscheidende Grundsatznorm verpflichtet ist, ein besonders wichtiges Rechtsgut auch gegen Angriffe Dritter wirksam zu schützen, so werden oft Maßnahmen unvermeidlich sein, durch welche die Freiheitsbereiche anderer Grundrechtsträger tangiert werden. Insofern ist die Rechtslage beim Einsatz sozialrechtlicher oder zivilrechtlicher Mittel grundsätzlich nicht anders als bei dem Erlaß einer Strafnorm. Unterschiede bestehen allenfalls hinsichtlich der Stärke des erforderlichen Eingriffes. Allerdings muß der Gesetzgeber den hierbei entstehenden Konflikt durch eine Abwägung der beiden einander gegenüberstehenden Grundwerte oder Freiheitsbereiche nach Maßgabe der grundgesetzlichen Wertordnung und unter Beachtung des rechtsstaatlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes lösen. Würde man die Pflicht generell verneinen, auch das Mittel des Strafrechts einzusetzen, so würde der zu gewährende Lebensschutz wesentlich eingeschränkt. Dem Wert des von Vernichtung bedrohten Rechtsgutes entspricht der Ernst der für die Vernichtung angedrohten Sanktion, dem elementaren Wert des Menschenlebens die strafrechtliche Ahndung seiner Vernichtung.

159

3. Die Verpflichtung des Staates zum Schutz des werdenden Lebens besteht - wie dargelegt - auch gegenüber der Mutter. Hier läßt jedoch der Einsatz des Strafrechts besondere Probleme entstehen, die sich aus der singulären Lage der schwangeren Frau ergeben. Die einschneidenden Wirkungen einer Schwangerschaft auf den körperlichen und seelischen Zustand der Frau sind unmittelbar einsichtig und bedürfen keiner näheren Darlegung. Sie bedeuten häufig eine erhebliche Änderung der gesamten Lebensführung und eine Einschränkung der persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten. Nicht immer und nicht voll wird diese Belastung dadurch ausgeglichen, daß die Frau in ihrer Aufgabe als Mutter neue Erfüllung findet und daß die Schwangere Anspruch auf den Beistand der Gemeinschaft hat (Art. 6 Abs. 4 GG). Hier können sich im Einzelfall schwere, ja lebensbedrohende Konfliktsituationen ergeben. Das Lebensrecht des Ungeborenen kann zu einer Belastung der Frau führen, die wesentlich über das normalerweise mit einer Schwangerschaft verbundene Maß hinausgeht. Es ergibt sich hier die Frage der Zumutbarkeit, mit anderen Worten die Frage, ob der Staat auch in solchen Fällen mit dem Mittel des Strafrechts die Austragung der Schwangerschaft erzwingen darf. Achtung vor dem ungeborenen Leben und Recht der Frau, nicht über das zumutbare Maß hinaus zur Aufopferung eigener Lebenswerte im Interesse der Respektierung dieses Rechtsgutes gezwungen zu werden, treffen aufeinander. In einer solchen Konfliktslage, die im allgemeinen auch keine eindeutige moralische Beurteilung zuläßt und in der die Entscheidung zm Abbruch einer Schwangerschaft den Rang einer achtenswerten Gewissensentscheidung haben kann, ist der Gesetzgeber zur besonderen Zurückhaltung verpflichtet. Wenn er in diesen Fällen das Verhalten der Schwangeren nicht als strafwürdig ansieht und auf das Mittel der Kriminalstrafe verzichtet, so ist das jedenfalls als Ergebnis einer dem Gesetzgeber obliegenden Abwägung auch verfassungsrechtlich hinzunehmen.

160

Für die inhaltliche Ausfüllung des Unzumutbarkeitskriteriums müssen jedoch Umstände ausscheiden, die den Pflichtigen nicht schwerwiegend belasten, da sie die Normalsituation darstellen, mit der jeder fertig werden muß. Vielmehr müssen Umstände erheblichen Gewichts gegeben sein, die dem Betroffenen die Erfüllung seiner Pflicht außergewöhnlich erschweren, so daß sie von ihm billigerweise nicht erwartet werden kann. Sie liegen insbesondere dann vor, wenn der Betroffene durch die Pflichterfüllung in schwere innere Konflikte gestürzt wird. Die Lösung solcher Konflikte durch eine Strafdrohung erscheint im allgemeinen nicht als angemessen (vgl. BVerfGE 32, 98 [109] - Gesundbeter), da sie äußeren Zwang einsetzt, wo die Achtung vor der Persönlichkeitssphäre des Menschen volle innere Entscheidungsfreiheit fordert.

161

Unzumutbar erscheint die Fortsetzung der Schwangerschaft insbesondere, wenn sich erweist, daß der Abbruch erforderlich ist, um von der Schwangeren "eine Gefahr für ihr Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung ihres Gesundheitszustandes abzuwenden" (§ 218b Nr. 1 StGB in der Fassung des Fünften Strafrechtsreformgesetzes). In diesem Fall steht ihr eigenes "Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit" (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) auf dem Spiel, dessen Aufopferung für das ungeborene Leben von ihr nicht erwartet werden kann. Darüber hinaus steht es dem Gesetzgeber frei, auch bei anderen außergewöhnlichen Belastungen für die Schwangere, die unter dem Gesichtspunkt der Unzumutbarkeit ähnlich schwer wie die in § 218b Nr. 1 angeführten wiegen, den Schwangerschaftsabbruch straffrei zu lassen. Hierzu können insbesondere die in dem in der 6. Wahlperiode des Bundestages vorgelegten Entwurf der Bundesregierung enthaltenen und sowohl in der öffentlichen Diskussion wie auch im Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens erörterten Fälle der eugenischen (vgl. § 218b Nr. 2 StGB), der ethischen (kriminologischen) und der sozialen oder Notlageindikation zum Schwangerschaftsabbruch gezählt werden. Bei den Beratungen des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform (7. Wp., 25. Sitzung, StenBer. S. 1470 ff.) hat der Vertreter der Bundesregierung ausführlich und mit überzeugenden Gründen dargelegt, warum in diesen vier Indikationsfällen die Austragung der Schwangerschaft nicht als zumutbar erscheint. Der entscheidende Gesichtspunkt ist, daß in allen diesen Fällen ein anderes, vom Standpunkt der Verfassung aus ebenfalls schutzwürdiges Interesse sich mit solcher Dringlichkeit geltend macht, daß die staatliche Rechtsordnung nicht verlangen kann, die Schwangere müsse hier dem Recht des Ungeborenen unter allen Umständen den Vorrang einräumen.

162

Auch die Indikation der allgemeinen Notlage (soziale Indikation) kann hierher eingeordnet werden. Denn die allgemeine soziale Lage der Schwangeren und ihrer Familie kann Konflikte von solcher Schwere erzeugen, daß von der Schwangeren über ein bestimmtes Maß hinaus Opfer zugunsten des ungeborenen Lebens mit den Mitteln des Strafrechts nicht erzwungen werden können. Bei der Regelung dieses Indikationsfalles muß der Gesetzgeber den straffreien Tatbestand so umschreiben, daß die Schwere des hier vorauszusetzenden sozialen Konflikts deutlich erkennbar wird und - unter dem Gesichtspunkt der Unzumutbarkeit betrachtet - die Kongruenz dieser Indikation mit den anderen Indikationsfällen gewahrt bleibt. Wenn der Gesetzgeber echte Konfliktsfälle dieser Art aus dem Strafrechtsschutz herausnimmt, verletzt er nicht seine Verpflichtung zum Lebensschutz. Auch in diesen Fällen darf der Staat sich nicht damit begnügen, bloß zu prüfen und gegebenenfalls zu bescheinigen, daß die gesetzlichen Voraussetzungen für einen straffreien Schwangerschaftsabbruch vorliegen. Vielmehr wird auch hier von ihm erwartet, daß er Beratung und Hilfe anbietet mit dem Ziel, die Schwangere an die grundsätzliche Pflicht zur Achtung des Lebensrechts des Ungeborenen zu mahnen, sie zur Fortsetzung der Schwangerschaft zu ermutigen und sie - vor allem in Fällen sozialer Not - durch praktische Hilfsmaßnahmen zu unterstützen.

163

In allen anderen Fällen bleibt der Schwangerschaftsabbruch strafwürdiges Unrecht; denn hier steht die Vernichtung eines Rechtsgutes von höchstem Rang im freien - nicht durch eine Notlage motivierten - Belieben eines anderen. Wollte der Gesetzgeber auch hier auf die strafrechtliche Ahndung verzichten, so wäre das nur unter der Voraussetzung mit dem Schutzgebot des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG vereinbar, daß ihm eine andere gleich wirksame rechtliche Sanktion zu Gebote stände, die den Unrechtscharakter der Handlung (die Mißbilligung durch die Rechtsordnung) deutlich erkennen läßt und Schwangerschaftsabbrüche ebenso wirksam verhindert wie eine Strafvorschrift.

164

D.

Prüft man nach diesen Maßstäben die angegriffene Fristenregelung des Fünften Strafrechtsreformgesetzes, so ergibt sich, daß das Gesetz der Verpflichtung aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG, das werdende Leben wirksam zu schützen, nicht in dem gebotenen Umfang gerecht geworden ist.

165

I.

Das Verfassungsgebot, das sich entwickelnde Leben zu schützen, richtet sich zwar in erster Linie an den Gesetzgeber. Dem Bundesverfassungsgericht obliegt jedoch die Aufgabe, in Ausübung der ihm vom Grundgesetz zugewiesenen Funktion festzustellen, ob der Gesetzgeber dieses Gebot erfüllt hat. Zwar muß das Gericht den Spielraum des Gesetzgebers sorgfältig beachten, der diesem bei der Beurteilung der seiner Normierung zugrundeliegenden tatsächlichen Verhältnisse, der etwa erforderlichen Prognose und der Wahl der Mittel zukommt. Das Gericht darf sich nicht an die Stelle des Gesetzgebers setzen; es ist jedoch seine Aufgabe, zu überprüfen, ob der Gesetzgeber im Rahmen der ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten das Erforderliche getan hat, um Gefahren von dem zu schützenden Rechtsgut abzuwenden. Das gilt grundsätzlich auch für die Frage, ob der Gesetzgeber zum Einsatz seines schärfsten Mittels, des Strafrechts, verpflichtet ist, wobei sich die Prüfung allerdings nicht etwa auf die einzelnen Modalitäten des Strafens erstrecken kann.

166

II.

Es ist allgemein anerkannt, daß der bisherige § 218 StGB, gerade weil er für nahezu alle Fälle des Schwangerschaftsabbruchs undifferenziert Strafe androhte, das sich entwickelnde Leben im Ergebnis nur unzureichend geschützt hat. Denn die Einsicht, daß es Fälle gibt, in denen die strafrechtliche Sanktion unangemessen ist, hat schließlich dazu geführt, daß auch wirklich strafwürdige Fälle nicht mehr mit der notwendigen Strenge verfolgt werden. Dazu kommt die bei diesem Delikt der Natur der Sache nach häufig schwierige Aufklärung des Sachverhalts. Gewiß gehen die Zahlen über die Dunkelziffer bei Schwangerschaftsabbrüchen weit auseinander und es mag auch kaum möglich sein, durch empirische Untersuchungen hierüber zuverlässige Angaben zu ermitteln. Jedenfalls war die Zahl der illegalen Schwangerschaftsabbrüche in der Bundesrepublik hoch. Das Bestehen einer generellen Strafnorm mag auch dazu beigetragen haben, daß der Staat es unterlassen hat, andere ausreichende Maßnahmen zum Schutze des werdenden Lebens zu ergreifen.

167

Der Gesetzgeber ist bei der endgültigen Fassung des Fünften Strafrechtsreformgesetzes von dem Leitgedanken des Vorranges der präventiven Maßnahmen vor den repressiven Sanktionen ausgegangen (vgl. hierzu den vom Bundestag im Zusammenhang mit der Verabschiedung des Fünften Strafrechtsreformgesetzes angenommenen Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD, FDP - BTDrucks. 7/2042). Dem Gesetz liegt die Vorstellung zugrunde, das werdende Leben werde besser durch individuelle Beratung der Schwangeren geschützt als durch eine Strafandrohung, welche die Abtreibungswillige einer möglichen Beeinflussung entziehe, kriminalpolitisch verfehlt sei und sich ohnedies als wirkungslos erwiesen habe. Hieraus hat der Gesetzgeber die Folgerung gezogen, die Strafandrohung für die ersten zwölf Wochen der Schwangerschaft unter bestimmten Voraussetzungen überhaupt aufzugeben und statt dessen die präventive Beratung und Unterrichtung (§§ 218a und 218c) einzuführen.

168

Es ist verfassungsrechtlich unbedenklich und zu billigen, wenn der Gesetzgeber seine Pflichte zu einem besseren Schutz ungeborenen Lebens durch präventive Maßnahmen einschließlich einer die Eigenverantwortung der Frau stärkenden Beratung zu erfüllen versucht. Jedoch begegnet die getroffene Regelung in mehrfacher Hinsicht durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken.

169

1. Die von der Verfassung geforderte rechtliche Mißbilligung des Schwangerschaftsabbruchs muß auch in der Rechtsordnung unterhalb der Verfassung deutlich in Erscheinung treten. Davon können - wie dargelegt - nur die Fälle ausgenommen werden, in denen die Fortsetzung der Schwangerschaft der Frau auch unter Berücksichtigung der in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG getroffenen Wertentscheidung nicht zumutbar ist. Dieses generelle Unwerturteil kommt in den Bestimmungen des Fünften Strafrechtsreformgesetzes über den Schwangerschaftsabbruch in den ersten zwölf Wochen nicht zum Ausdruck; denn das Gesetz läßt es im unklaren, ob der nicht indizierte Schwangerschaftsabbruch nach Aufhebung der Strafandrohung durch § 218a StGB noch Recht oder Unrecht ist. Das gilt ungeachtet der Tatsache, daß sich § 218a StGB gesetzestechnisch als eine Ausnahmeregelung im Verhältnis zu der allgemeinen Strafvorschrift des § 218 StGB darstellt, und auch unabhängig davon, welche Auffassung man in der Frage vertritt, ob die Vorschrift den § 218 StGB tatbestandlich einengt oder ob sie einen Rechtfertigungsgrund schafft oder endlich nur einen Schuld- oder Strafausschließungsgrund zum Inhalt hat. Beim unbefangenen Leser der Bestimmung muß der Eindruck entstehen, daß § 218a das rechtliche Unwerturteil durch die generelle Aufhebung der Strafbarkeit - ohne Ansehung der Gründe - vollständig zurücknimmt und den Schwangerschaftsabbruch unter den dort genannten Voraussetzungen rechtlich erlaubt. Der Tatbestand des § 218 StGB tritt demgegenüber um so mehr in den Hintergrund, als nach aller Erfahrung in den ersten zwölf Wochen die weitaus meisten Schwangerschaftsabbrüche - nach Angaben des Regierungsvertreters (a.a.O., S. 1472) über 9/10 - vorgenommen werden. Es entsteht das Bild einer fast völligen - strafrechtlichen - Freigabe des Schwangerschaftsabbruchs (so auch Roxin in: J. Baumann [Hrsg.], Das Abtreibungsverbot des § 218, S. 185). Auch in keiner anderen Bestimmung des Fünften Strafrechtsreformgesetzes kommt zum Ausdruck, daß der nicht indizierte Schwangerschaftsabbruch in den ersten zwölf Wochen weiterhin rechtlich mißbilligt wird. Insbesondere besagt Art. 2 des Gesetzes, wonach grundsätzlich niemand verpflichtet ist, an einem Schwangerschaftsabbruch mitzuwirken, nichts über die Legalität oder Illegalität einer solchen Maßnahme; diese Vorschrift will in erster Linie der Gewissensfreiheit des Einzelnen Rechnung tragen und die Freiheit der ethischen Überzeugung dessen schützen, der sich vor die Frage gestellt sieht, ob er an einem nach § 218a StGB straffreien Schwangerschaftsabbruch durch aktives Handeln mitwirken kann und soll.

170

Ein Blick in die im Strafrechtsreform-Ergänzungsgesetz für das Gebiet des Sozialrechts vorgesehenen Regelungen zwingt darüber hinaus zu dem Schluß, daß es sich bei dem Schwangerschaftsabbruch in den ersten zwölf Wochen um einen Vorgang handelt, dem rechtlich nichts Verwerfliches anhaftet und der deshalb auch sozialrechtlich gefördert und erleichtert werden darf. Denn gesetzliche Rechtsansprüche auf soziale Leistungen setzen voraus, daß der Tatbestand, bei dessen Erfüllung sie gewährt werden, keine rechtlich verbotene (mißbilligte) Handlung darstellt. Die vorgesehene Gesamtregelung kann deshalb nur so gedeutet werden, daß der vom Arzt vorgenommene Schwangerschaftsabbruch während der ersten zwölf Wochen nicht rechtswidrig, also (vom Recht) erlaubt sein soll.

171

Diese Auffassung vertrat auch die Bundesregierung bei der in der 6. Wahlperiode des Deutschen Bundestages eingebrachten Gesetzesvorlage; dort heißt es in der Begründung zu Art. 1 (BTDrucks. VI/3434 S. 9):

172

"Während sich der Gesetzgeber in anderen Bereichen darauf verlassen darf, daß eine Aufhebung strafrechtlicher Verbote nicht als rechtliche Billigung des bisher strafbaren Verhaltens verstanden werden wird, sind bei der Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs besondere Gesichtspunkte zu beachten: Die Fristenlösung könnte die von ihr erwartete gesundheitspolitische Aufgabe nur erfüllen, wenn jeder Schwangerschaftsabbruch in den ersten drei Monaten als rechtlich gebilligt erscheint. Der Eingriff müßte im Rahmen der allgemeinen ärztlichen Versorgung vorgenommen werden. Der ärztliche Behandlungsvertrag müßte wirksam sein. Nicht zuletzt wegen der Unanwendbarkeit der §§ 134, 138 BGB könnten diese und andere Umstände nur in dem Sinne interpretiert werden, daß die Rechtsordnung den Eingriff vor Ablauf der Dreimonatsfrist in jedem Fall als einen normalen sozialen Vorgang anerkennt".

173

Ähnlich äußerte sich der Regierungsvertreter vor dem Sonderausschuß für die Strafrechtsreform (7. Wp., 25. Sitzung, StenBer. S. 1473):

174

"So viel ist wichtig festzuhalten: Der ärztliche Schwangerschaftsabbruch im ersten Trimester der Schwangerschaft ist im Rahmen der Fristenregelung nicht rechtswidrig; er ist erlaubt. Nur so läßt sich seine Integration in das System des Strafrechts - mit Straffreiheit auch der Teilnehmer, Ausschluß der Nothilfe - rechtfertigen, und nur so lassen sich die zivilrechtlichen Implikationen - Gültigkeit des Behandlungsvertrags trotz § 134 BGB -, die gesundheitsrechtliche Förderung des Vorganges und vor allen Dingen der mit dem Strafrechtsreform-Ergänzungsgesetz geplante Einbau in die Sozialversicherung begründen."

175

2. Eine - formale - gesetzliche Mißbilligung des Schwangerschaftsabbruchs würde im übrigen nicht ausreichen; denn darüber wird sich die zum Schwangerschaftsabbruch entschlossene Frau hinwegsetzen. Der Gesetzgeber des Fünften Strafrechtsreformgesetzes hat aus der Einsicht heraus, daß auch positive Maßnahmen zum Schutze des werdenden Lebens erforderlich sind, hinsichtlich des mit Einwilligung der Schwangeren von einem Arzt vorgenommenen Schwangerschaftsabbruchs die Strafnorm durch ein Beratungssystem nach § 218c StGB ersetzt. Durch die völlige Aufhebung der Strafbarkeit ist jedoch eine Schutzlücke entstanden, welche die Sicherung des sich entwickelnden Lebens in einer nicht geringen Anzahl von Fällen gänzlich beseitigt, indem es dieses Leben der völlig freien Verfügungsgewalt der Frau ausliefert. Es gibt viele Frauen, die von vornherein zum Schwangerschaftsabbruch entschlossen und einer Beratung, wie sie § 218c Abs. 1 vorsieht, nicht zugänglich sind, ohne daß ein nach der Wertordnung der Verfassung achtenswerter Grund für den Abbruch vorliegt. Diese Frauen befinden sich weder in einer materiellen Notlage noch in einer schwerwiegenden seelischen Konfliktsituation. Sie lehnen die Schwangerschaft ab, weil sie nicht willens sind, den damit verbundenen Verzicht und die natürlichen mütterlichen Pflichten zu übernehmen. Sie mögen ernstliche Gründe für ihre Haltung gegenüber dem werdenden Leben haben; es sind aber keine Gründe, die gegenüber dem Gebot des Schutzes menschlichen Lebens Bestand haben können. Die Schwangerschaft ist diesen Frauen nach den oben wiedergegebenen Grundsätzen zumutbar. Das Verhalten auch dieser durch keine verfassungsrechtlich erheblichen Beweggründe zum Schwangerschaftsabbruch rechtlich legitimierten Gruppe von Frauen ist nach § 218a des Fünften Strafrechtsreformgesetzes voll gedeckt. Das sich entwickelnde Leben ist ihrer willkürlichen Entschließung schutzlos preisgegeben.

176

Hiergegen wird eingewandt, unbeeinflußbare Frauen verständen es erfahrungsgemäß zumeist, sich der Strafe zu entziehen, so daß die Strafandrohung ohnehin weitgehend leerlaufe. Außerdem stehe der Gesetzgeber vor dem Dilemma, daß sich präventive Beratung und repressive Strafdrohung in ihrer lebensschützenden Wirkung notwendig teilweise ausschlössen: Die Strafandrohung der Indikationenlösung vermöge zwar durch ihre Abschreckungswirkung in einem nicht genau feststellbaren Umfang unmotivierte Schwangerschaftsabbrüche zu verhindern. Zugleich verhindere aber die Strafandrohung, daß durch Beratung beeinflußbarer Frauen in anderen Fällen Leben gerettet würde; denn gerade Frauen, bei denen die Voraussetzungen einer Indikation fehlten, und darüber hinaus auch solche, die dem Ausgang eines Indikationsfeststellungsverfahrens nicht trauten, würden ihre Schwangerschaft angesichts der Strafandrohung vorsorglich geheimhalten und sich daher weithin einer helfenden Beeinflussung durch Umgebung und Beratungsstellen entziehen. Von dieser Einsicht her könne es einen lückenlosen Schutz ungeborenen Lebens nicht geben. Der Gesetzgeber habe keine andere Wahl als Leben gegen Leben abzuwägen, nämlich das Leben, das durch eine bestimmte Regelung der Abtreibungsfrage voraussichtlich gerettet werden könne, gegen das Leben, das durch ebendieselbe Regelung voraussichtlich geopfert werde; denn auch die Strafdrohung schütze nicht nur, sondern vernichte zugleich ungeborenes Leben. Da keine Lösung dem Schutz individuellen Lebens eindeutig besser diene, habe der Gesetzgeber mit der Fristenregelung die ihm verfassungsrechtlich gezogenen Grenzen nicht überschritten.

177

a) Diese Auffassung wird zunächst dem Wesen und der Funktion des Strafrechts nicht gerecht. Die Strafnorm richtet sich grundsätzlich an alle Rechtsunterworfenen und verpflichtet sie in gleicher Weise. Zwar gelingt es den Strafverfolgungsbehörden praktisch nie, alle Täter, die gegen das Strafgesetz verstoßen, einer Bestrafung zuzuführen. Die Dunkelziffern sind bei den verschiedenen Strafdelikten verschieden hoch. Unbestritten sind sie bei Abtreibungstaten besonders erheblich. Indessen darf darüber die generalpräventive Funktion des Strafrechts nicht vergessen werden. Sieht man die Aufgabe des Strafrechts in dem Schutz besonders wichtiger Rechtsgüter und elementarer Werte der Gemeinschaft, so kommt gerade dieser Funktion eine hohe Bedeutung zu. Ebenso wichtig wie die sichtbare Reaktion im Einzelfall ist die Fernwirkung einer Strafnorm, die in ihrem prinzipiellen normativen Inhalt ("die Abtreibung ist strafbar") nunmehr seit sehr langer Zeit besteht. Schon die bloße Existenz einer solchen Strafandrohung hat Einfluß auf die Wertvorstellungen und die Verhaltensweisen der Bevölkerung (vgl. Bericht des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform, BTDrucks. 7/1981 (neu) S. 10). Das Wissen um die Rechtsfolgen im Falle ihrer Übertretung bildet eine Schwelle, vor deren Überschreitung viele zurückschrecken. Diese Wirkung wird ins Gegenteil verkehrt, wenn durch eine generelle Aufhebung der Strafbarkeit auch zweifellos strafwürdiges Verhalten für rechtlich einwandfrei erklärt wird. Dies muß die in der Bevölkerung herrschenden Auffassungen von "Recht" und "Unrecht" verwirren. Die rein theoretische Verlautbarung, der Schwangerschaftsabbruch werde "toleriert", aber nicht "gebilligt", muß wirkungslos bleiben, solange keine rechtliche Sanktion erkennbar ist, die die gerechtfertigten Fälle des Schwangerschaftsabbruchs von den verwerflichen klar scheidet. Entfällt die Drohung mit Strafe ganz allgemein, so wird notwendig im Bewußtsein der Staatsbürger der Eindruck entstehen, in allen Fällen sei der Schwangerschaftsabbruch rechtlich erlaubt und darum auch sozialethisch nicht mehr zu mißbilligen. Der "gefährliche Schluß von der rechtlichen Sanktionslosigkeit auf das moralische Erlaubtsein" (Engisch, Auf der Suche nach der Gerechtigkeit, 1971, S. 104) liegt zu nahe, als daß er nicht von einer großen Anzahl Rechtsunterworfener gezogen würde.

178

Dem entspricht auch die Auffassung der Bundesregierung in der Begründung zu dem in der 6. Wahlperiode des Deutschen Bundestages eingebrachten Gesetzentwurf (BTDrucks. VI/3434 S. 9):

179

"Die Fristenlösung würde dazu führen, daß das allgemeine Bewußtsein von der Schutzwürdigkeit des ungeborenen Lebens während der ersten drei Schwangerschaftsmonate schwindet. Sie würde der Ansicht Vorschub leisten, daß der Schwangerschaftsabbruch, jedenfalls im Frühstadium der Schwangerschaft, ebenso dem freien Verfügungsrecht der Schwangeren unterliegt wie die Verhütung der Schwangerschaft. Eine solche Auffassung ist mit der Wertordnung der Verfassung unvereinbar".

180

b) Die pauschale Abwägung von Leben gegen Leben, die zur Freigabe der Vernichtung der vermeintlich geringeren Zahl im Interesse der Erhaltung der angeblich größeren Zahl führt, ist nicht vereinbar mit der Verpflichtung zum individuellen Schutz jedes einzelnen konkreten Lebens.

181

In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist der Grundsatz entwickelt worden, daß die Verfassungswidrigkeit einer gesetzlichen Vorschrift, die ihrer Struktur und tatsächlichen Wirkung nach einen bestimmten Personenkreis benachteiligt, nicht mit dem Hinweis darauf widerlegt werden kann, daß diese Vorschrift oder andere Bestimmungen des Gesetzes einen anderen Kreis von Personen begünstigen. Noch weniger genügt hierfür die Betonung der allgemein rechtsschutzfreundlichen Tendenz des Gesetzes im ganzen. Dieses Prinzip (vgl. BVerfGE 12, 151 [168]; 15, 328 [333]; 18, 97 [108]; 32, 260 [269]) muß in besonderem Maße für das höchstpersönliche Rechtsgut "Leben" gelten. Der Schutz des einzelnen Lebens darf nicht deswegen aufgegeben werden, weil das an sich achtenswerte Ziel verfolgt wird, andere Leben zu retten. Jedes menschliche Leben - auch das erst sich entwickelnde Leben - ist als solches gleich wertvoll und kann deshalb keiner irgendwie gearteten unterschiedlichen Bewertung oder gar zahlenmäßigen Abwägung unterworfen werden.

182

In der rechtspolitischen Grundkonzeption des Fünften Strafrechtsreformgesetzes wird auch eine Auffassung von der Funktion des rechtsstaatlichen Gesetzes erkennbar, der nicht gefolgt werden kann. Der von der Verfassung geforderte Rechtsschutz für das konkrete einzelne Menschenleben wird zurückgestellt zugunsten einer mehr "sozialtechnischen" Verwendung des Gesetzes als einer gezielten Aktion des Gesetzgebers zur Erreichung eines bestimmten gesellschaftspolitisch erwünschten Zieles, der "Eindämmung der Abtreibungsseuche". Der Gesetzgeber darf aber nicht nur das Ziel im Auge haben, sei es auch noch so erstrebenswert; er muß beachten, daß auch jeder Schritt auf dem Wege dahin sich vor der Verfassung und ihren unverzichtbaren Postulaten zu rechtfertigen hat. Der Effizienz der Regelung im ganzen darf der Grundrechtsschutz im einzelnen nicht geopfert werden. Das Gesetz ist nicht nur Instrument zur Steuerung gesellschaftlicher Prozesse nach soziologischen Erkenntnissen und Prognosen, es ist auch bleibender Ausdruck sozialethischer und - ihr folgend - rechtlicher Bewertung menschlicher Handlungen; es soll sagen, was für den Einzelnen Recht und Unrecht ist.

183

c) Einer - prinzipiell abzulehnenden - "Gesamtrechnung" fehlt übrigens auch eine verläßliche tatsächliche Grundlage. Es fehlen ausreichende Anhaltspunkte dafür, daß die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche in Zukunft erheblich geringer sein werde als bei der bisherigen gesetzlichen Regelung. Der Regierungsvertreter ist vielmehr vor dem Sonderausschuß für die Strafrechtsreform (7. Wp., 25. Sitzung, StenBer. S. 1451) aufgrund sehr eingehender Erwägungen und Vergleiche zu dem Ergebnis gekommen, daß in der Bundesrepublik nach Einführung der Fristenregelung eine Steigerung der Gesamtzahl legaler und illegaler Aborte um 40% zu erwarten sei. Diese Berechnung ist allerdings von dem in der mündlichen Verhandlung gehörten Professor Dr.Dr. Jürgens in Zweifel gezogen worden. Jedoch läßt das aus dem Ausland, insbesondere aus England nach Inkrafttreten der Abortion Act von 1967 (vgl. die Angaben im Report of the Committee on the Working of the Abortion Act - Lane-Report) und aus der DDR nach Erlaß des Gesetzes über die Unterbrechung der Schwangerschaft vom 9. März 1972 (vgl. Deutsches Ärzteblatt 1974, S. 2/65) vorliegende Zahlenmaterial keinen sicheren Schluß auf einen wesentlichen Rückgang der Schwangerschaftsabbrüche zu. Experimente sind aber bei dem hohen Wert des zu schützenden Rechtsgutes nicht zulässig.

184

Indessen haben es Vertreter aller Parteien im Sonderausschuß für die Strafrechtsreform abgelehnt, ausländische Zahlen über die Schwangerschaftsabbrüche schematisch auf die Bundesrepublik Deutschland umzurechnen (7. Wp., 20. Sitzung, StenBer. S. 1286 ff.); die Auswirkungen unterschiedlicher Sozialstrukturen, Mentalitäten, religiöser Bindungen und Verhaltensweisen ließen sich kaum kalkulieren. Selbst wenn man aber alle Besonderheiten der Verhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland nur zugunsten der Fristenregelung in Rechnung stellt, ist mit einem Anstieg der Schwangerschaftsabbrüche zu rechnen, weil - wie dargelegt - schon das bloße Bestehen der Strafnorm des § 218 StGB Einfluß auf Wertvorstellungen und Verhaltensweisen der Bevölkerung gehabt hat. Dabei fällt ins Gewicht, daß infolge der Strafbarkeit die Möglichkeit, einen Schwangerschaftsabbruch überhaupt oder gar lege artis zu erlangen, bisher erheblich (u.a. finanziell) eingeschränkt war. Daß von der Fristenlösung eine auch nur quantitative Verstärkung des Lebensschutzes ausgehen könnte, ist jedenfalls nicht ersichtlich.

185

3. Die in § 218c Abs. 1 StGB vorgesehene Beratung und Unterrichtung der Schwangeren kann - auch für sich betrachtet - nicht als geeignet angesehen werden, auf eine Fortsetzung der Schwangerschaft hinzuwirken.

186

Die in dieser Bestimmung vorgesehenen Maßnahmen bleiben hinter den Vorstellungen des Alternativ-Entwurfs der 16 Strafrechtswissenschaftler zurück, auf dem die Konzeption des Fünften Strafrechtsreformgesetzes im übrigen weitgehend beruht. Die dort (in § 105 Abs. 1 Nr. 2) vorgesehenen Beratungsstellen sollten die Möglichkeit haben, selbst finanzielle, soziale und familiäre Hilfe zu leisten. Sie sollten ferner der Schwangeren und ihren Angehörigen durch geeignete Mitarbeiter seelische Betreuung gewähren und intensiv auf die Fortsetzung der Schwangerschaft hinwirken (vgl. im einzelnen oben S. 11 f.).

187

Die Beratungsstellen etwa im Sinne dieser oder ähnlicher Vorschläge so auszustatten, daß sie unmittelbare Hilfe vermitteln können, hätte um so näher gelegen, als nach dem Bericht des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform (BTDrucks. 7/1981 [neu] S. 7 mit Nachweisen aus dem Anhörungsverfahren) die ungünstige Wohnsituation, die Unmöglichkeit, neben einer Ausbildung oder Erwerbstätigkeit ein Kind zu versorgen, sowie wirtschaftliche Not und sonstige materielle Gründe, außerdem bei ledigen Schwangeren die Angst vor gesellschaftlichen Sanktionen zu den am häufigsten genannten Ursachen und Motiven für den Wunsch nach Schwangerschaftsabbruch gehören sollen.

188

Demgegenüber sollen die Beratungsstellen über die "zur Verfügung stehenden öffentlichen und privaten Hilfen für Schwangere, Mütter und Kinder" unterrichten, "insbesondere über solche Hilfen, die die Fortsetzung der Schwangerschaft und die Lage von Mutter und Kind erleichtern". Dies könnte dahin gedeutet werden, daß die Beratungsstellen nur informieren sollen, ohne auf den Motivationsprozeß gezielt Einfluß zu nehmen. Ob die neutrale Umschreibung der Aufgabe der Beratungsstellen darauf zurückzuführen ist, daß im Sonderausschuß für die Strafrechtsreform die Meinung vertreten wurde, die Schwangere solle durch die Beratung nicht in ihrem Entschluß beeinflußt werden (so Abg. von Schoeler, FDP, 7. Wp., 25. Sitzung, StenBer. S. 1473), kann offenbleiben. Auf eine solche Einflußnahme kommt es jedenfalls entscheidend an, wenn der Beratung ein Schutzeffekt zugunsten des werdenden Lebens zukommen soll. § 218c Abs. 1 Nr. 1 und 2 lassen allerdings auch die Auslegung zu, daß Beratung und Unterrichtung die Schwangere zur Austragung ihrer Schwangerschaft veranlassen sollen. In diesem Sinne ist wohl der Bericht des Sonderausschusses (BTDrucks. 7/1981 [neu] S. 16) zu verstehen; danach soll die Beratung die gesamten Lebensumstände der Schwangeren berücksichtigen und persönlich-individuell erfolgen, nicht telefonisch oder durch Aushändigung gedruckten Materials (vgl. auch die bereits erwähnte Entschließung des Bundestages, BTDrucks. 7/2042).

189

Selbst wenn man es für denkbar halten mag, daß eine derartige Beratung eine gewisse Wirkung im Sinne einer Abkehr von dem Entschluß zum Schwangerschaftsabbruch ausüben könnte, so weist jedenfalls ihre Ausgestaltung im einzelnen Mängel auf, die keinen effektiven Schutz des werdenden Lebens erwarten lassen.

190

a) Die Unterrichtung über die zur Verfügung stehenden öffentlichen und privaten Hilfen für Schwangere, Mütter und Kinder nach § 218c Abs. 1 Nr. 1 kann auch von jedem Arzt vorgenommen werden. Sozialrecht und Sozialwesen sind jedoch schon für den fachlich Vorgebildeten schwer zu überblicken. Von einem Arzt kann eine zuverlässige Unterrichtung über die gerade im Einzelfall bestehenden Ansprüche und Möglichkeiten nicht erwartet werden, zumal dafür häufig individuelle Bedürftigkeitsermittlungen erforderlich sind (z.B. für Mietbeihilfe oder Sozialhilfe). Die Ärzte sind für eine solche Beratungstätigkeit weder nach ihrer Berufsausbildung qualifiziert noch steht ihnen im allgemeinen die für eine individuelle Beratung erforderliche Zeit zur Verfügung.

191

b) Besonders bedenklich ist, daß die Unterrichtung über soziale Hilfen von demselben Arzt vorgenommen werden kann, der den Schwangerschaftsabbruch ausführen soll. Dadurch wird auch die ärztliche Beratung nach § 218c Abs. 1 Nr. 2 entwertet, die an sich in den ärztlichen Aufgabenbereich fällt. Sie soll sich nach den Vorstellungen des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform wie folgt gestalten:

192

"Damit ist einmal die Beratung über die Art des Eingriffs und dessen mögliche gesundheitliche Folgen gemeint. Sie darf sich jedoch - was durch die bewußte Wahl des Begriffs "ärztlich" ausgedrückt wird - nicht auf diesen rein medizinischen Aspekt beschränken. Vielmehr muß sie sich in dem jeweils möglichen und angemessenen Umfang auf die gegenwärtige und künftige Gesamtsituation der Schwangeren, soweit sie durch den Schwangerschaftsabbruch tangiert werden kann, erstrecken und zugleich, dem anderen Auftrag des Arztes entsprechend, den Schutz des ungeborenen Lebens miteinbeziehen. Der Arzt muß also die Schwangere auch darüber aufklären, daß durch den Eingriff menschliches Leben vernichtet wird und in welchem Entwicklungsstadium es sich befindet. Die - in der Öffentlichen Anhörung z.B. von Pross (AP VI S. 2255, 2256) und Rolinski (AP VI S. 2221) bestätigte - Erfahrung zeigt, daß viele Frauen in dieser Hinsicht keine klaren Vorstellungen haben, und daß dieser Umstand, wenn sie später davon erfahren, häufig der Anlaß für schwerwiegende Zweifel und Gewissensbedenken ist. Dementsprechend muß die Beratung mit darauf ausgerichtet sein, derartigen Konfliktsituationen vorzubeugen." (BTDrucks. 7/1981 [neu] S. 16)

193

Eine Aufklärung in der hier vorgesehenen Weise mit dem verfassungsrechtlich gebotenen Ziel, auf eine Fortsetzung der Schwangerschaft hinzuwirken, kann von dem Arzt, der von der Schwangeren gerade zu dem Zwecke aufgesucht wird, daß er den Schwangerschaftsabbruch vornehme, nicht erwartet werden. Da nach dem Ergebnis der bisherigen Umfragen und nach den Stellungnahmen repräsentativer ärztlicher Standesgremien angenommen werden muß, daß die Mehrzahl der Ärzte die Vornahme von nicht indizierten Schwangerschaftsabbrüchen ablehnt, werden sich vor allem solche Ärzte zur Verfügung stellen, die im Schwangerschaftsabbruch entweder ein gewinnbringendes Geschäft sehen oder jedem Wunsch einer Frau nach Schwangerschaftsabbruch zu entsprechen geneigt sind, weil sie darin lediglich eine Manifestation des Selbstbestimmungsrechts oder ein Mittel zur Emanzipation der Frau erblicken. In beiden Fällen ist eine Beeinflussung der Schwangeren im Sinne einer Fortsetzung der Schwangerschaft durch den Arzt sehr unwahrscheinlich.

194

Dies zeigen die Erfahrungen in England. Dort muß die (sehr weit gefaßte) Indikation von zwei beliebigen Ärzten festgestellt werden. Dies hat dazu geführt, daß bei den darauf spezialisierten Privatärzten praktisch jeder gewünschte Schwangerschaftsabbruch ausgeführt wird. Das Auftreten gewerbsmäßiger Vermittler, die Frauen diesen Privatkliniken zuführen, ist eine besonders unerfreuliche, aber schwer vermeidbare Nebenerscheinung (vgl. Lane-Report, Bd. 1 Nr. 436 und 452).

195

c) Weiterhin ist den Erfolgsaussichten abträglich, daß der Unterrichtung und Beratung der Schwangerschaftsabbruch unmittelbar folgen kann. Eine ernsthafte Auseinandersetzung der Schwangeren und ihrer Angehörigen mit den in der Beratung ihr entgegengehaltenen Argumenten ist unter diesen Umständen nicht zu erwarten. Die vom Bundesjustizministerium dem Sonderausschuß für die Strafrechtsreform vorgelegte Formulierungsalternative für § 218c sah deshalb vor, daß der Schwangerschaftsabbruch erst vorgenommen werden dürfe, nachdem mindestens drei Tage seit der Unterrichtung über die zur Verfügung stehenden Hilfen (§ 218 Abs. 1 Nr. 1) verstrichen seien (Sonderausschuß 7. Wp., 30. Sitzung, StenBer. S. 1659). Indessen wurde nach dem Bericht des Sonderausschusses "auf eine strafrechtlich erzwungene Karenzzeit zwischen den Beratungen und dem Eingriff ... verzichtet. Dies könnte in Einzelfällen für die Schwangere je nach ihrem Wohnort und ihrer persönlichen Situation unzumutbare Schwierigkeiten mit der Folge mit sich bringen, daß die Schwangere auf die Beratung verzichtet" (BTDrucks. 7/1981 (neu) S. 17). Für die zum Schwangerschaftsabbruch entschlossene Frau kommt es somit nur darauf an, einen willfährigen Arzt zu finden; da er sowohl die soziale wie die ärztliche Beratung vornehmen und schließlich auch den Eingriff durchführen darf, ist von ihm nicht der ernsthafte Versuch zu erwarten, die Schwangere von ihrem Entschluß abzubringen.

196

III.

Zusammenfassend ist zur verfassungsrechtlichen Beurteilung der im Fünften Strafrechtsreformgesetz getroffenen Fristenregelung folgendes auszuführen:

197

Es ist mit der dem Gesetzgeber obliegenden Lebensschutzpflicht unvereinbar, daß Schwangerschaftsabbrüche auch dann rechtlich nicht mißbilligt und nicht unter Strafe gestellt werden, wenn sie aus Gründen erfolgen, die vor der Wertordnung des Grundgesetzes keinen Bestand haben. Zwar wäre die Einschränkung der Strafbarkeit verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn sie mit anderen Maßnahmen verbunden wäre, die den Wegfall des Strafschutzes in ihrer Wirkung zumindest auszugleichen vermöchten. Das ist indes - wie dargelegt - offensichtlich nicht der Fall. Die parlamentarischen Auseinandersetzungen um die Reform des Abtreibungsrechts haben zwar die Einsicht vertieft, daß es die vornehmste Aufgabe des Staates ist, die Abtötung ungeborenen Lebens durch Aufklärung über vorbeugende Schwangerschaftsverhütung einerseits sowie durch wirksame soziale Förderungsmaßnahmen und durch eine allgemeine Veränderung der gesellschaftlichen Auffassungen andererseits zu verhindern. Jedoch vermögen weder die gegenwärtig angebotenen und gewährten Hilfen dieser Art noch die im Fünften Strafrechtsreformgesetz vorgesehene Beratung den individuellen Lebensschutz zu ersetzen, den eine Strafnorm grundsätzlich auch heute noch in den Fällen gewährt, in denen für den Abbruch einer Schwangerschaft kein nach der Wertordnung des Grundgesetzes achtenswerter Grund besteht.

198

Wenn der Gesetzgeber die bisherige undifferenzierte Strafandrohung für den Schwangerschaftsabbruch als ein fragwürdiges Mittel des Lebensschutzes ansieht, so entbindet ihn dies doch nicht von der Verpflichtung, zumindest den Versuch zu unternehmen, durch eine differenziertere strafrechtliche Regelung einen besseren Lebensschutz zu erreichen, indem er diejenigen Fälle unter Strafe stellt, in denen der Schwangerschaftsabbruch verfassungsrechtlich zu mißbilligen ist. Eine klare Abgrenzung dieser Fallgruppe gegenüber den anderen Fällen, in denen die Fortsetzung der Schwangerschaft der Frau nicht zumutbar ist, wird die rechtsbewußtseinsbildende Kraft der Strafnorm verstärken. Wer überhaupt den Vorrang des Lebensschutzes vor dem Anspruch der Frau auf freie Lebensgestaltung anerkennt, wird in diesen durch keine besondere Indikation gedeckten Fällen den Unrechtsgehalt der Tat nicht bestreiten können. Wenn der Staat diese Fälle nicht nur für strafbar erklärt, sondern sie auch in der Rechtspraxis verfolgt und bestraft, wird dies im Rechtsbewußtsein der Allgemeinheit weder als ungerecht noch als unsozial empfunden werden.

199

Die leidenschaftliche Diskussion der Abtreibungsproblematik mag Anlaß zu der Befürchtung geben, daß in einem Teil der Bevölkerung der Wert des ungeborenen Lebens nicht mehr voll erkannt wird. Das gibt jedoch dem Gesetzgeber nicht das Recht zur Resignation. Er muß vielmehr den ernsthaften Versuch unternehmen, durch eine Differenzierung der Strafandrohung einen wirksameren Lebensschutz und eine Regelung zu erreichen, die auch vom allgemeinen Rechtsbewußtsein getragen wird.

200

IV.

Die im Fünften Strafrechtsreformgesetz getroffene Regelung wird bisweilen mit dem Hinweis verteidigt, daß in anderen demokratischen Ländern der westlichen Welt in jüngster Zeit die strafrechtlichen Vorschriften über den Schwangerschaftsabbruch in ähnlicher oder noch weitergehender Weise "liberalisiert" oder "modernisiert" worden seien; dies sei ein Anzeichen dafür, daß die Neuregelung jedenfalls der allgemeinen Entwicklung der Anschauungen auf diesem Gebiet entspreche und mit fundamentalen sozialethischen und rechtlichen Prinzipien nicht unvereinbar sei.

201

Diese Erwägungen können die hier zu treffende Entscheidung nicht beeinflussen. Abgesehen davon, daß alle diese ausländischen Regelungen in ihren eigenen Ländern stark umstritten sind, unterscheiden sich die rechtlichen Maßstäbe, die dort für das Handeln des Gesetzgebers gelten, wesentlich von denen der Bundesrepublik Deutschland.

202

Dem Grundgesetz liegen Prinzipien der Staatsgestaltung zugrunde, die sich nur aus der geschichtlichen Erfahrung und der geistig-sittlichen Auseinandersetzung mit dem vorangegangenen System des Nationalsozialismus erklären lassen. Gegenüber der Allmacht des totalitären Staates, der schrankenlose Herrschaft über alle Bereiche des sozialen Lebens für sich beanspruchte und dem bei der Verfolgung seiner Staatsziele die Rücksicht auch auf das Leben des Einzelnen grundsätzlich nichts bedeutete, hat das Grundgesetz eine wertgebundene Ordnung aufgerichtet, die den einzelnen Menschen und seine Würde in den Mittelpunkt aller seiner Regelungen stellt. Dem liegt, wie das Bundesverfassungsgericht bereits früh ausgesprochen hat (BVerfGE 2, 1 [12]), die Vorstellung zugrunde, daß der Mensch in der Schöpfungsordnung einen eigenen selbständigen Wert besitzt, der die unbedingte Achtung vor dem Leben jedes einzelnen Menschen, auch dem scheinbar sozial "wertlosen", unabdingbar fordert und der es deshalb ausschließt, solches Leben ohne rechtfertigenden Grund zu vernichten. Diese Grundentscheidung der Verfassung bestimmt Gestaltung und Auslegung der gesamten Rechtsordnung. Auch der Gesetzgeber ist ihr gegenüber nicht frei; gesellschaftspolitische Zweckmäßigkeitserwägungen, ja staatspolitische Notwendigkeiten können diese verfassungsrechtliche Schranke nicht überwinden (BVerfGE 1, 14 [36]). Auch ein allgemeiner Wandel der hierüber in der Bevölkerung herrschenden Anschauungen - falls er überhaupt festzustellen wäre - würde daran nichts ändern können. Das Bundesverfassungsgericht, dem von der Verfassung aufgetragen ist, die Beachtung ihrer grundlegenden Prinzipien durch alle Staatsorgane zu überwachen und gegebenenfalls durchzusetzen, kann seine Entscheidungen nur an diesen Prinzipien orientieren, zu deren Entfaltung es selbst in seiner Rechtsprechung entscheidend beigetragen hat. Damit wird kein absprechendes Urteil über andere Rechtsordnungen gefällt, "die diese Erfahrungen mit einem Unrechtssystem nicht gemacht haben und die aufgrund einer anders verlaufenen geschichtlichen Entwicklung, anderer staatspolitischer Gegebenheiten und staatsphilosophischer Grundauffassungen eine solche Entscheidung für sich nicht getroffen haben" (BVerfGE 18, 112 [117]).

203

E.

Nach alledem ist § 218a StGB in der Fassung des Fünften Strafrechtsreformgesetzes mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG insoweit unvereinbar, als er den Schwangerschaftsabbruch auch dann von der Strafbarkeit ausnimmt, wenn keine Gründe vorliegen, die nach den vorstehenden Ausführungen vor der Wertordnung des Grundgesetzes Bestand haben. In diesem Umfang war die Nichtigkeit der Vorschrift festzustellen. Es ist Sache des Gesetzgebers, die Fälle des indizierten und des nicht indizierten Schwangerschaftsabbruchs näher voneinander anzugrenzen. Im Interesse der Rechtsklarheit bis zum Inkrafttreten der gesetzlichen Regelung erschien es geboten, gemäß § 35 BVerfGG eine Anordnung des aus dem Urteilstenor ersichtlichen Inhalts zu erlassen.

204

Es bestand kein Anlaß, weitere Vorschriften des Fünften Strafrechtsreformgesetzes für nichtig zu erklären.

205

Dr. Benda, Ritterspach, Dr. Haager, Rupp-v.Brünneck, Dr. Böhmer, Dr. Faller, Dr. Brox, Dr. Simon

Abweichende Meinung der Richterin Rupp-v. Brünneck und des Richters Dr. Simon zum Urteil des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 25.Februar 1975 - 1 BvF 1, 2, 3, 4, 5, 6/74 -
Das Leben jedes einzelnen Menschen ist selbstverständlich ein zentraler Wert der Rechtsordnung. Unbestritten umfaßt die verfassungsrechtliche Pflicht zum Schutz dieses Lebens auch seine Vorstufe vor der Geburt. Die Auseinandersetzungen im Parlament und vor dem Bundesverfassungsgericht betrafen nicht das Ob, sondern allein das Wie dieses Schutzes. Die Entscheidung hierüber gehört in die Verantwortung des Gesetzgebers. Aus der Verfassung kann unter Umständen eine Pflicht des Staates hergeleitet werden, den Schwangerschaftsabbruch in jedem Stadium der Schwangerschaft unter Strafe zu stellen. Der Gesetzgeber durfte sich sowohl für die Beratungs- und Fristenregelung wie für die Indikationenlösung entscheiden.

206

Eine entgegengesetzte Verfassungsauslegung ist mit dem freiheitlichen Charakter der Grundrechtsnormen nicht vereinbar und verlagert in folgenschwerem Ausmaß Entscheidungskompetenzen auf das Bundesverfassungsgericht (A). Bei der Beurteilung des Fünften Strafrechtsreformgesetzes vernachlässigt die Mehrheit die Singularität des Schwangerschaftsabbruchs im Verhältnis zu anderen Gefährdungen des Lebens (B I 1). Sie würdigt nicht hinreichend die vom Gesetzgeber vorgefundene soziale Problematik sowie die Ziele der dringlichen Reform (B I 2). Schon weil jede Lösung Stückwerk bleibt, ist es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, daß der deutsche Gesetzgeber - im Einklang mit den Reformen in anderen westlichen Kulturstaaten (B III) - sozialpolitischen Maßnahmen den Vorrang vor weitgehend wirkungslosen Strafdrohungen gegeben hat (B I 3-5). Eine gesetzliche "Mißbilligung" sittlich nicht achtenswerten Verhaltens ohne Rücksicht auf ihre tatsächliche Schutzwirkung schreibt die Verfassung nirgends vor (B II).

207

A. -- I.

Die Befugnis des Bundesverfassungsgerichts, Entscheidungen des parlamentarischen Gesetzgebers zu annullieren, erfordert einen sparsamen Gebrauch, wenn eine Verschiebung der Gewichte zwischen den Verfassungsorganen vermieden werden soll. Das Gebot richterlicher Selbstbeschränkung (judicial self-restraint), das als das "Lebenselexier" der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bezeichnet worden ist (Leibholz, VVDStRL 20 [1963], S. 119.), gilt vor allem, wenn es sich nicht um die Abwehr von Übergriffen der staatlichen Gewalt handelt, sondern wenn dem Volk unmittelbar legitimierten Gesetzgeber im Wege der verfassungsgerichtlichen Kontrolle Vorschriften für die positive Gestaltung der Sozialordnung gemacht werden sollen. Hier darf das Bundesverfassungsgericht nicht der Versuchung erliegen, selbst die Funktion des zu kontrollierenden Organs zu übernehmen, soll nicht auf lange Sicht die Stellung der Verfassungsgerichtsbarkeit gefährdet werden.

208

1. Die in diesem Verfahren begehrte Prüfung verläßt den Boden der klassischen verfassungsgerichtlichen Kontrolle. Die im Zentrum unserer Verfassung stehenden Grundrechtsnormen gewährleisten als Abwehrrechte dem Bürger im Verhältnis zum Staat einen Bereich freier, eigenverantwortlicher Lebensgestaltung. Die klassische Funktion des Bundesverfassungsgerichts liegt insoweit darin, Verletzungen dieses Freiheitsraums durch übermäßige Eingriffe der staatlichen Gewalt abzuwehren. In der Skala der staatlichen Eingriffsmöglichkeiten stehen Strafvorschriften an der Spitze: Sie befehlen dem Bürger ein bestimmtes Verhalten und unterwerfen ihn bei Zuwiderhandlungen empfindlichen Freiheitsbeschränkungen oder finanziellen Belastungen. Verfassungsgerichtliche Kontrolle solcher Vorschriften bedeutet daher die Prüfung, ob der mit dem Erlaß oder der Anwendung der Strafvorschrift verbundene Eingriff in die grundrechtlich geschützte Freiheitssphäre zulässig ist, ob also der Staat überhaupt oder in dem vorgesehenen Umfang strafen darf.

209

Im vorliegenden Verfassungsstreit wird gerade umgekehrt erstmalig zur Prüfung gestellt, ob der Staat strafen muß, nämlich ob die Aufhebung der Strafvorschrift gegen den Schwangerschaftsabbruch in den ersten drei Monaten der Schwangerschaft mit den Grundrechten vereinbar ist. Es liegt aber auf der Hand, daß das Absehen von Strafe das Gegenteil eines staatlichen Eingriffs ist. Da die teilweise Rücknahme der Strafvorschrift nicht zur Begünstigung von Schwangerschaftsabbrüchen geschah, sondern weil sich die bisherige Strafdrohung nach der durch Erfahrung erhärteten, unwiderlegten Annahme des Gesetzgebers weitgehend als wirkungslos erwiesen hat, läßt sich nicht einmal mittelbar ein staatlicher "Eingriff" in das ungeborene Leben konstruieren. Weil es daran fehlt, hat der Österreichische Verfassungsgerichtshof eine Verletzung des nach innerösterreichischem Recht geltenden Grundrechtskatalogs durch die dortige Fristenregelung verneint (Vgl. das Erkenntnis vom 11. Oktober 1974 - G 8/74 - II 2 b der Entscheidungsgründe, EuGRZ 1975, S. 74 [76].).

210

2. Da die Grundrechte als Abwehrrechte von vornherein ungeeignet sind, den Gesetzgeber an der Beseitigung von Strafvorschriften zu hindern, will die Senatsmehrheit die Grundlage dafür in der weitergehenden Bedeutung der Grundrechte als objektive Wertentscheidungen finden (C I 3 und C III b). Danach normieren die Grundrechte nicht nur Abwehrrechte des Einzelnen gegen den Staat, sondern enthalten zugleich objektive Wertentscheidungen, deren Verwirklichung durch aktives Handeln ständige Aufgabe der staatlichen Gewalt ist. Diese Auffassung ist vom Bundesverfassungsgericht in dem begrüßenswerten Bemühen entwickelt worden, den Grundrechten in ihrem freiheitssichernden und auf soziale Gerechtigkeit angelegten Gehalt größere Wirksamkeit zu verleihen. Die Senatsmehrheit berücksichtigt jedoch die für die verfassungsgerichtliche Kontrolle wesentlichen Unterschiede der beiden Grundrechtsaspekte nicht hinreichend.

211

Als Abwehrrechte haben die Grundrechte einen verhältnismäßig deutlich erkennbaren Inhalt; in ihrer Auslegung und Anwendung hat die Rechtsprechung praktikable, allgemein anerkannte Kriterien zur Kontrolle staatlicher Eingriffe - etwa den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit - entwickelt. Demgegenüber ist es regelmäßig eine höchst komplexe Frage, wie eine Wertentscheidung durch aktive Maßnahmen des Gesetzgebers zu verwirklichen ist. Die notwendig allgemein gehaltenen Wertentscheidungen könnten insoweit etwa als Verfassungsaufträge charakterisiert werden, die zwar für alles staatliche Handeln richtungweisend, aber notwendig auf eine Umsetzung in verbindliche Regelungen angewiesen sind. Je nach der Beurteilung der tatsächlichen Verhältnisse, der konkreten Zielsetzungen und ihrer Priorität, der Eignung der denkbaren Mittel und Wege sind sehr verschiedene Lösungen möglich. Die Entscheidung, die häufig Kompromisse voraussetzt und sich im Verfahren des trial and error vollzieht, gehört nach dem Grundsatz der Gewaltenteilung und dem demokratischen Prinzip in die Verantwortung des vom Volk unmittelbar legitimierten Gesetzgebers (Vgl. dazu näher unsere abweichende Meinung im Hochschul-Urteil, BVerfGE 37, 148 [150, 153, 155 f.]).

212

Freilich kann schon wegen der wachsenden Bedeutung fördernder Sozialmaßnahmen für die Effektuierung der Grundrechte auch in diesem Bereich nicht auf jede verfassungsgerichtliche Kontrolle verzichtet werden; die Erarbeitung eines geeigneten, die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers respektierenden Instrumentariums wird möglicherweise zu den Hauptaufgaben der Rechtsprechung in den nächsten Jahrzehnten gehören. Solange es aber daran noch fehlt, droht die Gefahr, daß die verfassungsgerichtliche Kontrolle sich nicht auf die Nachprüfung der vom Gesetzgeber getroffenen Entscheidung beschränkt, sondern diese durch eine andere, vom Gericht für besser gehaltene ersetzt. Diese Gefahr besteht in erhöhtem Maße, wenn - wie hier - in stark kontroversen Fragen eine nach langen Auseinandersetzungen getroffene Entscheidung der Parlamentsmehrheit von der unterlegenen Minderheit vor dem Bundesverfassungsgericht angegriffen wird. Unbeschadet der legitimen Befugnis der Antragsberechtigten, verfassungsrechtliche Zweifel auf diesem Wege klären zu lassen, gerät hier das Bundesverfassungsgericht unversehens in die Lage, als politische Schiedsinstanz für die Auswahl zwischen konkurrierenden Gesetzgebungsprojekten in Anspruch genommen zu werden.

213

Der Gedanke der objektiven Wertentscheidung darf aber nicht zum Vehikel werden, um spezifisch gesetzgeberische Funktionen in der Gestaltung der Sozialordnung auf das Bundesverfassungsgericht zu verlagern. Sonst würde das Gericht in eine Rolle gedrängt, für die es weder kompetent noch ausgerüstet ist. Daher sollte das Bundesverfassungsgericht weiter die Zurückhaltung wahren, die es bis zum Hochschul-Urteil geübt hat (vgl. BVerfGE 4, 7 [18]; 27, 253 [283]; 33, 303 [333 f.]; 35, 148 - abw.M. - [152 ff.]; 36, 321 [330 ff.]). Es darf dem Gesetzgeber nur dann entgegentreten, wenn er eine Wertentscheidung ganz außer acht gelassen hat oder die Art und Weise ihrer Realisierung offensichtlich fehlsam ist. Demgegenüber legt die Mehrheit dem Gesetzgeber trotz vermeintlicher Anerkennung seiner Gestaltungsfreiheit faktisch zur Last, er habe eine an sich anerkannte Wertentscheidung nach ihrer Auffassung nicht bestmöglich verwirklicht. Sollte das zum allgemeinen Prüfungsmaßstab werden, so wäre damit das Gebot richterlicher Selbstbeschränkung preisgegeben.

214

II.

1. Unser stärkstes Bedenken richtet sich dagegen, daß erstmals in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung eine objektive Wertentscheidung dazu dienen soll, eine Pflicht des Gesetzgebers zum Erlaß von Strafnormen, also zum stärksten denkbaren Eingriff in den Freiheitsbereich des Bürgers zu postulieren. Dies verkehrt die Funktion der Grundrechte in ihr Gegenteil. Wenn die in einer Grundrechtsnorm enthaltene objektive Wertentscheidung zum Schutz eines bestimmten Rechtsgutes genügen soll, um daraus die Pflicht zum Strafen herzuleiten, so könnten die Grundrechte unter der Hand aus einem Hort der Freiheitssicherung zur Grundlage einer Fülle von freiheitsbeschränkenden Reglementierungen werden. Was für den Schutz des Lebens gilt, kann auch für andere Rechtsgüter von hohem Rang - etwa körperliche Unversehrtheit, Freiheit, Ehe und Familie - in Anspruch genommen werden.

215

Selbstverständlich setzt die Verfassung voraus, daß der Staat zum Schutz eines geordneten Zusammenlebens auch seine Strafgewalt gebrauchen kann; der Sinn der Grundrechte geht jedoch nicht dahin, solchen Einsatz zu fordern, sondern ihm Grenzen zu ziehen. So hat der Supreme Court der Vereinigten Staaten die Bestrafung von Schwangerschaftsabbrüchen, die mit Einwilligung der Schwangeren im ersten Drittel der Schwangerschaft durch einen Arzt vorgenommen werden, sogar als Grundrechtsverletzung angesehen (Roe v. Wade, 410 U.S. 113 [1973] = 93 S.Ct. 705 = 41 USLaw Week 4213.). Dies ginge nach deutschem Verfassungsrecht zwar zu weit. Jedoch braucht auch nach dem freiheitlichen Charakter unserer Verfassung der Gesetzgeber eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung dafür, daß er straft, nicht aber dafür, daß er von Strafe absieht, weil nach seiner Auffassung eine Strafdrohung keinen Erfolg verspricht oder aus anderen Gründen als unangemessene Reaktion erscheint (vgl. BVerfGE 22, 49 [78]; 27, 18 [28]; 32, 40 [48]).

216

Die entgegengesetzte Grundrechtsinterpretation führt zwangsläufig zu einer nicht minder bedenklichen Ausweitung der verfassungsgerichtlichen Kontrolle: Es ist nicht mehr allein zu prüfen, ob eine Strafvorschrift zu weit in den Rechtsbereich des Bürgers eingreift, sondern auch umgekehrt, ob der Staat zu wenig straft. Dabei wird das Bundesverfassungsgericht entgegen der Mehrheitsmeinung (D I) nicht bei der Frage stehenbleiben können, ob der Erlaß irgendeiner Strafnorm gleich welchen Inhalts geboten ist, sondern klären müssen, welche Strafsanktion zum Schutz des jeweiligen Rechtsguts hinreicht. In letzter Konsequenz könnte das Gericht sogar zu der Prüfung genötigt sein, ob die Anwendung einer Strafnorm im Einzelfall dem Schutzgedanken genügt.

217

Ein verfassungsrechtliches Festschreiben von Strafnormen - wie die Mehrheit es fordert - ist schließlich auch deswegen abzulehnen, weil gerade die Leitgedanken des Strafrechts nach den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte und der zu erwartenden Entwicklung im Bereich der Sozialwissenschaften einen schnellen und starken Wandel unterliegen. Dies zeigt nicht allein ein Blick auf die grundlegenden Veränderungen etwa in der Beurteilung der Sittlichkeitsdelikte - z.B. Homosexualität, Ehegattenkuppelei, Exhibitionismus -, sondern läßt sich speziell für die Strafvorschriften gegen Abtreibung belegen. Die Straflosigkeit der ethisch (kriminologisch) indizierten Abtreibung, die heute der ganz überwiegenden Rechtsauffassung entspricht, war noch in den sechziger Jahren äußerst umstritten (Vgl. die Auseinandersetzung im Bundesrat und Bundestag [Niederschrift über die 254. Sitzung des Bundesratsrechtsausschusses vom 26. Juni 1962 S. 30 ff.; Verhandlungen des Bundesrats 1962 S. 140 f., 153, 154 f.; Verhandlunben des Deutschen Bundestages, 4. Wp., SenBer. der 70. Sitzung vom 28. März 1963, S. 3188, 3208, 3210, 3217, 3221]; s. ferner die Nachweise bei Lang-Hinrichsen, JZ 1963, S. 725 ff.). Die von der Bundesregierung 1960 und 1962 vorgelegten Entwürfe eines Strafgesetzbuches lehnten diese Indikation ausdrücklich ab (Vgl. §§ 140 f., 157 und die Begründung BTDrucks. III/2150 S. 262, 274 f.; BTDrucks. IV/650 S. 278, 292 f.); zur sozialen und eugenischen Indikation begnügten sie sich mit dem Hinweis, daß sich die Ablehnung "von selbst verstehe" (BTDrucks. III/2150 S. 262, IV/650 S. 278.).

218

2. Auch die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes spricht dagegen, aus Grundrechtsnormen eine Pflicht zum Strafen abzuleiten. Wo der Parlamentarische Rat Strafsanktionen von Verfassungs wegen für geboten erachtete, hat er dies ausdrücklich in das Grundgesetz aufgenommen: Art. 26 Abs. 1 für die Vorbereitung eines Angriffskrieges und Art. 143 in der ursprünglichen Fassung für Hochverrat.

219

Demgegenüber finden sich in den Materialien zu Art. 2 Abs. 2 GG, wie auch die Mehrheit einräumt (C I 1 d), keine Anhaltspunkte für eine Verpflichtung, das ungeborene Leben strafrechtlich zu schützen. Eine nähere Analyse der Entstehungsgeschichte des Artikels spricht darüber hinaus dafür, daß die strafrechtliche Bewertung von Schwangerschaftsabbrüchen bewußt der eigenverantwortlichen Entscheidung des einfachen Gesetzgebers überlassen bleiben sollte. Die insoweit erheblichen Äußerungen der Abgeordneten Heuss und Greve und die Ablehnung des Antrages des Abgeordneten Seebohm (C I 1 d mit den dortigen Nachweisen) müssen vor ihrem zeitgeschichtlichen Hintergrund verstanden werden. In der Weimarer Zeit war die Bestrafung der Abtreibung außerordentlich umstritten; es handelte sich damals um ein ungleich schwerer wiegendes Problem, weil es die heute allgemein verbreiteten und leicht anwendbaren Mittel zur Empfängnisverhütung noch nicht gab. Dieser Zustand dauerte zur Zeit des Parlamentarischen Rates unverändert fort. Wenn unter diesen Umständen die beantragte Aufnahme einer ausdrücklichen Bestimmung über den Schutz keimenden Lebens abgelehnt worden ist, so ist das in Verbindung mit den erwähnten Äußerungen nur dahin zu verstehen, daß die Reform des umstrittenen § 218 StGB durch die Verfassung nicht präjudiziert werden sollte.

220

Ein gegenteiliger Standpunkt läßt sich nicht damit begründen, daß die Aufnahme des Art. 2 Abs. 2 GG unstreitig der Reaktion auf die unmenschliche Ideologie und Praxis der nationalsozialistischen Regimes entsprang (Vgl. aber C I 1 a und D IV des Urteils.). Diese Reaktion bezieht sich auf die Massenvernichtung menschlichen Lebens von Staats wegen in Konzentrationslagern und bei Geisteskranken, auf behördlich angeordnete Sterilisierungen und Zwangsabtreibungen, auf medizinische Versuche mit Menschen gegen deren Willen und auf die in zahllosen anderen staatlichen Maßnahmen zum Ausdruck kommende Mißachtung des individuellen Lebens und der Menschenwürde.

221

Hieraus Schlußfolgerungen für die verfassungsrechtliche Bewertung einer nicht vom Staat, sondern von der Schwangeren selbst oder mit ihrem Willen von Dritten vorgenommenen Abtötung der Leibesfrucht zu ziehen, ist um so weniger am Platze, als das nationalsozialistische Regime entsprechend seiner biologisch-bevölkerungspolitischen Ideologie gerade dazu einen rigorosen Standpunkt eingenommen hatte. Neben neuen Vorschriften gegen die Werbung für Abtreibungen oder Abtreibungsmittel wurde durch entsprechende staatliche Maßnahmen darauf hingewirkt, im Gegensatz zur Praxis in der Weimarer Zeit eine striktere Anwendung der Strafbestimmungen durchzusetzen (Vgl. über den Anstieg der Verurteilungen im Dritten Reich: Dotzauer, Abtreibung, in: Handwörterbuch der Kriminologie [hrsg. von Sieverts], 2. Aufl., Bd. I [1966], S. 10 f.). Diese an sich schon hohen Strafdrohungen wurden 1943 wesentlich verschärft. Während bisher sowohl für die Schwangere wie für den nicht gewerbsmäßig handelnden Helfer nur Gefängnisstrafe vorgesehen war, wurde nunmehr die Selbstabtreibung in besonders schweren Fällen mit Zuchthaus belegt. Die Fremdabtreibung war, abgesehen von minder schweren Fällen, stets mit Zuchthaus zu bestrafen; hatte der Täter "dadurch die Lebenskraft des deutschen Volkes fortgesetzt beeinträchtigt", sogar mit Todesstrafe. Angesichts dieser, bei der Entstehung des Grundgesetzes noch unveränderten, lediglich durch das alliierte Verbot grausamer oder übermäßig hoher Strafen in ihrer Anwendung gemilderten Bestimmungen können die Gründe, die zur Aufnahme des Art. 2 Abs. 2 GG führten, schlechterdings nicht zugunsten einer verfassungsrechtlichen Pflicht zur Bestrafung von Abtreibungen herangezogen werden. Vielmehr gebietet die mit dem Grundgesetz vollzogene, entschiedene Abkehr vom totalitären nationalsozialistischen Staat eher umgekehrt Zurückhaltung im Umgang mit der Kriminalstrafe, deren verfehlter Gebrauch in der Geschichte der Menschheit schon unendlich viel Leid angerichtet hat.

222

B.

Selbst wenn man entgegen unserer Auffassung mit der Mehrheit eine verfassungsrechtliche Pflicht zum Strafen für denkbar hält, kann dem Gesetzgeber hier kein Verfassungsverstoß zur Last gelegt werden. Die Mehrheitsbegründung begegnet - ohne daß es eines Eingehens auf jedes Detail bedarf - den folgenden Einwänden:

223

I.

Auch nach Meinung der Mehrheit soll eine verfassungsrechtliche Pflicht zum Strafen nur als ultima ratio in Betracht kommen (C III 2 b). Macht man damit wirklich Ernst, so setzt eine solche Pflicht zunächst voraus, daß geeignete Mittel milderer Art fehlen oder ihr Einsatz sich als wirkungslos erwiesen hat; darüber hinaus muß die Strafsanktion geeignet und erforderlich sein, um das erstrebte Ziel überhaupt oder besser zu erreichen. Beides muß - folgt man der bisherigen Rechtsprechung (vgl. etwa BVerfGE 17, 306 [313 f.]) - zweifelsfrei nachgewiesen werden. Denn wenn schon die Zulässigkeit einer bestehenden Strafvorschrift davon abhängt, ob sie zum Schutz des jeweiligen Rechtsgutes geeignet und erforderlich ist, dann bedarf es eines solchen Nachweises erst recht, wenn der Gesetzgeber sogar gegen seinen Willen zum Strafen gezwungen werden soll. Soweit es dafür auf die Beurteilung der Sachlage und der Effektivität beabsichtigter Maßnahmen ankommt, hat das Gericht die Auffassung des Gesetzgebers zugrunde zu legen, solange sie nicht als offensichtlich irrig widerlegt wird (vgl. BVerfGE 7, 377 [412]; 24, 367 [406]; 35, 148 - abw.M. - [165]).

224

Diesen Anforderungen genügt die Urteilsbegründung nicht. Sie verstrickt sich wiederholt in Widersprüche und kehrt am Ende die Beweislast geradezu um: Ein Verzicht auf Strafsanktionen soll dem Gesetzgeber nur noch erlaubt sein, wenn zweifelsfrei feststeht, daß die von ihm bevorzugten milderen Maßnahmen zur Erfüllung der Schutzpflicht "zumindest" ebenso wirksam oder gar wirksamer sind (D III, C III 3; vgl. auch D II 2 c).

225

1. Die zunächst eindrucksvollen Ausführungen über den unbestrittenen hohen Rang des Lebensschutzes vernachlässigen die Singularität des Schwangerschaftsabbruchs im Verhältnis zu anderen Gefährdungen menschliches Lebens. Es handelt sich hier nicht um die akademische Frage, ob der Einsatz der staatlichen Strafgewalt zum Schutz vor Mördern und Totschlägern, auf die in keiner anderen Weise präventiv eingewirkt werden kann, unumgänglich ist. In der europäischen, kirchlich beeinflußten Rechtsgeschichte ist stets zwischen geborenem und ungeborenem Leben unterschieden worden. Auch die Wertentscheidung der Verfassung läßt bei der Auswahl der erforderlichen Schutzmaßnahmen Raum für eine solche Differenzierung, zumal da das Grundrecht des Art. 2 Abs. 2 GG nicht - wie die Mehrheit formuliert (C II 1) - "umfassend" gewährleistet ist, sondern unter Gesetzesvorbehalt steht. Anderenfalls ließe sich weder die ethische noch die eugenische oder gar die soziale Indikation begründen.

226

Auch die Mehrheit bezweifelt nicht die Berechtigung dieser Unterscheidung (C III 2 a), trennt aber wiederum nicht zwischen den verschiedenen Aspekten der Grundrechtsnorm. Soweit es sich um die Abwehr staatlicher Eingriffe handelt, kann selbstverständlich nicht zwischen dem vor- und nachgeburtlichen Entwicklungsstadium unterschieden werden; der Embryo ist insoweit als potentieller Grundrechtsträger durchgängig in gleicher Weise zu schützen wie jedes geborene Menschenleben. Diese rechtliche Gleichbehandlung läßt sich schon auf die Verletzung ungeborenen Lebens durch Dritte gegen den Willen der Schwangeren nur begrenzt übertragen, keinesfalls aber auf die Weigerung der Frau, die Menschwerdung ihrer Leibesfrucht im eigenen Körper zuzulassen.

227

Die Besonderheit, daß in der Person der Schwangeren eine singuläre Einheit von "Täter" und "Opfer" vorliegt (So auch die Mehrheit unter C II 2, C III 3), fällt rechtlich bereits deswegen ins Gewicht, weil der Schwangeren - anders als dem Adressaten von Strafvorschriften gegen Tötungsdelikte - weit mehr abverlangt wird als nur ein Unterlassen: Sie soll nicht nur die mit dem Austragen der Leibesfrucht verbundenen tiefgreifenden Veränderungen ihrer Gesundheit und ihres Wohlbefindens dulden, sondern auch die Eingriffe in ihre Lebensgestaltung hinnehmen, die sich aus Schwangerschaft und Geburt ergeben, besonders die mütterliche Verantwortung für die weitere Entwicklung des Kindes nach der Geburt tragen. Anders als bei den genannten Tötungsdelikten kann und muß der Gesetzgeber ferner davon ausgehen, daß das Schutzobjekt - die Leibesfrucht - am wirksamsten durch die Mutter selbst geschützt wird und daß deren Bereitschaft zum Austragen der Leibesfrucht durch Maßnahmen verschiedenster Art gestärkt werden kann. Da es von Natur aus keiner Strafvorschrift bedarf, um die mütterliche Schutzbeziehung herzustellen und zu sichern, läßt sich schon deswegen fragen, ob einer Störung dieser Beziehung, wie sie bei Schwangerschaftsabbrüchen zutage tritt, gerade durch eine Strafsanktion in geeigneter Weise begegnet werden kann. Jedenfalls darf der Gesetzgeber darauf wegen der genannten Besonderheiten anders reagieren als auf die Tötung menschlichen Lebens durch Dritte.

228

Nach Auffassung der unterzeichnenden Richterin ist die Weigerung der Schwangeren, die Menschwerdung ihrer Leibesfrucht in ihrem Körper zuzulassen, nicht allein nach dem natürlichen Empfindungen der Frau, sondern auch rechtlich etwas wesentlich anderes als die Vernichtung selbständig existenten Lebens. Schon deswegen verbietet es sich von vornherein, die Abtreibung im ersten Stadium der Schwangerschaft mit Mord oder vorsätzlicher Tötung prinzipiell gleichzustellen. Erst recht ist es verfehlt, wenn nicht unsachlich, die Fristenlösung in die Nähe der Euthanasie oder gar der "Tötung unwerten Lebens" zu rücken, um sie von daher zu diskriminieren - wie dies in der öffentlichen Diskussion geschehen ist. Der Umstand, daß erst in einem längeren Entwicklungsprozeß ein vom mütterlichen Organismus trennbares selbständig existentes Lebewesen entsteht, legt es vielmehr nahe oder läßt es wenigsten zu, bei der rechtlichen Beurteilung zeitliche, dieser Entwicklung entsprechende Zäsuren zu berücksichtigen (Vgl. das Erkenntnis des Österreichischen Verfassungsgerichtshofs unter II 5 b der Entscheidungsgründe, EuGRZ 1975, S. 74 [80]; Lay, JZ 1970, S. 465 ff.; noch weiter gehend bezeichnet es Roman Herzog [JR 1969, S. 441] als Sache des Gesetzgebers, "von welcher Entwicklungsphase an [der] staatliche Schutz für das werdende Leben wirksam werden soll".). Die biologische Kontinuität der Gesamtentwicklung bis zur Geburt (Siehe C I 1 b) - deren Beginn bei konsequenter Anwendung der Mehrheitsauffassung nicht erst bei der Einnistung, sondern bei der Empfängnis anzusetzen wäre - ändert nichts daran, daß den verschiedenen Entwicklungsstufen des Embryos eine Veränderung in der Einstellung der Schwangeren im Sinne einer wachsenden mütterlichen Bindung entspricht. Demgemäß ist es für das Rechtsbewußtsein der Schwangeren, aber auch für das allgemeine Rechtsbewußtsein nicht das gleiche, ob ein Schwangerschaftsabbruch im ersten Stadium der Schwangerschaft oder in einer späteren Phase stattfindet. Dies hat zu allen Zeiten in in- und ausländischen Rechtsordnungen seinen Niederschlag in einer an solche zeitlichen Einschnitte anknüpfenden verschiedenen strafrechtlichen Bewertung der Abtreibung gefunden, wie etwa der Supreme Court eindrucksvoll dargestellt hat (410 U.S. 113 [132 ff., 160 f.]). Für den deutschen Rechtsraum verdient Hervorhebung, daß das Kirchenrecht, gestützt auf die Beseelungslehre, bis zum Ende des 19. Jahrhunderts die Abtreibung in die Zeitspanne bis zum 80. Tag nach der Empfängnis als straflos angesehen hat; auch das weltliche Strafrecht sah bis zum Erlaß des Strafgesetzbuches von 1871 zeitliche Abstufungen für die Höhe der Strafdrohung vor (Vgl. Dähn in: Das Abtreibungsverbot des § 218 StGB [hrsg. von Baumann], 2. Aufl., 1972, S. 331 f.; Supreme Court, a.a.O., 134; Simson-Geerds, Straftaten gegen die Person und Sittlichkeitsdelikte in rechtsvergleichender Sicht, 1969, S. 87; Sonderausschuß für die Strafrechtsreform, 7. Wp., Anlage zur 15. Sitzung, StenBer. S. 690 ff., 697 f.).

229

Der unterzeichnende Richter neigt dazu, diesen weiteren Überlegungen zum Verhältnis zwischen der Schwangeren und ihrer Leibesfrucht rechtlich eine geringere Bedeutung beizumessen. Wenn jedoch die Rücknahme der Strafdrohung in den ersten drei Monaten der Schwangerschaft aus anderen - bereits genannten oder noch zu erörternden - Gründen verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist, dann handelt der Gesetzgeber jedenfalls nicht sachfremd, wenn er den genannten Umständen bei seiner Regelung Rechnung trägt.

230

2. Die Prüfung, ob trotz der genannten Besonderheiten auch zum Schutz ungeborenen Lebens eine Pflicht zum Strafen als ultima ratio zu fordern ist, muß von dem sozialen Problem ausgehen, das den Gesetzgeber zu seiner Regelung veranlaßt hat. In der Mehrheitsbegründung finden sich lediglich knappe Hinweise auf die Komplexität dieses Problems und - im Zusammenhang mit der Indikationenregelung - einige Erörterungen über die sozialen Ursachen für Abtreibungen (C, C III 2, C III 3, D II, D II 3); insgesamt unterbleibt jedoch wegen der mehr dogmatischen Betrachtungsweise eine hinreichende Würdigung der vom Gesetzgeber vorgefundenen Verhältnisse und der daraus folgenden Schwierigkeiten für die allseits als notwendig anerkannte Reform.

231

a) Diese Verhältnisse sind in erster Linie geprägt durch die enorme Dunkelziffer, die nicht damit bagatellisiert werden kann, daß - verständlicherweise - keine sicheren Daten zu ermitteln sind. Nach den Berichten des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform ist " nach ernst zu nehmenden Untersuchungen" von 75.000 bis 300.000 illegalen Abtreibungen jährlich auszugehen (Vgl. BTDrucks. 7/1981 (neu) S.6; 7/1982, S. 5; 7/1983 S. 5, je mit weiteren Nachweisen); innerhalb dieses Bereichs bewegen sich auch die von den Sachverständigen bei der öffentlichen Anhörung vor dem Sonderausschuß genannten Zahlen (Vgl. Sonderausschuß für die Strafrechtsreform, 6. Wp., 74., 75. und 76. Sitzung, StenBer. S. 2173, 2218, 2241.). Noch bis vor kurzem, d.h. vor Beginn der Diskussion im Parlament wurden allgemein weit höhere Zahlen angenommen (Vgl. die Nachweise in der Antwort des Bundesministers der Justiz auf eine Kleine Anfrage der Fraktion der CDU/CSU, BTDrucks. VI/2025 S. 3; s. auch E.-W. Böckenförde, der 200.000 bis 400.000 illegale Aborte zugrunde legt (Stimmen der Zeit, Bd. 188 [1971], S. 147 [152]).).

232

Auch wenn man nur die niedrigsten Schätzungen zugrunde legt, bleibt die Zahl erschreckend hoch. Ihr steht eine verschwindend geringe Zahl behördlich bekanntgewordener Abtreibungsfälle und gerichtlicher Verurteilungen gegenüber: für 1971 bei 584 bekanntgewordenen Straftaten 184 Verurteilungen, für 1972 bei 476 Fällen 154 Verurteilungen (Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland, 1973, S. 117, 121; 1974, S. 116, 121.). Ganz überwiegend wird dabei nur auf Geldstrafen erkannt; ausnahmsweise verhängte kurzfristige Freiheitsstrafen werden meist zur Bewährung ausgesetzt (Vgl. Statistisches Bundesamt, Fachserie A "Bevölkerung und Kultur", Reihe 9 "Rechtspflege", 1972, S. 100 f., 144 f., 160 f.). Die hierin erkennbare Nichtbeachtung der Strafvorschrift bedeutet nicht allein eine Entwertung des werdenden Lebens, sondern wirkt sich auch korrumpierend für die allgemeine Rechtsgeltung aus, zumal da unter diesen Umständen die strafgerichtliche Verfolgung zum reinen Zufall wird.

233

Den Gesetzgeber konnte es ferner nicht gleichgültig lassen, daß illegale Schwangerschaftsabbrüche auch heute noch zu Gesundheitsschäden führen, und zwar nicht nur bei Abtreibungen durch "Kurpfuscher" und "Engelmacherinnen", sondern in größerem Umfang auch deswegen, weil bei ärztlichen Eingriffen die Illegalität den vollen Einsatz des modernen Instrumentariums und des erforderlichen Hilfspersonals beeinträchtigt oder eine notwendige Nachbehandlung verhindert. Als Übelstand erscheint weiter die kommerzielle Ausbeutung abtreibungswilliger Frauen im In- und Ausland und die damit verbundene soziale Ungleichheit; bessergestellte Frauen können, besonders durch Reisen ins benachbarte Ausland, weit leichter eine Abtreibung durch einen Arzt erreichen als ärmere oder weniger gewandte. Schließlich kommt die sogenannte Folgekriminalität hinzu; so steht die Erpressung mit der Kenntnis eines illegalen Aborts in der Reihe der Erpressungsmittel an dritter Stelle (Geerds, Erpressung, in Handwörterbuch der Kriminologie, a.a.O., S. 182.).

234

b) Für die Entscheidung des Gesetzgebers, wie diese Zustände am besten zu reformieren sind, war besonders bedeutsam, daß der Entschluß zum Schwangerschaftsabbruch regelmäßig aus einer Konfliktsituation erwächst, die auf mannigfaltigen, stark von den Verhältnissen des Einzelfalles geprägten Motivationen beruht. Neben wirtschaftlichen oder materiellen Gründen - etwa unzulängliche Wohnverhältnisse, nicht ausreichendes oder ungesichertes Einkommen der vielleicht schon vielköpfigen Familie, Notwendigkeit einer Erwerbstätigkeit beider Ehegatten - stehen persönliche Gründe: die immer noch nicht beseitigte gesellschaftliche Diskriminierung der unverheirateten Mutter, der Druck des Erzeugers oder der Familie, die Furcht vor einer Gefährdung der Partnerbeziehung oder einem Zerwürfnis mit den Eltern, der Wunsch oder die Notwendigkeit, eine begonnene Ausbildung fortzusetzen oder einen Beruf weiter auszuüben, Schwierigkeiten in der Ehe, das Gefühl, der Betreuung weiterer Kinder physisch oder psychisch nicht mehr gewachsen zu sein, bei Alleinstehenden auch die Ablehnung einer nicht zu verantwortenden Heimerziehung des Kindes. Die Angst der Schwangeren, daß die ungewollte Schwangerschaft zu einem irreparablen Einbruch in ihre persönliche Lebensgestaltung oder den Lebensstandard der Familie führen wird, das Empfinden, daß sie beim Austragen ihrer Leibesfrucht nicht auf eine wirksame Hilfe der Umwelt rechnen kann, sondern daß die nachteiligen Folgen eines nicht nur von ihr zu verantwortenden Verhaltens sie allein treffen, lassen ihr die Schwangerschaftsunterbrechung häufig als einzigen Ausweg erscheinen. Selbst wo nach der persönlichen Situation nicht-einsichtige Motivationen der Bequemlichkeit, des Egoismus, besonders des Konsumstrebens im Vordergrund stehen, kann dies nicht ausschließlich der Frau zur Last gelegt werden, sondern spiegelt zugleich die materialistische, weitgehend kinderfeindliche Gesamteinstellung der "Wohlstandsgesellschaft" wider. Auch haben Staat und Gesellschaft bisher noch keine hinreichenden Einrichtungen und Lebensformen entwickelt, die es der Frau ermöglichen, Mutterschaft und Familienleben mit einer chancengleichen persönlichen Entfaltung, besonders auf beruflichem Gebiet, zu verbinden (Vgl. zu alledem etwa das Memorandum des Bensberger Kreises zur Reform des § 218 StGB (Publik-Forum Sonderdruck) unter I 1 sowie die Ausführungen der Sachverständigen und des Regierungsvertreters vor dem Sonderausschuß für die Strafrechtsreform, 6. Wp., 74., 75. und 76. Sitzung, StenBer. S. 2219 mit der tabellarischen Übersicht in Anlage 3 S. 2368 (Rolinski); S. 2233 (Dotzauer); S. 2251 ff. (Pross); 7. Wp., 23. Sitzung, StenBer. S. 1390 f.; s. ferner die Berichte des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform, BTDrucks. 7/1981 (neu) S. 7; 7/1982 S. 7; 7/1983 S. 7; 7/1984 (neu) S. 5.).

235

3. In dieser Gesamtsituation ist die "Eindämmung der Abtreibungsseuche" nicht nur ein "gesellschaftspolitisch erwünschtes Ziel" (D II 2 b), sondern gerade auch im Sinne eines besseren Lebensschutzes und zur Wiederherstellung der Glaubwürdigkeit der Rechtsordnung dringend geboten. Im Bemühen um eine Lösung dieser höchst schwierigen Aufgabe hat der Gesetzgeber alle wesentlichen Gesichtspunkte erschöpfend gewürdigt. Die Reform des § 218 StGB hatte bereits die in dieser Frage tief gespaltene Öffentlichkeit nachhaltig beschäftigt. Die parlamentarischen Beratungen sind auf diesem Hintergrund mit großem Ernst und ungewöhnlicher Gründlichkeit durchgeführt worden. Hierbei wurden die Wertentscheidungen der Verfassung ausdrücklich herangezogen; namentlich bestand Einigkeit über die staatliche Pflicht zum Schutz des ungeborenen Lebens. Bei der Ermittlung der maßgeblichen Faktoren und Argumente für eine sachgerechte Entscheidung entsprach das Vorgehen der Gesetzgebungsorgane ganz dem, was das KPD-Urteil als charakteristisch für eine legitime Willensbildung im freiheitlich-demokratischen Staat ansieht (BVerfGE 5, 85 [135, 197 f.]).

236

Bei der gewählten Lösung konnte der Gesetzgeber davon ausgehen, daß angesichts des Versagens der Strafsanktion die geeigneten Mittel zur Abhilfe im sozialen und gesellschaftlichen Bereich zu suchen sind, daß es darauf ankommt, einerseits durch präventive psychologische, sozial- und gesellschaftspolitische Förderungsmaßnahmen der Mutter das Austragen des Kindes zu erleichtern und ihre eigene Bereitschaft dazu zu stärken, andererseits durch bessere Information über die Möglichkeiten der Empfängnisverhütung die Zahl ungewollter Schwangerschaften zu vermindern. Auch die Mehrheit bezweifelt offenbar nicht (C III 1, D II, D III), daß solche Maßnahmen insgesamt gesehen am wirksamsten sind und am ehesten einer Effektuierung der Grundrechte im Sinne größerer Freiheit und vermehrter sozialer Gerechtigkeit entsprechen.

237

Förderungsmaßnahmen dieser Art können in ein Strafgesetz schon wegen der verschiedenen staatlichen Kompetenzen begreiflicherweise nur begrenzt Eingang finden. Das Fünfte Strafrechtsreformgesetz enthält daher insoweit lediglich eine Pflicht zur Beratung. Nach der Konzeption des Gesetzgebers soll dadurch die Schwangere - ohne Furcht vor Strafe - aus ihrer Isolierung herausgeholt, die Bewältigung ihrer Schwierigkeiten soll ihr durch offene Kontakte mit ihrer Umwelt und durch eine auf ihre persönliche Konfliktsituation abgestellte individuelle Beratung erleichtert werden. Daß die vorgeschriebene Beratung dem Schutz werdenden Lebens dienen soll, indem sie die Bereitschaft zum Austragen der Leibesfrucht weckt und stärkt, wo dem nicht schwerwiegende Gründe entgegenstehen, ergibt sich bereits aus den in der Urteilsbegründung zitierten Gesetzesmaterialien und der dort erwähnten Entschließung der Bundestagsmehrheit (A I 6 d, D II, D II 3, D II 3 b; s. weiter die Ausführungen von Regierungsvertretern und Abgeordneten in der 2. und 3. Beratung [Abg. de With, Frau Funcke, Frau Eilers, Dr. Eppler, Scheu, Bundesminister Frau Dr. Focke und Bundeskanzler Brandt] 95. Sitzung, StenBer. S. 6383 [D]; 6384 [A]; 6391 [A]; 6402 [B]; 96. Sitzung, StenBer. S. 6471 [B]; 6482 [B]; 6499; 6500 [B].).

238

Wir bestreiten nicht, daß diese Beratungsregelung - wie im Urteil dargelegt (D II 3) - noch Schwächen aufweist. Soweit diese sich nicht durch eine verfassungskonforme Auslegung des Gesetzes und entsprechende Durchführungsregelungen der Länder hätten ausräumen lassen, wäre aber eine verfassungsrechtliche Beanstandung allein auf diese Mängel zu beschränken gewesen und durfte nicht die Fristen- und Beratungsregelung in ihrer Gesamtkonzeption in Frage stellen. Nicht zuletzt hängt der Erfolg einer Beratungsregelung wesentlich davon ab, ob der beratenen Frau Hilfen angeboten oder vermittelt werden können, die ihr Auswege aus ihren Schwierigkeiten eröffnen. Fehlt es daran, dann ist auch das Strafrecht nichts anderes als ein Alibi für das Defizit wirksamer Hilfen; Verantwortung und Lasten werden allein auf die schwächsten Glieder der Gesellschaft abgewälzt. Die Mehrheit erklärt sich - in Übereinstimmung mit der bisherigen Rechtsprechung - außerstande, insoweit die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers zu beschränken und ihm eine Erweiterung sozial-präventiver Maßnahmen vorzuschreiben (C III 1). Wenn aber dafür richterliche Selbstbeschränkung gilt, dann darf das Verfassungsgericht den Gesetzgeber erst recht nicht zum Einsatz der Strafgewalt als des stärksten staatlichen Zwangsmittels zwingen, um soziale Pflichtversäumnis (Vgl. dazu Rudolphi, Straftaten gegen das werdende Leben, ZStrW 83 [1971], S. 105 [114 f., 128 f., 134].) durch Strafdrohung zu kompensieren. Dies entspricht gewiß nicht der Funktion des Strafrechts in einem freiheitlichen Sozialstaat.

239

4. Auch die Mehrheit erkennt die gesetzgeberische Absicht, durch Beratung Leben zu erhalten, als "achtenswertes Ziel" an (D II 2 b, D II 1), hält aber - in Übereinstimmung mit den Antragstellern - die Anordnung flankierender Strafsanktionen für unabdingbar, weil der durchgängige Verzicht auf Bestrafung in den Fällen, in denen der Schwangerschaftsabbruch auf keinerlei achtenswerten Gründen beruhe, eine "Schutzlücke" hinterlasse (A II 2 c, C III 2 b, D II 2).

240

a) Die Eignung von Strafsanktionen für den beabsichtigten Lebensschutz erscheint jedoch von vornherein als zweifelhaft. Auch die Mehrheit räumt ein, daß die bisherige generelle Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs das werdende Leben gerade nicht ausreichend geschützt und möglicherweise sogar dazu beigetragen hat, andere wirksame Schutzmaßnahmen zu vernachlässigen (D II). Sie glaubt - wenn sie sich dessen auch nicht ganz sicher ist (Vgl. D III) -, diesem Versagen des Strafschutzes werde durch eine differenzierende Strafdrohung abgeholfen, nach der der Schwangerschaftsabbruch in den im Gesetzgebungsverfahren erörterten Indikationsfällen straflos bleiben soll. Hinsichtlich der schon bisher anerkannten oder praktizierten medizinischen, ethischen und eugenischen Indikation bringt diese Indikationenlösung freilich keine wesentliche Veränderung des bisherigen unbefriedigenden Rechtszustandes. Eine wirkliche Differenzierung liegt nur in der Anerkennung der sozialen Indikation, sofern der Gesetzgeber bei der ihm obliegenden Abgrenzung nicht übermäßig streng verfährt und wenigstens hier die erwähnte Wechselbeziehung zwischen geschuldeter sozialer Hilfe und vertretbarem Strafen beachtet: Je weniger der Staat seinerseits zur Hilfe imstande ist, desto fragwürdiger und zugleich wirkungsloser sind Strafdrohungen gegenüber Frauen, die sich ihrerseits der Pflicht zum Austragen der Leibesfrucht nicht gewachsen fühlen.

241

Die von der Mehrheit insgesamt zugunsten der Indikationenlösung angestellten Erwägungen verdienen rechtspolitisch gewiß Berücksichtigung. Verfassungsrechtlich ist aber entscheidend, daß sich bei realistischer Betrachtung auf keinem Wege, auch nicht mit differenzierenden Strafdrohungen ein lückenloser Lebensschutz erreichen läßt und daß daher keine Lösung verfassungsrechtlich "festgeschrieben" werden kann. Die Mehrheit bleibt schon den ihr obliegenden Nachweis schuldig, daß im Zeitalter des "Abtreibungstourismus" von innerstaatlichen Strafvorschriften ein günstiger Einfluß gerade auf solche Frauen zu erwarten ist, die ohne einsichtigen Grund zur Abtreibung entschlossen sind. Wenn überhaupt, so läßt sich ein solcher Erfolg nur in einer gewissen Zahl von Fällen - besonders bei Angehörigen sozial schwächerer Gruppen - erreichen. Bei an sich beeinflußbaren Frauen zeigt sich die ambivalente Wirkung von Strafdrohungen unter anderem darin, daß diese einerseits einen gewissen Rückhalt gegen das Abtreibungsverlangen des Erzeugers oder der Familie bieten mögen, andererseits zur Erhöhung der Aborte beitragen können, indem sie die Schwangere in die Isolierung treiben, dadurch erst recht solchen Pressionen aussetzen und zu Kurzschlußhandlungen veranlassen.

242

b) Wie immer aber die Schutzwirkung von Strafdrohungen zu beurteilen sein mag, jedenfalls beruht ihre teilweise Rücknahme auf Erwägungen, die gerade unter dem Gesichtspunkt des Lebensschutzes Gewicht haben und sich - mindestens bei einer verbesserten Beratungsregelung - keinesfalls als offensichtlich fehlsam widerlegen lassen.

243

Der Gesetzgeber hatte bei seiner Konzeption das ganze Spektrum der Abtreibungsproblematik vor Augen, besonders die Vielzahl jener Schwangeren, die einer Beeinflussung zugänglich sind. Er durfte davon ausgehen, daß sich Frauen normalerweise nicht leichten Herzens und ohne Grund einem solchen Eingriff unterziehen. In aller Regel liegt ein ernst zu nehmender, jedenfalls verständlicher Konflikt vor; die Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch wird "in Tiefen der Persönlichkeit getroffen, in die der Appell des Strafgesetzes nicht eindringt" (Rolinski, Sonderausschuß für die Strafrechtsreform, 6. Wp., 74., 75. und 76. Sitzung, StenBer. S. 2219.). Gerade in diesen Fällen setzt nach Auffassung des Gesetzgebers die erfolgreiche Verwirklichung der Beratungsregelung zwingend voraus, daß eine gleichzeitige Strafdrohung entfällt; denn zur Abtreibung geneigte Frauen werden die Beratungsstellen nicht aufsuchen, solange sie befürchten müssen, dadurch ihre Entscheidungsfreiheit zu verlieren und sich durch das Bekanntwerden ihrer Schwangerschaft im Falle eines späteren illegalen Eingriffs strafrechtlicher Verfolgung auszusetzen. Diese auf das Urteil vieler Sachverständiger gestützte und zudem der Lebenserfahrung entsprechende Auffassung ist weder von den Antragstellern in der mündlichen Verhandlung noch von der Senatsmehrheit widerlegt worden.

244

Der Gesetzgeber befand sich daher in dem Dilemma, daß sich nach seiner Beurteilung präventive Beratung und repressive Strafdrohung in ihrer lebensschützenden Wirkung teilweise ausschließen. Seine Erwägung, auf eine mögliche abortverhindernde Wirkung von Strafsanktionen in einer wahrscheinlich geringen Zahl von Fällen zu verzichten, um möglicherweise in einer größeren Zahl von Fällen anderes Leben zu retten, läßt sich nicht damit abtun, dies sei eine "pauschale Abwägung von Leben gegen Leben", die mit der verfassungsrechtlichen Pflicht zum individuellen Schutz jedes einzelnen ungeborenen Lebens unvereinbar sei (So D II 2 b-c). Mit dieser Argumentation verschließt sich die Mehrheit in schwer verständlicher Weise der Einsicht, daß sie selbst tut, was sie dem Gesetzgeber vorwirft. Denn sie nötigt ihrerseits den Gesetzgeber sogar von Verfassungs wegen zu einer Verrechnung, indem sie ihn durch die Forderung nach Beibehaltung der Strafvorschrift zwingt, solches ungeborene Leben schutzlos zu lassen, das bei einer Rücknahme der Strafdrohung durch geeignete Beratung bewahrt bleiben könnte.

245

Der Rigorismus der Mehrheit verträgt sich zudem schwer mit der ausdrücklichen Zulassung einer Abwägung nicht nur von Leben gegen Leben, sondern sogar von Leben gegen minderrangige Rechtsgüter bei indizierten Schwangerschaftsabbrüchen. Soweit bei der Indikationenregelung über diese Abwägung staatlich ermächtigte Gutachterstellen befinden müssen, durfte der Gesetzgeber es als einen spezifischen Nachteil dieser Lösung werten, daß danach das Abtöten einer Leibesfrucht ausdrücklich amtlich legitimiert wird. Die Mehrheit läßt freilich für den Fall der sozialen Indikation offen, ob die Prüfung der Voraussetzungen vorweg durch Gutachterstellen vorzunehmen oder einem späteren Strafverfahren zu überlassen ist (C III 3). Der zweite Weg würde aber ein wesentliches Anliegen der Reform verfehlen, weil er eine rechtsstaatlich höchst bedenkliche Unsicherheit für die betroffenen Frauen und die beteiligten Ärzte zur Folge hätte.

246

5. Da nach alledem jede Lösung unter dem Gesichtspunkt des Lebensschutzes Stückwerk bleibt, durfte der Gesetzgeber zugunsten der Fristenlösung weitere - von der Mehrheit außer acht gelassene - verfassungsrechtliche, gesundheits- und kriminalpolitische Gesichtspunkte berücksichtigen. Er konnte besonders davon ausgehen, daß diese Regelung die Eigenverantwortung der Frau und Mutter in einer ihr Lebensschicksal betreffenden Frage am besten respektiert und vermeidet, sie den schon mit der Verfahrensprozedur vor einer Gutachterstelle verbundenen Eingriffen in ihren Persönlichkeitsbereich auszusetzen. Er durfte auch berücksichtigen, daß der Schutz des werdenden Lebens über die physische Existenz hinausgeht und die Lebenschancen für ein nach entsprechender Beratung von der Mutter eigenverantwortlich angenommenes Kind besser sind, als wenn sie es nur aus Angst vor Strafe austrägt. Wesentlich konnte ferner sein, daß die mit illegalen Abtreibungen verbundenen Gesundheitsschäden wegfallen und das Rechtsbewußtsein nicht mehr durch eine leer laufende Strafdrohung oder deren bagatellisierende Anwendung erschüttert wird.

247

Nicht zuletzt war es nicht offensichtlich fehlsam, wenn der Gesetzgeber, gestützt auf Erfahrungen im Ausland, einen wesentlichen Nachteil der Indikationenlösung darin sah, daß es als schwierig, wenn nicht unmöglich erscheint, objektivierbare, einheitliche Abgrenzungsmerkmale für die - unter dem Blickpunkt der Reform allein relevante - soziale Indikation zu finden (Vgl. u.a. BTDrucks. 7/1981 [neu] S. 12 sowie den unter A I 5 zitierten Alternativ-Entwurf, a.a.O., S. 27.). Die starken Kontroversen bei den Gesetzberatungen haben offenbar gemacht, daß gerade in diesem Bereich kein Konsens über die Grenze des Zulässigen besteht. Voraussichtlich wird daher die behördliche Beurteilung darüber, wann die Gefahr einer schwerwiegenden sozialen Notlage vorliegt und welche anderen Maßnahmen zur Abwendung dieser Gefahr von der Schwangeren hinzunehmen sind, regional und nach der persönlichen Einstellung der Gutachter und Richter weit auseinandergehen. Das Ergebnis wäre eine schwer erträgliche Rechtsunsicherheit und Rechtsungleichheit für die betroffenen Frauen und die beteiligten Ärzte sowie weiterhin ein Ausweichen in die Illegalität.

248

Aus allen diesen Gründen durfte der Gesetzgeber den Versuch wagen, die jetzigen unhaltbaren Zustände im Wege der Beratungs- und Fristenlösung zu reformieren, auch wenn eine sichere Voraussage der weiteren Entwicklung nicht möglich ist. Da auch die Mehrheit zutreffend davon ausgeht, daß das bekannte Zahlenmaterial einen sicheren Schluß in der einen oder anderen Richtung nicht erlaubt (D II 2 c), bedarf es keines weiteren Eingehens auf die kritischen Äußerungen gegen die Prognose des Gesetzgebers (Nach neuesten Berichten aus der DDR, wo seit 1972 die Fristenregelung gilt, soll die Zahl der Schwangerschaftsunterbrechungen in den beiden letzten Jahren wesentlich zurückgegangen sein. Dies wird auf die intensiven staatlichen Maßnahmen zur Förderung junger Familien und den Ausbau der Ehe- und Sexualberatung zurückgeführt [vgl. Mehlan, Das deutsche Gesundheitswesen 1974, S. 2216 ff.].).

249

II.

Die Mehrheit begründet die Aufrechterhaltung einer - differenzierten - Strafdrohung nachdrücklich damit, die verfassungsrechtlich geforderte "Mißbilligung" nichtindizierter Schwangerschaftsabbrüche müsse klar zum Ausdruck kommen (C II 3, C III 2 b, C III 3, D II 1, D II 2, D III.). Soweit damit die general-präventive Wirkung des Strafrechts angesprochen sein soll, d.h. das Bestreben, eine Tat durch Auferlegung eines Übels zu mißbilligen und dadurch das tatsächliche Verhalten der Rechtsunterworfenen zu beeinflussen, ist - wie erörtert - nicht dargetan, daß die Indikationenlösung ihrerseits effektiven Lebensschutz gewährleistet. Es ist daher vielleicht kein Zufall, daß die Mehrheit "zweispurig" argumentiert: Sie verlangt auch unabhängig von der angestrebten tatsächlichen Wirkung eine Mißbilligung als Ausdruck eines sozialethischen Unwerturteils, das die unmotivierten Abtreibungen deutlich als Unrecht kennzeichnet.

250

1. Es kann dahingestellt bleiben, wieweit die neuere Strafrechtswissenschaft einer derartigen Auffassung über die Funktion des Strafrechts und seine Zuordnung zur Ethik zustimmt (Vgl. etwa Baumann, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 6. Aufl., 1974, S. 7 f., 27 f., ders., Das Verhältnis von Moral und Recht, in Moral [hrsg. von Anselm Hertz, 1972] S. 60 ff.; Hanack, Verhandlungen des 47. DJT 1968, Bd. I, S. A 29 ff.; Sax, Grundsätze der Strafrechtspflege, in: Bettermann-Nipperdey-Scheuner, Die Grundrechte, Bd. III/2, 1959, S. 930 f., 955 f.; Arthur Kaufmann, Recht und Sittlichkeit, 1964, S. 42 ff.) und ob damit nicht doch das Strafrecht zum Selbstzweck erhoben wird. Selbstverständlich sind unmotivierte Schwangerschaftsabbrüche ethisch verwerflich. Gegenüber der Mehrheitsbegründung ist aber zunächst zu bedenken, daß das Absehen von Strafe hier wie auch sonst nicht den Schluß aufdrängt, ein nicht mehr strafbares Verhalten werde gebilligt. Hierfür ist namentlich dann kein Raum, wenn der Gesetzgeber eine Strafvorschrift aufhebt, weil sie nach seiner Meinung wirkungslos oder sogar schädlich ist oder weil dem bisher strafbaren, sozialschädlichen Verhalten auf andere Weise begegnet werden soll. So wird wohl niemand aus der Aufhebung oder Einschränkung der Strafvorschriften gegen Prostitution, Drogenmißbrauch, Ehebruch oder Ehegattenkuppelei schließen, entsprechende Handlungen erfreuten sich nunmehr der offiziellen Anerkennung als rechtmäßig und sittlich. Die Auseinandersetzungen um die Reform des § 218 StGB bieten keinen Anhaltspunkt dafür, als sei das Abtöten ungeborenen Lebens im Ernst als "normaler sozialer Vorgang" angesehen worden.

251

Soweit die Mehrheit in diesem Zusammenhang zur Beurteilung der Beratungs- und Fristenregelung im Fünften Strafrechtsreformgesetz das bisher von den gesetzgebenden Körperschaften noch nicht abschließend behandelte Strafrechtsreform-Ergänzungsgesetz heranzieht (D II 1) kommt es darauf schon deswegen nicht an, weil beide Gesetze auch nach Auffassung der Mehrheit inhaltlich voneinander unabhängig sind (B 4). Erst wenn das Strafrechtsreform-Ergänzungsgesetz erlassen würde, wäre selbständig zu prüfen, ob die geplante generelle Kostenerstattung und Lohnfortzahlung bei nicht strafbaren Schwangerschaftsabbrüchen eine unzulässige staatliche Förderung für die nicht indizierten Fälle enthielte oder ob dies aus bestimmten gewichtigen Gründen noch hinzunehmen wäre, etwa wegen der Bekämpfung der mit illegalen Abtreibungen verbundenen Gesundheitsgefahren, die den Supreme Court sogar zum verfassungsrechtlichen Verbot des Strafens veranlaßt haben (410 U.S. 113 [148 ff., 162 ff.].). Im ersten Fall ließe sich dieser Mangel innerhalb des Strafrechtsreform-Ergänzungsgesetzes korrigieren, z.B. durch Beschränkung der Kostenerstattung auf indizierte Fälle, wobei die erforderliche Prüfung auch nach dem Schwangerschaftsabbruch, also ohne Zeitdruck vorgenommen werden könnte. (Auf diese Weise hätte sich übrigens zugleich die gewünschte Mißbilligung unmotivierter Abtreibungen erreichen lassen).

252

2. Unser wesentlicher Einwand richtet sich dagegen, daß die Mehrheit nicht darlegt, woraus verfassungsrechtlich das Erfordernis der Mißbilligung als einer selbständigen Pflicht hergeleitet werden soll. Nach unserer Auffassung schreibt die Verfassung nirgends vor, ethisch verwerfliches oder strafwürdiges Verhalten müsse per se Rücksicht auf den damit erzielten Effekt mit Hilfe des Gesetzesrechts mißbilligt werden. In einem pluralistischen, weltanschaulich neutralen und freiheitlichen demokratischen Gemeinwesen bleibt es den gesellschaftlichen Kräften überlassen, Gesinnungspostulate zu statuieren. Der Staat hat darin Enthaltsamkeit zu üben; seine Aufgabe ist der Schutz der von der Verfassung gewährleisteten und anerkannten Rechtsgüter. Für die verfassungsrechtliche Entscheidung kommt es allein darauf an, ob die Strafvorschrift zwingend geboten ist, um einen effektiven Schutz des werdenden Lebens unter Berücksichtigung der schutzwürdigen Interessen der Frau zu sichern.

253

III.

Daß die Entscheidung des deutschen Gesetzgebers für die Fristen- und Beratungsregelung weder einer sittlich noch rechtlich zu mißbilligenden Grundhaltung entspringt noch von offensichtlich falschen Prämissen in der Beurteilung der Lebensverhältnisse ausgeht, wird durch gleiche oder ähnliche Reformvorschriften in zahlreichen ausländischen Staaten bestätigt. In Österreich, Frankreich, Dänemark und Schweden ist der von einem Arzt mit Einwilligung der Schwangeren vorgenommene Schwangerschaftsabbruch in den ersten zwölf (in Frankreich zehn) Wochen der Schwangerschaft nicht strafbar; in Großbritannien und den Niederlanden gilt eine Indikationenregelung, die in der praktischen Anwendung auf das gleiche hinausläuft (Für die Vereinigten Staaten vgl. oben A II 1 der abweichenden Meinung.). Diese Staaten können sich zum Teil einer eindrucksvollen Verfassungstradition rühmen und stehen sämtlich in der unbedingten Achtung vor dem Leben jedes einzelnen Menschen der Bundesrepublik gewiß nicht nach; einige von ihnen haben ebenfalls geschichtliche Erfahrungen mit einem menschenverachtenden Unrechtssystem. Ihre Entscheidung erforderte eine Auseinandersetzung mit den gleichen rechtlichen und sozialen Problemen wie in der Bundesrepublik. In allen diesen Staaten gilt zudem rechtsverbindlich die Europäische Menschenrechtskonvention, deren Artikel 2 in Absatz 1 ("Das Recht jedes Menschen auf das Leben wird gesetzlich geschützt") der Verfassungsvorschrift des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nahekommt und der im ganzen eher weitergehen könnte als die innerdeutsche Norm. Der Österreichische Verfassungsgerichtshof hat ausdrücklich festgestellt, daß die dortige Fristenlösung mit der Menschenrechtskonvention, der in Österreich Verfassungsrang zukommt, vereinbar ist (A.a.O. unter II 3 b der Entscheidungsgründe, EuGRZ, 1975, S. 74 [77 f.]. Auch in Frankreich hat die Konvention vor innerfranzösischen Gesetzen, vgl. Art. 55 der französischen Verfassung, s. auch die Entscheidung des Conseil constitutionnel vom 15. Januar 1975, Journal officiel vom 16. Januar 1975 S. 671 = EuGRZ 1975, S. 54.).

254

IV.

Insgesamt war es daher nach unserer Ansicht dem Gesetzgeber durch die Verfassung nicht verwehrt, auf eine nach seiner unwiderlegten Auffassung weitgehend wirkungslose, inadäquate und sogar schädliche Strafdrohung zu verzichten. Sein Versuch, dem in den gegenwärtigen Zuständen offenbar werdenden Unvermögen von Staat und Gesellschaft im Dienste des Lebensschutzes durch sozial adäquatere Mittel abzuhelfen, mag unvollkommen sein; er entspricht aber dem Geist des Grundgesetzes mehr als die Forderung nach Strafe und Mißbilligung.



Rupp-v. Brünneck, Dr. Simon
Gedankenpolizei
 
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ärztliche Zwangsbehandlung verfassungsrechtlich geboten

Beitragvon Gedankenpolizei » Do 10. Nov 2016, 19:08

BVerfG Beschluss v. 26. Juli 2016

- 1 BvL 8/15 -


IM NAMEN DES VOLKES
In dem Verfahren
zur verfassungsrechtlichen Prüfung,


ob § 1906 Absatz 3 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) in der Fassung des Gesetzes zur Regelung der betreuungsrechtlichen Einwilligung in eine ärztliche Zwangsmaßnahme vom 18. Februar 2013 (Bundesgesetzblatt I Seite 266) mit Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes vereinbar ist, soweit er für die Einwilligung des Betreuers in eine stationär durchzuführende ärztliche Zwangsmaßnahme auch bei Betroffenen, die sich der Behandlung räumlich nicht entziehen wollen oder hierzu körperlich nicht in der Lage sind, voraussetzt, dass die Behandlung im Rahmen einer Unterbringung nach § 1906 Absatz 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs erfolgt
- Aussetzungs- und Vorlagebeschluss des Bundesgerichtshofs
vom 1. Juli 2015 - XII ZB 89/15 -

hat das Bundesverfassungsgericht - Erster Senat -

unter Mitwirkung der Richterinnen und Richter

Vizepräsident Kirchhof,

Gaier,

Eichberger,

Schluckebier,

Masing,

Paulus,

Baer,

Britz

am 26. Juli 2016 beschlossen:

Es ist mit der aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes folgenden Schutzpflicht des Staates unvereinbar, dass für Betreute, denen schwerwiegende gesundheitliche Beeinträchtigungen drohen und die die Notwendigkeit der erforderlichen ärztlichen Maßnahme nicht erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln können, eine ärztliche Behandlung gegen ihren natürlichen Willen unter keinen Umständen möglich ist, sofern sie zwar stationär behandelt werden, aber nicht geschlossen untergebracht werden können, weil sie sich der Behandlung räumlich nicht entziehen wollen oder hierzu körperlich nicht in der Lage sind.

Der Gesetzgeber ist verpflichtet, unverzüglich eine Regelung für diese Fallgruppe zu treffen.

Bis zu einer solchen Regelung ist § 1906 Absatz 3 Bürgerliches Gesetzbuch in der Fassung von Artikel 1 Nummer 3 des Gesetzes zur Regelung der betreuungsrechtlichen Einwilligung in eine ärztliche Zwangsmaßnahme vom 18. Februar 2013 (Bundesgesetzblatt I Seite 266) auch auf stationär behandelte Betreute anzuwenden, die sich einer ärztlichen Zwangsbehandlung räumlich nicht entziehen können.

G r ü n d e :
A.

1

Der Bundesgerichtshof begehrt eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts darüber, ob § 1906 Abs. 3 BGB in der Fassung des Gesetzes zur Regelung der betreuungsrechtlichen Einwilligung in eine ärztliche Zwangsmaßnahme vom 18. Februar 2013 (BGBl I S. 266) mit dem Grundgesetz vereinbar ist, soweit er für eine ärztliche Zwangsmaßnahme auch bei Betroffenen, die sich der Behandlung räumlich nicht entziehen wollen oder hierzu körperlich nicht in der Lage sind, voraussetzt, dass die Behandlung im Rahmen einer freiheitsentziehenden Unterbringung nach § 1906 Abs. 1 BGB erfolgt, welche nach gefestigter Rechtsprechung in diesen Fällen nicht angeordnet werden darf.
I.

2

1. a) Durch das Gesetz zur Reform des Rechts der Vormundschaft und Pflegschaft für Volljährige (Betreuungsgesetz), das zum 1. Januar 1992 in Kraft getreten ist (BGBl I 1990, S. 2002), wird das Ziel verfolgt, die Rechtsstellung psychisch kranker und behinderter Volljähriger unter Berücksichtigung ihrer individuellen Bedürfnisse und Fähigkeiten zu verbessern.

3

Wenn ein Volljähriger aufgrund einer psychischen Krankheit oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung seine Angelegenheiten ganz oder teilweise nicht besorgen kann, so bestellt das Betreuungsgericht auf seinen Antrag oder von Amts wegen für ihn einen Betreuer (vgl. § 1896 Abs. 1 BGB). Das Gesetz regelt die Bestellung des Betreuers (§§ 1896 ff. BGB), den Umfang der Betreuung (§§ 1901 ff. BGB) und macht bestimmte Maßnahmen von der Genehmigung des Betreuungsgerichts abhängig (§§ 1904 ff. BGB).

4

Soweit eine Betreuung nach § 1896 BGB für den Aufgabenkreis der Gesund-heitssorge angeordnet ist, hat der Betreuer die erforderlichen Maßnahmen zu veranlassen und gegebenenfalls auch Einwilligungen in notwendige Heilbehandlungen zu geben (§ 1901 BGB). Die Angelegenheiten des Betreuten sind dabei so zu besorgen, wie es seinem Wohl entspricht. Zum Wohl des Betreuten gehört auch die Möglichkeit, im Rahmen seiner Fähigkeiten sein Leben nach seinen eigenen Wünschen und Vorstellungen zu gestalten (§ 1901 Abs. 2 BGB). Der Betreuer hat Wünschen des Betreuten zu entsprechen, soweit dies dessen Wohl nicht zuwiderläuft und dem Betreuer zuzumuten ist. Dies gilt auch für Wünsche, die der Betreute vor der Bestellung des Betreuers geäußert hat, es sei denn, dass er an diesen Wünschen erkennbar nicht festhalten will (§ 1901 Abs. 3 BGB). Sofern für das Ob und Wie bestimmter Heilmaßnahmen ein freier Wille des Betreuten - etwa durch Patientenverfügung nach § 1901a BGB - feststellbar ist, ist dieser auch für den Betreuer maßgeblich.

5

Die Einwilligung des Betreuers in besonders risikoreiche ärztliche Maßnahmen (vgl. § 1904 Abs. 1 Satz 1 BGB) bedarf der Genehmigung durch das Betreuungsgericht; ebenso die Versagung der Einwilligung durch den Betreuer in dringend notwendige Maßnahmen (vgl. § 1904 Abs. 2 BGB). § 1904 BGB erfasst in beiden Fällen aber nur Konstellationen, in denen ein entgegenstehender Wille des Betreuten nicht feststellbar ist oder der mit der Einwilligung des Betreuers in Einklang stehende Wille des Betreuten feststeht (vgl. § 1904 Abs. 3 BGB).

6

Ärztliche Behandlungen gegen den natürlichen Willen von Betreuten, die auf Grund einer psychischen Krankheit oder einer geistigen oder seelischen Behinderung deren Notwendigkeit nicht erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln können, sind ausschließlich auf der Grundlage des § 1906 BGB und damit nur bei nach § 1906 Abs. 1 BGB freiheitsentziehend untergebrachten Betreuten möglich. Die früher strittige Frage, ob auf der Grundlage von §§ 1896, 1901 BGB ärztliche Zwangsmaßnahmen auch für Betreute, die nicht freiheitsentziehend untergebracht sind, durch eine Einwilligung des Betreuers ermöglicht werden könnten (sog. ambulante Zwangsbehandlungen), ist durch den Bundesgerichtshof mit Beschluss vom 11. Oktober 2000 (XII ZB 69/00 - BGHZ 145, 297 ) verneinend entschieden worden. Dies ist die seither gefestigte Rechtsprechung (vgl. auch BGH, Beschluss vom 23. Januar 2008 - XII ZB 185/07 - juris, Rn. 21, 25). Der Bundesgerichtshof hat die Ablehnung der Zulässigkeit einer ambulanten Zwangsbehandlung nach geltendem Recht damit begründet, dass es an der verfassungsrechtlich unverzichtbaren förmlichen Gesetzesgrundlage hierfür fehle. Der Versuch, eine ausdrückliche gesetzliche Ermächtigung für die ambulante Zwangsbehandlung einzuführen, sei im Gesetzgebungsverfahren gescheitert (Hinweis auf BTDrucks 15/4874, S. 8 ).

7

Die erforderliche gesetzliche Ermächtigung für eine Zwangsbehandlung findet sich nach Auffassung des Bundesgerichtshofs im Bereich der zivilrechtlichen Betreuung ausschließlich in § 1906 BGB (vgl. BGHZ 145, 297 ; 193, 337; BGH, Beschluss vom 23. Januar 2008 - XII ZB 185/07 -, FamRZ 2008, S. 866 ; Beschluss vom 1. Juli 2015 - XII ZB 89/15 - Vorlagebeschluss, juris, Rn. 27).

8

b) Der durch das Betreuungsgesetz - BtG - im Jahr 1992 eingeführte § 1906 BGB hatte folgenden Wortlaut:

§ 1906 - in der Fassung von 1992 -

(1) Eine Unterbringung des Betreuten durch den Betreuer, die mit Freiheitsentziehung verbunden ist, ist nur zulässig, solange sie zum Wohl des Betreuten erforderlich ist, weil

1. auf Grund einer psychischen Krankheit oder geistigen oder seelischen Behinderung des Betreuten die Gefahr besteht, dass er sich selbst tötet oder erheblichen gesundheitlichen Schaden zufügt, oder

2. eine Untersuchung des Gesundheitszustandes, eine Heilbehandlung oder ein ärztlicher Eingriff notwendig ist, ohne die Unterbringung des Betreuten nicht durchgeführt werden kann und der Betreute auf Grund einer psychischen Krankheit oder geistigen oder seelischen Behinderung die Notwendigkeit der Unterbringung nicht erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln kann.

(2) Die Unterbringung ist nur mit Genehmigung des Vormundschaftsgerichts zulässig. Ohne die Genehmigung ist die Unterbringung nur zulässig, wenn mit dem Aufschub Gefahr verbunden ist; die Genehmigung ist unverzüglich nachzuholen.

(3) Der Betreuer hat die Unterbringung zu beenden, wenn ihre Voraussetzungen wegfallen. Er hat die Beendigung der Unterbringung dem Vormundschaftsgericht anzuzeigen.

(4) Die Absätze 1 bis 3 gelten entsprechend, wenn dem Betreuten, der sich in einer Anstalt, einem Heim oder einer sonstigen Einrichtung aufhält, ohne untergebracht zu sein, durch mechanische Vorrichtungen, Medikamente oder auf andere Weise über einen längeren Zeitraum oder regelmäßig die Freiheit entzogen werden soll.

9

Spätere Änderungen bis zu der bis zum 25. Februar 2013 geltenden Fassung hatten keine inhaltlichen Änderungen der Absätze 1 - 4 zum Gegenstand.

10

2. Der Bundesgerichtshof ging zunächst in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass § 1906 Abs. 1 Nr. 2 BGB eine ausreichende gesetzliche Grundlage für eine ärztliche Behandlung gegen den natürlichen Willen im Rahmen einer freiheitsentziehenden Unterbringung biete (vgl. bspw. BGH, Beschluss vom 1. Februar 2006 - XII ZB 236/05 -, juris). Zur Begründung stellte er unter Berufung auf die Begründung des Regierungsentwurfs zur Einführung des Betreuungsrechts (BTDrucks 11/4528, S. 72, 141) darauf ab, dass mit dem neuen Betreuungsgesetz (vom 12. September 1990 BGBl I S. 2002), die grundsätzliche Befugnis des Betreuers zur Einwilligung in eine Untersuchung des Gesundheitszustands, eine Heilbehandlung oder einen ärztlichen Eingriff des Einwilligungsunfähigen nicht habe in Frage gestellt werden sollen. Nicht einwilligungsfähige Betreute dürften nicht von solchen Maßnahmen ausgeschlossen werden, weil ansonsten ihre gesundheitliche Versorgung und damit ihr Wohl an ihrer mangelnden Einsichts- oder Urteilsfähigkeit scheitern würde. Aus dem gleichen Grunde seien durch die Neuregelung auch Zwangsbehandlungen nicht generell verboten worden.

11

In der vom Bundesgerichtshof in Bezug genommenen Begründung zum Regierungsentwurf des Betreuungsgesetzes (BTDrucks 11/4528, S. 72) heißt es in diesem Zusammenhang:

Wer auf Grund seiner psychischen Krankheit oder geistigen oder seelischen Behinderung seine Behandlungsbedürftigkeit nicht erkennen kann und eine Behandlung deshalb ablehnt, dem soll nicht schon deshalb die Behandlung versagt werden. So soll eine lebensnotwendige Operation eines Betreuten nicht daran scheitern, dass dieser sich krankheitsbedingt hiergegen wehrt, weil er der Auffassung ist, man wolle ihn durch die Operation ermorden. Der Entwurf sieht deshalb ein Verbot von Zwangsbehandlungen, zwangsweisen Untersuchungen oder zwangsweisen ärztlichen Eingriffen grundsätzlich nicht vor.

12

Allerdings wurde ganz bewusst von einer ausdrücklichen Regelung der Zwangsbehandlung abgesehen. So findet sich in der Einzelbegründung zu § 1904 BGB-E folgender Passus (BTDrucks 11/4528, S. 141):

Der Entwurf enthält keine allgemeinen Regelungen über Zwangsbehandlungen. Zwangsbehandlungen Einwilligungsunfähiger werden vom Entwurf nicht grundsätzlich verboten. Wer auf Grund seiner psychischen Krankheit oder geistigen oder seelischen Behinderung seine Behandlungsbedürftigkeit nicht erkennen kann und eine Behandlung deshalb ablehnt, dem soll nicht schon deshalb die Behandlung versagt werden. So wäre es nicht zu verantworten, eine Blinddarmoperation am Betreuten deshalb zu verweigern, weil dieser auf Grund einer wahnhaften Vorstellung der Überzeugung ist, keinen Blinddarm mehr zu besitzen, und daher den lebensnotwendigen Eingriff ablehnt. Zwangssterilisationen sind allerdings generell untersagt; […].

13

3. Außerhalb einer freiheitsentziehenden Unterbringung nach § 1906 Abs. 1 BGB hielt der Bundesgerichtshof ärztliche Zwangsmaßnahmen (ambulante Zwangsmaßnahmen) hingegen mangels Rechtsgrundlage nicht für zulässig (vgl. BGH, Beschluss vom 11. Oktober 2000 - XII ZB 69/00 - BGHZ 145, 297; vgl. ausführlich hierzu Kirsch, Rechtsgrundlagen der stationären und ambulanten psychiatrischen Zwangsbehandlung im Betreuungsrecht, 2010, S. 130 ff., 180 ff.). In Reaktion auf diese Rechtsprechung schlug der Bundesrat im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens zum Gesetz zur Änderung des Betreuungsrechts (BTDrucks 15/2494, S. 7, 30) mit am 12. Februar 2002 vorgelegten Gesetzentwurf (BRDrucks 865/03, S. 54 f.) vor, eine Rechtsgrundlage für die zwangsweise Zuführung des Betreuten zu ambulanten ärztlichen Heilbehandlungen zu schaffen.

14

Dieser Vorschlag wurde nicht Gesetz. Der Rechtsausschuss des Bundestags strich die hierzu vorgesehene Regelung nach der Stellungnahme der Bundesregierung und dem Ergebnis der Sachverständigenanhörung (vgl. BTDrucks 15/4874, S. 27). Er war im Gesetzgebungsverfahren zu der Überzeugung gelangt, die ambulante Zwangsbehandlung sei nicht als weniger einschneidender Eingriff in die Grundrechte des Betroffenen anzusehen, sondern als ein anders gelagerter Eingriff (Protokoll der 49. Sitzung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestags, 15. Wahlperiode, 26. Mai 2004, S. 76; so bereits auch BGH, FamRZ 2001, S. 149). Die ambulante Zwangsbehandlung wurde insbesondere unter dem Blickwinkel der Anlasserkrankung, also der psychischen Erkrankung, wegen der die Betreuung eingerichtet wurde, betrachtet und kritisch gesehen, da die im Gesetzgebungsverfahren angehörten psychiatrischen Sachverständigen Bedenken gegen ambulante Zwangsbehandlungen in diesem Bereich hatten. Hauptsächlich argumentierten sie damit, dass die Behandlung der psychischen Erkrankung eine vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Patienten und Therapeuten erfordere. Eine immer wieder erfolgende zwangsweise Vorführung des Betroffenen zur Behandlung laufe diesem konsensualen Ansatz zuwider (Protokoll der 49. Sitzung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestags, 15. Wahlperiode, 26. Mai 2004, S. 72, 76; so auch bereits BGH, Beschluss vom 11. Oktober 2000 - XII ZB 69/00 -, FamRZ, 2001 S. 149).

15

4. Nachdem das Bundesverfassungsgericht durch Beschluss vom 23. März 2011 zur Zwangsbehandlung im Maßregelvollzug entschieden hatte, dass die wesentlichen Voraussetzungen für die Zulässigkeit einer Zwangsbehandlung klarer und bestimmter gesetzlicher Vorgaben bedürfen (vgl. BVerfGE 128, 282), gab der Bundesgerichtshof seine bislang zur Zulässigkeit medizinischer Zwangsbehandlungen im Betreuungsrecht auf der Grundlage von § 1906 Abs. 1 BGB in der Fassung von 1992 vertretene Rechtsprechung auf und vertrat unter Bezugnahme auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nun die Auffassung, es fehle hierfür an einer den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügenden gesetzlichen Grundlage, weshalb ein Betreuer auch im Rahmen einer geschlossenen Unterbringung keine Zwangsbehandlungen veranlassen dürfe (BGH, Beschluss vom 20. Juni 2012 - XII ZB 99/12 -, BGHZ 193, 337 ).

16

5. Der Gesetzgeber reagierte auf diese Rechtsprechungsänderung durch das Gesetz zur Regelung der betreuungsrechtlichen Einwilligung in eine ärztliche Zwangsmaßnahme vom 18. Februar 2013 (BGBl I S. 266), durch welches neben anderen Änderungen die Absätze 3 und 3a in § 1906 BGB eingefügt wurden. § 1906 BGB lautet seit dem 25. Februar 2013 in der bis heute geltenden Fassung:

§ 1906 - in der Fassung von 2013 -

Genehmigung des Betreuungsgerichts bei der Unterbringung

(1) Eine Unterbringung des Betreuten durch den Betreuer, die mit Freiheitsentziehung verbunden ist, ist nur zulässig, solange sie zum Wohl des Betreuten erforderlich ist, weil

1. auf Grund einer psychischen Krankheit oder geistigen oder seelischen Behinderung des Betreuten die Gefahr besteht, dass er sich selbst tötet oder erheblichen gesundheitlichen Schaden zufügt, oder

2. zur Abwendung eines drohenden erheblichen gesundheitlichen Schadens eine Untersuchung des Gesundheitszustands, eine Heilbehandlung oder ein ärztlicher Eingriff notwendig ist, ohne die Unterbringung des Betreuten nicht durchgeführt werden kann und der Betreute auf Grund einer psychischen Krankheit oder geistigen oder seelischen Behinderung die Notwendigkeit der Unterbringung nicht erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln kann.

(2) Die Unterbringung ist nur mit Genehmigung des Betreuungsgerichts zulässig. Ohne die Genehmigung ist die Unterbringung nur zulässig, wenn mit dem Aufschub Gefahr verbunden ist; die Genehmigung ist unverzüglich nachzuholen. Der Betreuer hat die Unterbringung zu beenden, wenn ihre Voraussetzungen wegfallen. Er hat die Beendigung der Unterbringung dem Betreuungsgericht anzuzeigen.

(3) Widerspricht eine ärztliche Maßnahme nach Absatz 1 Nummer 2 dem natürlichen Willen des Betreuten (ärztliche Zwangsmaßnahme), so kann der Betreuer in sie nur einwilligen, wenn

1. der Betreute auf Grund einer psychischen Krankheit oder einer geistigen oder seelischen Behinderung die Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme nicht erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln kann,

2. zuvor versucht wurde, den Betreuten von der Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme zu überzeugen,

3. die ärztliche Zwangsmaßnahme im Rahmen der Unterbringung nach Absatz 1 zum Wohl des Betreuten erforderlich ist, um einen drohenden erheblichen gesundheitlichen Schaden abzuwenden,

4. der erhebliche gesundheitliche Schaden durch keine andere dem Betreuten zumutbare Maßnahme abgewendet werden kann und

5. der zu erwartende Nutzen der ärztlichen Zwangsmaßnahme die zu erwartenden Beeinträchtigungen deutlich überwiegt.

§ 1846 ist nur anwendbar, wenn der Betreuer an der Erfüllung seiner Pflichten verhindert ist.

(3a) Die Einwilligung in die ärztliche Zwangsmaßnahme bedarf der Genehmigung des Betreuungsgerichts. Der Betreuer hat die Einwilligung in die ärztliche Zwangsmaßnahme zu widerrufen, wenn ihre Voraussetzungen wegfallen. Er hat den Widerruf dem Betreuungsgericht anzuzeigen.

(4) Die Absätze 1 und 2 gelten entsprechend, wenn dem Betreuten, der sich in einer Anstalt, einem Heim oder einer sonstigen Einrichtung aufhält, ohne untergebracht zu sein, durch mechanische Vorrichtungen, Medikamente oder auf andere Weise über einen längeren Zeitraum oder regelmäßig die Freiheit entzogen werden soll.

(5) Die Unterbringung durch einen Bevollmächtigten und die Einwilligung eines Bevollmächtigten in Maßnahmen nach den Absätzen 3 und 4 setzen voraus, dass die Vollmacht schriftlich erteilt ist und die in den Absätzen 1, 3 und 4 genannten Maßnahmen ausdrücklich umfasst. Im Übrigen gelten die Absätze 1 bis 4 entsprechend.

17

Mit der Einfügung der Absätze 3 und 3a verfolgte der Gesetzgeber das Ziel, eine den Anforderungen der höchstrichterlichen Rechtsprechung entsprechende Regelung zu schaffen, mit der die bis zu den Entscheidungen des Bundesgerichtshofs vom 20. Juni 2012 bestehende Rechtspraxis möglichst nah abgebildet werden sollte. So wird in der Begründung zum Gesetzesentwurf ausgeführt: „Der Entwurf einer Regelung der betreuungsrechtlichen Einwilligung in eine ärztliche Zwangsmaßnahme bildet damit unter Achtung der verfassungsgerichtlichen Anforderungen die bis zu den jüngsten Beschlüssen des Bundesgerichtshofs bestehende Rechtslage möglichst nah ab. Dazu zählt, dass eine Zwangsbehandlung nur im Rahmen einer Unterbringung nach § 1906 Absatz 1 BGB erfolgen kann. Wie die Unterbringung selbst bedarf auch die Einwilligung in die ärztliche Zwangsmaßnahme der gerichtlichen Genehmigung und unterliegt denselben strengen verfahrensrechtlichen Anforderungen. Die strengen materiellen und verfahrensrechtlichen Anforderungen werden damit auch die Selbstbestimmung der Betreuten stärken.“ (BTDrucks 17/11513, Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und FDP, Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der betreuungsrechtlichen Einwilligung in eine ärztliche Zwangsmaßnahme, S. 1 f.; in der Sache ebenso Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu dem Gesetzentwurf, BTDrucks 17/12086, S. 1).
II.

18

1. Die 63-jährige Betroffene des Ausgangsverfahrens litt unter einer schizoaffektiven Psychose. Sie stand deswegen seit Ende April 2014 unter Betreuung unter anderem auch für den Aufgabenkreis der Sorge für die Pflege und Gesundheit einschließlich der Zustimmung zu ärztlichen Maßnahmen und Behandlungen sowie der Aufenthaltsbestimmung einschließlich der Entscheidung über eine Unterbringung oder unterbringungsähnliche Maßnahmen.

19

Anfang September 2014 wurde die Betroffene kurzzeitig in eine Pflegeeinrichtung aufgenommen. Dort lehnte sie es ab, die zur Behandlung einer Autoimmunerkrankung verordneten Medikamente einzunehmen, verweigerte die Essensaufnahme und äußerte Suizidabsichten. Ab Mitte September 2014 befand sich die Betroffene mit richterlicher Genehmigung auf einer geschlossenen Demenzstation in einem Klinikum. Auf der Grundlage mehrerer betreuungsgerichtlicher Beschlüsse wurde sie im Wege ärztlicher Zwangsmaßnahmen wegen der Autoimmunerkrankung, wegen einer Schilddrüsenunterfunktion und wegen ihrer psychischen Erkrankung medikamentös behandelt. Die Medikamente wurden - wie auch die Nahrung - mittels einer ebenfalls als ärztliche Zwangsmaßnahme gelegten Magensonde verabreicht. Es wurden dort auch weitere Untersuchungen (Stanzbiopsie) hinsichtlich einer vermuteten Krebserkrankung durchgeführt. Diese bestätigten den Verdacht eines - noch nicht durchgebrochenen - Mammakarzinoms.

20

Die Betroffene war zu diesem Zeitpunkt körperlich stark geschwächt, konnte nicht mehr gehen und sich auch nicht selbst mittels eines Rollstuhls fortbewegen. Geistig war sie in der Lage, ihren natürlichen Willen auszudrücken. Auf richterliche Befragung äußerte sie wiederholt, sie wolle sich nicht wegen der Krebserkrankung behandeln lassen. Weder wolle sie eine Operation noch eine Chemotherapie.

21

2. Mit Schreiben vom 20. Januar 2015 beantragte die Berufsbetreuerin, die Unterbringungsgenehmigung für die Betroffene zu verlängern und ärztliche Zwangsmaßnahmen, insbesondere zur Behandlung des Brustkrebses (Brustektomie, Brustbestrahlung, Knochenmarkspunktion zur weiteren Diagnostik), aber auch zur Fortsetzung der medikamentösen Therapie der weiteren Erkrankungen zu genehmigen.

22

3. Das Amtsgericht wies den Antrag auf Unterbringung und Zwangsbehandlung zurück. Bei der Betroffenen liege zwar eine psychische Krankheit vor, die sie daran hindere, in die erforderlichen ärztlichen Heilbehandlungen einzuwilligen. Eine Unterbringung sei aber nicht erforderlich, da die beantragten Heilbehandlungen und ärztlichen Eingriffe auch im Rahmen einer offenen Einrichtung erfolgen könnten.

23

4. Das Landgericht wies die Beschwerde der Betreuerin zurück und ließ die Rechtsbeschwerde zu.

24

In tatsächlicher Hinsicht unterstellte es zunächst, dass die von der Betreuerin am 20. Januar 2015 zur Genehmigung beantragten ärztlichen Eingriffe zur Abwendung eines drohenden erheblichen gesundheitlichen Schadens notwendig seien und die Betroffene auf Grund ihrer psychischen Krankheit oder geistigen oder seelischen Behinderung die Notwendigkeit der Unterbringung nicht erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln könne.

25

Weiter führte das Landgericht aus, das Amtsgericht habe zu Recht das Vorliegen der Voraussetzungen für die Genehmigung der Unterbringung verneint, weil alle zur Genehmigung beantragten ärztlichen Maßnahmen auch ohne eine Unterbringung in einer geschlossenen Einrichtung durchgeführt werden könnten. Eine Freiheitsentziehung im Sinne des § 1906 Abs. 1 BGB sei vorliegend aus tatsächlichen Gründen nicht notwendig und damit nicht erforderlich.

26

§ 1906 Abs. 1 BGB gehe von einem engen Begriff der mit der Freiheitsentziehung verbundenen Unterbringung aus. Eine Freiheitsentziehung sei im Sinne dieser Vorschrift nur dann erforderlich und dürfe deshalb auch nur dann angeordnet werden, wenn sich der Betroffene ohne die die Freiheit einschränkenden Vorkehrungen der Örtlichkeit räumlich entziehen könne, wenn also überhaupt die Möglichkeit zur Fortbewegung bestehe. Vorliegend sei die Unterbringung der Betroffenen nicht notwendig und damit auch nicht erforderlich im Sinne des § 1906 Abs. 1 BGB. Die Betroffene sei bettlägerig und nicht in der Lage, sich selbständig aus dem Bett zu bewegen oder zu gehen. Im Liegerollstuhl könne sie sich nicht selbständig fortbewegen. Sie zeige auch keine Weglauftendenzen, indem sie beispielsweise andere Leute beauftrage, sie an einen anderen Ort zu verbringen.

27

Die Zwangsbehandlung sei vom Gesetzgeber nur im Rahmen der geschlossenen Unterbringung im Sinne von § 1906 Abs. 1 BGB zugelassen worden. Ohne eine genehmigte freiheitsentziehende Unterbringung sei eine Zwangsbehandlung nach § 1906 Abs. 3, 3a BGB nicht zulässig.

28

5. Die Betreuerin erhob namens der Betroffenen Rechtsbeschwerde zum Bundesgerichtshof.
III.

29

1. Der Bundesgerichtshof hat das Verfahren nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG ausgesetzt und dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung der Frage vorgelegt, ob § 1906 Abs. 3 BGB in der Fassung vom 18. Februar 2013 mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar ist, soweit er für die Einwilligung des Betreuers in eine stationär durchzuführende ärztliche Zwangsmaßnahme auch bei Betroffenen, die sich der Behandlung räumlich nicht entziehen wollen oder körperlich hierzu nicht in der Lage sind, voraussetzt, dass die Behandlung im Rahmen einer Unterbringung nach § 1906 Abs. 1 BGB erfolgt.

30

a) Der Vorlagebeschluss sei zulässig, obwohl die Vorinstanzen den Sachverhalt nicht vollständig aufgeklärt hätten. Es sei zu unterstellen, dass die ärztlichen Eingriffe und Untersuchungen, für die die Betreuerin um eine gerichtliche Genehmigung nach § 1906 Abs. 3a BGB nachgesucht hatte, erforderlich seien, um einen drohenden erheblichen gesundheitlichen Schaden abzuwenden (§ 1906 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 BGB) und die Betroffene aufgrund ihrer psychischen Erkrankung die Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme nicht erkennen beziehungsweise nach dieser Einsicht handeln könne (§ 1906 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 BGB).

31

b) Die Kopplung der Zulässigkeit einer ärztlichen Zwangsmaßnahme an eine freiheitsentziehende Unterbringung auch für Fallgestaltungen, in denen sich Betroffene einer solchen Maßnahme räumlich nicht entziehen wollten oder könnten, verstoße gegen Art. 3 Abs. 1 GG.

32

Die Unterbringung zur Durchführung einer Untersuchung des Gesundheitszustands, einer Heilbehandlung oder eines ärztlichen Eingriffs gemäß § 1906 Abs. 1 Nr. 2 BGB verlange nicht nur, dass die medizinische Maßnahme als solche notwendig sei. Vielmehr müsse die freiheitsentziehende Unterbringung ihrerseits erforderlich sein, damit die medizinische Maßnahme durchgeführt werden könne. Sie sei in diesem Sinne erforderlich, wenn zu erwarten sei, dass der Betroffene sich ohne die freiheitsentziehende Unterbringung der medizinischen Maßnahme räumlich - also etwa durch Fernbleiben oder „Weglaufen“ - entziehen würde.

33

Der Bundesgerichtshof habe in seiner früheren Rechtsprechung (Bezugnahme auf BGH, Beschluss vom 23. Januar 2008 - XII ZB 185/07 -, FamRZ 2008, S. 866 ) der Vorschrift des § 1906 Abs. 1 Nr. 2 BGB die Rechtsgrundlage für die Durchführung notwendiger medizinischer Maßnahmen auch gegen den natürlichen Willen des Betroffenen entnommen. Er habe dabei den engen Unterbringungsbegriff zugrunde gelegt und daher die erzwungene Einnahme von Medikamenten nicht losgelöst von der Frage, wo sich diese Zwangsbehandlung vollziehe, rechtlich als eine freiheitsentziehende Unterbringung angesehen. Dies habe er mit dem Wortlaut des § 1906 Abs. 1 Nr. 2 BGB und mit dem Zweck der Vorschrift begründet. Dabei habe er auch wiederholt darauf hingewiesen, dass diese enge Auslegung des Begriffs der mit Freiheitsentziehung verbundenen Unterbringung zu einer Begrenzung der Möglichkeit führe, Betroffene gegen ihren Willen einer medizinischen Behandlung zu unterziehen (vgl. BGHZ 145, 297 ; 193, 337; BGH, Beschluss vom 23. Januar 2008 - XII ZB 185/07 -, FamRZ 2008, S. 866 ).

34

Nachdem der Bundesgerichtshof mit Blick auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Zwangsbehandlung im Maßregelvollzug seine Auffassung, wonach Zwangsbehandlungen im Rahmen des § 1906 Abs. 1 Nr. 2 BGB grundsätzlich genehmigungsfähig seien, aufgegeben und auf das Fehlen einer gesetzlichen Grundlage hingewiesen habe, habe der Gesetzgeber durch das Gesetz zur Regelung der betreuungsrechtlichen Einwilligung in eine ärztliche Zwangsmaßnahme vom 18. Februar 2013 in die Vorschrift des § 1906 BGB die neuen Absätze 3 und 3a eingefügt. Dabei habe der Gesetzgeber ausdrücklich lediglich die bis zur Rechtsprechungsänderung des Bundesgerichtshofs bestehende Rechtslage möglichst nahe abbilden und eine Rechtsgrundlage für die Einwilligung des Betreuers in eine ärztliche Zwangsmaßnahme im Rahmen einer Unterbringung nach § 1906 Abs. 1 Nr. 2 BGB schaffen wollen. Dies lasse alleine den Schluss zu, dass die gesetzliche Regelung der Zulässigkeit ärztlicher Zwangsmaßnahmen nicht zu Änderungen an dem § 1906 Abs. 1 BGB zu Grunde liegenden engen Unterbringungsbegriff führen sollte, sondern dieser nach wie vor für die Anwendung der Vorschrift maßgeblich sein solle.

35

Die neu geschaffene Regelung in § 1906 Abs. 3 BGB sei nicht nur als Eingriffsnorm zu verstehen, da sie als Bestandteil des staatlichen Erwachsenenschutzes ebenso eine Begünstigung darstelle. Die Betroffenen auszunehmen, bei denen es einer stationär durchzuführenden ärztlichen Maßnahme bedürfe, die sich aber räumlich nicht entziehen wollen und/oder können, erfordere eine hinreichende Rechtfertigung. An einer hinreichenden Rechtfertigung fehle es, so dass das Gesetz gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoße.

36

Diese Schutzlücke für immobile Betroffene werde auch nicht durch andere vom Gesetz eröffnete Möglichkeiten geschlossen. Das auf den Fall des Vorlageverfahrens anzuwendende baden-württembergische Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten (PsychKHG) greife schon deshalb nicht zugunsten von Betroffenen ein, die sich räumlich nicht aus einem stationären Rahmen entfernen wollen oder können, weil § 20 Abs. 3 PsychKHG eine Zwangsbehandlung ebenfalls nur bei einer geschlossenen Unterbringung vorsehe. Auch der rechtfertigende Notstand nach § 34 StGB, der einer ohne die Einwilligung des Patienten oder gar gegen dessen Willen erfolgenden ärztlichen Behandlung gegebenenfalls die Rechtswidrigkeit nehmen könne, lasse die Notwendigkeit der Aufnahme von Betroffenen, die sich räumlich nicht aus dem stationären Raum bewegen wollten oder könnten, in den Anwendungsbereich des § 1906 Abs. 3 BGB nicht entfallen. Die im Rahmen des § 34 StGB in jedem Einzelfall vorzunehmende schwierige Interessenabwägung könne die vom Gesetzgeber zu treffende Festlegung der Voraussetzungen, unter denen eine ärztliche Zwangsmaßnahme zulässig sei, nicht ersetzen. Außerdem biete § 34 StGB nicht die angesichts der betroffenen grundrechtlichen Belange gebotene Rechtssicherheit.

37

Der Bundesgerichtshof ließ in seiner Vorlage ausdrücklich offen, ob der Gesetzgeber eine Verpflichtung aus grundrechtlichen Schutzpflichten hat, die gesetzlichen Voraussetzungen für ärztliche Zwangsmaßnahmen zu schaffen.

38

2. Die Betroffene ist während des anhängigen Vorlageverfahrens verstorben.
IV.

39

Zu der Vorlage haben die Bundesnotarkammer, der Bundesverband für körper- und mehrfachbehinderte Menschen e.V., der Bundesverband der Angehörigen psychisch Kranker e.V., der Bundesverband der Berufsbetreuer/innen e.V., der Deutsche Notarverein e.V., die Aktion psychisch Kranke Vereinigung zur Reform der Versorgung psychisch Kranker e.V., die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e.V., der AWO Bundesverband e.V., die Bundesrechtsanwaltskammer, der Deutsche Caritasverband e.V., die Bundesarbeitsgemeinschaft Psychiatrie-Erfahrener e.V. und der Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener e.V. Stellung genommen.

40

1. Ganz überwiegend wird die Auffassung vertreten, § 1906 Abs. 3 BGB verstoße gegen Art. 3 Abs. 1 GG, weil die Norm jedenfalls auch begünstigend sei und für den Ausschluss der von der Begünstigung nicht erfassten immobilen Betreuten keine Rechtfertigung ersichtlich sei. Teilweise wird zudem von der Verletzung weiterer Grundrechte ausgegangen.

41

a) Die Bundesnotarkammer hält es für wenig überzeugend, sollte man bei der Entscheidung über ärztliche Zwangsmaßnahmen nach dem individuellen Grad der Mobilität differenzieren müssen. Für die begrenzte Zulassung auch ambulanter Zwangsbehandlungen spreche, dass zur Erreichung des Ziels, die schon im stationären Umfeld befindliche Person zu schützen, dem in der Zwangsbehandlung liegenden Grundrechtseingriff nicht noch die Unterbringung als weiteren Eingriff vorangestellt werden müsste.

42

b) Der Bundesverband für körper- und mehrfachbehinderte Menschen e.V. sieht in der derzeitigen Rechtslage, bei Menschen, die sich nicht selbständig fortbewegen können, stationäre ärztliche Zwangsmaßnahmen nicht anordnen zu können, eine unzulässige Ungleichbehandlung.

43

c) Auch der Bundesverband der Angehörigen psychisch Kranker e.V. sieht einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG, soweit § 1906 Abs. 3 BGB eine ärztliche Zwangsmaßnahme nur erlaube, wenn eine Unterbringung des Betroffenen erforderlich sei.

44

d) Nach der Auffassung des Bundesverbands der Berufsbetreuer/innen e.V. stellt es einen Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 und Art 3 Abs. 1 GG dar, die Gruppe von Menschen, die sich einem Klinikaufenthalt aufgrund ihrer schlechten körperlichen Verfassung nicht entziehen können, nicht gegen deren Willen behandeln zu können.

45

e) Der Deutsche Notarverein e.V. gelangt in seiner Stellungnahme zu dem Ergebnis, § 1906 Abs. 3 BGB verstoße gegen Art. 2 Abs. 1 und gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Die Verknüpfung der Zwangsbehandlung mit der Unterbringung laufe im Gesetzesvollzug allzu leicht auf eine Freiheitsentziehung hinaus, die unverhältnismäßig sei und auch gegen Art. 2 GG verstoße, da sie nur angeordnet werde, um eine Zwangsbehandlung durchführen zu können. Es gelte der Grundsatz, dass der Staat einen Menschen, der nicht selbstbestimmte und eigenverantwortliche Entscheidungen treffen könne, vor sich selbst schützen müsse. Diese Schutzpflicht werde durch die geltende Regelung des § 1906 BGB nur gegenüber einem Teil der Betroffenen, nämlich den „Fluchtfähigen“ wahrgenommen. Hierin liege eine den Gleichheitssatz verletzende Unterlassung, denn zwischen der begünstigten Gruppe und den Fluchtunfähigen bestünden keine erheblichen Unterschiede, die die ungleiche Behandlung rechtfertigten.

46

f) Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e.V. sieht durch § 1906 Abs. 3 BGB sowohl Art. 3 Abs. 1 als auch Art. 3 Abs. 3 GG verletzt.

47

g) Auch der AWO Bundesverband e.V. vertritt die Auffassung, es gebe keinen rechtfertigenden Grund für eine Ungleichbehandlung der beiden Personengruppen.

48

h) Die Bundesrechtsanwaltskammer hält die Vorlage des Bundesgerichtshofs für zulässig und begründet. § 1906 Abs. 3 BGB sei nicht nur eine belastende sondern auch eine begünstigende Norm. Es sei kein Grund erkennbar, denjenigen Menschen, die sich der Behandlung räumlich nicht entziehen wollen oder körperlich nicht dazu in der Lage seien, die Behandlung vorzuenthalten, die untergebrachte Betreute erhielten. Die Verfassungswidrigkeit der Norm könne auch nicht durch eine erweiternde, verfassungskonforme Auslegung von § 1906 Abs. 3 BGB überwunden werden. Dem sei bereits durch den eindeutigen Wortlaut eine Grenze gesetzt. Dies folge aber auch aus dem Willen des Gesetzgebers, der in der Gesetzesbegründung deutlich gemacht habe, die Regelung solle ausschließlich für untergebrachte betreute Personen gelten.

49

2. Die Aktion psychisch Kranke Vereinigung zur Reform der Versorgung psychisch Kranker e.V. geht zwar auch davon aus, dass Menschen, die den Behandlungsort nicht aus eigener Kraft verlassen könnten oder wollten, denselben Schutzanspruch hätten wie solche, die sich noch fortbewegen könnten. Das Recht auf Schutz und Behandlung dürfe nicht vorenthalten werden, weil mangels eines formalen Unterbringungsgrundes nicht untergebracht werden könne. Anders als der Bundesgerichtshof meine, habe der Gesetzgeber aber nicht den engen Unterbringungsbegriff verwenden wollen. Es fehle an einer Legaldefinition des Begriffs der Unterbringung. Nach Auffassung des Verbands beginne die Unterbringung schon dann, wenn jemand gegen seinen Willen an einem Ort festgehalten werde. Die enge Auslegung des Unterbringungsbegriffs, der die Unterbringung an einen Freiheitsentzug knüpfe, sei ungeeignet, da sie zu einer unzulässigen Ungleichbehandlung führe und das Leben und die Gesundheit hilfsbedürftiger Menschen aufs Spiel setze. § 1906 Abs. 3 BGB wäre mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar, wenn ein weiter Unterbringungsbegriff zugrunde gelegt würde.

50

3. Auch der Deutsche Caritasverband e.V. ist der Auffassung, mobile und immobile Betroffene seien in ihrem Schutzbedürfnis wesentlich gleich. Das Unterscheidungskriterium sei die Möglichkeit, sich der Behandlung entziehen zu können. Es sei aber fraglich, ob die immobile Personengruppe benachteiligt sei, da gerade ihrem Selbstbestimmungsrecht Rechnung getragen werde. Zwar werde durch den Hinweis des Bundesgerichtshofs auf die Schutzfunktion des § 1906 Abs. 3 BGB auf die begünstigende Wirkung abgestellt. Es müssten aber eben die eingreifende und die schützende Dimension beachtet werden. Wenn man gleichwohl in der Möglichkeit zur Zwangsbehandlung eine Begünstigung sehen wolle, sei es zunächst legitim, die Zwangsmaßnahmen auf einen stationären Rahmen zu beschränken. Es sei jedoch kein sachlicher Grund ersichtlich, ärztliche Zwangsmaßnahmen nur denjenigen zuteilwerden zu lassen, die noch mobil seien und sich einer Behandlung entziehen könnten.

51

4. Der Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener e.V. und die Bundesarbeitsgemeinschaft Psychiatrie-Erfahrener e.V. sehen in § 1906 Abs. 3 BGB hingegen lediglich eine Eingriffsnorm. Eine ärztliche Zwangsbehandlung könne nicht als Begünstigung angesehen werden. Es müsse immer der Patientenwille gelten. § 1906 Abs. 3 BGB sei schon deswegen verfassungswidrig, weil er Zwangsbehandlungen überhaupt ermögliche.
B.
I.

52

Die Vorlage ist zulässig.

53

1. Der Zulässigkeit der Vorlage steht nicht entgegen, dass der Bundesgerichtshof mit dem vorgelegten § 1906 Abs. 3 BGB in der Fassung des Gesetzes zur Regelung der betreuungsrechtlichen Einwilligung in eine ärztliche Zwangsmaßnahme vom 18. Februar 2013 (BGBl I S. 266) nur das nach seiner Überzeugung verfassungswidrige Nichteinbeziehen von Personen in bestimmten Lebenssituationen in diese Regelung und damit ein Unterlassen des Gesetzgebers beanstandet.

54

a) Das Vorlageverfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG dient der Kontrolle konkreter gesetzgeberischer Entscheidungen auf ihre Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz in dem dafür allein dem Bundesverfassungsgericht vorbehaltenen Verfahren (vgl. BVerfGE 86, 71 ; 138, 64 ). Es ist damit grundsätzlich kein Instrument, ein von einem Gericht von Verfassungs wegen für geboten gehaltenes allgemeines gesetzgeberisches Tätigwerden zu erzwingen. In diesem Sinne schlichtes Unterlassen des Gesetzgebers kann daher nicht Gegenstand einer konkreten Normenkontrolle sein (dazu auch BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 16. Januar 2013 - 1 BvR 2004/10 -, NJW 2013, S. 1148 ; E. Klein, in: Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2012, § 24 Rn. 790; Dollinger, in: Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, BVerfGG, 2015, § 80 Rn. 49; Zuck, in: Lechner/Zuck, BVerfGG, 7. Aufl. 2015, § 80 Rn. 11; Lenz/Hansel, BVerfGG, 2. Aufl. 2015, § 80 Rn. 61).

55

Diese Grundsätze stehen allerdings nicht der Vorlage einer bestimmten Norm nach Art. 100 Abs. 1 GG entgegen, die damit begründet wird, dass die Nichteinbeziehung bestimmter Sachverhalte oder Personengruppen gegen Gleichheitsrechte verstoße. Gegenstand einer solchen Normenkontrolle ist eine konkrete Entscheidung des Gesetzgebers, deren Erstreckung auf bestimmte andere Fälle aus Gründen der Gleichbehandlung für verfassungsrechtlich geboten gehalten wird. In derartigen Konstellationen erachtet es das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung als ausreichend, dass die im Falle eines Verstoßes gegen das Grundgesetz zu erwartende Erklärung der Norm als verfassungswidrig für den nicht in ihren Anwendungsbereich fallenden Betroffenen die Chance offen hält, eine ihn einbeziehende Regelung durch den Gesetzgeber zu erreichen (vgl. BVerfGE 22, 349 ; 61, 138 ; 71, 224 ; 74, 182 ; 93, 386 ; 115, 259 ; 121, 108 ; 130, 131 ; vgl. auch BVerfGE 138, 136 ). Nichts anderes gilt für den Fall, dass die vom vorlegenden Gericht im Zusammenhang mit der beanstandeten Norm vermisste Ausgestaltung nach dessen plausibel begründeter Überzeugung durch eine konkrete verfassungsrechtliche Schutzpflicht geboten ist.

56

b) Der Bundesgerichtshof hat seine Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit der vorgelegten Norm nachvollziehbar damit begründet, dass die Nichteinbeziehung bestimmter Sachverhalte oder Personengruppen in diese Norm gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoße.

57

Er hat in seinem Vorlagebeschluss nicht offensichtlich unhaltbar und damit für die Beurteilung der Zulässigkeit der Vorlage maßgebend (vgl. BVerfGE 2, 181 ; 105, 61 ; 138, 136 ) dargelegt, dass für den Aufgabenkreis Gesundheitssorge unter Betreuung stehende Personen, die sich - wie die Betroffene des Ausgangsverfahrens - in stationärer Behandlung befinden und aus eigener Kraft nicht mehr von dort entfernen und sich auch sonst nicht einer ärztlichen Behandlung räumlich entziehen können, nicht die Voraussetzungen für die Anordnung einer geschlossenen Unterbringung nach § 1906 Abs. 1 Nr. 2 BGB 2013 erfüllen. Damit besteht für sie auch nicht die Möglichkeit einer ärztlichen Zwangsbehandlung nach § 1906 Abs. 3 BGB, da dies die geschlossene Unterbringung voraussetzt (§ 1906 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 BGB).

58

Zur Begründung seiner Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit der vorgelegten Norm muss das Gericht unter Rechtsprechung und Schrifttum einbeziehenden Darlegungen deutlich machen, mit welchem verfassungsrechtlichen Grundsatz die zur Prüfung gestellte Regelung seiner Ansicht nach nicht vereinbar ist und aus welchen Gründen es zu dieser Auffassung gelangt (vgl. BVerfGE 78, 165 ; 89, 329 ; 138, 136 ). Diesen Voraussetzungen genügt der Vorlagebeschluss. Ob in der Verwehrung der ärztlichen Zwangsbehandlung für Betreute trotz der damit für sie zugleich verbundenen Eingriffe tatsächlich die Vorenthaltung einer Begünstigung im gleichheitsrechtlichen Sinne liegt (vgl. zur Notwendigkeit eines Nachteils BVerfGE 132, 195 ), kann hier offen bleiben. Dass den nicht unterbringungsfähigen Betreuten mit dem Ausschluss der ärztlichen Zwangsbehandlung eine Option vorenthalten wird, die ihnen nach Auffassung des Bundesgerichtshofs in diesem Zusammenhang von Verfassungs wegen nicht hätte verwehrt werden dürfen, hat das vorlegende Gericht substantiiert und plausibel dargelegt.

59

2. Der Vorlagebeschluss lässt mit hinreichender Deutlichkeit erkennen, dass die aufgeworfene Frage zur Verfassungsmäßigkeit der Rechtslage für den Bundesgerichtshof entscheidungserheblich ist. Dabei ist dessen Auffassung zur Auslegung des § 1906 Abs. 1 und 3 BGB für die Beurteilung der Zulässigkeit seiner Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG maßgebend, da sie nicht offensichtlich unhaltbar ist (zu diesem Maßstab vgl. BVerfGE 2, 181 ; 105, 61 ; 138, 136 ). Dass der Sachverhalt nicht im Hinblick auf sämtliche Tatbestandsvoraussetzungen des § 1906 Abs. 1 und 3 BGB vollständig durch die Fachgerichte aufgeklärt war, ändert für den mit der Rechtsbeschwerde (§§ 70 ff. FamFG) angerufenen und daher nur mit der Prüfung von Rechtsverletzungen befassten Bundesgerichtshof nichts an der Entscheidungserheblichkeit der von ihm für verfassungswidrig gehaltenen Regelung (vgl. dazu BVerfGE 24, 119 ), welche eine ärztliche Zwangsmaßnahme nur bei freiheitsentziehender Unterbringung nach § 1906 Abs. 3 BGB zulässt, die für die Betroffene ausgeschlossen war.

60

3. Die Vorlage ist nicht dadurch unzulässig geworden, dass die Betroffene des Ausgangsverfahrens während des Vorlageverfahrens verstorben ist.

61

a) Führt ein Ereignis zur Erledigung des Ausgangsverfahrens, hat dies regelmäßig auch die Erledigung des Vorlageverfahrens zur Folge (vgl. BVerfGE 14, 140 ; 29, 325 ). Denn Art. 100 Abs. 1 GG lässt ein Verfahren der konkreten Normenkontrolle nur zu, wenn es für die Entscheidung des Ausgangsverfahrens auf die Gültigkeit der zur Prüfung gestellten Vorschrift ankommt. Die konkrete Normenkontrolle dient der verfassungsgemäßen Entscheidung in einem bestimmten Gerichtsverfahren und ist insofern von dessen Existenz und Ziel abhängig (vgl. BVerfGE 42, 42 ).

62

Die Konzentration der Entscheidungsbefugnis über die Verfassungsmäßigkeit von Parlamentsgesetzen beim Bundesverfassungsgericht soll allerdings auch durch allgemein verbindliche Klärung verfassungsrechtlicher Grundsatzfragen divergierende Entscheidungen der Gerichte, Rechtsunsicherheit und Rechtszersplitterung vermeiden (vgl. BVerfGE 1, 184 ; 20, 350 ; 42, 42 ). Es liegt in der Konsequenz dieser der Normenkontrolle auch zukommenden Bedeutung für die Klärung verfassungsrechtlicher Fragen, dass das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung unter Berufung auf deren Befriedungsfunktion die verfassungsgerichtliche Kontrolle auf Normen erstreckt hat, die mit der vorgelegten in engem Zusammenhang stehen, für das Ausgangsverfahren aber nicht entscheidungserheblich sind (vgl. BVerfGE 27, 195 ; 44, 322 ; 62, 354 ; 78, 132 ; 132, 302 ; 135, 1 ).

63

Diese objektive, auf Rechtsklärung und Befriedung ausgerichtete Funktion der Normenkontrolle kann es auch rechtfertigen, ausnahmsweise nach einem Ereignis, das - wie hier der Tod der Betroffenen im Ausgangsverfahren - regelmäßig zu dessen Erledigung führt, die vorgelegte Frage nach der Gültigkeit einer Norm gleichwohl zu beantworten, wenn ein hinreichend gewichtiges, grundsätzliches Klärungsbedürfnis fortbesteht. Für das Verfahren der Verfassungsbeschwerde besteht das Rechtsschutzbedürfnis trotz eines erledigenden Ereignisses auch im Fall des Todes des Beschwerdeführers fort (vgl. BVerfGE 124, 300 ; vgl. allgemein BVerfGE 81, 138 ; 96, 288 ; 98, 218 ; 119, 309 ). Entsprechendes muss erst recht für die konkrete Normenkontrolle gelten, zumal wenn die Vorlage durch ein funktional in besonderer Weise der Rechtsklärung verpflichtetes oberstes Bundesgericht erfolgt. Die konkrete Normenkontrolle steht ungeachtet der engen Bindung an das Ausgangsverfahren mit ihrer Ausrichtung auf die verfassungsrechtliche Normprüfung von vornherein stärker im Dienste der objektiven Rechtsklärung als die eher dem subjektiven Rechtsschutz dienende Verfassungsbeschwerde. Unter welchen Voraussetzungen das Fortbestehen eines Rechtsschutzinteresses zu bejahen ist, hängt dabei letztlich von den Umständen des Einzelfalls ab (vgl. BVerfGE 124, 300 ).

64

b) Trotz des Todes der Betroffenen des Ausgangsverfahrens besteht hier ein gewichtiges objektives Bedürfnis an der Klärung der vom Bundesgerichtshof vorgelegten Verfassungsrechtsfrage.

65

Ob es mit dem Grundgesetz vereinbar ist, dass eine ärztliche Zwangsbehandlung nach geltendem Fachrecht bei Betreuten, die sich einer Behandlung räumlich nicht entziehen wollen oder hierzu körperlich nicht in der Lage sind und deshalb nicht freiheitsentziehend untergebracht werden können, ausgeschlossen ist, ist nicht geklärt und eine Frage von wesentlicher grundrechtlicher Bedeutung. Sie betrifft auch nicht nur einen seltenen Einzelfall. Aus den beim Bundesverfassungsgericht in diesem Verfahren eingegangenen Stellungnahmen wird deutlich, dass sich die Frage einer medizinisch indizierten Behandlung gegen den natürlichen Willen in ihre Krankheit nicht einsichtsfähiger Betreuter, die stationär behandelt werden, aber nicht mehr mobil und damit nicht unterbringungsfähig sind, in der Praxis keineswegs selten stellt. Zudem weisen Fälle der vorgelegten Art das strukturelle Problem auf, dass eine verfassungsgerichtliche Entscheidung oft nicht rechtzeitig herbeigeführt werden kann. Jedenfalls bei schwerwiegenden, lebensbedrohlichen Erkrankungen besteht stets die Gefahr, dass selbst bei größtmöglicher Verfahrensbeschleunigung die Vorlage eines Gerichts und die darauf ergehende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu spät kommen. Außerdem erscheint es gegenüber den schon jetzt von der ungeklärten Verfassungsrechtsfrage Betroffenen nicht vertretbar, bis zu einer etwaigen neuen Vorlage zu warten, die dann wiederum dem Risiko ausgesetzt wäre, dass sie sich vor einer Entscheidung durch Tod des Betroffenen erledigt.
II.

66

Es verstößt gegen die staatliche Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, dass für Betreute, die keinen freien Willen bilden können, eine medizinisch notwendige Behandlung - ungeachtet des Ausmaßes ihrer Gefährdung an Leib oder Leben einerseits und der Behandlungsrisiken andererseits - vollständig ausgeschlossen ist, wenn sie ihrem natürlichen Willen widerspricht, sie aber nicht freiheitsentziehend untergebracht werden können, weil die Voraussetzungen dafür nicht vorliegen (1). Ob dies auch mit dem Gleichheitssatz unvereinbar ist, bedarf danach keiner Entscheidung (2).

67

1. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verpflichtet den Staat, hilfsbedürftigen Menschen, die im Hinblick auf ihre Gesundheitssorge unter Betreuung stehen und bei einem drohenden erheblichen gesundheitlichen Schaden die Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme nicht erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln können, notfalls auch gegen ihren natürlichen Willen Schutz durch ärztliche Versorgung zu gewähren (a). Eine solche ärztliche Zwangsbehandlung ist auch mit den völkerrechtlichen Bindungen Deutschlands vereinbar (b). Es verstößt gegen die Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, dass hilfsbedürftige Menschen, die stationär in einer nicht geschlossenen Einrichtung behandelt werden, sich aber nicht mehr aus eigener Kraft fortbewegen können, nach geltender Rechtslage nicht notfalls auch gegen ihren natürlichen Willen behandelt werden dürfen (c). Die Situation der Betreuten in ambulanter Behandlung bedarf hier keiner Entscheidung (d).

68

a) Die grundrechtliche Verbürgung des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) kann auch konkrete staatliche Schutzpflichten begründen (aa). Solche bestehen unter bestimmten Voraussetzungen für die staatliche Gemeinschaft gegenüber Betreuten, die einer ärztlichen Behandlung bedürfen, die Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme jedoch nicht erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln können (bb).

69

aa) Das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit gewährt nicht nur ein subjektives Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe in diese Rechtsgüter. Es stellt zugleich eine objektive Wertentscheidung der Verfassung dar, die staatliche Schutzpflichten begründet. Danach hat der Staat die Pflicht, sich schützend und fördernd vor das Leben des Einzelnen zu stellen (vgl. BVerfGE 39, 1 ; 46, 160 ; 90, 145 ; 115, 320 ). Auch der Schutz vor Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit und der Gesundheit werden von Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG umfasst (vgl. BVerfGE 56, 54 ; 121, 317 ).

70

Die aus den Grundrechten folgenden subjektiven Abwehrrechte gegen staatliche Eingriffe einerseits und die sich aus der objektiven Bedeutung der Grundrechte ergebenden Schutzpflichten andererseits unterscheiden sich insofern grundlegend voneinander, als das Abwehrrecht in Zielsetzung und Inhalt ein bestimmtes staatliches Verhalten verbietet, während die Schutzpflicht grundsätzlich unbestimmt ist. Die Aufstellung und normative Umsetzung eines Schutzkonzepts ist Sache des Gesetzgebers, dem grundsätzlich auch dann ein Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zukommt, wenn er dem Grunde nach verpflichtet ist, Maßnahmen zum Schutz eines Rechtsguts zu ergreifen (vgl. BVerfGE 96, 56 ; 121, 317 ; 133, 59 ). Das Bundesverfassungsgericht kann die Verletzung einer solchen Schutzpflicht nur feststellen, wenn Schutzvorkehrungen entweder überhaupt nicht getroffen sind, wenn die getroffenen Regelungen und Maßnahmen offensichtlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind, das gebotene Schutzziel zu erreichen, oder wenn sie erheblich hinter dem Schutzziel zurückbleiben (vgl. BVerfGE 56, 54 ; 77, 170 ; 92, 26 ; 125, 39 ).

71

bb) Danach verdichtet sich bei Betreuten, die auf Grund einer psychischen Krankheit oder einer geistigen oder seelischen Behinderung die Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme nicht erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln können, die allgemeine Schutzpflicht unter engen Voraussetzungen zu einer konkreten Schutzpflicht. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verpflichtet den Gesetzgeber, ein System der Hilfe und des Schutzes für unter Betreuung stehende Menschen vorzusehen, die in diesem Sinne die Erforderlichkeit einer medizinischen Behandlung zur Abwehr oder Bekämpfung erheblicher Erkrankungen nicht erkennen oder nicht danach handeln können. Ärztliche Untersuchungs- und Heilmaßnahmen müssen dann in gravierenden Fällen als ultima ratio auch unter Überwindung des entgegenstehenden natürlichen Willens solcher Betreuter vorgenommen werden dürfen.

72

Diese Schutzpflicht resultiert aus der spezifischen Hilfsbedürftigkeit der nicht einsichtsfähigen Betreuten ((1)). Steht einer in Wahrnehmung dieser Schutzpflicht medizinisch gebotenen Behandlung der natürliche Wille einer nicht einsichtsfähigen Person entgegen, gerät diese Maßnahme allerdings in Konflikt mit ihrem Selbstbestimmungsrecht ((2)) und mit ihrem Recht auf körperliche Unversehrtheit ((3)). Dieser Konflikt zwischen den hier in ihrer Freiheits- und in ihrer Schutzdimension kollidierenden Grundrechten desselben Grundrechtsträgers ist möglichst schonend aufzulösen. Drohen Betreuten schwerwiegende Gesundheitsbeeinträchtigungen und überwiegen die Vorteile eines medizinischen Eingriffs eindeutig gegenüber den damit verbundenen Nachteilen und Risiken, geht jedoch die Schutzpflicht vor, so dass der Gesetzgeber die Möglichkeit einer medizinischen Behandlung oder Untersuchung auch gegen den natürlichen Willen der Betreuten vorsehen muss ((4)).

73

(1) Die aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG geschuldete verfassungsrechtliche Pflicht, unter eng begrenzten Voraussetzungen Schutzmaßnahmen bis hin zu medizinischen Zwangsbehandlungen für bestimmte unter Betreuung stehende Menschen vorzusehen, folgt aus deren spezifischer Hilfsbedürftigkeit. Wenn sie krankheitsbedingt nicht in der Lage sind, in eigener Sache die medizinische Notwendigkeit einer Untersuchung oder Heilmaßnahme zu erkennen oder danach zu handeln, sind sie insofern schutzlos und hilfsbedürftig, als sie Gefährdungen von Leib und Leben ausgeliefert sind, ohne selbst für ihren Schutz sorgen zu können (vgl. BVerfGE 58, 208 ; 128, 282 ). Die staatliche Gemeinschaft darf den hilflosen Menschen nicht einfach sich selbst überlassen.

74

(2) Jede Zwangsbehandlung greift allerdings in das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit ein. Denn der Mensch ist nach dem Grundgesetz grundsätzlich frei, über Eingriffe in seine körperliche Integrität und den Umgang mit seiner Gesundheit nach eigenem Gutdünken zu entscheiden. Diese Freiheit ist Ausdruck seiner persönlichen Autonomie und als solche auch durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG geschützt (im Ergebnis ebenso BVerfGE 128, 282 ; 129, 269 ; 133, 112 jeweils unter Berufung auf Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG). Seine Entscheidung, ob und inwieweit er eine Krankheit diagnostizieren und behandeln lässt, muss er nicht an einem Maßstab objektiver Vernünftigkeit ausrichten. Eine Pflicht des Staates, den Einzelnen „vor sich selbst in Schutz zu nehmen“, eröffnet keine „Vernunfthoheit“ staatlicher Organe über den Grundrechtsträger dergestalt, dass dessen Wille allein deshalb beiseitegesetzt werden dürfte, weil er von durchschnittlichen Präferenzen abweicht oder aus der Außensicht unvernünftig erscheint (vgl. BVerfGE 128, 282 ). Die Freiheitsgrundrechte schließen das Recht ein, von der Freiheit einen Gebrauch zu machen, der in den Augen Dritter den wohlverstandenen Interessen des Grundrechtsträgers zuwider läuft. Daher ist es grundsätzlich Sache des Einzelnen, darüber zu entscheiden, ob er sich therapeutischen oder sonstigen Maßnahmen unterziehen will, auch wenn sie der Erhaltung oder Verbesserung seiner Gesundheit dienen. Die grundrechtlich geschützte Freiheit schließt auch die „Freiheit zur Krankheit“ und damit das Recht ein, auf Heilung zielende Eingriffe abzulehnen, selbst wenn diese nach dem Stand des medizinischen Wissens dringend angezeigt sind (vgl. BVerfGE 128, 282 m.w.N.).

75

Sofern Betroffene mit freiem Willen über medizinische Maßnahmen zur Erhaltung oder Besserung der eigenen Gesundheit entscheiden können, besteht daher keine Schutz- und Hilfsbedürftigkeit. Die Schutzpflicht des Staates aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG tritt insoweit zurück. Eine medizinische Zwangsbehandlung gegen den freien Willen eines Menschen ist ausgeschlossen.

76

Können Betroffene keinen freien Willen in Bezug auf den Umgang mit einer Krankheit bilden, weil sie krankheitsbedingt nicht in der Lage sind, die Notwendigkeit einer ärztlichen Maßnahme zu erkennen oder nach dieser Einsicht zu handeln (zu dieser Bedingung vgl. BVerfGE 128, 282 sowie § 1906 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 BGB), bleibt ein etwa vorhandener natürlicher Wille in Bezug auf ihre Krankheit verfassungsrechtlich auch hier Ausdruck ihres durch das Recht auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit geschützten Selbstbestimmungsrechts, in das auch unter diesen Voraussetzungen im Falle einer Zwangsbehandlung eingegriffen wird. Allerdings kann der einer notwendigen ärztlichen Behandlung entgegenstehende natürliche Wille nichts an der besonderen Hilfs- und Schutzbedürftigkeit der Betroffenen ändern.

77

(3) Wird eine ärztliche Maßnahme nicht durch ein auf dem freien Willen der Betroffenen beruhendes Einverständnis gerechtfertigt, gerät sie im Falle der Zwangsbehandlung gegen den natürlichen Willen auch in Konflikt mit dem Grundrecht der Betroffenen auf körperliche Unversehrtheit (vgl. auch dazu bereits BVerfGE 128, 282 ). Das gilt sowohl für diagnostische als auch für therapeutische Maßnahmen.

78

(4) Drohen dem in seine Krankheit nicht einsichtsfähigen Betreuten schwerwiegende Gesundheitsbeeinträchtigungen und führt die Abwägung seiner Heilungschancen mit seinen Belastungen durch die ärztlichen Maßnahmen zu einem eindeutigen Ergebnis, so überwindet die Schutzpflicht des Staates die entgegenstehenden Freiheitsrechte. Hier obliegt es dem Staat, die Möglichkeit einer medizinischen Behandlung auch gegen den natürlichen Willen der Betreuten zu eröffnen. Dabei müssen strenge materielle und verfahrensrechtliche Anforderungen an eine solche Zwangsbehandlung die möglichst weitgehende Berücksichtigung der betroffenen Freiheitsrechte sicherstellen.

79

(a) Verlangt die Schutzpflicht des Staates aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ein medizinisches Tätigwerden gegen den natürlichen Willen der Betreuten, kollidiert dies mit ihrem Selbstbestimmungsrecht und ihrem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit. Die Schutzpflicht entfällt hier jedoch nicht schon deshalb, weil sie nicht gegen drohende Grundrechtsverletzungen durch Dritte gerichtet ist, sondern darauf fußende Maßnahmen in Konflikt mit gegenläufigen eigenen Grundrechten der Betroffenen stehen. Die Schutzpflicht hat im Falle der Betreuten ihren Grund nicht in der Pflicht des Staates zur Abwehr fremder Angriffe auf deren Grundrechtspositionen, sondern in dem gesteigerten Schutzbedarf der Betreuten, sofern diese nicht zur Einsicht in die konkrete Notwendigkeit einer medizinischen Maßnahme fähig sind und darum Gefährdungen von Leib und Leben ausgeliefert wären, ohne in Freiheit selbst für den eigenen Schutz sorgen zu können. Während der zur Einsicht in Krankheit und Behandlungsbedürftigkeit fähige Mensch selbst entscheidet, ob er sich ärztlichen Maßnahmen zur Abwendung schwerwiegender Gesundheits- und Lebensgefahren unterzieht, gebietet im Falle derjenigen, die keine Einsicht in die gesundheitliche Bedrohung und Behandlungsbedürftigkeit haben oder nicht nach dieser Einsicht handeln können, die grundrechtliche Schutzpflicht unter engen Voraussetzungen, dass der Staat auch gegen den erkennbaren natürlichen Willen Maßnahmen zum Schutz vor schwerwiegenden Gefährdungen ergreift.

80

(b) Der Gesetzgeber muss für Fälle, in denen drohende erhebliche Gesundheitsbeeinträchtigungen einschließlich einer Lebensgefahr durch nicht zu eingriffsintensive Behandlungen mit hohen Erfolgsaussichten abgewehrt werden können, die Betroffenen aber aufgrund ihrer krankheitsbedingt fehlenden Einsichtsfähigkeit mit ihrem natürlichen Willen eine solche Behandlung ablehnen, die Möglichkeit einer medizinischen Zwangsbehandlung vorsehen. Die staatliche Schutzpflicht hat bei erheblicher Gesundheitsgefährdung einer zum eigenen Schutz selbst nicht fähigen Person besonderes Gewicht. Gehen mit der zur Abwehr der Gefahr notwendigen medizinischen Maßnahme keine besonderen Behandlungsrisiken einher und gibt es auch keine tragfähigen Anhaltspunkte dafür, dass gerade die Behandlungsverweigerung dem ursprünglichen freien Willen der Betreuten entspricht, ist das Ergebnis der Abwägung zwischen den kollidierenden Grundrechten offensichtlich vorgezeichnet. Die staatliche Schutzpflicht gegenüber den Hilflosen überwiegt dann im Verhältnis zu deren Selbstbestimmungsrecht und ihrer körperlichen Integrität und setzt sich durch.

81

Bei der Umsetzung dieser Schutzpflicht verfügt der Gesetzgeber über einen Spielraum zur näheren Ausgestaltung der einzelnen Bedingungen konkreter Schutzmaßnahmen. Ein Spielraum bleibt dem Gesetzgeber insbesondere bei der Ausgestaltung der materiellen Voraussetzungen einer Heilbehandlung und der Verfahrensregeln zur Sicherung der Selbstbestimmung und körperlichen Integrität der Betroffenen. Dieser Spielraum betrifft bei bestehender Schutzpflicht indessen nur die Frage wie, nicht aber ob überhaupt verbindliche Regeln für die ärztliche Behandlung in ihrer Gesundheitssorge Betreuter vorzusehen sind.

82

(c) Weil sich in den beschriebenen Fällen einer konkreten Schutzpflicht diese im Ergebnis gegenüber dem Selbstbestimmungsrecht und der körperlichen Integrität der Betroffenen durchsetzt, ist der Gesetzgeber im Interesse einer möglichst weitgehenden Rücksichtnahme auf die zurücktretenden Freiheitsrechte der Betroffenen gehalten, inhaltlich anspruchsvolle und hinreichend bestimmt formulierte materielle und begleitende verfahrensrechtliche Voraussetzungen für eine medizinische Zwangsbehandlung zu normieren (so bereits für die Rechtfertigung der Zwangsbehandlung als Eingriff BVerfGE 128, 282 ). Dabei hat der Gesetzgeber insbesondere dem Umstand Rechnung zu tragen, dass es nicht um die Sicherstellung medizinischen Schutzes nach Maßstäben objektiver Vernünftigkeit geht; vielmehr ist der freie Wille der Betreuten zu respektieren. Dies gilt auch, soweit der freie Wille anhand von Indizien - insbesondere unter Rückgriff auf frühere Äußerungen oder etwa aufgrund der Qualität des geäußerten natürlichen Willens - ermittelbar ist. Nur wo dies nicht möglich ist, kann als letztes Mittel ein krankheitsbedingt entgegenstehender natürlicher Wille überwunden werden.

83

(d) Die materiellen Voraussetzungen einer durch die Schutzpflicht gebotenen Regelung zur medizinischen Zwangsbehandlung haben zu gewährleisten, dass eine solche bei offensichtlicher Eindeutigkeit des Abwägungsergebnisses der genannten Parameter (drohende erhebliche Gesundheitsbeeinträchtigungen, nicht zu eingriffsintensive Behandlung, hohe Erfolgsaussichten) erfolgen darf (vgl. dazu den im Nachgang zu BVerfGE 128, 282 geschaffenen § 1906 Abs. 3 BGB und dort insbes. die Nrn. 3 und 5). Da angesichts der Vielgestaltigkeit möglicher Kombinationen von Erkrankungen und Behandlungsoptionen die Entscheidungsvorgaben auf Gesetzesebene nicht alle Fallgestaltungen einer medizinischen Zwangsbehandlung im Einzelnen abbilden können und dabei auch noch nach Anlass- und Begleiterkrankung zu differenzieren sein mag, ist die Evidenz des Abwägungsergebnisses vor allem auf der Anwendungsebene im Einzelfall zu suchen. Dies kann unter anderem eine abgestuft intensive Berücksichtigung des natürlichen Willens eines Betreuten verlangen, je nachdem wie nahe er auch nach der gebotenen Unterstützung einem freien (oder dem zu vermutenden freien) Willen der Betreuten kommt.

84

(e) Der Gesetzgeber hat zudem ausreichende verfahrensrechtliche Sicherungen für die Genehmigung einer medizinischen Zwangsbehandlung vorzusehen. Die im Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 23. März 2011 zur medizinischen Zwangsbehandlung im Maßregelvollzug (BVerfGE 128, 282 ) aus dem Verhältnismäßigkeitsprinzip abgeleiteten Verfahrensanforderungen gelten in gleicher Weise für die Behandlung von in ihre Krankheit nicht einsichtsfähigen Betreuten. Dass die ärztliche Zwangsbehandlung im Maßregelvollzug ihre Rechtfertigung wesentlich auch in der Wiedererlangung der persönlichen Freiheit findet (vgl. BVerfGE 128, 282 ), bei Betreuten hingegen die Schutzpflicht unmittelbar auf die Erhaltung oder Wiedererlangung ihrer Gesundheit zielt, ändert nichts an der Notwendigkeit gleichartiger verfahrensrechtlicher Sicherungen. Danach muss durch geeignete verfahrensrechtliche Regeln gewährleistet sein, dass eine medizinische Zwangsbehandlung nur vorgenommen werden darf, wenn fest steht, dass tatsächlich kein freier Wille der Betreuten vorhanden ist, dem gleichwohl vorhandenen natürlichen Willen nach Möglichkeit Rechnung getragen wird und dass die materiellen Voraussetzungen einer Zwangsbehandlung nachweisbar vorliegen.

85

Bei der Ausgestaltung dieser Verfahrenssicherungen hat der Gesetzgeber Gestaltungsspielraum, von dem er in der geltenden Fassung der § 1906 BGB, §§ 312 ff. FamFG im Anschluss an den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 23. März 2011 (a.a.O.) Gebrauch gemacht hat. Zu den notwendigen Verfahrenssicherungen gehören die Anordnung und Überwachung der Maßnahme durch Ärzte, ihre vorherige Ankündigung, die Einbeziehung von - auch von den behandelnden Ärzten - unabhängigen Sachverständigen, der Genehmigungsvorbehalt durch einen Richter und auch die Dokumentationspflicht (vgl. BVerfGE 128, 282 ).

86

Der vom Grundgesetz geforderte Respekt vor der autonomen Selbstbestimmung der Einzelnen verlangt vom Gesetzgeber auch bei Menschen, die im Hinblick auf ihre Gesundheitssorge unter Betreuung stehen, durch entsprechende Regelungen sicherzustellen, dass vor konkreten Untersuchungen des Gesundheitszustands, vor Heilbehandlungen oder ärztlichen Eingriffen stets aktuell festgestellt wird, ob nicht eine hinreichende Einsichts- und Handlungsfähigkeit der Betroffenen im Hinblick auf diese Maßnahmen besteht, so dass sie hierfür einen freien und damit maßgeblichen Willen bilden können. Dabei können, wie es das Gesetz auch jetzt schon vorsieht (vgl. § 1901a Abs. 1 und 2 BGB), eine Patientenverfügung oder früher geäußerte Behandlungswünsche für die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation maßgeblich sein. Im Hinblick auf den entgegenstehenden natürlichen Willen der nicht einsichtsfähigen Betreuten ist außerdem zunächst zu versuchen, die Betreuten von der Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit der vorgesehenen Zwangsbehandlung zu überzeugen (vgl. bereits § 1906 Abs. 3 Nr. 2 BGB), bevor als letztes Mittel zu einer Zwangsbehandlung geschritten werden darf.

87

b) Völkerrechtliche Bindungen stehen der Pflicht des Staates, dem eines freien Willens nicht fähigen Betreuten in hilfloser Lage Schutz zu gewähren und ihn unter den genannten Voraussetzungen (oben a bb, Rn. 71 ff.) notfalls einer medizinischen Zwangsbehandlung zu unterziehen, nicht entgegen.

88

aa) Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 23. März 2011 entschieden, dass die UN-Behindertenrechtskonvention (BRK), die in Deutschland Gesetzeskraft hat (Gesetz zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 13. Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen sowie zu dem Fakultativprotokoll vom 13. Dezember 2006 zum Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vom 21. Dezember 2008, BGBl II S. 1419) und als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite der Grundrechte herangezogen werden kann (vgl. BVerfGE 111, 307 ), kein anderes Ergebnis nahe legt (vgl. BVerfGE 128, 282 ). Es hat den Konventionsbestimmungen, die auf Sicherung und Stärkung der Autonomie behinderter Menschen gerichtet sind - insbesondere dem Art. 12 BRK - kein grundsätzliches Verbot für Maßnahmen entnommen, die gegen den natürlichen Willen Behinderter vorgenommen werden und an eine krankheitsbedingt eingeschränkte Selbstbestimmungsfähigkeit anknüpfen. Denn der Regelungszusammenhang des Art. 12 Abs. 4 BRK, der sich gerade auf Maßnahmen bezieht, die Betroffene in der Ausübung ihrer Rechts- und Handlungsfähigkeit beschränken, belegt, dass die Konvention solche Maßnahmen nicht allgemein untersagt, sondern ihre Zulässigkeit unter anderem dadurch beschränkt, dass Art. 12 Abs. 4 BRK die Vertragsstaaten zu geeigneten Sicherungen gegen Interessenkonflikte, Missbrauch und Missachtung sowie zur Gewährleistung der Verhältnismäßigkeit verpflichtet (vgl. BVerfGE 128, 282 ).

89

Die zwischenzeitlichen Berichte (Art. 39 BRK), Leitlinien (Art. 35 Abs. 3 BRK) und Empfehlungen (Art. 36 Abs. 1 BRK) des Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen nach Art. 34 BRK zur Auslegung der Konventionsbestimmungen und insbesondere zur Rechtslage in Deutschland führen zu keiner abweichenden Beurteilung.

90

Den Äußerungen des für die Abgabe solcher Stellungnahmen zuständigen Ausschusses zur Auslegung eines Menschenrechtsabkommens kommt erhebliches Gewicht zu, sie sind aber für internationale und nationale Gerichte nicht völkerrechtlich verbindlich (vgl. IGH, Ahmadou Sadio Diallo [Republic of Guinea v. Democratic Republic of the Congo]), I.C.J. Reports 2010, S. 639, , para. 66; Supreme Court of Ireland, Kavanagh v. Governor of Mountjoy Prison and the Attorney General, Urteil vom 1. März 2002, S. 14 f.; Tribunal Constitucional [Spanien], STC 070/2002, recurso de amparo núm. 3787-2001, Urteil vom 3. April 2002, II. para. 7 a); Conseil d’État [Frankreich], Juge des référés vom 11. Oktober 2001, No. 238849, ECLI:FR:CEORD:2001:238849.20011011, S. 4; für die Auffassungen unter dem Zusatzprotokoll zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte weitergehend Human Rights Committee, General Comment No 33, UN Doc. CCPR/C/GC/33 vom 5. November 2008, Nr. 13). Eine Kompetenz zur Fortentwicklung internationaler Abkommen über Vereinbarungen und die Praxis der Vertragsstaaten hinaus kommt diesen Ausschüssen nicht zu (vgl. Art. 31 Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969, UNTS 1155, 331 , BGBl II 1985 S. 926, der Völkergewohnheitsrecht wiedergibt; vgl. IGH, LaGrand [Germany v. USA], I.C.J. Reports 2001, S. 466 para. 99; dazu BVerfGE 90, 286 ; Mark Villiger, Commentary on the 1969 Vienna Convention on the Law of Treaties, 2009, Art. 31 Rn. 37 m.w.N.). Es kann dahingestellt bleiben, ob die zu anderen völkerrechtlichen Vereinbarungen ergangenen Aussagen für alle Stellungnahmen des Ausschusses für die Konvention über die Rechte der Menschen mit Behinderung in gleicher Weise gelten. Jedenfalls ist dem Ausschuss in den Art. 34 ff. BRK kein Mandat zur verbindlichen Interpretation des Vertragstextes übertragen worden. Bei der Vertragsauslegung sollte sich ein nationales Gericht aber mit den Auffassungen eines zuständigen internationalen Vertragsorgans in gutem Glauben argumentativ auseinandersetzen; es muss sie aber nicht übernehmen (vgl. - allerdings für Entscheidungen internationaler Ge- richte - BVerfGE 111, 307 ; 128, 326 ; stRspr; Christian Tomuschat, Human Rights Committee, The Max Planck Encyclopedia of Public International Law, Bd. IV, 2012, S. 1058 Rn. 14).

91

Auch in der Sache stehen die Stellungnahmen des Ausschusses der nach deutschem Verfassungsrecht notfalls gebotenen ärztlichen Zwangsbehandlung nicht entgegen. Soweit der Ausschuss in seinen Abschließenden Bemerkungen über den ersten Staatenbericht Deutschlands vom 13. Mai 2015 (UN Doc. CRPD/C/DEU/CO/1) allgemein die Regelungen des Betreuungsrechts im Bürgerlichen Gesetzbuch beanstandet und unter Verweisung auf seinen Allgemeinen Kommentar Nr. 1 (2014) (UN Doc. CRPD/C/GC/1 vom 19. Mai 2014) zu Art. 12 BRK fordert, alle ersetzenden Entscheidungen abzuschaffen und ein System der unterstützenden Entscheidung an ihre Stelle treten zu lassen (ebenda Nr. 25 f.), bleibt seine Kritik im Hinblick auf die hier in Rede stehenden Fälle medizinischer Zwangsbehandlung unspezifisch. Insbesondere verhält sie sich nicht zu der im vorgelegten Fall maßgeblichen Frage eines gänzlich fehlenden freien Willens des Behinderten in einer medizinischen Notsituation. Entsprechendes gilt für die Leitlinien des Ausschusses zur Auslegung des Art. 14 BRK vom September 2015 (abrufbar unter: http://www.ohchr.org/Documents/HRBodies ... Guidelines Article14.doc, zuletzt aufgerufen am 4. Juli 2016). In ihnen betont der Ausschuss, dass bei Menschen mit Behinderungen keine Maßnahme der Gesundheitsversorgung vorgenommen werden darf, wenn sie nicht auf dem freien und informierten Einverständnis der betroffenen Person beruht (ebenda Nr. 11). Der Ausschuss fordert die Staaten deshalb auf, jede Form der Zwangsbehandlung aufzugeben (ebenda Nr. 12). Auch hier gibt der Ausschuss keine Antwort auf die Frage, was nach seinem Verständnis des Vertragstextes mit Menschen geschehen soll, die keinen freien Willen bilden können und sich in hilfloser Lage befinden. Es spricht auch unter Berücksichtigung der Stellungnahmen des Ausschusses nichts dafür, dass diese Menschen nach Text und Geist der Behindertenrechtskonvention ihrem Schicksal überlassen werden sollten und die Konvention auch unter den hier von Verfassungs wegen geforderten strengen Voraussetzungen einer Zwangsbehandlung entgegen steht, zumal auch nach den vorstehend dargelegten Forderungen des Verfassungsrechts und den geltenden Regeln des Betreuungsrechts das nationale Recht in Übereinstimmung mit der Behindertenrechtskonvention dem Grundsatz des Vorrangs des - gegebenenfalls unterstützten - Willens des Behinderten folgt.

92

bb) Die sich aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ergebende Pflicht des Staates, den eines freien Willens nicht fähigen Betreuten in hilfloser Lage Schutz zu gewähren und sie unter den genannten Voraussetzungen (oben a bb, Rn. 71 ff.) notfalls einer medizinischen Zwangsbehandlung zu unterziehen, steht auch im Einklang mit der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte.

93

Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ergibt sich aus Art. 8 EMRK ein Recht, sein Leben so zu leben, wie man es selbst bestimmt hat. Das schließt auch die Möglichkeit ein, Dinge zu tun, die körperlich schädlich oder gefährlich sind. Die ärztliche Behandlung gegen den Willen von erwachsenen Patienten, die im Besitz ihrer geistigen Kräfte sind, würde selbst dann in die körperliche Integrität eingreifen und damit in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte, wenn die Ablehnung der Behandlung den Tod zur Folge hätte (vgl. EGMR (GK), Lambert v. France, Urteil vom 5. Juni 2015, Nr. 46043/14, § 120 ff.; EGMR, Pretty v. United Kingdom, Urteil vom 29. April 2002, Nr. 2346/02, § 62 f.). Dabei besitzen die Staaten aber einen Einschätzungsspielraum („margin of appreciation“, EGMR (GK), Lambert v. France, Urteil vom 5. Juni 2015, Nr. 46043/14, § 148).

94

Voraussetzung dafür, dass Staat und Gesellschaft auch eine nach objektiven Maßstäben unvernünftige und eventuell zum Tod führende Entscheidung akzeptieren müssen, ist danach jedoch stets, dass diese auf dem Willen einer erwachsenen Person beruht, die im Besitz ihrer geistigen Kräfte ist. Trifft eine Person aber die Entscheidung nicht freien Willens und bei vollem Verständnis der Umstände, nimmt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine aus Art. 2 EMRK abgeleitete Verpflichtung des Staates an, diese Person davon abzuhalten, ihr Leben zu riskieren (vgl. EGMR (GK), Lambert v. France, Urteil vom 5. Juni 2015, Nr. 46043/14, § 140; EGMR, Haas v. Switzerland, Urteil vom 20. Januar 2011, Nr. 31322/07, § 54; EGMR, Arskaya v. Ukraine, Urteil vom 5. Dezember 2013, Nr. 45076/05, § 69 f.). Lehnt ein Patient eine medizinisch indizierte Behandlung ab, mit der Folge, dass sein Leben dadurch gefährdet wird, hält der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte den Staat für verpflichtet, hinreichende Vorkehrungen zu treffen, damit die behandelnden Ärzte beim Vorliegen von Indizien, die auf einen fehlenden freien Willen hindeuten, die Entscheidungsfähigkeit der betroffenen Person weiter aufklären (vgl. EGMR, Arskaya v. Ukraine, Urteil vom 5. Dezember 2013, Nr. 45076/05, §§ 62, 69, 70, 88).

95

Ein Widerspruch der Europäischen Menschenrechtskonvention zu dem aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG unter den dargelegten Bedingungen folgenden Gebot einer medizinischen Zwangsbehandlung hilfsbedürftiger Betreuter (oben a bb, Rn. 71 ff.) kann Art. 2, 8 EMRK in der Auslegung durch den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof danach nicht entnommen werden.

96

c) Hiernach verstößt es gegen die Schutzpflicht des Staates aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, dass nach geltendem Betreuungsrecht für nicht einsichtsfähige Betreute, denen aufgrund einer Erkrankung eine erhebliche gesundheitliche Beeinträchtigung droht und die mit guten Erfolgsaussichten durch eine Maßnahme behandelt werden können, die mit verhältnismäßig geringen Belastungen einhergeht, keine Möglichkeit besteht, sie notfalls auch gegen ihren natürlichen Willen zu behandeln, wenn sie sich in stationärer Behandlung befinden, aber aus eigener Kraft der notwendigen Behandlung nicht entziehen und deshalb nicht freiheitsentziehend untergebracht werden können.

97

Das Betreuungsrecht des Bürgerlichen Gesetzbuchs sieht eine ärztliche Zwangsbehandlung nur für solche Betreute vor, die nach § 1906 Abs. 1 BGB geschlossen untergebracht sind (§ 1906 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 BGB). Der Bundesgerichtshof hat in dem Vorlagebeschluss unter Rückgriff auf seine Rechtsprechung (vgl. BGH, Beschluss vom 23. Januar 2008 - XII ZB 185/07 -, FamRZ 2008, S. 866 ) und auf die damit und mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts korrespondierende Gesetzgebungsgeschichte (BTDrucks 17/11513, S. 1 ff. ; BTDrucks 17/12086, S. 1) im Einzelnen dargelegt, dass der Gesetzgeber in § 1906 BGB eine Rechtsgrundlage für medizinische Zwangsbehandlungen nur für geschlossen untergebrachte Betreute schaffen wollte und dies in § 1906 BGB eindeutig zum Ausdruck gebracht hat (vgl. BGH, Beschluss vom 1. Juli 2015 - XII ZB 89/15 -, Vorlagebeschluss, juris, Rn. 19 ff.). Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass das Fachrecht aus verfassungsrechtlicher Sicht insoweit anders zu deuten ist (zur Befugnis des Bundesverfassungsgerichts zur Auslegung des einfachen Rechts im Normenkontrollverfahren vgl. BVerfGE 135, 1 ). Auch an den Voraussetzungen für eine freiheitsentziehende Unterbringung nach § 1906 Abs. 1 BGB für die medizinische Zwangsbehandlung hat der Gesetzgeber in Kenntnis der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zum strengen Unterbringungsbegriff festgehalten (vgl. BGH, Beschluss vom 1. Juli 2015 - XII ZB 89/15 -, Vorlagebeschluss, juris, Rn. 19 ff.; BTDrucks 17/11513, S. 1 ff. ). Damit ist einer - auch verfassungskonformen - Auslegung des § 1906 BGB der Weg versperrt, die eine medizinische Zwangsbehandlung auch ohne freiheitsentziehende Unterbringung zuließe oder eine solche Unterbringung erlaubte, ohne dass sie ihrerseits durch den Willen und die Fähigkeit des Betreuten, sich räumlich zu entfernen, zwingend geboten wäre.

98

In stationärer Behandlung befindliche Betreute, die - wie die Betroffene des Ausgangsverfahrens - faktisch nicht in der Lage sind, sich räumlich zu entfernen, können danach nicht nach § 1906 Abs. 1 Nr. 2 BGB freiheitsentziehend untergebracht und deshalb auch nicht nach § 1906 Abs. 3 BGB zwangsbehandelt werden. Damit wird solchen Betreuten, selbst wenn in ihrer Person sämtliche materiellen Voraussetzungen einer verfassungsgebotenen Schutzpflicht zweifelsfrei vorlägen und die verfahrensrechtlichen Anforderungen eingehalten werden könnten, nicht der nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG gebotene Schutz zuteil. Insoweit genügt die Rechtslage für Betreute nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen.

99

Zu dieser Feststellung bedarf es hier nicht der Prüfung, ob § 1906 BGB insgesamt den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügt. Auf eine solche Vollprüfung des § 1906 BGB ist die Vorlage nicht angelegt; dementsprechend ist die Tatsachen- und Rechtslage insoweit auch nicht durch das Vorlagegericht aufgearbeitet, ohne dass dies aus verfassungsrechtlicher Sicht zu beanstanden wäre.

100

d) Keiner Entscheidung bedarf schließlich, ob die Rechtslage auch insofern der Schutzpflicht des Staates aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht genügt, als § 1906 BGB mit der Beschränkung der ärztlichen Zwangsbehandlung auf freiheitsentziehend Untergebrachte nicht nur die stationär Behandelten, sondern - aufgrund bewusster gesetzgeberischer Entscheidung (vgl. BGH, Beschluss vom 1. Juli 2015 - XII ZB 89/15 -, Vorlagebeschluss, juris, Rn. 53 ff.; BTDrucks 15/4874, S. 8 ; Protokoll der 105. Sitzung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestags, 17. Wahlperiode, 10. Dezember 2012; vgl. auch BTPlenarprot 15/158, S. 14826 f.) - auch alle anderen Betreuten in ambulanter Behandlung von dieser Möglichkeit ausschließt. Der Ausschluss dieser Gruppe ist nicht Gegenstand der Vorlage. Die Vorlage kann auch nicht ohne weiteres darauf erstreckt werden (zu dieser Möglichkeit vgl. BVerfGE 135, 1 ), weil die Nichtberücksichtigung der Betreuten in ambulanter Behandlung bei der Möglichkeit der ärztlichen Zwangsbehandlung auf Sachgründen beruht, deren Tragfähigkeit nicht von vornherein von der Hand zu weisen ist (vgl. insbesondere Protokoll der 105. Sitzung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestags, 17. Wahlperiode, 10. De- zember 2012; vgl. auch BTPlenarprot 15/158, S. 14826 ff.). Außerdem werden ambulant Betreute in schwerwiegenden Fällen letztlich nicht schutzlos gelassen, weil sie nach einer Unterbringung bei Erfüllung der Voraussetzungen des § 1906 Abs. 1 Nr. 2 BGB dann doch einer Zwangsbehandlung unterzogen werden können. Damit führt diese Konstellation auf eine Reihe zusätzlicher verfassungsrechtlicher Fragen, die gegen eine schlichte Erstreckung der Normenkontrolle hierauf über die Vorlagefrage hinaus sprechen.

101

2. Es kann offen bleiben, ob, worauf der Bundesgerichtshof seine Vorlage stützt, auch ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz darin liegt, dass Betreuten, die sich in stationärer Behandlung befinden und sich aus eigener Kraft nicht mehr räumlich entfernen können, die Möglichkeit einer ärztlichen Zwangsbehandlung verschlossen bleibt. Da sich die Gesetzeslage schon deshalb als verfassungswidrig erweist, weil § 1906 Abs. 3 BGB eine ärztliche Zwangsbehandlung bei solchen Betreuten, die nicht freiheitsentziehend untergebracht werden können, völlig ausschließt und damit jedenfalls eine Gruppe keiner freien Willensbildung fähiger, hilfsbedürftiger Betreuter entgegen Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG schutzlos lässt, selbst wenn bei ihnen die Abwägung zwischen erforderlicher ärztlicher Behandlung und dabei drohenden Nachteilen eindeutig ausfällt und deshalb eine konkrete staatliche Schutzpflicht besteht, können die sich im Zusammenhang mit Art. 3 GG stellenden Fragen hier offen bleiben. Dies gilt auch für die Frage, ob das Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG verletzt ist, da dieses hier jedenfalls nicht mehr fordert als die Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG.
C.

102

Nach § 82 Abs. 1 in Verbindung mit § 78 Satz 1 BVerfGG erklärt das Bundesverfassungsgericht das Gesetz für nichtig, von dem es zur Überzeugung gelangt ist, dass es mit dem Grundgesetz unvereinbar ist. Es befindet ein Gesetz allerdings regelmäßig lediglich für verfassungswidrig bei der Verletzung des Gleichheitssatzes (vgl. dazu BVerfGE 133, 59 ; 138, 136 ; stRspr) oder in Fällen, in denen die Rechtslage ohne die Norm noch weniger mit der Verfassung vereinbar wäre als im Falle ihrer befristeten Weitergeltung (vgl. BVerfGE 83, 130 ; 92, 53 ; 111, 191 ; 117, 163 ; 127, 293 ; 133, 241 ). Da hier kein Verstoß des vorgelegten § 1906 Abs. 3 BGB in seinem derzeitigen Regelungsgehalt gegen das Grundgesetz festgestellt wird, sondern die Nichterfüllung einer konkreten Schutzpflicht des Gesetzgebers aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG für eine bestimmte Personengruppe, genügt es festzustellen, dass dieses Defizit verfassungswidrig ist. Der Feststellung eines Verfassungsverstoßes durch § 1906 Abs. 3 BGB bedarf es daneben nicht. Es liegt in der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers, ob er die Schutzlücke durch Einbeziehung der betroffenen Personengruppe in den § 1906 Abs. 3 BGB unter Verzicht auf eine freiheitsentziehende Unterbringung oder außerhalb dieser Norm gesondert behebt.

103

Der Gesetzgeber hat die festgestellte Schutzlücke für Betreute, die bei einem drohenden erheblichen gesundheitlichen Schaden die Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme nicht erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln können, und deshalb notfalls auch auf Schutz durch ärztliche Versorgung gegen ihren natürlichen Willen angewiesen sind, unverzüglich zu schließen. Mit Rücksicht darauf, dass - wie gerade der Vorlagefall zeigt - die geltende Rechtslage auch bei drohenden gravierenden oder gar lebensbedrohenden Gesundheitsschäden dieser Personengruppe die Möglichkeit einer Behandlung gänzlich versagt, ist die vorübergehende entsprechende Anwendung des § 1906 Abs. 3 BGB auf diese Gruppe der immobilen Betreuten bis zum Inkrafttreten einer Neuregelung anzuordnen.

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"unheilbar" krank - muss GKV dann Biostase bezahlen ?

Beitragvon Gedankenpolizei » Fr 6. Jan 2017, 00:59

BVerfG Beschluss vom 06. Dezember 2005
- 1 BvR 347/98 -


L e i t s a t z

zum Beschluss des Ersten Senats

vom 6. Dezember 2005

- 1 BvR 347/98 -

Es ist mit den Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip und aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht vereinbar, einen gesetzlich Krankenversicherten, für dessen lebensbedrohliche oder regelmäßig tödliche Erkrankung eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung steht, von der Leistung einer von ihm gewählten, ärztlich angewandten Behandlungsmethode auszuschließen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht.



BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

- 1 BvR 347/98 -

Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde



des Herrn F...



- Bevollmächtigte:

Rechtsanwälte Berner, Fischer & Partner,
Andreaswall 2, 27283 Verden -


gegen das Urteil des Bundessozialgerichts vom 16. September 1997 - 1 RK 28/95 -



hat das Bundesverfassungsgericht - Erster Senat – unter Mitwirkung

des Präsidenten Papier,
der Richterin Haas,
der Richter Hömig,
Steiner,
der Richterin Hohmann-Dennhardt,
und der Richter Hoffmann-Riem,
Bryde,
Gaier



am 6. Dezember 2005 beschlossen:



Das Urteil des Bundessozialgerichts vom 16. September 1997 - 1 RK 28/95 - verletzt den Beschwerdeführer in seinen Grundrechten aus Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip und aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes. Es wird aufgehoben. Die Sache wird an das Bundessozialgericht zurückverwiesen.
Die Bundesrepublik Deutschland hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.


Gründe:
A.

1

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung für so genannte neue Behandlungsmethoden in Fällen einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung im Rahmen der ambulanten ärztlichen Versorgung.
I.

2

1. Die gesetzliche Krankenversicherung in Deutschland, der gegenwärtig etwa 62 Millionen Menschen als Pflichtversicherte und knapp neun Millionen Menschen als freiwillige Versicherte angehören, beruht auf dem Grundkonzept, dass Menschen bei Eintritt von Krankheit unabhängig von der Höhe ihrer am Prinzip der individuellen Leistungsfähigkeit ausgerichteten Beiträge eine bedarfsgerechte medizinische Versorgung erhalten. Die Versicherten tragen gemeinschaftlich das sich individuell entfaltende Risiko der Krankheit. Ihnen wird nach dem die gesetzliche Krankenversicherung prägenden Sachleistungsprinzip ein Anspruch auf Gewährung freier ärztlicher Behandlung gewährt.

3

Die für das Leistungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung maßgebliche Vorschrift des § 2 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (SGB V) in der Fassung des Gesetzes vom 19. Juni 2001 (BGBl I S. 1046) hat, soweit hier von Interesse, folgenden Wortlaut:

4

Leistungen

5

(1) Die Krankenkassen stellen den Versicherten die im Dritten Kapitel genannten Leistungen unter Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebots (§ 12) zur Verfügung, soweit diese Leistungen nicht der Eigenverantwortung der Versicherten zugerechnet werden. Behandlungsmethoden, Arznei- und Heilmittel der besonderen Therapierichtungen sind nicht ausgeschlossen. Qualität und Wirksamkeit der Leistungen haben dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zu entsprechen und den medizinischen Fortschritt zu berücksichtigen.

6

(2) Die Versicherten erhalten die Leistungen als Sach- und Dienstleistungen, soweit dieses oder das Neunte Buch nichts Abweichendes vorsehen. Über die Erbringung der Sach- und Dienstleistungen schließen die Krankenkassen nach den Vorschriften des Vierten Kapitels Verträge mit den Leistungserbringern.

7

(3) und (4) ...

8

Zu § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V führt die Gesetzesbegründung (BTDrucks 11/2237, S. 157) aus:

9

Der "allgemein anerkannte Stand der medizinischen Kenntnisse" schließt Leistungen aus, die mit wissenschaftlich nicht anerkannten Methoden erbracht werden. Neue Verfahren, die nicht ausreichend erprobt sind, oder Außenseitermethoden (paramedizinische Verfahren), die zwar bekannt sind, aber sich nicht bewährt haben, lösen keine Leistungspflicht der Krankenkasse aus. Es ist nicht Aufgabe der Krankenkassen, die medizinische Forschung zu finanzieren. Dies gilt auch dann, wenn neue Methoden im Einzelfall zu einer Heilung der Krankheit oder Linderung der Krankheitsbeschwerden führen.

10

Nach § 11 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Leistungen zur Behandlung einer Krankheit. § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V bestimmt im Zusammenhang mit den Vorschriften, die diesen Leistungsanspruch konkretisieren, dass Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung haben, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Nach § 27 Abs. 1 Satz 2 SGB V gehört zur Krankenbehandlung unter anderem die ärztliche Behandlung (Nr. 1). Die ärztliche Behandlung umfasst die Tätigkeit des Arztes, die zur Verhütung, Früherkennung und Behandlung von Krankheiten nach den Regeln der ärztlichen Kunst ausreichend und zweckmäßig ist (§ 28 Abs. 1 Satz 1 SGB V).

11

Nach dem in § 12 Abs. 1 SGB V geregelten Wirtschaftlichkeitsgebot müssen die Leistungen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen. Dem entspricht, soweit es um die Beziehungen zwischen den Krankenkassen und den Ärzten als Leistungserbringern geht, § 70 SGB V. Nach § 13 Abs. 1 SGB V darf die Krankenkasse anstelle der Sach- oder Dienstleistung Kosten nur erstatten, soweit es das SGB V oder das SGB IX vorsehen. § 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V trifft eine für den vorliegenden Fall wichtige Regelung zur Kostenerstattung. Konnte die Krankenkasse eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen oder hat sie eine Leistung zu Unrecht abgelehnt und sind dadurch Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden, sind diese von der Krankenkasse in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war. Mit der Durchbrechung des Sachleistungsgrundsatzes trägt § 13 Abs. 3 SGB V dem Umstand Rechnung, dass die gesetzlichen Krankenkassen eine umfassende Versorgung ihrer Mitglieder sicherstellen müssen (vgl. BSGE 81, 54 <56>).

12

2. a) Nach § 92 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 SGB V beschließt der Gemeinsame Bundesausschuss, der seit dem Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung vom 14. November 2003 (BGBl I S. 2190) an die Stelle der bisherigen, im Zeitpunkt der hier angegriffenen Entscheidung des Bundessozialgerichts zuständigen Bundesausschüsse getreten ist, die zur Sicherung der ärztlichen Versorgung erforderlichen Richtlinien über die Gewähr für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung der Versicherten. Er wird durch die Kassenärztlichen Bundesvereinigungen, die Deutsche Krankenhausgesellschaft, die Bundesverbände der Krankenkassen, die Deutsche Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See und die Verbände der Ersatzkassen gebildet (§ 91 Abs. 1 Satz 1 SGB V). Nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 SGB V soll er Richtlinien beschließen über die Einführung neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden. Dafür sieht § 135 Abs. 1 SGB V ein besonderes Verfahren vor. Die Vorschrift lautet wie folgt:

13

Neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden dürfen in der vertragsärztlichen und vertragszahnärztlichen Versorgung zu Lasten der Krankenkassen nur erbracht werden, wenn der Gemeinsame Bundesausschuss auf Antrag einer Kassenärztlichen Bundesvereinigung, einer Kassenärztlichen Vereinigung oder eines Spitzenverbandes der Krankenkassen in Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 Empfehlungen abgegeben hat über

14

1. die Anerkennung des diagnostischen und therapeutischen Nutzens der neuen Methode sowie deren medizinische Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit - auch im Vergleich zu bereits zu Lasten der Krankenkassen erbrachte Methoden - nach dem jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse in der jeweiligen Therapierichtung,

15

2. die notwendige Qualifikation der Ärzte, die apparativen Anforderungen sowie Anforderungen an Maßnahmen der Qualitätssicherung, um eine sachgerechte Anwendung der neuen Methode zu sichern, und

16

3. die erforderlichen Aufzeichnungen über die ärztliche Behandlung.

17

Der Gemeinsame Bundesausschuss überprüft die zu Lasten der Krankenkassen erbrachten vertragsärztlichen und vertragszahnärztlichen Leistungen daraufhin, ob sie den Kriterien nach Satz 1 Nr. 1 entsprechen. Falls die Überprüfung ergibt, dass diese Kriterien nicht erfüllt werden, dürfen die Leistungen nicht mehr als vertragsärztliche oder vertragszahnärztliche Leistungen zu Lasten der Krankenkassen erbracht werden.

18

b) Gegenwärtig gilt die "Richtlinie zur Bewertung medizinischer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden" (BUB-Richtlinie) in der Fassung vom 1. Dezember 2003. Sie ist am 23. März 2004 veröffentlicht worden (Bundesanzeiger Nr. 57) und am 24. März 2004 in Kraft getreten. In verschiedenen Anlagen werden einerseits die anerkannten Untersuchungs- und Behandlungsmethoden (Anlage A) und andererseits die Methoden aufgelistet, die nicht als vertragsärztliche Leistungen zu Lasten der Krankenkassen erbracht werden dürfen (Anlage B). Die Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses definiert Untersuchungs- und Behandlungsmethoden als neu, wenn sie noch nicht als abrechnungsfähige ärztliche Leistungen im "Einheitlichen Bewertungsmaßstab für die ärztlichen Leistungen" (EBM) enthalten sind. Er ist Bestandteil der Bundesmantelverträge nach § 87 Abs. 1 Satz 1 SGB V und enthält ein abgeschlossenes Leistungsverzeichnis. Nur die dort genannten Leistungspositionen können von den Ärzten mit der Kassenärztlichen Vereinigung abgerechnet werden.

19

c) Für das Recht des SGB V vertritt das Bundessozialgericht in inzwischen ständiger Rechtsprechung (vgl. BSGE 78, 70 <75 ff.>; 81, 54 <59 ff.>) die Auffassung, das Gesetz inkorporiere die Richtlinie unmittelbar in den Bundesmantelvertrag und die Gesamtverträge. Die Vorschriften des § 92 Abs. 1 Satz 1 SGB V über das Leistungserbringungsrecht und die leistungsrechtliche Vorschrift des § 12 Abs. 1 SGB V stünden in einem unmittelbaren sachlogischen Zusammenhang. Die Richtlinie binde den Vertragsarzt, präzisiere aber auch den Umfang der Leistungspflicht der Krankenkassen gegenüber den Versicherten. Der Umfang der zu gewährenden Krankenversorgung im Verhältnis von Versicherten zu Krankenkassen sei kein anderer als im Verhältnis der ärztlichen Leistungserbringer zu den Kassenärztlichen Vereinigungen und wiederum zu den Krankenkassen. Gemäß § 135 Abs. 1 Satz 1 SGB V in seiner Auslegung durch die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts steht gesetzlich Krankenversicherten ein Leistungsanspruch auf neue medizinische Behandlungsmethoden gegen ihre Krankenkasse nur dann zu, wenn der zuständige Bundesausschuss (jetzt: Gemeinsamer Bundesausschuss) die jeweilige Methode "zugelassen" hat. Daran sind die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit gebunden. Grundsätzlich dürfen sie nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung im einzelnen Leistungsfall nur dann prüfen, ob eine neue Behandlungsmethode medizinisch notwendig, zweckmäßig und wirtschaftlich ist, wenn im Zusammenhang mit dem Verfahren vor dem Bundesausschuss Fehler aufgetreten sind, die ein so genanntes Systemversagen begründen.
II.

20

1. Der im Juli 1987 geborene Beschwerdeführer war im streitgegenständlichen Zeitraum von 1992 bis 1994 in der Barmer Ersatzkasse als Familienangehöriger (§ 10 SGB V) versichert. Er leidet an der Duchenne'schen Muskeldystrophie (englische Abkürzung: DMD). Es handelt es dabei um eine so genannte progressive Muskeldystrophie. Darunter werden sehr variable Muskelerkrankungen zusammengefasst, die durch einen pathologischen Umbau des Gewebes mit erheblichen Funktionsstörungen gekennzeichnet sind. Die DMD ist die häufigste Form der progressiven Muskeldystrophien. Sie wird x-chromosomal-rezessiv vererbt. DMD tritt ausschließlich beim männlichen Geschlecht auf, und zwar mit einer Häufigkeit von 1 zu 3.500. Die Krankheit manifestiert sich in den ersten Lebensjahren; ihr prognostizierter Verlauf ist progredient. Mit dem Verlust der Gehfähigkeit ist normalerweise zwischen dem zehnten und zwölften Lebensjahr zu rechnen; es tritt zunehmende Ateminsuffizienz auf. Die Krankheit äußert sich auch in Wirbelsäulendeformierungen, Funktions- und Bewegungseinschränkungen von Gelenken sowie in Herzmuskelerkrankungen. Die Lebenserwartung ist stark eingeschränkt. Die Krankheit geht nach den heutigen Erkenntnissen auf das Dystrophin-Gen zurück. Üblicherweise wird nur eine symptomorientierte Behandlung (Cortisonpräparate, Operationen, Krankengymnastik) durchgeführt. Bislang gibt es keine wissenschaftlich anerkannte Therapie, die eine Heilung oder eine nachhaltige Verzögerung des Krankheitsverlaufs bewirken kann (vgl.

http://www.duchenne-forschung.de/richtli1.htm
).

21

Seit September 1992 befindet sich der Beschwerdeführer in Behandlung bei Dr. B., Facharzt für Allgemeinmedizin, der über keine Zulassung zur vertragsärztlichen Versorgung verfügt. Bei dieser Behandlung werden neben Thymuspeptiden, Zytoplasma und homöopathischen Mitteln hochfrequente Schwingungen ("Bioresonanztherapie") angewandt. Bis Ende 1994 hatten die Eltern des Beschwerdeführers dafür einen Betrag von 10.000 DM aufgewandt. Die Ärzte der Orthopädischen Klinik der Technischen Hochschule A. hielten den bisherigen Krankheitsverlauf für günstig. Seit Herbst 2000 ist der Beschwerdeführer, der eine öffentliche Schule besucht, auf einen Rollstuhl angewiesen, zunächst für Wegstrecken außerhalb des Hauses, seit Frühjahr 2001 aber auch im Haus. Eine mitbetreuende Ärztin stufte seinen Gesundheitszustand trotz des Verlustes der Gehfähigkeit im Vergleich zu anderen Betroffenen als gut ein.

22

2. Der Antrag auf Übernahme der Kosten für die Therapie bei Dr. B. wurde von der zuständigen Krankenkasse abgelehnt. Im Widerspruchsverfahren hat die Krankenkasse Stellungnahmen des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Niedersachsen eingeholt. Die Kinderärztin Dr. F. vertrat in ihrer Stellungnahme nach Aktenlage die Auffassung, Muskeldystrophien seien nicht heilbar, aber behandelbar. Ein Therapieerfolg der von Dr. B. angewandten Methoden sei wissenschaftlich nicht nachgewiesen. Nach Auffassung der Fachärztin für Neurologie, Kinder- und Jugendpsychiatrie Dr. W.-V. überwog im damaligen Stadium der Erkrankung die altersbedingte motorische Weiterentwicklung gegenüber dem progredienten Krankheitsverlauf. Die Behandlung durch Dr. B. sei für die Besserung des Zustandes nicht kausal.

23

3. Die gegen das klageabweisende Urteil des Sozialgerichts eingelegte Berufung hatte Erfolg (NZS 1996, S. 74). Das Landessozialgericht holte einen Befundbericht bei der Orthopädischen Klinik der Technischen Hochschule A. ein, bei der sich der Beschwerdeführer in regelmäßigen Abständen vorstellt. Die Klinik empfahl, die Therapie wegen der günstigen Verlaufsform fortzusetzen. Ferner hörte das Gericht den behandelnden Arzt Dr. B. in der mündlichen Verhandlung als sachverständigen Zeugen. Das Landessozialgericht hob das Urteil des Sozialgerichts auf und verurteilte die beklagte Krankenkasse, dem Beschwerdeführer die ab März 1993 entstandenen Kosten für die Therapie des Dr. B. zu erstatten. Das SGB V sehe keine Begrenzung des Leistungsanspruchs des Versicherten auf die Schulmedizin vor. Aus § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V folge, dass ein gewisser Qualitätsstandard gewahrt sein müsse. Auf den allgemein anerkannten Stand der schulmedizinischen Erkenntnisse komme es aber nicht an. Ansonsten würde durch § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V die grundsätzliche Einbeziehung der besonderen Therapierichtungen in die Versorgung weitgehend in Frage gestellt. Maßgeblich könne nur sein, ob die besondere Therapierichtung nach ihrem eigenen Denkansatz plausibel sei. Dies sei hier der Fall.

24

Die Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen (im Folgenden: Bundesausschuss), die damals gegolten haben, seien nicht geeignet, den Leistungsanspruch des Versicherten zu definieren. Der Ausschuss habe nicht die Kompetenz, das Leistungsrecht zu regeln. Dafür fehle es bereits an der gesetzlichen Ermächtigung. Die im Leistungserbringungsrecht vorgesehenen Institutionen könnten das Leistungsrecht schon deswegen nicht konkretisieren, weil deren Vorschriften keine Verbindlichkeit gegenüber den Versicherten besäßen. Darüber hinaus habe der Ausschuss über drei der vier von Dr. B. zu einem Gesamtkonzept verbundenen Einzeltherapien keine Stellungnahme abgegeben. Die Auffassung, der Versicherte könne nur die Leistungen beanspruchen, über die der Ausschuss positiv entschieden habe, finde im Gesetz keine Stütze. Soweit der Ausschuss das Bioresonanzverfahren mit der Begründung abgelehnt habe, es handle sich dabei um "Mystik", stelle dies kein akzeptables Ergebnis einer ernst zu nehmenden wissenschaftlichen Diskussion dar. Eine die Therapie des Beschwerdeführers ausschließende Leistungsbegrenzung wäre im Übrigen auch verfassungswidrig.

25

4. Auf die von der beklagten Krankenkasse eingelegte Revision hat das Bundessozialgericht das Urteil des Landessozialgerichts aufgehoben und die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts zurückgewiesen (BSGE 81, 54).

26

Die Voraussetzungen des § 13 Abs. 3 SGB V für die Erstattung der Kosten der als einheitliches Behandlungskonzept einzustufenden, aber nicht den bekannten besonderen Therapierichtungen (Homöopathie, Anthroposophie, Phytotherapie) zuzurechnenden Therapie durch Dr. B. seien nicht erfüllt, weil die Krankenkasse die Leistung nicht zu Unrecht abgelehnt habe. Ein Kostenerstattungsanspruch könne nur insoweit bestehen, als die zur Anwendung gekommene Untersuchungs- oder Behandlungsmethode zu den von den gesetzlichen Krankenkassen geschuldeten Leistungen gehöre.

27

Das sei aber nicht der Fall. Dass die in Streit stehenden Behandlungen nicht zum Leistungsspektrum der gesetzlichen Krankenversicherung gehörten, ergebe sich aus § 135 Abs. 1 SGB V in Verbindung mit den Richtlinien des Bundesausschusses über die Einführung neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden, wie sie damals gegolten haben. Für neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden sehe § 135 Abs. 1 SGB V eine Art Verbot mit Erlaubnisvorbehalt vor. Neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden seien so lange von der Abrechnung zu Lasten der Krankenkasse ausgeschlossen, bis der Bundesausschuss sie als zweckmäßig anerkannt habe. Bei der streitgegenständlichen Therapie handle es sich um eine neue Behandlungsmethode. Die hier angewandte Therapie - das Bundessozialgericht bezeichnet sie als immunbiologische Therapie - sei bisher nicht Bestandteil des vertragsärztlichen Leistungsspektrums gewesen. Eine vorherige Anerkennung durch den Bundesausschuss liege bezüglich dieser Therapie nicht vor.

28

Dem stehe nicht entgegen, dass sich § 135 Abs. 1 SGB V vordergründig nicht mit dem Verhältnis zwischen Versicherten und Krankenkassen befasse. Der systematische Zusammenhang zwischen Leistungsrecht und Leistungserbringungsrecht führe dazu, dass das Leistungsrecht gegenüber dem Leistungserbringungsrecht nicht vorrangig sei. Die Regelungen im Leistungsrecht gewährten nur Rahmenrechte. Ein unmittelbar durchsetzbarer Anspruch werde nicht begründet. Das Rahmenrecht werde durch den Arzt konkretisiert, dessen Handlungsspielraum seinerseits durch die gesetzlichen Regelungen und damit auch durch die Richtlinien des Bundesausschusses abgesteckt werde. Die Vorschriften des Vertragsarztrechts einschließlich der Richtlinien des Bundesausschusses bestimmten den Leistungsanspruch für Krankenkassen, Leistungserbringer und Versicherte gleichermaßen verbindlich. Unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten sei es nicht zu beanstanden, dass § 135 Abs. 1 SGB V die für die vertragsärztliche Behandlung freigegebenen neuen Methoden nicht selbst nenne, sondern insoweit auf die Richtlinien verweise. Diese seien nunmehr in die Bundesmantelverträge und die Gesamtverträge über die vertragsärztliche Versorgung eingegliedert und nähmen an deren normativer Wirkung teil. Für die vertragsunterworfenen Krankenkassen und Vertragsärzte setzten sie unmittelbar verbindliches, außenwirksames Recht. Die im Schrifttum dagegen geäußerten verfassungsrechtlichen Einwände teile das Gericht nicht.

29

Angesichts der Verbindlichkeit der Richtlinien auch im Verhältnis zum Versicherten sei dem Versicherten, der sich eine vom Bundesausschuss nicht empfohlene Behandlung auf eigene Rechnung beschaffe, im Kostenerstattungsverfahren der Einwand abgeschnitten, die Methode sei gleichwohl zweckmäßig und in seinem konkreten Fall wirksam gewesen oder lasse einen Behandlungserfolg zumindest als möglich erscheinen. Etwas anderes gelte nur dann, wenn ein Systemmangel vorliege. Davon sei insbesondere auszugehen, wenn der Bundesausschuss innerhalb vertretbarer Zeit noch keine Stellungnahme zu einer Behandlungsmethode abgegeben habe, etwa weil er eine solche aus willkürlichen Erwägungen blockiere oder verzögere. Anhaltspunkte dafür bestünden im vorliegenden Fall nicht.

30

Allerdings habe der Beschwerdeführer bislang keine Gelegenheit gehabt, hierzu Stellung zu nehmen, weil es nach der bisherigen Rechtsauffassung des Bundessozialgerichts darauf nicht angekommen sei. Eine Zurückverweisung an das Berufungsgericht sei jedoch entbehrlich, weil bereits jetzt davon ausgegangen werden könne, dass die Methode von Dr. B. nicht dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entspreche. Für die immunbiologische Therapie lägen Wirksamkeitsnachweise nicht vor. Allerdings stoße ein Wirksamkeitsnachweis für eine Behandlung der DMD auf erhebliche Schwierigkeiten. Letztlich könne der Verlauf der Krankheit weder erklärt noch gezielt beeinflusst werden; nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse komme bestenfalls eine symptomatische Behandlung in Frage. Beschränkten sich die Einwirkungsmöglichkeiten anerkannter Behandlungsmethoden wie hier auf eine mehr oder weniger vorübergehende und nur begrenzt objektivierbare Unterdrückung der Krankheitssymptome, genüge es nicht, sich zur Ablehnung der Kostenerstattung für noch nicht empfohlene Methoden auf den fehlenden oder mangelhaften Wirksamkeitsnachweis zu berufen. Maßstab könne dann nur entweder die naturwissenschaftlich-medizinische Prüfung oder die Bewertung der Methode durch die Verwaltung und die Gerichte sein oder die Feststellung, ob der neuen Methode in der medizinischen Fachdiskussion bereits ein solches Gewicht zukomme, dass eine Überprüfung und Entscheidung durch den Bundesausschuss veranlasst gewesen wäre.

31

Dieser letztgenannte Prüfungsansatz richte sich nicht an medizinischen Kategorien aus, sondern an der tatsächlichen Verbreitung in der Praxis und in der fachlichen Diskussion. Daran sei hier anzuknüpfen. Es könne nicht Sinn eines Gerichtsverfahrens sein, die Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft voranzutreiben oder in wissenschaftlichen Auseinandersetzungen Position zu beziehen. Eine Behandlungsmethode sei dann erstattungsfähig, wenn sie in der medizinischen Fachdiskussion eine breite Resonanz gefunden habe und von einer erheblichen Anzahl von Ärzten angewandt werde. Die von Dr. B. eingesetzte Behandlungsmethode erfülle diese Voraussetzungen nicht.

32

5. Gegen dieses Urteil richtet sich die Verfassungsbeschwerde. Der Beschwerdeführer rügt die Verletzung von Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 sowie von Art. 2 Abs. 2 Satz 1, Art. 14 Abs. 1 und Art. 103 Abs. 1 GG.

33

Pflichtleistungen der gesetzlichen Krankenversicherung unterlägen dem Eigentumsschutz des Art. 14 GG. Sie seien ein Äquivalent eigener Arbeit und Leistung. Aus Art. 14 Abs. 1 GG folge ein verfassungsrechtlich garantierter Anspruch des Versicherten auf Gewährung von Krankenbehandlung im Fall von Krankheit. Die Regelungen des SGB V seien als Inhaltsbestimmung zu sehen. § 2 Abs. 1 Satz 3 und § 12 Abs. 1 SGB V begrenzten die Leistungsansprüche auf solche Behandlungen, die nach Qualität und Wirksamkeit dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprächen und darüber hinaus das Wirtschaftlichkeitsgebot beachteten. Weiter gehende Einschränkungen durch die Richtlinien des Bundesausschusses seien nicht möglich. Eine entsprechende normative Wirkung lasse sich weder einfach-rechtlich noch verfassungsrechtlich begründen.

34

Somit dürfe das Begehren des Beschwerdeführers nur am Maßstab des § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V gemessen werden. Dabei sei der jeweilige Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse in der jeweiligen Therapierichtung maßgeblich. Das Landessozialgericht habe in seinem Urteil, an dessen tatsächliche Feststellungen das Bundessozialgericht gebunden sei, festgestellt, dass die Behandlung des Beschwerdeführers über eine solche so genannte Binnenanerkennung verfüge. Aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG resultiere das Recht des Beschwerdeführers, selbstbestimmt über seine Behandlung zu entscheiden. Da die Richtlinien des Bundesausschusses nicht zur verfassungsmäßigen Ordnung gehörten, könne ein Leistungsanspruch nicht von einer Anerkennung durch sie abhängig gemacht werden. Aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG folge, dass bei der Ausfüllung des Rahmenrechts auf Krankenbehandlung solche Maßnahmen zu berücksichtigen seien, die zumindest geeignet seien, die Verschlimmerung einer Krankheit zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Das treffe nach den Feststellungen des Landessozialgerichts auf die Behandlung des Beschwerdeführers zu.

35

Auch sei Art. 103 Abs. 1 GG verletzt. Soweit nunmehr das Bundessozialgericht auch auf die Verbreitung der Methode abstelle, sei dies für den Beschwerdeführer völlig überraschend gewesen. Da die Kriterien in dem Urteil erstmals festgelegt worden seien, hätten weder das Berufungsgericht noch er selbst Veranlassung gehabt, dazu Stellung zu nehmen. Der Rechtsstreit hätte daher zur weiteren Sachverhaltsaufklärung an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden müssen.
III.

36

Zur Verfassungsbeschwerde haben die Bundesregierung, der AOK-Bundesverband, die Barmer Ersatzkasse als Beklagte des Ausgangsverfahrens und der Verband der privaten Krankenversicherung Stellung genommen. Der Bundesausschuss und der Gemeinsame Bundesausschuss haben ihnen vom Bundesverfassungsgericht gestellte Fragen beantwortet.

37

1. Die Bundesregierung sieht sowohl die bedarfsgerechte Verteilung der begrenzten Mittel als auch die finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung gefährdet, wenn neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden in der vertragsärztlichen Versorgung anerkannt würden, deren Nutzen wissenschaftlich nicht belegt sei. Mit § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V verfolge das Gesetz neben dem gesundheitspolitischen Ziel der Qualitätsverbesserung insbesondere das finanzpolitische Ziel der Kostendämpfung. Nur bei dessen konsequenter Verfolgung sei gewährleistet, dass allen Versicherten eine dem medizinisch-technischen Fortschritt entsprechende medizinische Versorgung zur Verfügung gestellt werden könne. Es dürfe nicht sein, dass die Solidargemeinschaft der Versicherten mit den Kosten einer Behandlung belastet würde, deren medizinischer Nutzen nicht belegt sei.

38

Das gelte auch dann, wenn die Wirksamkeit im Einzelfall nachgewiesen oder zumindest sehr wahrscheinlich sei. Bei der Bewertung eines lediglich im Einzelfall eingesetzten Verfahrens könne eine positive Veränderung sowohl wegen als auch trotz der ergriffenen Maßnahme eingetreten sein; es sei nicht möglich, beobachtete Wirkungen auf die durchgeführte Maßnahme zurückzuführen. Jede Aussage über die Wirksamkeit einer Behandlungsmethode erfordere einen Vergleich; denn nur so lasse sich beurteilen, ob der beobachtete klinisch relevante Effekt auf die medizinische Intervention zurückzuführen oder ob er als Spontanverlauf oder Placebo-Effekt zu werten sei. Eine solche Einzelfallbetrachtung würde in eine Therapiebeliebigkeit münden.

39

2. Nach Auffassung des AOK-Bundesverbands, der sich auch im Namen der übrigen Spitzenverbände der Krankenkassen geäußert hat, verletze die angegriffene Entscheidung des Bundessozialgerichts den Beschwerdeführer weder in Grundrechten noch in grundrechtsähnlichen Rechten.

40

Aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ergebe sich kein verfassungsrechtlicher Anspruch gegen die Krankenkasse auf Bereitstellung bestimmter Gesundheitsleistungen. Zwar folge aus ihm eine objektiv-rechtliche Pflicht des Staates, sich schützend und fördernd vor das Rechtsgut des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG zu stellen. Angesichts des weiten Gestaltungsspielraums bei der Erfüllung der Schutzpflichten könne aber nur geprüft werden, ob die öffentliche Gewalt Vorkehrungen zum Schutz der Grundrechte treffe, die nicht völlig ungeeignet oder unzulänglich seien.

41

Die Richtlinien des Bundesausschusses beschränkten den Leistungsanspruch des Versicherten nicht, sondern konkretisierten ihn lediglich. Unmittelbar aus dem Gesetz ergebe sich kein Leistungsanspruch. Dieser werde in den meisten Fällen erst durch die zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern geschlossenen Verträge und Richtlinien konkret ausgestaltet. § 135 Abs. 1 SGB V gestalte unmittelbar das Leistungsrecht. Das Bundessozialgericht gehe in der angegriffenen Entscheidung gerade nicht davon aus, die Richtlinien des Bundesausschusses verkörperten Akte autonomer Rechtsetzung im Rahmen einer Satzungsautonomie. Vielmehr qualifiziere es sie als untergesetzliche Rechtsnormen und damit als materielles Recht eigener Art. Einen numerus clausus zulässiger Rechtsetzungsformen sehe das Grundgesetz nicht vor. Weitere Typen untergesetzlicher Rechtsnormen seien jedenfalls unter bestimmten Voraussetzungen zulässig; zu ihnen gehörten auch die Richtlinien des Bundesausschusses. Sie seien Teil eines historisch gewachsenen umfassenden Gefüges untergesetzlicher Normen der gemeinsamen Selbstverwaltung zwischen Krankenkassen und Ärzten, dessen Wurzeln bis in die vorkonstitutionelle Zeit zurückreichten.

42

3. Die Barmer Ersatzkasse sieht den Beschwerdeführer nicht in Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten verletzt. Der Bundesausschuss sei paritätisch mit Vertretern der Ärzte und der Krankenkassen, zwei weiteren unparteiischen Mitgliedern sowie einem ebenfalls unparteiischen Vorsitzenden besetzt. Die Prüfung von Behandlungsmethoden, die bisher noch nicht Gegenstand der vertragsärztlichen Versorgung gewesen seien, erfolge unter Berücksichtigung des allgemein anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnis. Eine Ablehnung durch den Bundesausschuss bedeute zugleich auch, dass die abgelehnte Außenseitermethode nicht zur notwendigen Krankenbehandlung gehöre, so dass die Versicherten nach Maßgabe des § 27 SGB V keinen Anspruch gegenüber der Krankenkasse hätten. Die Richtlinien stellten somit außenwirksames Recht dar. Der Bundesausschuss sei hierfür auch verfassungsrechtlich ausreichend legitimiert.

43

4. Nach Auskunft des Verbandes der privaten Krankenversicherung sind in der privaten Krankenversicherung, sowohl in der Voll- als auch in der Zusatzversicherung, nach den einschlägigen Musterbedingungen Kosten alternativer Behandlungsmethoden in jedem Krankheitsfall dann erstattungsfähig, wenn sie sich in der Praxis als ebenso Erfolg versprechend bewährt hätten wie schulmedizinische Verfahren und wenn die Alternativmethode keine höheren Kosten verursache. Darüber hinaus seien die Kosten alternativer Behandlungsmethoden dann zu erstatten, wenn es sich um unheilbare Erkrankungen handle, für die keine schulmedizinischen Methoden oder Arzneimittel zur Verfügung stünden. Dies dürfte nach Einschätzung des Verbandes nur vergleichsweise selten der Fall sein, weil die schulmedizinischen Behandlungsformen nicht nur die Heilung, sondern auch die Linderung, Besserung und Verhinderung einer Verschlechterung umfassten. Im Übrigen müsse auch die Heilbehandlung nach alternativen Methoden auf einem nach medizinischen Erkenntnissen nachvollziehbaren Ansatz beruhen, der die prognostizierte Wirkungsweise auf das angestrebte Behandlungsziel zu erklären vermöge. Dabei reiche es aus, wenn die Erreichung des Behandlungsziels mit einer nicht nur ganz geringen Erfolgsaussicht möglich erscheine.

44

Für das Vorliegen dieser Voraussetzungen sei der Versicherungsnehmer nachweispflichtig. Dabei dürfte die Berufung auf die "Binnenanerkennung" abzulehnen sein, weil mit diesem Verfahren die medizinische Wirksamkeit und Notwendigkeit jeder neuen Alternativmethode zwangsläufig bejaht würde. Vielmehr müsse eine objektive Bewertung der Erforderlichkeit möglich sein und die medizinische Notwendigkeit einer Heilbehandlung vom Standpunkt der Schulmedizin aus beurteilt werden. Dabei seien noch nicht abschließend gesicherte Erkenntnisse mit zu berücksichtigen. Neben den üblichen Versicherungen gebe es im Übrigen Spezialtarife, die bestimmte Leistungen aus dem Spektrum der besonderen Therapierichtungen ausdrücklich zusagten.

45

5. Der Bundesausschuss und der Gemeinsame Bundesausschuss haben auf die Fragen des Bundesverfassungsgerichts eingehend geantwortet und insbesondere ausgeführt: Eine Kostenübernahme durch die gesetzliche Krankenversicherung in Fällen, in denen eine nicht allgemein wissenschaftlich anerkannte Methode im konkreten Fall Wirkung zeige, werde nicht befürwortet. Der Wirkungsnachweis im Einzelfall sei nicht zu führen. Der vermeintliche Erfolg einer Therapie stelle sich oftmals nur als positive Krankheitsentwicklung heraus, die kurze Zeit später durch einen Rückfall in die alten Leiden beendet werde. Selbst wenn eine Krankheit als ausgeheilt gelten könne, sei es nicht möglich nachzuweisen, dass der Heilerfolg auf die gewählte Behandlungsmethode zurückzuführen sei. Das liege daran, dass Krankheiten in vielen Fällen in einem nicht vorhersehbaren
oder rekonstruierbaren Spontanverlauf heilten. Bekannt sei auch die Wirkung von Behandlungen ohne medizinisch-physischen Ursachenzusammenhang (Placebo-Effekt).

46

Würde sich die Ansicht durchsetzen, die Krankenkassen seien auch bei Wirkung einer Methode im Einzelfall zur Kostentragung verpflichtet, sähe man sich mit dem Grundproblem konfrontiert, dass sich die Wirkung einer Therapie allenfalls ex post feststellen lasse, Arzt und Patient aber vor dem Behandlungsbeginn die geeignete Therapie bestimmen müssten. Eine Kostenerstattung aufgrund eines Wirksamkeitsnachweises im Einzelfall würde die medizinisch unverantwortliche Entscheidung für unerforschte, riskante Methoden mit geringer Wirkungswahrscheinlichkeit bei Auftreten eines eher zufälligen Behandlungserfolgs belohnen. Zudem wäre der Patient, bei dem die Methode zufällig nicht angeschlagen habe, finanziell benachteiligt. Des Weiteren würden unkontrollierte Heilversuche zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung unterstützt. Schließlich würde eine Flut von Rechtsstreiten darüber ausgelöst, ob ein Behandlungserfolg vorliege und was die Ursache für ihn gewesen sei.
B.

47

Die Verfassungsbeschwerde ist begründet. Das Urteil des Bundessozialgerichts beruht auf einer Auslegung der leistungsrechtlichen Vorschriften des § 1 Satz 1, § 2 Abs. 1, § 11 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 und § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V, die mit Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG) sowie mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht vereinbar ist.
I.

48

1. a) Vorrangiger Maßstab für die verfassungsrechtliche Prüfung ist Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem grundgesetzlichen Sozialstaatsprinzip.

49

Das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit ist betroffen, wenn der Gesetzgeber Personen der Pflichtversicherung in einem System der sozialen Sicherheit unterwirft (vgl. BVerfGE 29, 221 <235 f.>; 29, 245 <254>; 29, 260 <266 f.>; 109, 96 <109 f.>; stRspr). Dies gilt auch für die Begründung der Pflichtmitgliedschaft mit Beitragszwang in der gesetzlichen Krankenversicherung.

50

Auch Regelungen, die das öffentlich-rechtliche Sozialversicherungsverhältnis, vor allem in Bezug auf die Beiträge der Versicherten und die Leistungen des Versicherungsträgers, näher ausgestalten, sind am Grundrecht des Art. 2 Abs. 1 GG zu messen (vgl. BVerfGE 75, 108 <154>; 97, 271 <286 f.>; 106, 275 <304 f.>). Sein Schutzbereich wird berührt, wenn der Gesetzgeber durch die Anordnung von Zwangsmitgliedschaft und Beitragspflicht in einem öffentlich-rechtlichen Verband der Sozialversicherung die allgemeine Betätigungsfreiheit des Einzelnen durch Einschränkung ihrer wirtschaftlichen Voraussetzungen nicht unerheblich einengt (vgl. BVerfGE 97, 271 <286>). Ein solcher Eingriff bedarf der Rechtfertigung durch eine entsprechende Ausgestaltung der ausreichenden solidarischen Versorgung, die den Versicherten für deren Beitrag im Rahmen des Sicherungszwecks des Systems zu erbringen ist. Für die Hinterbliebenenrenten der gesetzlichen Rentenversicherung hat das Bundesverfassungsgericht Art. 2 Abs. 1 GG als verfassungsrechtlichen Maßstab herangezogen, wenn der Gesetzgeber gesetzlich zugesagte und beitragsfinanzierte Leistungen dieses Versicherungszweigs wesentlich vermindert (vgl. BVerfGE 97, 271 <286>). In Bezug auf die gesetzliche Krankenversicherung ist verfassungsgerichtlich entschieden, dass eine gesetzliche Regelung das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit des Versicherten berührt, wenn die Freiheit zur Auswahl unter Arznei- und Hilfsmitteln, die ihm als Sachleistung zur Verfügung gestellt werden, eingeschränkt wird (vgl. BVerfGE 106, 275 <304 f.>).

51

Der in einem System der Sozialversicherung Pflichtversicherte hat typischerweise keinen unmittelbaren Einfluss auf die Höhe seines Beitrags und auf Art und Ausmaß der ihm im Versicherungsverhältnis geschuldeten Leistungen. In einer solchen Konstellation der einseitigen Gestaltung der Rechte und Pflichten der am Versicherungsverhältnis Beteiligten durch Gesetz (vgl. § 31 SGB I) und durch die auf ihm beruhenden Rechtsakte der Leistungskonkretisierung, schützt das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG den beitragspflichtigen Versicherten vor einer Unverhältnismäßigkeit von Beitrag und Leistung. Daraus lässt sich in der gesetzlichen Krankenversicherung zwar kein verfassungsrechtlicher Anspruch auf bestimmte Leistungen der Krankenbehandlung ableiten. Jedoch sind gesetzliche oder auf Gesetz beruhende Leistungsausschlüsse und Leistungsbegrenzungen daraufhin zu prüfen, ob sie im Rahmen des Art. 2 Abs. 1 GG gerechtfertigt sind. Gleiches gilt, wenn die gesetzlichen Leistungsvorschriften - wie hier - durch die zuständigen Fachgerichte eine für den Versicherten nachteilige Auslegung und Anwendung erfahren.

52

b) Bei der näheren Bestimmung und Entfaltung der dargestellten Schutzfunktion des Art. 2 Abs. 1 GG kommt dem grundgesetzlichen Sozialstaatsprinzip maßgebliche Bedeutung zu. Der Schutz des Einzelnen in Fällen von Krankheit ist in der sozialstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes eine Grundaufgabe des Staates. Ihr ist der Gesetzgeber nachgekommen, indem er durch Einführung der gesetzlichen Krankenversicherung als öffentlich-rechtlicher Pflichtversicherung für den Krankenschutz eines Großteils der Bevölkerung, Sorge getragen und die Art und Weise der Durchführung dieses Schutzes geregelt hat (vgl. BVerfGE 68, 193 <209>). In Konkretisierung des Sozialstaatsprinzips richtet er die Beiträge an der - regelmäßig durch das Arbeitsentgelt oder die Rente bestimmten - wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des einzelnen Versicherten (§ 226 SGB V) und nicht am individuellen Risiko aus (vgl. BVerfGE 103, 172 <185>), ist ferner auf Stabilität der Beitragssätze bedacht (§ 71 SGB V), wirkt auf Beitragssenkungen hin (§ 220 Abs. 4 SGB V) und nimmt auch bei der Ausgestaltung der Verpflichtung zur Erbringung von Zuzahlungen zu gesetzlichen Leistungen (vgl. § 61 SGB V) auf die soziale Situation des Einzelnen Rücksicht (§ 62 SGB V). Damit geht der Gesetzgeber davon aus, dass den Versicherten regelmäßig erhebliche finanzielle Mittel für eine zusätzliche selbständige Vorsorge im Krankheitsfall und insbesondere für die Beschaffung von notwendigen Leistungen der Krankenbehandlung außerhalb des Leistungssystems der gesetzlichen Krankenversicherung nicht zur Verfügung stehen.

53

In der sozialen Krankenversicherung sind abhängig Beschäftigte mit mittleren und niedrigen Einkommen sowie Rentner pflichtversichert (vgl. BVerfGE 103, 172 <185>). Die gesetzliche Krankenversicherung erfasst nach der gesetzlichen Typisierung jedenfalls die Personengruppen, die wegen ihrer niedrigen Einkünfte eines Schutzes für den Fall der Krankheit bedürfen, der durch Zwang zur Eigenvorsorge erreicht werden soll (vgl. BVerfGE 102, 68 <89>). Mit dieser Versicherungsform wird auch einkommensschwachen Bevölkerungsteilen ein voller Krankenversicherungsschutz zu moderaten Beiträgen ermöglicht (vgl. BVerfGE 103, 172 <185>). Es bedarf daher einer besonderen Rechtfertigung vor Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip, wenn dem Versicherten Leistungen für die Behandlung einer Krankheit und insbesondere einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung durch gesetzliche Bestimmungen oder durch deren fachgerichtliche Auslegung und Anwendung vorenthalten werden.

54

Dabei macht es grundsätzlich keinen Unterschied, ob es um den Leistungsanspruch eines Versicherten oder - wie hier - einer nach § 10 SGB V mitversicherten Person (vgl. dazu BVerfGE 107, 205 <206 f.>) geht. Der Beitrag wird zwar in diesem Fall vom Versicherten gezahlt, der dadurch jedoch seiner Pflicht zum Unterhalt nachkommt, zu dem auch der Aufwand für einen angemessenen Krankenversicherungsschutz gehört (vgl. BVerfGE 107, 205 <217>).

55

c) Maßstab für die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit des Leistungsrechts der gesetzlichen Krankenversicherung und seiner fachgerichtlichen Auslegung und Anwendung im Einzelfall sind darüber hinaus auch die Grundrechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG. Zwar folgt aus diesen Grundrechten regelmäßig kein verfassungsrechtlicher Anspruch gegen die Krankenkassen auf Bereitstellung bestimmter und insbesondere spezieller Gesundheitsleistungen (vgl. BVerfGE 77, 170 <215>; 79, 174 <202>; BVerfG, Beschlüsse der 2. Kammer des Ersten Senats vom 5. März 1997, NJW 1997, S. 3085; MedR 1997, S. 318 <319> und vom 15. Dezember 1997, NJW 1998, S. 1775 <1776>). Die Gestaltung des Leistungsrechts der gesetzlichen Krankenversicherung hat sich jedoch an der objektiv-rechtlichen Pflicht des Staates zu orientieren, sich schützend und fördernd vor die Rechtsgüter des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG zu stellen (vgl. BVerfGE 46, 160 <164>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 15. Dezember 1997, a.a.O.; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 22. November 2002, NJW 2003, S. 1236 <1237>; Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 19. März 2004, NJW 2004, S. 3100 <3101>). Insofern können diese Grundrechte in besonders gelagerten Fällen die Gerichte zu einer grundrechtsorientierten Auslegung der maßgeblichen Vorschriften des Krankenversicherungsrechts verpflichten (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 14. August 1998, NJW 1999, S. 857 f.).

56

Dies gilt insbesondere in Fällen der Behandlung einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung. Denn das Leben stellt einen Höchstwert innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung dar (vgl. BVerfGE 39, 1 <42>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 11. August 1999, NJW 1999, S. 3399 <3401>). Behördliche und gerichtliche Verfahren müssen dieser Bedeutung und der im Grundrecht auf Leben enthaltenen grundlegenden objektiven Wertentscheidung (vgl. BVerfGE 39, 1 <41>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 19. März 2004, NJW 2004, S. 3100 <3101>) gerecht werden und sie bei der Auslegung und Anwendung der maßgeblichen Vorschriften des Krankenversicherungsrechts berücksichtigen (vgl. BVerfGE 53, 30 <65>; zur Frage eines originären Leistungsanspruchs aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG vgl. auch Schmidt-Aßmann, Grundrechtspositionen und Legitimationsfragen im öffentlichen Gesundheitswesen, 2001, S. 23 ff. m.w.N.).

57

2. a) Danach ist es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass die gesetzliche Krankenversicherung den Versicherten Leistungen nach Maßgabe eines allgemeinen Leistungskatalogs (§ 11 SGB V) nur unter Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebots (§ 12 SGB V) zur Verfügung stellt, soweit diese Leistungen nicht der Eigenverantwortung der Versicherten zugerechnet werden (§ 2 Abs. 1 Satz 1 SGB V). Gleiches gilt für die Entscheidung des Gesetzgebers, die nähere Konkretisierung der durch unbestimmte Gesetzesbegriffe festgelegten Leistungsverpflichtung im Einzelfall im Rahmen der kassenärztlichen Vorgaben, insbesondere der kassenärztlichen Verträge (§§ 82 ff., 87, 125, 127, 131 SGB V), vor allem den Ärzten vorzubehalten (vgl. § 15 Abs. 1 Satz 1 SGB V; BSGE 73, 271), die an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmen (§ 95 SGB V; vgl. auch BVerfGE 106, 275 <277, 303, 308>). Dem Arzt kommt dabei nicht nur die Feststellung des Eintritts des Versicherungsfalls Krankheit zu, sondern auch und gerade die von ihm zu verantwortende Einleitung, Durchführung und Überwachung einer den Zielen des § 27 Abs. 1 SGB V gerecht werdenden Behandlung (vgl. BSGE 82, 158 <161 f.>). Es steht auch mit dem Grundgesetz im Einklang, wenn der Gesetzgeber vorsieht, dass die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich zu sein haben und nicht das Maß des Notwendigen überschreiten dürfen (§ 12 Abs. 1 Satz 1 SGB V).

58

b) Der Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung darf auch von finanzwirtschaftlichen Erwägungen mitbestimmt sein (vgl. BVerfGE 68, 193 <218>; 70, 1 <26, 30>). Gerade im Gesundheitswesen hat der Kostenaspekt für gesetzgeberische Entscheidungen erhebliches Gewicht (vgl. BVerfGE 103, 172 <184>). Dem Gesetzgeber ist es im Rahmen seines Gestaltungsspielraums grundsätzlich erlaubt, den Versicherten über den Beitrag hinaus zur Entlastung der Krankenkassen und zur Stärkung des Kostenbewusstseins in der Form von Zuzahlungen zu bestimmten Leistungen zu beteiligen, jedenfalls, soweit dies dem Einzelnen finanziell zugemutet werden kann (vgl. BVerfGE 70, 1 <30>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 7. März 1994, NJW 1994, S. 3007). Die gesetzlichen Krankenkassen sind nicht von Verfassungs wegen gehalten, alles zu leisten, was an Mitteln zur Erhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit verfügbar ist (vgl. auch BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 5. März 1997, NJW 1997, S. 3085).

59

c) Es ist dem Gesetzgeber schließlich nicht von Verfassungs wegen verwehrt, zur Sicherung der Qualität der Leistungserbringung, im Interesse einer Gleichbehandlung der Versicherten und zum Zweck der Ausrichtung der Leistungen am Gesichtspunkt der Wirtschaftlichkeit ein Verfahren vorzusehen, in dem neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden in der vertragsärztlichen Versorgung auf ihren diagnostischen und therapeutischen Nutzen sowie ihre medizinische Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit nach dem jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse sachverständig geprüft werden, um die Anwendung dieser Methoden zu Lasten der Krankenkassen auf eine fachlich-medizinisch zuverlässige Grundlage zu stellen.

60

Ob für die Erfüllung dieser Aufgabe das nach § 135 SGB V vorgesehene Verfahren der Entscheidung durch den Gemeinsamen Bundesausschuss verfassungsrechtlichen Anforderungen genügt (vgl. auch BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 19. März 2004, NJW 2004, S. 3100 <3101>), ist hier nicht zu entscheiden. Das Bundessozialgericht hat in dem mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Urteil zur Begründung seiner Entscheidung im Ergebnis allein darauf abgestellt, dass die umstrittene Behandlungsmethode nicht dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Forschung entspreche und keine erfahrungsgemäß wirksame Methode sei. Davon hat die verfassungsrechtliche Beurteilung auszugehen. Das Bundesverfassungsgericht hat daher keinen Anlass zu prüfen, ob die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zur demokratischen Legitimation der Bundesausschüsse und des Gemeinsamen Bundesausschusses und zur rechtlichen Qualität der von ihnen erlassenen Richtlinien als außenwirksamen untergesetzlichen Rechtssätzen (vgl. dazu BSGE 78, 70 <74 ff.>; 81, 54 <59 ff.>; 81, 73 <76 ff.>) mit dem Grundgesetz in Einklang steht (siehe dazu aus dem umfangreichen Schrifttum Axer, Normsetzung der Exekutive in der Sozialversicherung, 2000, S. 119 ff., 153 ff.; Hänlein, Rechtsquellen im Sozialversicherungsrecht, 2001, S. 454 ff.; Schnapp, in: von Wulffen/Krasney <Hrsg.>, Festschrift 50 Jahre Bundessozialgericht, 2004, S. 497 ff.; Hase, MedR 2005, S. 391; Rixen, Sozialrecht als öffentliches Wirtschaftsrecht, 2005, S. 176 ff., jeweils m.w.N.).

61

3. Das angegriffene Urteil des Bundessozialgerichts genügt jedoch nicht den Anforderungen aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip sowie aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und verletzt den Beschwerdeführer in seinem Recht auf eine Leistungserbringung durch die gesetzliche Krankenversicherung, die dem Schutz seines Lebens gerecht wird.

62

a) Nicht zu entscheiden ist dabei, ob die Annahme des Bundessozialgerichts, wegen des eindeutigen Wortlauts des § 135 Abs. 1 SGB V sei die Anwendung einer neuen Behandlungsmethode durch die Leistungserbringer im System der gesetzlichen Krankenversicherung von der vorherigen Anerkennung durch den Bundesausschuss abhängig (vgl. BSGE 81, 54 <57 ff.>; 86, 54 <56>; BSG SozR 4-2500 § 135 Nr. 1), mit dem Grundgesetz auch in den Fällen vereinbar ist, in denen die medizinische Wissenschaft wegen der Eigenart der lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Krankheit über eine wissenschaftlich gesicherte, an Gesichtspunkten der statistischen Evidenz, gegebenenfalls auch niedrigerer Evidenzstufen bei seltenen Krankheiten (vgl. § 20 Abs. 2 Satz 3 der Verfahrensordnung des Gemeinsamen Bundesausschusses in der Fassung vom 20. September 2005), ausgerichtete Therapie auf der Grundlage klinischer oder sonstiger Studien nicht oder noch nicht verfügt (vgl. auch BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 19. März 2004, NJW 2004, S. 3100 <3101>). Denn das Bundessozialgericht stellt in Fällen, in denen - wie hier - eine solche Anerkennung nicht vorliegt und auch kein Fall eines so genannten Systemmangels (vgl. BSGE 81, 54 <65 f.>; 86, 54 <60 ff.>; 88, 51 <61 f.>) gegeben ist, entscheidend darauf ab, ob sich die Methode in der medizinischen Praxis durchgesetzt hat. Ist dies nicht der Fall, dann lehnt das Gericht, wie in der angegriffenen Entscheidung, die Annahme einer gesetzlichen "Versorgungslücke" ab, die durch eine richterliche Entscheidung im Einzelfall zu schließen wäre. Damit wird - wie sich aus der weiteren Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zeigt - die Übernahme von Kosten durch die gesetzlichen Krankenkassen auch in den Fällen einer lebensbedrohlichen oder vorhersehbar tödlich verlaufenden Krankheit ausgeschlossen, für die eine dem allgemein anerkannten medizinischen Standard entsprechende Behandlungsmethode nicht existiert (vgl. BSGE 86, 54 <66>), der behandelnde Arzt jedoch eine Methode zur Anwendung bringt, die nach seiner Einschätzung im Einzelfall den Krankheitsverlauf positiv zu Gunsten des Versicherten beeinflusst.

63

b) Dies steht nicht im Einklang mit dem Grundgesetz.

64

aa) Es ist mit Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem grundgesetzlichen Sozialstaatsprinzip nicht vereinbar, den Einzelnen unter den Voraussetzungen des § 5 SGB V einer Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung zu unterwerfen und für seine an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ausgerichteten Beiträge die notwendige Krankheitsbehandlung gesetzlich zuzusagen, ihn andererseits aber, wenn er an einer lebensbedrohlichen oder sogar regelmäßig tödlichen Erkrankung leidet, für die schulmedizinische Behandlungsmethoden nicht vorliegen, von der Leistung einer bestimmten Behandlungsmethode durch die Krankenkasse auszuschließen und ihn auf eine Finanzierung der Behandlung außerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung zu verweisen. Dabei muss allerdings die vom Versicherten gewählte andere Behandlungsmethode eine auf Indizien gestützte, nicht ganz fern liegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf versprechen. Ein solcher Fall ist hier gegeben. Für die Behandlung der Duchenne'schen Muskeldystrophie steht gegenwärtig allein ein symptomatisches Therapiespektrum zur Verfügung, zu dem auch operative Maßnahmen gehören. Eine unmittelbare Einwirkung auf die Krankheit und ihren Verlauf mit gesicherten wissenschaftlichen Methoden, ist noch nicht möglich (vgl.

http://www.duchenne-forschung.de/richtli1.htm
).

65

bb) Die angegriffene Auslegung der leistungsrechtlichen Vorschriften des SGB V durch das Bundessozialgericht ist in der extremen Situation einer krankheitsbedingten Lebensgefahr auch nicht mit der Schutzpflicht des Staates für das Leben aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG zu vereinbaren. Übernimmt der Staat mit dem System der gesetzlichen Krankenversicherung Verantwortung für Leben und körperliche Unversehrtheit der Versicherten, so gehört die Vorsorge in Fällen einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung unter den genannten Voraussetzungen zum Kernbereich der Leistungspflicht und der von Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG geforderten Mindestversorgung (vgl. auch Wiedemann, in: Umbach/Clemens <Hrsg.>, Grundgesetz, Bd. I, 2002, Art. 2 Rn. 376; Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Bd. I, Art. 2 Abs. 2 Rn. 94 <Bearbeitungsstand:
Februar 2004>; Schmidt-Aßmann, NJW 2004, S. 1689 <1691>).

66

c) Die im Streitfall vom Versicherten angerufenen Sozialgerichte haben in solchen Fällen, gegebenenfalls mit sachverständiger Hilfe, zu prüfen, ob es für die vom Arzt nach gewissenhafter fachlicher Einschätzung vorgenommene oder von ihm beabsichtigte Behandlung ernsthafte Hinweise auf einen nicht ganz entfernt liegenden Erfolg der Heilung oder auch nur auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf im konkreten Einzelfall gibt (vgl. auch Schulin, in: Schulin <Hrsg.>, Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd. 1: Krankenversicherungsrecht, 1994, § 6 Rn. 22). Solche Hinweise auf einen individuellen Wirkungszusammenhang können sich aus dem Gesundheitszustand des Versicherten im Vergleich mit dem Zustand anderer, in gleicher Weise erkrankten, aber nicht mit der in Frage stehenden Methode behandelter Personen ergeben sowie auch mit dem solcher Personen, die bereits auf diese Weise behandelt wurden oder behandelt werden. Insbesondere bei einer länger andauernden Behandlung können derartige Erfahrungen Folgerungen für die Wirksamkeit der Behandlung erlauben. Weitere Bedeutung kommt der fachlichen Einschätzung der Wirksamkeit der Methode im konkreten Einzelfall durch die Ärzte des Erkrankten zu, die die Symptome seiner Krankheit behandeln. Hinweise auf die Eignung der im Streit befindlichen Behandlung können sich auch aus der wissenschaftlichen Diskussion ergeben; in Bezug auf die Duchenne'sche Muskeldystrophie liegen inzwischen weltweit Beiträge vor.

67

Auf die Wirksamkeit einer Behandlungsmethode im Einzelfall jedenfalls bei seltenen Krankheiten abzustellen, ist auch dem Recht der gesetzlichen Krankenversicherung nicht fremd. Nach § 31 Abs. 1 Satz 4 SGB V kann der Vertragsarzt Arzneimittel, die aufgrund der Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V von der Versorgung ausgeschlossen sind, ausnahmsweise dennoch in medizinisch begründeten Einzelfällen verordnen. Auch das Bundessozialgericht hat sich in seiner jüngeren Rechtsprechung bei einer Krankenbehandlung mit Arzneimitteln einer Einzelfallbetrachtung unter bestimmten Voraussetzungen nicht verschlossen. Nach seiner Auffassung sind Maßnahmen zur Behandlung einer Krankheit, die so selten auftritt, dass ihre systematische Erforschung praktisch ausscheidet, vom Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung nicht allein deshalb ausgeschlossen, weil der zuständige Bundesausschuss dafür keine Empfehlung abgegeben hat (vgl. BSGE 93, 236 <244 ff.>).
II.

68

Da das mit der Verfassungsbeschwerde angegriffene Urteil gegen Verfassungsrecht verstößt, ist es gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben. Ob es noch weitere Grundrechte des Beschwerdeführers verletzt, kann vorliegend dahinstehen. Die Sache ist an das Bundessozialgericht zurückzuverweisen, das auf der Grundlage der in dieser Entscheidung entwickelten Grundsätze neu über die Revision der beklagten Krankenkasse zu befinden haben wird.
III.

69

Die Kostenentscheidung beruht auf § 34 a Abs. 2 BVerfGG.


Papier Haas Hömig
Steiner Hohmann-Dennhardt Hoffmann-Riem
Bryde Gaier
Gedankenpolizei
 
Beiträge: 47
Registriert: Fr 29. Nov 2013, 13:13

Aussage über Inhalt heimlichen Mitschnitts verwertbar

Beitragvon Mephisto » Mo 10. Apr 2017, 13:37

BVerfG Beschluss vom 31. Juli 2001
- 1 BvR 304/01 -



BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

- 1 BvR 304/01 -
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde



des Herrn Professor Dr. L...



- Bevollmächtigte:

Rechtsanwälte Professor Dr. Rüdiger Zuck und Koll.,
Möhringer Landstraße 5, 70563 Stuttgart -


gegen a) den Beschluss des Bundesarbeitsgerichts vom 18. Januar 2001 - 2 AZN 933/00 -,
b) das Urteil des Landesarbeitsgerichts Nürnberg vom 26. September 2000 - 6 Sa 155/00 -



hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch

den Vizepräsidenten Papier
und die Richter Steiner,
Hoffmann-Riem



gemäß § 93 b in Verbindung mit § 93 a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 ( BGBl I S. 1473) am 31. Juli 2001 einstimmig beschlossen:



Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.


Gründe:

1

Die Verfassungsbeschwerde betrifft einen Arbeitsrechtsstreit, in dem das Arbeitsverhältnis des Beschwerdeführers gemäß §§ 9, 10 des Kündigungsschutzgesetzes (KSchG) aufgelöst wurde.
I.

2

1. Der Beschwerdeführer war bei der Beklagten des Ausgangsverfahrens als Chefarzt an der Inneren Klinik beschäftigt. Dieses Arbeitsverhältnis wurde von der Beklagten unter anderem mit der Begründung gekündigt, der Beschwerdeführer habe sich in ehrverletzender Weise über den ärztlichen Direktor der Klinik geäußert. Das von dem Beschwerdeführer angerufene Arbeitsgericht sah die Kündigung als unwirksam an, löste aber auf den (Hilfs-)Antrag der Beklagten das Arbeitsverhältnis gemäß § 9, § 10 und § 14 Abs. 2 KSchG gegen Zahlung einer Abfindung in Höhe von 90.000 DM auf. Nachdem das Landesarbeitsgericht diese Entscheidung auf die Berufung des Beschwerdeführers hin aufgehoben und den Auflösungsantrag der Beklagten zurückgewiesen hatte, wurde das Berufungsurteil seinerseits auf die Revision der Beklagten durch das Bundesarbeitsgericht aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen. Das Landesarbeitsgericht führte daraufhin zu den von der Beklagten behaupteten Äußerungen des Beschwerdeführers eine Beweisaufnahme durch und vernahm unter anderem den Kollegen Dr. B. als Zeugen über ein zwischen ihm und dem Beschwerdeführer geführtes Telefongespräch. Die Berufung wurde durch das angegriffene Urteil zurückgewiesen. Das Arbeitsverhältnis sei gemäß § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG aufzulösen, da die Gesamtwürdigung des Verhaltens des Beschwerdeführers ergebe, dass eine weitere gedeihliche Zusammenarbeit mit dem ärztlichen Direktor der Klinik keinesfalls erwartet werden könne. Dies ergebe sich insbesondere aus den Bekundungen des von der Kammer vernommenen Zeugen Dr. B. Soweit dieser während des Telefonates den Anrufbeantworter eingeschaltet habe, liege mit der Aufnahme des gesprochenen Wortes zwar ein Verstoß gegen das Persönlichkeitsrecht des Beschwerdeführers vor. Gleichwohl bestehe kein Beweisverwertungsverbot, weil das Band nur zur Gedächtnisstütze mitgelaufen sei und es Dr. B. nicht verwehrt gewesen wäre, sich entsprechende Notizen zu machen. Die von dem Beschwerdeführer gegen die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts eingelegte Nichtzulassungsbeschwerde wies das Bundesarbeitsgericht durch den weiter angegriffenen Beschluss zurück.

3

2. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer zum einen die Verletzung der Garantie des gesetzlichen Richters aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, da es beim Landesarbeitsgericht an einer schriftlichen und den Verdacht einer Manipulation ausschließenden Bestimmung der gesetzlichen ehrenamtlichen Richter fehle. Darüber hinaus habe das Landesarbeitsgericht sein allgemeines Persönlichkeitsrecht verletzt, indem es die Auflösungsentscheidung auf die Inhalte des von Dr. B. heimlich mitgeschnittenen Telefongesprächs gestützt habe.
II.

4

Die Annahmevoraussetzungen des § 93 a Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor.

5

1. Der Verfassungsbeschwerde kommt keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung im Sinne des § 93 a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG zu. Auf die von dem Beschwerdeführer angesprochenen Fragen der Garantie des gesetzlichen Richters kommt es nicht an, weil die Verfassungsbeschwerde insoweit unzulässig ist. Die verfassungsrechtlichen Maßstäbe für die Frage der Verwertung von Kenntnissen und Beweismitteln infolge einer heimlichen Tonbandaufnahme in einem gerichtlichen Verfahren und deren Vereinbarkeit mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Betroffenen sind im Grundsätzlichen geklärt (vgl. BVerfGE 34, 238 ff.). Die Annahme ist auch nicht zur Durchsetzung der von dem Beschwerdeführer als verletzt gerügten Grundrechte angezeigt (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde hat keine hinreichende Aussicht auf Erfolg.

6

a) Soweit der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG geltend macht, steht ihr das Subsidiaritätsprinzip des § 90 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG entgegen. Dieses fordert, dass der Beschwerdeführer über das Gebot der Erschöpfung des Rechtswegs im engeren Sinne hinaus die ihm zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten ergreift, um eine Korrektur der geltend gemachten Verfassungsverletzung zu erwirken oder eine Grundrechtsverletzung zu verhindern (vgl. BVerfGE 68, 384 <388 f.>). Ungeachtet der Frage, ob der Beschwerdeführer bereits in dem Verfahren vor dem Landesarbeitsgericht gehalten gewesen wäre, die Verletzung von Art. 101 GG geltend zu machen, hätte er jedenfalls gemäß § 79 Arbeitsgerichtsgesetz in Verbindung mit § 579 Abs. 1 Nr. 1 ZPO eine Nichtigkeitsklage mit der Begründung erheben müssen, das Landesarbeitsgericht sei nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen. Hieran fehlt es.

7

b) Hinsichtlich der gerügten Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts hat die Verfassungsbeschwerde jedenfalls im Ergebnis keinen Erfolg.

8

aa) Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts schützt das verfassungsrechtlich gewährleistete Persönlichkeitsrecht das gesprochene Wort gegen eine Verdinglichung durch heimliche Tonbandaufnahmen (vgl. BVerfGE 34, 238 <246>). Deshalb darf grundsätzlich jedermann selbst und allein bestimmen, wer sein Wort aufnehmen soll sowie ob und vor wem seine auf einem Tonträger aufgenommene Stimme wieder abgespielt werden darf. Widerspricht der Betroffene der Auswertung der Aufnahme zu Beweiszwecken, stellt sich eine gleichwohl erfolgte staatliche Verwertung als ein Eingriff in das Recht am eigenen Wort dar, der nur unter besonderen Umständen gerechtfertigt sein kann (vgl. BVerfGE 34, 238 <247 ff.>).

9

bb) Vorliegend hat das Landesarbeitsgericht zunächst nicht verkannt, dass die Aufnahme des Gesprächs durch den Zeugen Dr. B. das Persönlichkeitsrecht des Beschwerdeführers verletzt hat. Gesonderter Klärung bedarf aber, welche Rechtsfolgen daran zu knüpfen sind, insbesondere ob der Zeuge damit als Beweismittel im Prozess ausscheidet. Würde die gerichtliche Vernehmung des Zeugen und die Verwertung seiner Aussage wegen des Vorhandenseins der Tonbandaufnahme das Persönlichkeitsrecht eigenständig beeinträchtigen, dürften sie ohne eine verfassungsrechtlich tragfähige Rechtfertigung nicht erfolgen.

10

Wird eine ohne Einwilligung erfolgte Tonbandaufzeichnung unmittelbar als Beweismittel in den Prozess eingeführt sowie vor Gericht abgespielt und anschließend zu Lasten des Beschwerdeführers verwertet, so liegt darin ein Eingriff in das Recht am eigenen Wort. Entsprechendes gilt für die mittelbare Verwertung eines Tonbandes durch Verlesung von Niederschriften oder für die Vernehmung von Zeugen, die am Gespräch nicht teilgenommen und Kenntnis von seinem Inhalt durch Abspielen des heimlich aufgenommenen Tonbandes erlangt haben (vgl. BayObLG, NJW 1990, S. 197 <198>). Im vorliegenden Fall ist die unter Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts hergestellte Tonbandaufnahme jedoch weder unmittelbar noch mittelbar als Beweismittel im Prozess herangezogen worden. Vielmehr ist Dr. B. als Zeuge über den Inhalt eines Gesprächs vernommen worden, an dem er selbst teilgenommen hat.

11

Das Vorhandensein der rechtswidrigen Tonbandaufnahme kann zwar dazu führen, dass der Zeuge infolge des Mitschnitts ähnlich wie jemand, der sich während des Telefonats Notizen gemacht hat, den Verlauf und Inhalt des Gesprächs mit größerer Präzision, Erinnerungssicherheit und Glaubwürdigkeit schildern kann als dies ein Telefongesprächspartner ohne solche Erinnerungsstützen könnte. Es ist verfassungsrechtlich jedoch nicht zu beanstanden, wenn die Fachgerichte einen solchen Fall anders bewerten als eine Situation, in der die Zeugenaussage durch das Tonband gleichsam ersetzt wird. Verfassungsrechtlich ist es nicht geboten, das die Tonbandaufnahme selbst betreffende Verwertungsverbot auf die Aussage eines Zeugen zu erstrecken, der nicht über den Inhalt des Tonbands Auskunft gibt, sondern über das von ihm geführte Gespräch aussagt, selbst wenn er es in rechtswidriger Weise per Tonband aufgenommen hat und als Erinnerungsstütze nutzt. Beweismittel ist die Zeugenaussage, nicht der Tonbandmitschnitt.

12

2. Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 93 d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

13

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.


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Lüth Urteil

Beitragvon Aufklärer » Mi 3. Jan 2018, 23:38

BVerfG Urteil vom 15. Januar 1958

1 BvR 400/51





1.Die Grundrechte sind in erster Linie Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat; in den Grundrechtsbestimmungen des Grundgesetzes verkörpert sich aber auch eine objektive Wertordnung, die als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gilt.
2. Im bürgerlichen Recht entfaltet sich der Rechtsgehalt der Grundrechte mittelbar durch die privatrechtlichen Vorschriften. Er ergreift vor allem Bestimmungen zwingenden Charakters und ist für den Richter besonders realisierbar durch die Generalklauseln.
3. Der Zivilrichter kann durch sein Urteil Grundrechte verletzen (§ 90 BVerfGG), wenn er die Einwirkung der Grundrechte auf das bürgerliche Recht verkennt. Das Bundesverfassungsgericht prüft zivilgerichtliche Urteile nur auf solche Verletzungen von Grundrechten, nicht allgemein auf Rechtsfehler nach.
4. Auch zivilrechtliche Vorschriften können "allgemeine Gesetze" im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG sein und so das Grundrecht auf Freiheit der Meinungsäußerung beschränken.
5. Die "allgemeinen Gesetze" müssen im Lichte der besonderen Bedeutung des Grundrechts der freien Meinungsäußerung für den freiheitlichen demokratischen Staat ausgelegt werden.
6. Das Grundrecht des Art.5 GG schützt nicht nur das Äußern einer Meinung als solches, sondern auch das geistige Wirken durch die Meinungsäußerung.
7. Eine Meinungsäußerung, die eine Aufforderung zum Boykott enthält, verstößt nicht notwendig gegen die guten Sitten im Sinne des § 826 BGB; sie kann bei Abwägung aller Umstände des Falles durch die Freiheit der Meinungsäußerung verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein.




BVerfG

Urteil des Ersten Senats vom 15. Januar 1958


-- 1 BvR 400/51 --


in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde des Senatsdirektors Erich L. in Hamburg gegen das Urteil des Landgerichts Hamburg vom 22. November 1951 - Az. 15. O. 87/51 -.

Entscheidungsformel:

Das Urteil des Landgerichts Hamburg vom 22. November 1951 - Az. 15. O. 87/51 - verletzt das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art. 5 Abs. 1 des Grundgesetzes und wird deshalb aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht Hamburg zurückverwiesen.

Gründe:

A.
Der Beschwerdeführer - damals Senatsdirektor und Leiter der Staatlichen Pressestelle der Freien und Hansestadt Hamburg- hat am 20. September 1950 anläßlich der Eröffnung der "Woche des deutschen Films" als Vorsitzender des Hamburger Presseklubs in einer Ansprache vor Filmverleihern und Filmproduzenten u. a. folgendes erklärt:



"Nachdem der deutsche Film im Dritten Reich seinen moralischen Ruf verwirkt hatte, ist allerdings ein Mann am wenigsten von allen geeignet, diesen Ruf wiederherzustellen: das ist der Drehbuchverfasser und Regisseur des Films "Jud Süß". Möge uns weiterer unabsehbarer Schaden vor der ganzen Welt erspart bleiben, der eintreten würde, indem man ausgerechnet ihn als Repräsentanten des deutschen Films herauszustellen sucht. Sein Freispruch in Hamburg war nur ein formeller. Die Urteilsbegründung war eine moralische Verdammung. Hier fordern wir von den Verleihern und Theaterbesitzern eine Haltung, die nicht ganz billig ist, die man sich aber etwas kosten lassen sollte: Charakter. Und diesen Charakter wünsche ich dem deutschen Film. Beweist er ihn und führt er den Nachweis durch Phantasie, optische Kühnheit und durch Sicherheit im Handwerk, dann verdient er jede Hilfe und dann wird er eines erreichen, was er zum Leben braucht: Erfolg beim deutschen wie beim internationalen Publikum."


Die Firma Domnick-Film-Produktion GmbH, die zu dieser Zeit den Film "Unsterbliche Geliebte" nach dem Drehbuch und unter der Regie des Filmregisseurs Veit Harlan herstellte, forderte daraufhin den Beschwerdeführer zu einer Äußerung darüber auf, mit welcher Berechtigung er die vorerwähnten Erklärungen gegen Harlan abgegeben habe. Der Beschwerdeführer erwiderte mit Schreiben vom 27. Oktober 1950, das er als "Offenen Brief" der Presse übergab, u. a. folgendes:



"Das Schwurgericht hat ebensowenig widerlegt, daß Veit Harlan für einen großen Zeitabschnitt des Hitler- Reiches der "Nazifilm Regisseur Nr. 1" und durch seinen "Jud Süß"-Film einer der wichtigsten Exponenten der mörderischen Judenhetze der Nazis war . . . Es mag im In- und Ausland Geschäftsleute geben, die sich an einer Wiederkehr Harlans nicht stoßen. Das moralische Ansehen Deutschlands in der Welt darf aber nicht von robusten Geldverdienern erneut ruiniert werden. Denn Harlans Wiederauftreten muß kaum vernarbte Wunden wieder aufreißen und abklingendes Mißtrauen zum Schaden des deutschen Wiederaufbaus furchtbar erneuern. Es ist aus allen diesen Gründen nicht nur das Recht anständiger Deutscher, sondern sogar ihre Pflicht, sich im Kampf gegen diesen unwürdigen Repräsentanten des deutschen Films über den Protest hinaus auch zum Boykott bereitzuhalten."



Die Domnick-Film-Produktion GmbH und die Herzog-Film GmbH (diese als Verleiherin des Films "Unsterbliche Geliebte' für das Bundesgebiet) erwirkten nun beim Landgericht Hamburg eine einstweilige Verfügung gegen den Beschwerdeführer, durch die ihm verboten wurde,



1. die deutschen Theaterbesitzer und Filmverleiher aufzufordern, den Film "Unsterbliche Geliebte" nicht in ihr Programm aufzunehmen,



2. das deutsche Publikum aufzufordern, diesen Film nicht zu besuchen.



Das Oberlandesgericht Hamburg wies die Berufung des Beschwerdeführers gegen das landgerichtliche Urteil zurück.



Auf Antrag des Beschwerdeführers wurde den beiden Filmgesellschaften eine Frist zur Klageerhebung gesetzt. Auf ihre Klage erließ das Landgericht Hamburg am 22. November 1951 folgendes Urteil:



"Der Beklagte wird verurteilt, es bei Vermeidung einer gerichtsseitig festzusetzenden Geld- oder Haftstrafe zu unterlassen,



1. die deutschen Theaterbesitzer und Filmverleiher aufzufordern, den bei der Klägerin zu 1 ) produzierten und von der Klägerin zu 2) zum Verleih im Bundesgebiet übernommenen Film "Unsterbliche Geliebte" nicht in ihr Programm aufzunehmen,



2. das deutsche Publikum aufzufordern, diesen Film nicht zu besuchen.



Der Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.



Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung von 110 000 DM vorläufig vollstreckbar."



Das Landgericht erblickt in den Äußerungen des Beschwerdeführers eine sittenwidrige Aufforderung zum Boykott. Ihr Ziel sei, ein Wiederauftreten Harlans "als Schöpfer repräsentativer Filme" zu verhindern. Die Aufforderung des Beschwerdeführers laufe sogar "praktisch darauf hinaus, Harlan von der Herstellung normaler Spielfilme überhaupt auszuschalten, denn jeder derartige Film könnte durch die Regieleistung zu einem repräsentativen Film werden". Da Harlan aber in dem wegen seiner Beteiligung an dem Film " Jud Süß" gegen ihn eingeleiteten Strafverfahren rechtskräftig freigesprochen worden sei und auf Grund der Entscheidung im Entnazifizierungsverfahren in der Ausübung seines Berufes keinen Beschränkungen mehr unterliege, verstoße dieses Vorgehen des Beschwerdeführers gegen "die demokratische Rechts- und Sittenauffassung des deutschen Volkes". Dem Beschwerdeführer werde nicht zum Vorwurf gemacht, daß er über das Wiederauftreten Harlans eine ablehnende Meinung geäußert habe, sondern daß er die Öffentlichkeit aufgefordert habe, durch ein bestimmtes Verhalten die Aufführung von Harlan-Filmen und damit das Wiederauftreten Harlans als Filmregisseur unmöglich zu machen. Diese Boykottaufforderung richte sich auch gegen die klagenden Filmgesellschaften; denn wenn der in der Herstellung befindliche Film keinen Absatz finden könne, drohe ihnen ein empfindlicher Vermögensschaden. Der objektive Tatbestand einer unerlaubten Handlung nach § 826 BGB sei damit erfüllt, ein Unterlassungsanspruch also gegeben.



Der Beschwerdeführer legte gegen dieses Urteil Berufung zum Oberlandesgericht Hamburg ein. Gleichzeitig hat er Verfassungsbeschwerde erhoben, in der er die Verletzung seines Grundrechts auf freie Meinungsäußerung (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG) rügt. Er habe am Verhalten Harlans und der Filmgesellschaften politische und moralische Kritik geübt. Dazu sei er berechtigt, denn Art. 5 GG verbürge nicht nur die Freiheit der Rede ohne Wirkungsabsicht, sondern gerade auch die Freiheit des Wirkens durch das Wort. Seine Äußerungen stellten Werturteile dar. Das Gericht habe irrigerweise geprüft, ob sie inhaltlich richtig seien und gebilligt werden könnten, während es nur darauf ankomme, ob sie rechtlich zulässig seien. Das aber seien sie, denn das Grundrecht der Meinungsfreiheit habe sozialen Charakter und gewähre ein subjektives öffentliches Recht darauf, durch geistiges Handeln die öffentliche Meinung mitzubestimmen und an der "Gestaltung des Volkes zum Staat" mitzuwirken. Dieses Recht finde seine Grenze ausschließlich in den "allgemeinen Gesetzen" (Art. 5 Abs. 2 GG). Soweit durch die Meinungsäußerung in das öffentliche, politische Leben hineingewirkt werden solle, könnten als "allgemeine Gesetze" nur solche angesehen werden, die öffentliches Recht enthielten, nicht aber die Normen des Bürgerlichen Gesetzbuchs über unerlaubte Handlungen. Was dagegen in der Sphäre des bürgerlichen Rechts sonst unerlaubt sei, könne durch Verfassungsrecht in der Sphäre des öffentlichen Rechts gerechtfertigt sein; die Grundrechte als subjektive Rechte mit Verfassungsrang seien für das bürgerliche Recht "Rechtfertigungsgründe mit Vorrang".



Dem Bundesminister der Justiz, dem Senat der Freien und Hansestadt Hamburg und den beiden Filmgesellschaften wurde Gelegenheit zur Äußerung gegeben. Der Senat hat mitgeteilt, daß er sich den Ausführungen der Verfassungsbeschwerde anschließe. Die Filmgesellschaften halten das Urteil des Landgerichts für zutreffend.



In der mündlichen Verhandlung waren der Beschwerdeführer und die beiden Filmgesellschaften vertreten.



Die Akten des Landgerichts Hamburg 15 Q 35/50 und 15 O 87/51 sowie das Urteil des Schwurgerichts I in Hamburg vom 29. April 1950 - (50) 16/50 // 14 Ks 8/49 - waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.



B. -- I.

Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig; die Voraussetzungen für die Anwendung des § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG (Entscheidung vor Erschöpfung des Rechtsweges) liegen vor.



II.
Der Beschwerdeführer behauptet, das Landgericht habe durch das Urteil sein Grundrecht auf freie Meinungsäußerung aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 des Grundgesetzes verletzt.



1. Das Urteil des Landgerichts, ein Akt der öffentlichen Gewalt in der besonderen Erscheinungsform der rechtsprechenden Gewalt, kann durch seinen Inhalt ein Grundrecht des Beschwerdeführers nur verletzen, wenn dieses Grundrecht bei der Urteilsfindung zu beachten war.



Das Urteil untersagt dem Beschwerdeführer ;Äußerungen, durch die er andere dahin beeinflussen könnte, sich seiner Auffassung über das Wiederauftreten Harlans anzuschließen und ihr Verhalten gegenüber den von ihm gestalteten Filmen entsprechend einzurichten. Das bedeutet objektiv eine Beschränkung des Beschwerdeführers in der freien Äußerung seiner Meinung. Das Landgericht begründet seinen Ausspruch damit, daß es die Äußerungen des Beschwerdeführers als eine unerlaubte Handlung nach § 826 BGB gegenüber den Klägerinnen betrachtet und diesen daher auf Grund der Vorschriften des bürgerlichen Rechts einen Anspruch auf Unterlassung der Äußerungen zuerkennt. So führt der vom Landgericht angenommene bürgerlich rechtliche Anspruch der Klägerinnen durch das Urteil des Gerichts zu einem die Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers beschränkenden Ausspruch der öffentlichen Gewalt. Dieser kann das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art. 5 Abs. 1 Satz l GG nur verletzen, wenn die angewendeten Vorschriften des bürgerlichen Rechts durch die Grundrechtsnorm inhaltlich so beeinflußt werden, daß sie das Urteil nicht mehr tragen.


Die grundsätzliche Frage, ob Grundrechtsnormen auf das bürgerliche Recht einwirken und wie diese Wirkung im einzelnen gedacht werden müsse, ist umstritten (über den Stand der Meinungen siehe neuestens Laufke in der Festschrift für Heinrich Lehmann, 1956, Band I S. 145 ff., und Dürig in der Festschrift für Nawiasky, 1956, S. 157 ff.). Die äußersten Positionen in diesem Streit liegen einerseits in der These, daß die Grundrechte ausschließlich gegen den Staat gerichtet seien, andererseits in der Auffassung, daß die Grundrechte oder doch einige und jedenfalls die wichtigsten von ihnen auch im Privatrechtsverkehr gegen jedermann gälten. Die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kann weder für die eine noch für die andere dieser extremen Auffassungen in Anspruch genommen werden; die Folgerungen, die das Bundesarbeitsgericht in seinem Urteil vom 10. Mai 1957 - NJW 1957, S. 1688 - aus den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom 17. und 23. Januar 1957 (BVerfGE 6, 55 und 6, 84) in dieser Hinsicht zieht, gehen zu weit. Auch jetzt besteht kein Anlaß, die Streitfrage der sogenannten "Drittwirkung" der Grundrechte in vollem Umfang zu erörtern. Zur Gewinnung eines sachgerechten Ergebnisses genügt folgendes:



Ohne Zweifel sind die Grundrechte in erster Linie dazu bestimmt, die Freiheitssphäre des einzelnen vor Eingriffen der öffentlichen Gewalt zu sichern; sie sind Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat. Das ergibt sich aus der geistesgeschichtlichen Entwicklung der Grundrechtsidee wie aus den geschichtlichen Vorgängen, die zur Aufnahme von Grundrechten in die



Verfassungen der einzelnen Staaten geführt haben. Diesen Sinn haben auch die Grundrechte des Grundgesetzes, das mit der Voranstellung des Grundrechtsabschnitts den Vorrang des Menschen und seiner Würde gegenüber der Macht des Staates betonen wollte. Dem entspricht es, daß der Gesetzgeber den besonderen Rechtsbehelf zur Wahrung dieser Rechte, die Verfassungsbeschwerde, nur gegen Akte der öffentlichen Gewalt gewährt hat.



Ebenso richtig ist aber, daß das Grundgesetz, das keine wertneutrale Ordnung sein will (BVerfGE 2, 1 [12]; 5, 85 [134 ff., 197 ff.]; 6, 32 [40 f.]), in seinem Grundrechtsabschnitt auch eine objektive Wertordnung aufgerichtet hat und daß gerade hierin eine prinzipielle Verstärkung der Geltungskraft der Grundrechte zum Ausdruck kommt (Klein-v. Mangoldt, Das Bonner Grundgesetz, Vorbem. B III 4 vor Art. 1 S. 93). Dieses Wertsystem, das seinen Mittelpunkt in der innerhalb der sozialen Gemeinschaft sich frei entfaltenden menschlichen Persönlichkeit und ihrer Würde findet, muß als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gelten; Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung empfangen von ihm Richtlinien und Impulse. So beeinflußt es selbstverständlich auch das bürgerliche Recht; keine bürgerlich-rechtliche Vorschrift darf in Widerspruch zu ihm stehen, jede muß in seinem Geiste ausgelegt werden.



Der Rechtsgehalt der Grundrechte als objektiver Normen entfaltet sich im Privatrecht durch das Medium der dieses Rechtsgebiet unmittelbar beherrschenden Vorschriften. Wie neues Recht im Einklang mit dem grundrechtlichen Wertsystem stehen muß, so wird bestehendes älteres Recht inhaltlich auf dieses Wertsystem ausgerichtet; von ihm her fließt ihm ein spezifisch verfassungsrechtlicher Gehalt zu, der fortan seine Auslegung bestimmt. Ein Streit zwischen Privaten über Rechte und Pflichten aus solchen grundrechtlich beeinflußten Verhaltensnormen des bürgerlichen Rechts bleibt materiell und prozessual ein bürgerlicher Rechtsstreit. Ausgelegt und angewendet wird bürgerliches Recht, wenn auch seine Auslegung dem öffentlichen Recht, der Verfassung, zu folgen hat.



Der Einfluß grundrechtlicher Wertmaßstäbe wird sich vor allem bei denjenigen Vorschriften des Privatrechts geltend machen, die zwingendes Recht enthalten und so einen Teil des ordre public - im weiten Sinne - bilden, d. h. der Prinzipien, die aus Gründen des gemeinen Wohls auch für die Gestaltung der Rechtsbeziehungen zwischen den einzelnen verbindlich sein sollen und deshalb der Herrschaft des Privatwillens entzogen sind. Diese Bestimmungen haben nach ihrem Zweck eine nahe Verwandtschaft mit dem öffentlichen Recht, dem sie sich ergänzend anfügen. Das muß sie in besonderem Maße dem Einfluß des Verfassungsrechts aussetzen. Der Rechtsprechung bieten sich zur Realisierung dieses Einflusses vor allem die "Generalklauseln", die, wie § 826 BGB, zur Beurteilung menschlichen Verhaltens auf außer-zivilrechtliche, ja zunächst überhaupt außerrechtliche Maßstäbe, wie die "guten Sitten", verweisen. Denn bei der Entscheidung darüber, was diese sozialen Gebote jeweils im Einzelfall fordern, muß in erster Linie von der Gesamtheit der Wertvorstellungen ausgegangen werden, die das Volk in einem bestimmten Zeitpunkt seiner geistig-kulturellen Entwicklung erreicht und in seiner Verfassung fixiert hat. Deshalb sind mit Recht die Generalklauseln als die "Einbruchstellen" der Grundrechte in das bürgerliche Recht bezeichnet worden (Dürig in Neumann-Nipperdey- Scheuner, Die Grundrechte, Band II S. 525).



Der Richter hat kraft Verfassungsgebots zu prüfen, ob die von ihm anzuwendenden materiellen zivilrechtlichen Vorschriften in der beschriebenen Weise grundrechtlich beeinflußt sind; trifft das zu, dann hat er bei Auslegung und Anwendung dieser Vorschriften die sich hieraus ergebende Modifikation des Privatrechts zu beachten. Dies ist der Sinn der Bindung auch des Zivilrichters an die Grundrechte (Art. 1 Abs. 3 GG). Verfehlt er diese Maßstäbe und beruht sein Urteil auf der Außerachtlassung dieses verfassungsrechtlichen Einflusses auf die zivilrechtlichen Normen, so verstößt er nicht nur gegen objektives Verfassungsrecht, indem er den Gehalt der Grundrechtsnorm (als objektiver Norm) verkennt, er verletzt vielmehr als Träger öffentlicher Gewalt durch sein Urteil das Grundrecht, auf dessen Beachtung auch durch die rechtsprechende Gewalt der Bürger einen verfassungsrechtlichen Anspruch hat. Gegen ein solches Urteil kann - unbeschadet der Bekämpfung des Rechtsfehlers im bürgerlich-rechtlichen Instanzenzug - das Bundesverfassungsgericht im Wege der Verfassungsbeschwerde angerufen werden.



Das Verfassungsgericht hat zu prüfen, ob das ordentliche Gericht die Reichweite und Wirkkraft der Grundrechte im Gebiet des bürgerlichen Rechts zutreffend beurteilt hat. Daraus ergibt sich aber zugleich die Begrenzung der Nachprüfung: es ist nicht Sache des Verfassungsgerichts, Urteile des Zivilrichters in vollem Umfange auf Rechtsfehler zu prüfen; das Verfassungsgericht hat lediglich die bezeichnete "Ausstrahlungswirkung" der Grundrechte auf das bürgerliche Recht zu beurteilen und den Wertgehalt des Verfassungsrechtssatzes auch hier zur Geltung zu bringen. Sinn des Instituts der Verfassungsbeschwerde ist es, daß alle Akte der gesetzgebenden, vollziehenden und richterlichen Gewalt auf ihre "Grundrechtmäßigkeit" nachprüfbar sein sollen (§ 90 BVerfGG). Sowenig das Bundesverfassungsgericht berufen ist, als Revisions- oder gar "Superrevisions"-Instanz gegenüber den Zivilgerichten tätig zu werden, sowenig darf es von der Nachprüfung solcher Urteile allgemein absehen und an einer in ihnen etwa zutage tretenden Verkennung grundrechtlicher Normen und Maßstäbe vorübergehen.



2. Die Problematik des Verhältnisses der Grundrechte zum Privatrecht scheint im Falle des Grundrechts der freien Meinungsäußerung (Art. 5 GG) anders gelagert zu sein. Dieses Grundrecht ist - wie schon in der Weimarer Verfassung (Art. 118) - vom Grundgesetz nur in den Schranken der "allgemeinen Gesetze" gewährleistet (Art. 5 Abs. 2). Ohne daß zunächst untersucht wird, welche Gesetze "allgemeine" Gesetze in diesem Sinne sind, ließe sich die Auffassung vertreten, hier habe die Verfassung selbst durch die Verweisung auf die Schranke der allgemeinen Gesetze den Geltungsanspruch des Grundrechts von vornherein auf den Bereich beschränkt, den ihm die Gerichte durch ihre Auslegung dieser Gesetze noch belassen. Das Ergebnis dieser Auslegung müsse, soweit es eine Beschränkung des Grundrechts darstelle, hingenommen werden und könne deshalb niemals als eine "Verletzung" des Grundrechts angesehen werden.



Dies ist indessen nicht der Sinn der Verweisung auf die "allgemeinen Gesetze". Das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung ist als unmittelbarster Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit in der Gesellschaft eines der vornehmsten Menschenrechte überhaupt (un des droits les plus precieux de l'homme nach Artikel 11 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789). Für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung ist es schlechthin konstituierend, denn es ermöglicht erst die ständige geistige Auseinandersetzung, den Kampf der Meinungen, der ihr Lebenselement ist (BVerfGE 5, 85 [205]). Es ist in gewissem Sinn die Grundlage jeder Freiheit überhaupt, "the matrix, the indispensable condition of nearly every other form of freedom" (Cardozo).



Aus dieser grundlegenden Bedeutung der Meinungsäußerungsfreiheit für den freiheitlich- demokratischen Staat ergibt sich, daß es vom Standpunkt dieses Verfassungssystems aus nicht folgerichtig wäre, die sachliche Reichweite gerade dieses Grundrechts jeder Relativierung durch einfaches Gesetz (und damit zwangsläufig durch die Rechtsprechung der die Gesetze auslegenden Gerichte) zu überlassen. Es gilt vielmehr im Prinzip auch hier, was oben allgemein über das Verhältnis der Grundrechte zur Privatrechtsordnung ausgeführt wurde: die allgemeinen Gesetze müssen in ihrer das Grundrecht beschränkenden Wirkung ihrerseits im Lichte der Bedeutung dieses Grundrechts gesehen und so interpretiert werden, daß der besondere Wertgehalt dieses Rechts, der in der freiheitlichen Demokratie zu einer grundsätzlichen Vermutung für die Freiheit der Rede in allen Bereichen, namentlich aber im öffentlichen Leben, führen muß, auf jeden Fall gewahrt bleibt. Die gegenseitige Beziehung zwischen Grundrecht und "allgemeinem Gesetz" ist also nicht als einseitige Beschränkung der Geltungskraft des Grundrechts durch die "allgemeinen Gesetze" aufzufassen; es findet vielmehr eine Wechselwirkung in dem Sinne statt, daß die "allgemeinen Gesetze" zwar dem Wortlaut nach dem Grundrecht Schranken setzen, ihrerseits aber aus der Erkenntnis der wertsetzenden Bedeutung dieses Grundrechts im freiheitlichen demokratischen Staat ausgelegt und so in ihrer das Grundrecht begrenzenden Wirkung selbst wieder eingeschränkt werden müssen.


Das Bundesverfassungsgericht, das durch das Rechtsinstitut der Verfassungsbeschwerde zur Wahrung der Grundrechte letztlich berufen ist, muß demgemäß auch hier die rechtliche Möglichkeit besitzen, die Rechtsprechung der Gerichte dort zu kontrollieren, wo sie in Anwendung eines allgemeinen Gesetzes den grundrechtlich bestimmten Raum betreten und damit möglicherweise den Geltungsanspruch des Grundrechts im Einzelfall unzulässig beschränken. Es muß zu seiner Kompetenz gehören, den spezifischen Wert, der sich in diesem Grundrecht für die freiheitliche Demokratie verkörpert, allen Organen der öffentlichen Gewalt, also auch den Zivilgerichten, gegenüber zur Geltung zu bringen und den verfassungsrechtlich gewollten Ausgleich zwischen den sich gegenseitig widerstreitenden, hemmenden und beschränkenden Tendenzen des Grundrechts und der "allgemeinen Gesetze" herzustellen.



3. Der Begriff des "allgemeinen" Gesetzes war von Anfang an umstritten. Es mag dahinstehen, ob der Begriff nur infolge eines Redaktionsversehens in den Artikel 118 der Reichsverfassung von 1919 gelangt ist (siehe dazu Häntzschel im Handbuch des deutschen Staatsrechts, 1932, Band II S. 658). Jedenfalls ist er bereits während der Geltungsdauer dieser Verfassung dahin ausgelegt worden, daß darunter alle Gesetze zu verstehen sind, die "nicht eine Meinung als solche verbieten, die sich nicht gegen die Äußerung der Meinung als solche richten", die vielmehr "dem Schutze eines schlechthin, ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung, zu schützenden Rechtsguts dienen", dem Schutze eines Gemeinschaftswerts, der gegenüber der Betätigung der Meinungsfreiheit den Vorrang hat (vgl. die Zusammenstellung der inhaltlich übereinstimmenden Formulierungen bei Klein-v. Mangoldt, a.a.O., S. 250 f., sowie veröffentl. der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Heft 4, 1928, S. 6 ff., bes. S. 18 ff., 51 ff.). Dem stimmen auch die Ausleger des Grundgesetzes zu (vgl. etwa Ridder in Neumann- Nipperdey-Scheuner, Die Grundrechte, Band II S. 282: "Gesetze, die nicht die rein geistige Wirkung der reinen Meinungsäußerung inhibieren").



Wird der Begriff "allgemeine Gesetze" so verstanden, dann ergibt sich zusammenfassend als Sinn des Grundrechtsschutzes:



Die Auffassung, daß nur das Äußern einer Meinung grundrechtlich geschützt sei, nicht die darin liegende oder damit bezweckte Wirkung auf andere, ist abzulehnen. Der Sinn einer Meinungsäußerung ist es gerade, "geistige Wirkung auf die Umwelt" ausgehen zu lassen, "meinungsbildend und überzeugend auf die Gesamtheit zu wirken" (Häntzschel, Hdb. DStR II, S. 655). Deshalb sind Werturteile, die immer eine geistige Wirkung erzielen, nämlich andere überzeugen wollen, vom Grundrecht des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG geschützt; ja der Schutz des Grundrechts bezieht sich in erster Linie auf die im Werturteil zum Ausdruck kommende eigene Stellungnahme des Redenden, durch die er auf andere wirken will. Eine Trennung zwischen (geschützter) Äußerung und (nicht geschützter) Wirkung der Äußerung wäre sinnwidrig.



Die - so verstandene - Meinungsäußerung ist als solche, d.h. in ihrer rein geistigen Wirkung, frei; wenn aber durch sie ein gesetzlich geschütztes Rechtsgut eines anderen beeinträchtigt wird, dessen Schutz gegenüber der Meinungsfreiheit den Vorrang verdient, so wird dieser Eingriff nicht dadurch erlaubt, daß er mittels einer Meinungsäußerung begangen wird. Es wird deshalb eine "Güterabwägung" erforderlich: Das Recht zur Meinungsäußerung muß zurücktreten, wenn schutzwürdige Interessen eines anderen von höherem Rang durch die Betätigung der Meinungsfreiheit verletzt würden. Ob solche überwiegendenInteressen anderer vorliegen, ist auf Grund aller Umstände des Falles zu ermitteln.



4. Von dieser Auffassung aus bestehen keine Bedenken dagegen, auch Normen des bürgerlichen Rechts als "allgemeine Gesetze" im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG anzuerkennen. Wenn das bisher in der Literatur im allgemeinen nicht geschehen ist (worauf auch Klein-v. Mangoldt, a.a.O., S. 251, hinweist), so kommt darin nur zum Ausdruck, daß man die Grundrechte lediglich in ihrer Wirkung zwischen Bürger und Staat gesehen hat, so daß folgerichtig als einschränkende allgemeine Gesetze nur solche in Betracht kamen, die staatliches Handeln gegenüber dem einzelnen regeln, also Gesetze öffentlich-rechtlichen Charakters. Wenn aber das Grundrecht der freien Meinungsäußerung auch in den Privatrechtsverkehr hineinwirkt und sein Gewicht sich hier zugunsten der Zulässigkeit einer Meinungsäußerung auch dem einzelnen Mitbürger gegenüber geltend macht, so muß auf der andern Seite auch die das Grundrecht unter Umständen beschränkende Gegenwirkung einer privatrechtlichen Norm, soweit sie höhere Rechtsgüter zu schützen bestimmt ist, beachtet werden. Es wäre nicht einzusehen, warum zivilrechtliche Vorschriften, die die Ehre oder andere wesentliche Güter der menschlichen Persönlichkeit schützen, nicht ausreichen sollten, um der Ausübung des Grundrechts der freien Meinungsäußerung Schranken zu setzen, auch ohne daß zu dem gleichen Zweck Strafvorschriften erlassen werden.


Der Beschwerdeführer befürchtet, daß durch Beschränkung der Redefreiheit einem einzelnen gegenüber die Gefahr heraufgeführt werden könnte, der Bürger werde in der Möglichkeit, durch seine Meinung in der Öffentlichkeit zu wirken, allzusehr beengt und die unerläßliche Freiheit der öffentlichen Erörterung gemeinschaftswichtiger Fragen sei nicht mehr gewährleistet. Diese Gefahr besteht in der Tat (vgl. dazu Ernst Helle, Der Schutz der persönlichen Ehre und des wirtschaftlichen Rufes im Privatrecht, 1957, S. 65, 83-85, 153). Um ihr zu begegnen, ist es aber nicht erforderlich, das bürgerliche Recht aus der Reihe der allgemeinen Gesetze schlechthin auszuscheiden. Es muß nur auch hier der freiheitliche Gehalt des Grundrechts entschieden festgehalten werden. Es wird vor allem dort in die Waagschale fallen müssen, wo von dem Grundrecht nicht zum Zwecke privater Auseinandersetzungen Gebrauch gemacht wird, der Redende vielmehr in erster Linie zur Bildung der öffentlichen Meinung beitragen will, so daß die etwaige Wirkung seiner ;Äußerung auf den privaten Rechtskreis eines anderen zwar eine unvermeidliche Folge, aber nicht das eigentliche Ziel der Äußerung darstellt. Gerade hier wird das Verhältnis von Zweck und Mittel bedeutsam. Der Schutz des privaten Rechtsguts kann und muß um so mehr zurücktreten, je mehr es sich nicht um eine unmittelbar gegen dieses Rechtsgut gerichtete Äußerung im privaten, namentlich im wirtschaftlichen Verkehr und in Verfolgung eigennütziger Ziele, sondern um einen Beitrag zum geistigen Meinungskampf in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage durch einen dazu Legitimierten handelt; hier spricht die Vermutung für die Zulässigkeit der freien Rede.



Es ergibt sich also: Auch Urteile des Zivilrichters, die auf Grund "allgemeiner Gesetze" bürgerlich-rechtlicher Art im Ergebnis zu einer Beschränkung der Meinungsfreiheit gelangen, können das Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG verletzen. Auch der Zivilrichter hat jeweils die Bedeutung des Grundrechts gegenüber dem Wert des im "allgemeinen Gesetz" geschützten Rechtsguts für den durch die Äußerung angeblich Verletzten abzuwägen. Die Entscheidung kann nur aus einer Gesamtanschauung des Einzelfalles unter Beachtung aller wesentlichen Umstände getroffen werden. Eine unrichtige Abwägung kann das Grundrecht verletzen und so die Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht begründen.



III.
Die Beurteilung des Falles auf Grund der vorstehenden allgemeinen Darlegungen ergibt, daß die Rüge des Beschwerdeführers berechtigt ist. Gegenstand der verfassungsgerichtlichen Prüfung ist dabei der Inhalt des landgerichtlichen Urteils, wie er sich aus Tenor und Entscheidungsgründen ergibt. Ob die Entscheidung des Gerichts auch dann verfassungsrechtlichen Bedenken unterläge, wenn sie - im Anschluß an die Ausführungen im Urteil des Oberlandesgerichts Hamburg im Verfahren der einstweiligen Verfügung - auf die Bestimmung des § 823 Abs. 1 BGB gestützt worden wäre, kann das Bundesverfassungsgericht nicht abschließend entscheiden, weil nicht ohne weiteres unterstellt werden darf, daß das Landgericht sich die Begründung des Oberlandesgerichts in allen Einzelheiten zu eigen gemacht haben würde. Wegen der sich hier ergebenden Probleme mag auf die Ausführungen von Helle, a.a.O., S. 75 ff. (bes. S. 83-85) verwiesen werden.



1. In der mündlichen Verhandlung ist erörtert worden, ob das Bundesverfassungsgericht an die tatsächlichen Feststellungen, die das Landgericht seinem Urteil zugrunde gelegt hat, gebunden ist. Das ist nicht lediglich mit dem Hinweis zu beantworten, daß nach § 26 BVerfGG im Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht der Grundsatz der materiellen Wahrheitsfindung gilt, denn der hier angegriffene Akt der öffentlichen Gewalt ist in einem Verfahren zustande gekommen, das seinerseits von der "Dispositionsmaxime" beherrscht wird. Die Frage braucht jedoch hier nicht grundsätzlich entschieden zu werden. Die äußeren Tatsachen, namentlich der Wortlaut der Äußerungen des Beschwerdeführers, sind unbestritten; unbestritten ist auch, daß der Beschwerdeführer als Privatmann, nicht als Vertreter des hamburgischen Staates, gesprochen hat. In der Deutung der Äußerungen kann dem Landgericht jedenfalls soweit gefolgt werden, als es darin eine "Aufforderung zum Boykott", auch in Richtung gegen die Filmgesellschaften, sieht. Der Beschwerdeführer selbst hat insoweit keine Bedenken erhoben. Was das Ziel der Äußerungen anlangt, so ist es unbedenklich, wenn das Landgericht feststellt, daß der Beschwerdeführer "ein Wiederauftreten Harlans als Schöpfer repräsentativer Filme" habe hindern wollen; ob die daran geknüpfte Folgerung, daß dies "praktisch darauf hinauslaufe", Harlan von der Herstellung normaler Spielfilme überhaupt auszuschalten, angesichts des Wortlauts der Äußerungen nicht doch zu weit geht, muß freilich zweifelhaft erscheinen, kann aber dahingestellt bleiben, da es für die Entscheidung ohne Bedeutung ist.



Für die rechtliche Beurteilung ist davon auszugehen, daß "Boykott" kein eindeutiger Rechtsbegriff ist, der als solcher schon eine unerlaubte (sittenwidrige) Handlung bezeichnet. In der Rechtsprechung ist mit Recht darauf hingewiesen worden (so besonders RGZ 155, 257 [276 f.]), daß es keinen fest umgrenzten Tatbestand des sittenwidrigen Boykotts gibt, daß es vielmehr immer darauf ankommt, ob ein Verhalten in seinem konkreten Zusammenhang als "sittenwidrig" anzusehen ist. Auch aus diesem Grunde ist es unbedenklich, die Deutung des Landgerichts zu übernehmen; denn sie sagt über die rechtlichen Folgen dieser Beurteilung noch nichts Entscheidendes aus. Man muß sich von der Suggestivkraft des Begriffs "Boykott" freihalten und das Verhalten des Beschwerdeführers im



Zusammenhang mit allen seinen Begleitumständen sehen.



2. Das Landgericht hat die Verurteilung des Beschwerdeführers auf § 826 BGB gestützt. Es nimmt an, daß das Verhalten des Beschwerdeführers im Sinne dieser Bestimmung gegen die guten Sitten, gegen die "demokratische Rechts- und Sittenauffassung des deutschen Volkes", verstoßen habe und deshalb eine unerlaubte Handlung darstelle, da ein Rechtfertigungsgrund nicht erkennbar sei. Dabei brauche derjenige, dessen Recht sittenwidrig beeinträchtigt werde, nicht mit dem Geschädigten identisch zu sein.



Nach dem oben zu II 4 Ausgeführten muß § 826 BGB, der grundsätzlich alle Rechte und Güter gegen sittenwidrige Angriffe schützt, als ein "allgemeines Gesetz" im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG angesehen werden. Die Prüfung des Bundesverfassungsgerichts beschränkt sich danach auf die Frage, ob das Landgericht bei der Anwendung dieser Generalklausel Bedeutung BVerfGE 7, 198 (214)BVerfGE 7, 198 (215)und Reichweite des Grundrechts der freien Meinungsäußerung richtig erkannt und gegen die Interessen Harlans und der Filmgesellschaften abgewogen hat.



§ 826 BGB verweist auf den Maßstab der "guten Sitten". Es handelt sich hier nicht um irgendwie vorgegebene und daher (grundsätzlich) unveränderliche Prinzipien reiner Sittlichkeit, sondern um die Anschauungen der "anständigen Leute" davon, was im sozialen Verkehr zwischen den Rechtsgenossen "sich gehört". Diese Anschauungen sind geschichtlich wandelbar, können daher - in gewissen Grenzen - auch durch rechtliche Gebote und Verbote beeinflußt werden. Der Richter, der das hiernach sozial Geforderte oder Untersagte im Einzelfall ermitteln muß, hat sich, wie aus der Natur der Sache folgt, ihm aber auch in Art. 1 Abs. 3 GG ausdrücklich vorgeschrieben ist, dabei an jene grundsätzlichen Wertentscheidungen und sozialen Ordnungsprinzipien zu halten, die er im Grundrechtsabschnitt der Verfassung findet. Innerhalb dieser Wertordnung, die zugleich eine Wertrangordnung ist, muß auch die hier erforderliche Abwägung zwischen dem Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG und den seine Ausübung beschränkenden Rechten und Rechtsgütern vorgenommen werden.



Für die Entscheidung der Frage, ob eine Aufforderung zum Boykott nach diesen Maßstäben sittenwidrig ist, sind zunächst Motive, Ziel und Zweck der Äußerungen zu prüfen; ferner kommt es darauf an, ob der Beschwerdeführer bei der Verfolgung seiner Ziele das Maß der nach den Umständen notwendigen und angemessenen Beeinträchtigung der Interessen Harlans und der Filmgesellschaften nicht überschritten hat.



a) Sicherlich haftet den Motiven, die den Beschwerdeführer zu seinen Äußerungen veranlaßt haben, nichts Sittenwidriges an. Der Beschwerdeführer hat keine eigenen Interessen wirtschaftlicher Art verfolgt; er stand namentlich weder mit den klagenden Filmgesellschaften noch mit Harlan in Konkurrenzbeziehungen. Das Landgericht hat selbst bereits in seinem Urteil im Verfahren der einstweiligen Verfügung festgestellt, die mündliche Verhandlung habe nicht die geringsten Anhaltspunkte dafür ergeben, daß der Beschwerdeführer etwa "aus eigennützigen bzw. nicht achtenswerten Motiven" gehandelt habe. Dem ist von keiner Seite widersprochen worden.


b) Das Ziel der Äußerungen des Beschwerdeführers war, wie er selbst angibt, Harlan als repräsentativen Vertreter des deutschen Films auszuschalten; er wollte verhindern, daß Harlan wieder als Schöpfer repräsentativer deutscher Filme herausgestellt werde und damit der Anschein entstehe, als sei ein neuer Aufstieg des deutschen Films notwendig mit der Person Harlans verbunden. Die Gerichte haben nicht zu beurteilen, ob diese Zielsetzung sachlich zu billigen ist, sondern nur, ob ihre Bekundung in der vom Beschwerdeführer gewählten Form rechtlich zulässig war.



Die Äußerungen des Beschwerdeführers müssen im Rahmen seiner allgemeinen politischen und kulturpolitischen Bestrebungen gesehen werden. Er war von der Sorge bewegt, das Wiederauftreten Harlans könne - vor allem im Ausland - so gedeutet werden, als habe sich im deutschen Kulturleben gegenüber der nationalsozialistischen Zeit nichts geändert; wie damals, so sei Harlan auch jetzt wieder der repräsentative deutsche Filmregisseur. Diese Befürchtungen betrafen eine für das deutsche Volk sehr wesentliche Frage, im Grunde die seiner sittlichen Haltung und seiner darauf beruhenden Geltung in der Welt. Dem deutschen Ansehen hat nichts so geschadet wie die grausame Verfolgung der Juden durch den Nationalsozialismus. Es besteht also ein entscheidendes Interesse daran, daß die Welt gewiß sein kann, das deutsche Volk habe sich von dieser Geisteshaltung abgewandt und verurteile sie nicht aus politischen Opportunitätsgründen, sondern aus der durch eigene innere Umkehr gewonnenen Einsicht in ihre Verwerflichkeit.



Die Befürchtungen des Beschwerdeführers sind von ihm nicht nachträglich konstruiert, sie entsprechen der Sachlage, wie sie sich damals für ihn darstellte. Das ist später unter anderem dadurch bestätigt worden, daß z.B. in der Schweiz der Versuch,den Film "Unsterbliche Geliebte" zu zeigen, zu lebhaften Protesten, ja sogar zu einer Interpretation im Nationalrat und zu einer amtlichen Stellungnahme des Bundesrats geführt hat (vgl. Neue Zeitung Nr. 70 vom 22./23. März 1952 und Neue Zürcher Zeitung, Fernausgabe Nr. 327 vom 28. November 1951); der Film wurde einhellig nicht wegen seines Inhalts, sondern wegen der Mitwirkung Harlans abgelehnt und infolge dieser zahlreichen nachdrücklichen Interventionen auch nicht aufgeführt. Auch in mehreren deutschen Städten wurde aus den gleichen Gründen gegen die Aufführung des Films demonstriert. Der Beschwerdeführer konnte also in dem Wiederauftreten Harlans einen im Interesse der deutschen Entwicklung und des deutschen Ansehens in der Welt zu beklagenden Vorgang sehen. Die sich hiermit nach seiner Auffassung - anbahnende Entwicklung wollte er verhindern.



Das Landgericht hält es für zulässig, daß der Beschwerdeführer über das Wiederauftreten Harlans eine Meinung geäußert hat, macht ihm aber zum Vorwurf, daß er die Öffentlichkeit aufgefordert habe, durch ein bestimmtes Verhalten das Wiederauftreten Harlans unmöglich zu machen. Bei dieser Unterscheidung wird übersehen, daß der Beschwerdeführer, wenn man ihm schon gestatten will, über das Wiederauftreten Harlans eine (ablehnende) Meinung zu äußern, kaum über das hinausging was in diesem Werturteil bereits enthalten war. Denn die Aufforderung, Harlan-Filme nicht abzunehmen und nicht zu besuchen, ergab sich als Wirkung des negativen Werturteils über das Wiederauftreten Harlans geradezu von selbst. Das sachliche anliegen des Beschwerdeführers war es, die Gefahr nationalsozialistischer Einflüsse auf das deutsche Filmwesen von vornherein abzuwehren; von da her hat er folgerichtig das Wiederauftreten Harlans bekämpft. Harlan erscheint hier als persönlicher Exponent einer bestimmten, vom Beschwerdeführer abgelehnten kulturpolitischen Entwicklung. Der zulässige Angriff gegen diese führte mit einer gewissen Notwendigkeit zu einem Eingriff in die persönliche Rechtssphäre Harlans.



Der Beschwerdeführer war durch seine besonders nahe persönliche Beziehung zu allem, was das deutsch- jüdische Verhältnis betraf, legitimiert, seine Auffassung in der Öffentlichkeit darzulegen. Er war damals bereits durch seine Bestrebungen um Wiederherstellung eines wahren inneren Friedens mit dem jüdischen Volke bekannt geworden. Er war führend in der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit tätig; er hatte kurz vorher in Rundfunk und Presse die Aktion "Friede mit Israel" eingeleitet, die in Deutschland und im Ausland lebhaft diskutiert worden war und ihm zahlreiche Zustimmungserklärungen eingebracht hatte. Es ist begreiflich, daß er befürchtete, alle diese Bestrebungen könnten durch das Wiederauftreten Harlans gestört und durchkreuzt werden. Er durfte aber auch davon ausgehen, daß man in der Öffentlichkeit gerade von ihm eine Äußerung dazu erwarte, zumal er aus Anlaß einer "Woche des deutschen Films" ohnedies zu aktuellen Filmfragen zu sprechen hatte und die unmittelbar bevorstehende Aufführung des ersten neuen Harlan-Films in Fachkreisen sicherlich als ein wichtiges Ereignis gewertet wurde. Der Beschwerdeführer konnte die Empfindung haben, daß er hier einer Stellungnahme nicht ausweichen dürfe. Daraus ergab sich für ihn eine defensive Situation, die seine Äußerungen nicht als einen unmotivierten und jedenfalls unprovozierten Angriff, sondern als eine verständliche Reaktion der Abwehr erscheinen läßt.



Das Verlangen, der Beschwerdeführer hätte bei dieser Sachlage von der Kundgabe seiner Auffassung, daß Harlan von der Mitwirkung an repräsentativen Filmen ausgeschaltet werden solle, mit Rücksicht auf die beruflichen Interessen Harlans und die wirtschaftlichen Interessen der ihn beschäftigenden Filmgesellschaften trotzdem absehen müssen, ist unberechtigt. Die Filmgesellschaften mögen bei ihrem Entschluß, Harlan wieder zu beschäftigen, formal korrekt verfahren sein. Wenn sie dabei aber die darüber hinaus verbleibende moralische Problematik des Falles nicht berücksichtigt haben, dann kann das nicht dazu führen, das Vorgehen des Beschwerdeführers, der gerade diese Problematik aufgriff, als "unsittlich" zu bezeichnen und ihm so die Freiheit der Meinungsäußerung zu beschneiden. Damit würde der Wert, den das Grundrecht der freien Meinungsäußerung für die freiheitliche Demokratie gerade dadurch besitzt, daß es die öffentliche Diskussion über Gegenstände von allgemeiner Bedeutung und ernstem Gehalt gewährleistet, empfindlich geschmälert. Wenn es darum geht, daß sich in einer für das Gemeinwohl wichtigen Frage eine öffentliche Meinung bildet, müssen private und namentlich wirtschaftliche Interessen einzelner grundsätzlich zurücktreten. Diese Interessen sind darum nicht schutzlos; denn der Wert des Grundrechts zeigt sich gerade auch darin, daß jeder von ihm Gebrauch machen kann. Wer sich durch die öffentliche Äußerung eines andern verletzt fühlt, kann ebenfalls vor der Öffentlichkeit erwidern. Erst im Widerstreit der in gleicher Freiheit vorgetragenen Auffassungen kommt die öffentliche Meinung zustande, bilden sich die einzelnen angesprochenen Mitglieder der Gesellschaft ihre persönliche Ansicht. Der Beschwerdeführer hat zu Recht darauf hingewiesen, daß es z. B. grundsätzlich zulässig ist, aus ernsthaften Motiven in der Öffentlichkeit den Absatz bestimmter Waren oder bestimmte Organisationsformen des Verkaufs zu bekämpfen, auch wenn bei Erfolg solcher Meinungsäußerungen wirtschaftliche Unternehmen zum Erliegen kämen, Arbeitsplätze verlorengingen u. dgl. Solche Äußerungen können nicht schon wegen dieser möglichen Folgen gerichtlich untersagt werden - den Angegriffenen steht es aber frei, sich durch Darlegung ihrer Auffassung zur Wehr zu setzen.



In diesem Zusammenhang hat das Landgericht auf Art. 2 GG hingewiesen Es geht davon aus, Harlan dürfe seinen Beruf als Filmregisseur wieder aufnehmen und ausüben, da er vom Schwurgericht, vor dem er wegen eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit nach dem Kontrollratsgesetz Nr. 10 angeklagt war, freigesprochen, im Entnazifizierungsverfahren als " Entlasteter" eingestuft worden sei und die Spitzenorganisation der Filmwirtschaft (Spio) alle Tätigkeitsbeschränkungen gegen ihn aufgehoben habe. Artikel 2 wirke allerdings nur gegen die öffentliche Gewalt; zugleich komme aber in der Bestimmung die sittliche Auffassung des deutschen Volkes zum Ausdruck, mit der Folge, daß die eigenmächtige Beschränkung dieses Grundrechts, "von wem sie auch kommen mag", gegen die guten Sitten verstoße. Daran ist richtig, daß auch Art. 2 GG zu dem grundrechtlichen Wertsystem gehört und die Vorstellungen davon, was wider die "guten Sitten" verstößt, maßgeblich beeinflussen kann. Trotzdem wird hier die Bedeutung des Artikels 2 nicht richtig gesehen. Daß der Staat, die öffentliche Gewalt, nur in den Schranken der Gesetze gegen Harlan vorgehen durfte und darf, ist selbstverständlich. Daraus folgt aber nichts dafür, was der einzelne Bürger gegenüber Harlan unternehmen und äußern darf. Denn hier ist entscheidend, daß jeder einzelne Träger derselben Grundrechte ist. Da im Zusammenleben in einer großen Gemeinschaft sich notwendig ständig Interessen- und Rechtskollisionen zwischen den einzelnen ergeben, hat im sozialen Bereich ständig ein Ausgleich und eine Abwägung der einander entgegenstehenden Rechte nach dem Grade ihrer Schutzwürdigkeit stattzufinden. Was als Ergebnis einer solchen Abwägung an Beschränkung der freien Entfaltungsmöglichkeit für den einzelnen verbleibt, muß hingenommen werden. Niemand kann sich hier auf die angeblich absolut geschützte Position des Art. 2 GG zurückziehen und jeden Angriff auf sie, "von wem er auch kommen mag", als Unrecht oder Verstoß gegen die guten Sitten ansehen (vgl. auch H. Lehmann, MDR 1952, S.298). Die Argumentation des Oberlandesgerichts Hamburg im Verfahren der einstweiligen Verfügung: "weil der Staat das Recht (zu gewissen Maßnahmen) nicht hat, so kann dieses Recht erst recht nicht der einzelne Bürger haben", ist irrig, weil sie Nicht- Zusammengehöriges in ein einfaches Verhältnis von mehr und weniger bringen will.



Die Ausführungen des Landgerichts könnten auch so gedeutet werden, daß es in den Äußerungen des Beschwerdeführers einen Eingriff in den Kern der künstlerischen Persönlichkeit Harlans erblickt, den "letzten unantastbaren Bereich menschlicher Freiheit" (BVerfGE 6, 32 [41]), einen Eingriff also, der durch keine noch so gewichtigen Interessen des Beschwerdeführers gerechtfertigt werden könne und deshalb, weil er die Menschenwürde Harlans verletze, unter allen Umständen sittenwidrig sei. Eine so weitreichende Folgerung läßt aber der festgestellte Sachverhalt nicht zu. Selbst wenn man - über den Wortlaut der Äußerungen hinaus - mit dem Landgericht annimmt, bei Erfolg der Aufforderung werde Harlan als Regisseur von Spielfilmen völlig ausgeschaltet, würden diesem doch noch andere künstlerische Betätigungsmöglichkeiten - auch im Filmwesen - verbleiben, so daß von einer gänzlichen Vernichtung seiner künstlerischen und menschlichen Existenz nicht gesprochen werden könnte. Eine solche Annahme würde aber überhaupt die Intensität des in den Äußerungen liegenden Eingriffs erheblich überschätzen. Die Äußerungen konnten als solche die künstlerische und menschliche Entfaltungsfreiheit Harlans unmittelbar und wirksam überhaupt nicht beschränken. Dem Beschwerdeführer standen keinerlei Zwangsmittel zu Gebote, um seiner Aufforderung Nachdruck zu verleihen; er konnte nur an das Verantwortungsbewußtsein und die sittliche Haltung der von ihm Angesprochenen appellieren und mußte es ihrer freien Willensentschließung überlassen, ob sie ihm folgen wollten. Daß er auf die Subventionierung von Filmen durch den hamburgischen Staat Einfluß gehabt hätte, also durch die Drohung mit dem Entzug oder der Versagung von Subventionen einen gewissen Druck wenigstens auf die Filmproduzenten hätte ausüben können, ist nicht dargetan.



c) Die Gegner des Beschwerdeführers haben in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht besonderes Gewicht darauf gelegt, daß die vom Beschwerdeführer bei der Boykottaufforderung angewandten Mittel jedenfalls in einer Hinsicht in sich schon sittenwidrig gewesen seien. Der Beschwerdeführer habe nämlich die objektiv unwahre Behauptung aufgestellt, Harlan sei vom Schwurgericht nur formell freigesprochen worden, die Urteilsgründe seien eine moralische Verdammung gewesen.



Es mag dahinstehen, ob dieser Vorwurf, wenn er gerechtfertigt wäre, ein so umfassendes Verbot begründen könnte, wie es im Urteil des Landgerichts ausgesprochen ist. Das Landgericht selbst ist der Auffassung, "daß die Verwendung sittenwidriger Mittel wohl ein Verbot der Boykottaufforderung mit diesen Mitteln, nicht aber ein Verbot der Boykottaufforderung schlechthin rechtfertigen würde". Indessen kann nicht anerkannt werden, daß der Beschwerdeführer sich mit dieser Kennzeichnung des Schwurgerichtsurteils eines Sittenverstoßes schuldig gemacht habe.



Aus dem Inhalt des Schwurgerichtsurteils ist festzustellen: Das Urteil schildert den Lebensgang Harlans, insbesondere seine Laufbahn als Filmregisseur, die nach 1933 begann und ihn alsbald zum "Prestigeregisseur" (so kennzeichnet Harlan selbst seine Stellung in der Schrift: "Meine Beziehung zum Nationalsozialismus", S. 21) aufsteigen ließ. Das Urteil stellt dann die Entstehungsgeschichte des Films "Jud Süß" und die Beteiligung Harlans an diesem Film als Regisseur und Drehbuchmitautor im einzelnen dar. Es schreibt dem Film "klare antisemitische Tendenz" zu, würdigt ihn im Zusammenhang mit den allgemeinen Umständen zur Zeit seiner Entstehung und ersten Aufführung (1940) dahin, daß er durch die tendenziöse Beeinflussung der öffentlichen Meinung im judenfeindlichen Sinn mitursächlich für die Judenverfolgung gewesen sei, und kennzeichnet ihn deshalb in objektiver Hinsicht als ein "Angriffsverhalten", wie es nach der Rechtsprechung für den Begriff des Verbrechens gegen die Menschlichkeit im Sinne des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 erfordert werde. Da Harlan als Mitgestalter des Drehbuchs und Regisseur objektiv zum Kreis der Angriffstäter gehöre und da er auch die mit dem Film verfolgten Absichten erkannt sowie mit den voraussichtlichen Wirkungen des Films gerechnet habe, kommt das Urteil zur Feststellung, daß er durch seine maßgebende Mitwirkung bei der Schaffung dieses Films "in objektiver und subjektiver Hinsicht den Tatbestand des Verbrechens gegen die Menschlichkeit erfüllt" habe. Es spricht ihn trotzdem frei, weil es ihm den Schuldausschließungsgrund des sogenannten Nötigungsnotstands (§ 52 StGB) zubilligt. Dazu wird im einzelnen ausgeführt:



"Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht fest, daß Harlan sich nicht um die Mitwirkung an der Herstellung des Films "Jud Süß" bemüht hat, sondern im Gegenteil erst auf Grund des ihm vom Propagandaminister Goebbels erteilten Befehls tätig geworden ist. Zur Beurteilung der Frage, wie Goebbels sich im Fall der offenen oder versteckten Ablehnung Harlans verhalten haben würde, war zunächst auf Grund allgemeiner gerichtsnotorischer Tatsachen festzustellen, daß im November 1939 bereits der Kriegszustand zwischen Deutschland und Polen und die Möglichkeit der weiteren Ausdehnung des Krieges auf andere Staaten bestand. Goebbels vertrat die These, daß im Kriege jeder Deutsche seine Aufgabe an dem Platz zu erfüllen habe, an den er gestellt sei, und daß jeder Deutsche "Soldat des Führers" sei. Goebbels selbst betrachtete sich in seiner Eigenschaft als Propagandaminister als General des Führers und die unter ihm arbeitenden Beamten des Propagandaministeriums und alle seinem Ministerium unterstellten Personen, auch Filmproduzenten, Regisseure, Schauspieler usw. als unter seinem Befehl stehende Soldaten. Die Nichtausführung eines von Goebbels gegebenen Befehles wurde seit Beginn des Krieges von ihm als Verweigerung eines kriegsdienstlichen Befehles angesehen und es bedarf keiner Erörterung darüber, daß eine solche von den damaligen Machthabern mit den schärfsten Strafen, auch mit der Todesstrafe, belegt worden wäre. In derartigen Fällen bewies Goebbels eine unmenschliche Härte und Skrupellosigkeit zur Durchführung seiner Absichten, so daß die Möglichkeit einer offenen Ablehnung von vornherein ausgeschlossen war. Darüber hinaus bewiesen die angeführten Einzelbeispiele, wie unberechenbar und gefährlich Goebbels in seinen Handlungen sein konnte. Weiter zeigt die Tatsache, daß Goebbels als Propagandaminister jahrelang zugesehen hat, wie deutsche Menschen, deutsche Städte durch einen sinnlosen Krieg zugrunde gerichtet wurden und wie Millionen unschuldiger Menschen durch die Willkürmaßnahmen des nationalsozialistischen Regimes in einer jeder Menschlichkeit Hohn sprechenden Art und Weise gequält, gedemütigt, ja sogar gemordet wurden, und daß Goebbels alle diese Taten durch seine Propaganda zu rechtfertigen suchte, wie skrupellos und ohne moralische Hemmungen dieser Propagandadiktator war. Unter dem nationalsozialistischen Gewaltsystem sind ferner eine große Anzahl bedeutender und im Volke außerordentlich angesehener Männer aus den einflußreichsten Stellungen entfernt worden, in Konzentrationslager verbracht, zum Selbstmord getrieben oder hingerichtet worden, und zwar in vielen Fällen ohne daß auch nur der Schein des Rechtes gewahrt worden wäre. Alle diese Tatsachen erhellen, das Goebbels zur Durchsetzung seiner Absichten ebenso wie die andern nationalsozialistischen Machthaber vor keiner Gewalttat zurückschreckte.



Als Goebbels im Jahre 1938 die Auflage an die Filmgesellschaften erteilte, je einen antisemitischen Filmstoff herauszubringen, verfolgte er planmäßig die im nationalsozialistischen Programm festgelegten antisemitischen Thesen. Im Jahre 1939 mußte die antisemitische Propaganda nach der Auffassung der damaligen Machthaber eine noch weit größere Bedeutung erlangen, da sie das Weltjudentum als den Feind Europas und als ihren stärksten Gegner betrachteten, wie das auch in den Reden Adolf Hitlers ständig zum Ausdruck gekommen ist. Die Durchführung der von Goebbels erteilten Auflage gewann daher zunehmend größere Bedeutung. Sie mußte sogar von seinem Standpunkt aus von größtem staatspolitischen Wert sein. Goebbels war daher schon aus den hier aufgezeigten Gründen an der Durchführung seiner Befehle auf das heftigste interessiert. Bei dem Film "Jud Süß" kam jedoch hinzu, daß Goebbels auch persönlich durch den von den Schauspielern geleisteten Widerstand gegen das Filmprojekt äußerst gereizt war. Es galt für ihn, seinen Willen in diktatorischer Weise gegenüber jedem Widerstand durchzusetzen. Unter Berücksichtigung aller dieser Umstände konnte zumindest die Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden, daß für Harlan im Falle einer offenen oder versteckten Ablehnung, falls diese von Goebbels erkannt wurde, Gefahr für Leib und Leben bestand. Das Schwurgericht ist darüber hinaus sogar der Auffassung, daß diese Lebensbedrohung bei der ,Persönlichkeit Goebbels' durchaus ernsthaft gegeben war und zwar um so mehr, als das Verhältnis zwischen Goebbels und Harlan besonders im Jahre 1939/40 außerordentlich gespannt war. Von der großen Zahl der zu diesem Punkt vernommenen Zeugen hat nicht ein einziger mit Sicherheit sagen können, welche Folgewirkungen für Harlan hätten entstehen können. Sie stimmten jedoch weitgehend darin überein, daß Goebbels in irgendeiner Weise seine furchtbare Macht Harlan hätte spüren lassen. Für die rechtliche Entscheidung kann es jedoch nicht von Bedeutung sein ob Goebbels gegen Harlan als Verweigerer eines kriegsdienstlichen Befehls etwa ein Verfahren vor dem Sondergericht in die Wege geleitet oder ihn der Willkürbehandlung im Konzentrationslager überantwortet hätte, oder ob er schließlich irgendeinen anderen, nicht im Zusammenhang mit dem Filmprojekt stehenden Vorwand gesucht und gefunden hätte, Harlan als politischen Gegner, Saboteur oder wegen irgendeines anderen Deliktes den gleichen Maßnahmen auszusetzen. Daß die Harlan drohende Gefahr eine gegenwärtige war, bedarf keiner weiteren Ausführungen, da die Folgen der Nichtausführung des Goebbelsbefehles in jedem Augenblick eintreten konnten, in dem Goebbels Harlans wahre Absichten erkannte."



Es wird dann geprüft, ob Harlan zu seiner Mitarbeit an dem Film etwa durch andere Beweggründe bestimmt worden sei. Solche Motive lassen sich nach Auffassung des Schwurgerichts nicht feststellen. Es heißt dann weiter:



"Es ist bereits ausgeführt worden, daß die offene Ablehnung der Mitarbeit an dem Filmprojekt "Jud Süß" für Harlan eine schwere Bedrohung und Lebensgefahr bedeutet hätte. Es war aber weiter zu prüfen, welche Möglichkeiten für ihn bestanden haben, durch verstecktes Ausweichen dieser Gefahr zu entgehen und sich dennoch der Beteiligung an der Filmarbeit zu entziehen. Der Angeklagte hat nun behauptet, er habe alle Möglichkeiten, um den Goebbels'schen Befehl herumzukommen, voll ausgeschöpft, andere Möglichkeiten als die von ihm versuchten hätten ihm nicht zur Verfügung gestanden.



Dem Angeklagten konnte nicht widerlegt werden, daß er verschiedene Ausweichmanöver versucht hat und zwar, daß er das Drehbuch bei Goebbels gründlich verrissen, sich zur Darstellung rein negativer Personen unfähig erklärt, auf seine dringenden Arbeiten an seinem Film "Pedro soll hängen" und an dem neuen Projekt "Agnes Bernauer" verwiesen hat und daß er sich schließlich freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet hat. Soweit es sich bei den von dem Angeklagten behaupteten Ausweichmanövern um Einwendungen künstlerischer Art handelte, konnte seine Haltung ihre Erklärung auch in der Besorgnis eines Regisseurs finden, der auf Grund eines schlechten Drehbuchs einen schlechten Film zu drehen fürchtete. Trotzdem konnte das Gericht nicht mit Sicherheit ausschließen, daß alle diese Maßnahmen Harlans aus einer inneren Ablehnung gegen das Filmprojekt als solche ergriffen wurden. Es war daher die weitere Frage zu prüfen, ob sich Harlan über die von ihm behaupteten Ausweichversuche hinaus weitere Möglichkeiten zum Ausweichen geboten haben könnten. Das Gericht hat solche Möglichkeiten nicht feststellen können."



Das Urteil legt dann im einzelnen dar, daß zu der Zeit, als Harlan mit der Gestaltung des Films beauftragt wurde, für ihn kaum noch Möglichkeiten bestanden hätten, sich der Mitarbeit zu entziehen, den Film zu sabotieren oder seinen antisemitischen Inhalt wesentlich zu mildern; daß er das letztere wenigstens versucht habe, wird ihm ausdrücklich bescheinigt. In diesem Zusammenhang wird gesagt:



"Dem Angeklagten konnte auch nicht zum strafrechtlichen Vorwurf gemacht werden, daß er den Film in einer seinen künstlerischen Fähigkeiten entsprechenden Form gestaltet hat. Es wird wohl zutreffen, daß der Film unter Zugrundelegung des Metzger-Möller'schen Drehbuches oder unter der Regie Dr. Brauers einen weit geringeren Zulauf bei dem Filmpublikum erreicht hätte. Es ist logisch und zwingend, daß in diesem Falle die antisemitische Tendenz des Films keine so weite Verbreitung hätte finden können, wie dies bei dem von Harlan hergestellten Film der Fall war. Es war hierbei zu berücksichtigen, daß Harlan durch eine künstlerisch nicht so hoch zu wertende Gestaltung seinen Ruf als großer Regisseur auf das schwerste hätte gefährden können. Das Schwurgericht ist jedoch der Ansicht, daß ein Künstler - ob er nun freiwillig oder gezwungen an die Erfüllung eines Auftrages geht - gar nicht imstande ist, zu bestimmen, ob er einen guten, zugkräftigen oder einen schlechten Film herstellt. In jedem Falle wird der Film so ausfallen, wie es seiner künstlerischen Begabung entspricht."



So gelangt das Urteil schließlich zu dem Ergebnis:



"Zusammenfassend ist zu sagen, daß die Tätigkeit Harlans in objektiver und subjektiver Hinsicht zwar den Tatbestand des Verbrechens gegen die Menschlichkeit erfüllt hat, ihm jedoch der Entschuldigungsgrund des § 52 StGB zuzubilligen war."


Das Schwurgericht hat sonach nicht konkrete Tatsachen festgestellt, die für Harlan einen Notstand begründet hätten; es hat die von Harlan in dieser Richtung vorgetragenen Verteidigungsbehauptungen gewürdigt und ist zu dem Schluß gekommen, man müsse annehmen, daß bei Ablehnung einer Mitwirkung an dem Film für Harlan Gefahr für Leib und Leben bestanden habe; die aus allgemeinem geschichtlichen Wissen bekannten Charakterzüge von Goebbels machten eine solche Gefährdung sogar wahrscheinlich.



Diese Gedankenführung des schwurgerichtlichen Urteils hat der Beschwerdeführer zusammenfassend dahin gewertet, es handle sich hier um einen "formellen Freispruch" und eine "moralische Verdammung". Was der Beschwerdeführer zum Ausdruck bringen wollte, war offenbar dies: Es liege hier nicht ein Freispruch wegen erwiesener Unschuld vor; Harlan sei durch die Urteilsgründe in Wahrheit schwer belastet, da er als maßgebender Mitgestalter eines Werkes erscheine, das als "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" zu charakterisieren sei und dessen mutmaßliche Wirkung auf die Behandlung der Juden er gekannt habe; das Gericht habe ihn nur freigesprochen, weil es ihm nicht habe widerlegen können, daß er unter Zwang an dem Film mitgewirkt habe.



Wenn der Beschwerdeführer seinen Eindruck vom Inhalt des schwurgerichtlichen Urteils in die Worte "formeller Freispruch" und "moralische Verdammung" zusammengefaßt hat, so geht das nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts nicht über die Grenze des in der öffentlichen Diskussion eines Themas von ernstem Gehalt Zulässigen hinaus. Es bedeutet eine unannehmbare Einengung der Redefreiheit in einer freiheitlichen Demokratie, wenn das Landgericht hier von dem Beschwerdeführer, der nicht Jurist ist, die Sorgfalt sogar eines "strafrechtlich geschulten Lesers" fordert, die ihn hätte veranlassen müssen, die Kennzeichnung "formeller Freispruch" zu unterlassen, weil sie nur beim Fehlen objektiver Voraussetzungen der Strafbarkeit angängig sei. Die vom Beschwerdeführer gewählten Bezeichnungen sind keine Tatsachenbehauptungen, deren Wahrheit oder Unwahrheit bewiesen werden könnte; namentlich wird mit der Bezeichnung "formeller Freispruch" kein eindeutiger rechtlicher Tatbestand bezeichnet. Es handelt sich um eine zusammenfassende, wertende Charakterisierung des gesamten Urteilsinhalts, die für zulässig gehalten werden muß, weil sie weder in der Form verletzend ist noch inhaltlich so sehr den gemeinten Sachverhalt verfehlt, daß sie bei Hörern und Lesern ganz irrige Vorstellungen über den Urteilsinhalt erwecken müßte, wie es etwa der Fall wäre, wenn von einem Freigesprochenen ohne nähere Erläuterung behauptet würde, er sei "verurteilt" worden. Es ist hier auch von Bedeutung, daß der Freispruch Harlans in der breiteren Öffentlichkeit und erst recht in den Kreisen der Filmwirtschaft bereits bekannt war. Ebenso war bekannt, daß Harlan der Regisseur des Films "Jud Süß" gewesen war. Damit stand fest, daß das Urteil nicht die völlige "Unschuld" im Sinne einer Nichtbeteiligung Harlans an der Förderung der Judenverfolgung durch diesen Film festgestellt haben konnte, daß mithin der Freispruch auf einem anderen, vergleichsweise "formalen" Gesichtspunkt beruhen mußte. Die Äußerung des Beschwerdeführers kann also nicht in Vergleich gesetzt werden mit den Fällen, in denen eine Boykottaufforderung durch Verbreitung einer summarischen Kennzeichnung eines Sachverhalts begründet wird, die von den Adressaten nicht ohne weiteres richtig verstanden werden kann.



d) Die vom Beschwerdeführer für seine Meinungsäußerung gewählten Formen der Ansprache vor dem Presseklub und des Offenen Briefes gingen nicht über das nach den Umständen Zulässige hinaus. Die Domnick-Film-Produktion GmbH hat in dem Schreiben, das sie nach der Ansprache des Beschwerdeführers an diesen richtete, hervorgehoben, daß ihr daran gelegen sei, die frühere künstlerische Höhe des deutschen Films wieder zu erreichen. In diesem "Bestreben nach künstlerisch anspruchsvollen Filmen" habe sie Harlan zur Mitarbeit herangezogen. Daraus ergibt sich, daß die Gesellschaft sich gerade von der Mitwirkung Harlans an ihren Filmen viel versprach, und es war selbstverständlich, daß sie diese Mitwirkung in ihrer Werbung entsprechend hervorheben werde. Hiermit war ein starkes Hervortreten Harlans in der Öffentlichkeit auch ohne besonderes Zutun von seiner Seite verbunden. Das Massenunterhaltungsmittel des Films erreicht fast gleichzeitig Millionen von Zuschauern im In- und Ausland und läßt so die Mitwirkenden, namentlich die Darsteller und Regisseure, rasch in der breitesten Öffentlichkeit bekannt werden. Wer aber in dieser Weise vor die Öffentlichkeit tritt und dabei an den früheren Ruf eines Mitwirkenden anknüpft, muß sich gefallen lassen, daß auch die Kritik hieran vor der Öffentlichkeit erfolgt; und je intensiver mit einem Namen und unter Hinweis auf die früheren Leistungen eines Künstlers auf breite Bevölkerungskreise gewirkt wird, desto eindringlicher und schärfer darf auch die Form der vorsorglichen Abwehr solcher Wirkung sein. Deshalb ist es nicht zu beanstanden, daß der Beschwerdeführer für seine Kritik die Form einer Ansprache vor Filmproduzenten und Filmverleihern sowie die des Offenen Briefes gewählt hat, die letztere übrigens nur, weil die Domnick-Film-Produktion GmbH ihrerseits ihr Schreiben der Spio bekanntgegeben hatte.



Eine abschließende Gesamtbetrachtung des Falles kann schließlich an folgender Überlegung nicht vorübergehen: Der Beschwerdeführer hat aus lauteren Motiven an das sittliche Gefühl der von ihm angesprochenen Kreise appelliert und sie zu einer nicht zu beanstandenden moralischen Haltung aufgerufen. Das ist in der allgemeinen Volksanschauung nicht verkannt worden. Der Beschwerdeführer hat darauf hinweisen können, daß er sich bei seiner Bewertung des Wiederauftretens Harlans im Einklang mit der Haltung angesehener Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens im Inland und Ausland befinde. Beweise dafür liegen vor; es mag nur auf die in Nr. 3 der Deutschen Universitätszeitung vom 8. Februar 1952 veröffentlichte Stellungnahme von 48 Göttinger Professoren verwiesen werden, ferner etwa auf die Beiträge in der erwähnten Ausgabe der Neuen Zürcher Zeitung. Vor allem aber hat in der 197. Sitzung des Deutschen Bundestags am 29. Februar 1952 der Abgeordnete Dr. Schmid-Tübingen folgendes erklärt (Prot. S. 8474):



"In Bonn läuft zur Zeit der Film "Immensee" aus der Produktion des Ihnen allen als Hersteller des Films "Jud Süß" bekannten Regisseurs Veit Harlan. Es ist eine Schande, daß die Machwerke dieses Mannes in Deutschland überhaupt gezeigt und besucht werden können. Manche berufen sich darauf, daß es keine Gesetze gebe, die es ermöglichten, die Vorführung von Filmen dieses Mannes zu untersagen. Das ist richtig, und auch der Bundestag kann ihre Vorführung nicht verhindern. Ich glaube aber, daß man dem wahren Rechte dient, wenn in diesem Hause dagegen Protest erhoben wird, daß ausgerechnet am Sitze des deutschen Parlaments, das in diesem Lande in ganz besonderem Maße der Hüter und Herold echter Toleranz zu sein hat, Filme eines Mannes aufgeführt werden, der zumindest indirekt mit dazu beigetragen hat, die massenpsychologischen Voraussetzungen für die Vergasungen von Auschwitz zu schaffen."



Das Protokoll verzeichnet hierzu "Beifall links und bei den Regierungsparteien". Für die Beurteilung des Verhaltens des Beschwerdeführers kann die hier zum Ausdruck gekommene Auffassung des repräsentativen Vertretungsorgans des deutschen Volkes nicht gleichgültig sein. Sie macht es unmöglich, in den Äußerungen des Beschwerdeführers einen Verstoß gegen die "Auffassungen der verständigen, billig und gerecht denkenden Bürger" zu sehen.


IV.
Das Bundesverfassungsgericht ist auf Grund dieser Erwägungen zu der Überzeugung gelangt, daß das Landgericht bei seiner Beurteilung des Verhaltens des Beschwerdeführers die besondere Bedeutung verkannt hat, die dem Grundrecht auf freie Meinungsäußerung auch dort zukommt, wo es mit privaten Interessen anderer in Konflikt tritt. Das Urteil des Landgerichts beruht auf diesem Verfehlen grundrechtlicher Maßstäbe und verletzt so das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art. 5 Abs. 1 Satz I GG. Es ist deshalb aufzuheben.
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