§ 218 - Abtreibung verfassungswidrig
Verfasst:
Mo 31. Okt 2016, 07:59
von Gedankenpolizei
§ 218 : BVerfG - Urteil vom 25. Februar 1975
1 BvF 1/74, 2/74, 3/74, 4/74, 5/74, 6/74
1. Das sich im Mutterleib entwickelnde Leben steht als selbständiges Rechtsgut unter dem Schutz der Verfassung (Art. 2 Abs. 2 Satz 1, Art. 1 Abs. 1 GG). Die Schutzpflicht des Staates verbietet nicht nur unmittelbare staatliche Eingriffe in das sich entwickelnde Leben, sondern gebietet dem Staat auch, sich schützend und fördernd vor dieses Leben zu stellen.
2. Die Verpflichtung des Staates, das sich entwickelnde Leben in Schutz zu nehmen, besteht auch gegenüber der Mutter
.
3. Der Lebensschutz der Leibesfrucht genießt grundsätzlich für die gesamte Dauer der Schwangerschaft Vorrang vor dem Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren und darf nicht für eine bestimmte Frist in Frage gestellt werden.
4. Der Gesetzgeber kann die grundgesetzlich gebotene rechtliche Mitbilligung des Schwangerschaftsabbruchs auch auf andere Weise zum Ausdruck bringen als mit dem Mittel der Strafdrohung. Entscheidend ist, ob die Gesamtheit der dem Schutz des ungeborenen Lebens dienenden Maßnahmen einen der Bedeutung des zu sichernden Rechtsgutes entsprechenden tatsächlichen Schutz gewährleistet. Im äußersten Falle, wenn der von der Verfassung gebotene Schutz auf keine andere Weise erreicht werden kann, ist der Gesetzgeber verpflichtet, zur Sicherung des sich entwickelnden Lebens das Mittel des Strafrechts einzusetzen.
5. Eine Fortsetzung der Schwangerschaft ist unzumutbar, wenn der Abbruch erforderlich ist, um von der Schwangeren eine Gefahr für ihr Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung ihres Gesundheitszustandes abzuwenden. Darüber hinaus steht es dem Gesetzgeber frei, andere außergewöhnliche Belastungen für die Schwangere, die ähnlich schwer wiegen, als unzumutbar zu werten und in diesen Fällen den Schwangerschaftsabbruch straffrei zu lassen.
6. Das Fünfte Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 18. Juni 1974 (BGBl. I S. 1297) ist der verfassungsrechtlichen Verpflichtung, das werdende Leben zu schützen, nicht in dem gebotenen Umfang gerecht geworden.
Urteil
des Ersten Senats vom 25. Februar 1975 auf die mündliche Verhandlung vom 18./19. November 1974
1 BvF 1/74, 2/74, 3/74, 4/74, 5/74, 6/74
A.
Gegenstand des Verfahrens ist die Frage, ob die sogenannte Fristenregelung des Fünften Strafrechtsreformgesetzes, wonach der Schwangerschaftsabbruch in den ersten zwölf Wochen seit der Empfängnis unter bestimmten Voraussetzungen straffrei bleibt, mit dem Grundgesetz vereinbar ist.
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I.
1. Das Fünfte Gesetz zur Reform des Strafrechts (5. StrRG) vom 18. Juni 1974 (BGBl. I S. 1297) hat die Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs neu geregelt. Die §§ 218 bis 220 StGB sind durch Bestimmungen ersetzt worden, die gegenüber dem bisherigen Rechtszustand hauptsächlich folgende Änderungen enthalten:
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Bestraft wird zwar grundsätzlich, wer eine Schwangerschaft später als am dreizehnten Tag nach der Empfängnis abbricht (§ 218 Abs. 1). Jedoch ist der mit Einwilligung der Schwangeren von einem Arzt vorgenommene Schwangerschaftsabbruch nicht nach § 218 strafbar, wenn seit der Empfängnis nicht mehr als zwölf Wochen verstrichen sind (§ 218a - Fristenregelung). Ferner ist der mit Einwilligung der Schwangeren von einem Arzt nach Ablauf der Zwölfwochenfrist vorgenommene Schwangerschaftsabbruch nicht nach § 218 strafbar, wenn er nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft indiziert ist, entweder um von der Schwangeren eine Gefahr für ihr Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung ihres Gesundheitszustandes abzuwenden, sofern diese nicht auf andere zumutbare Weise abgewendet werden kann (§ 218b Nr.1 - medizinische Indikation), oder weil dringende Gründe für die Annahme sprechen, daß das Kind wegen einer Erbanlage oder schädlicher Einflüsse vor der Geburt an einer nicht behebbaren Schädigung seines Gesundheitszustandes leiden würde, die so schwer wiegt, daß von der Schwangeren die Fortsetzung der Schwangerschaft nicht verlangt werden kann, und wenn seit der Empfängnis nicht mehr als zweiundzwanzig Wochen verstrichen sind (§ 218b Nr. 2 - eugenische Indikation). Wer eine Schwangerschaft abbricht, ohne daß die Schwangere zuvor von einer Beratungsstelle oder von einem Arzt sozial und ärztlich beraten worden ist, wird bestraft (§ 218c). Ebenso macht sich strafbar, wer nach Ablauf von zwölf Wochen seit der Empfängnis eine Schwangerschaft abbricht, ohne daß eine zuständige Stelle vorher bestätigt hat, daß die Voraussetzungen des § 218b (medizinische oder eugenische Indikation) vorliegen (§ 219). Die Schwangere selbst wird nicht nach § 218c oder § 219 bestraft.
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Im einzelnen haben die für das vorliegende Verfahren wesentlichen Vorschriften des Fünften Strafrechtsreformgesetzes folgenden Wortlaut:
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"§ 218 Abbruch der Schwangerschaft
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(1) Wer eine Schwangerschaft später als am dreizehnten Tage nach der Empfängnis abbricht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
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(2) Die Strafe ist Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren, wenn der Täter
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1. gegen den Willen der Schwangeren handelt oder
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2. leichtfertig die Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung der Schwangeren verursacht.
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Das Gericht kann Führungsaufsicht anordnen (§ 68 Abs. 1 Nr. 2).
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(3) Begeht die Schwangere die Tat, so ist die Strafe Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe.
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(4) Der Versuch ist strafbar. Die Frau wird nicht wegen Versuchs bestraft.
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§ 218a Straflosigkeit des Schwangerschaftsabbruchs in den ersten zwölf Wochen
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Der mit Einwilligung der Schwangeren von einem Arzt vorgenommene Schwangerschaftsabbruch ist nicht nach § 218 strafbar, wenn seit der Empfängnis nicht mehr als zwölf Wochen verstrichen sind.
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§ 218b Indikation zum Schwangerschaftsabbruch nach zwölf Wochen
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Der mit Einwilligung der Schwangeren von einem Arzt nach Ablauf von zwölf Wochen seit der Empfängnis vorgenommene Schwangerschaftsabbruch ist nicht nach § 218 strafbar, wenn nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft
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1. der Schwangerschaftsabbruch angezeigt ist, um von der Schwangeren eine Gefahr für ihr Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung ihres Gesundheitszustandes abzuwenden, sofern die Gefahr nicht auf eine andere für sie zumutbare Weise abgewendet werden kann, oder
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2. dringende Gründe für die Annahme sprechen, daß das Kind infolge einer Erbanlage oder schädlicher Einflüsse vor der Geburt an einer nicht behebbaren Schädigung seines Gesundheitszustandes leiden würde, die so schwer wiegt, daß von der Schwangeren die Fortsetzung der Schwangerschaft nicht verlangt werden kann, und seit der Empfängnis nicht mehr als zweiundzwanzig Wochen verstrichen sind.
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§ 218c Abbruch der Schwangerschaft ohne Unterrichtung und Beratung der Schwangeren
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(1) Wer eine Schwangerschaft abbricht, ohne daß die Schwangere
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1. sich wegen der Frage des Abbruchs ihrer Schwangerschaft vorher an einen Arzt oder eine hierzu ermächtigte Beratungsstelle gewandt hat und dort über die zur Verfügung stehenden öffentlichen und privaten Hilfen für Schwangere, Mütter und Kinder unterrichtet worden ist, insbesondere über solche Hilfen, die die Fortsetzung der Schwangerschaft und die Lage von Mutter und Kind erleichtern, und
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2. ärztlich beraten worden ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft, wenn die Tat nicht nach § 218 strafbar ist.
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(2) Die Frau, an der der Eingriff vorgenommen wird, ist nicht nach Absatz 1 strafbar.
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§ 219 Abbruch der Schwangerschaft ohne Begutachtung
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(1) Wer nach Ablauf von zwölf Wochen seit der Empfängnis eine Schwangerschaft abbricht, ohne daß eine zuständige Stelle vorher bestätigt hat, daß die Voraussetzungen des § 218b Nr. 1 oder Nr. 2 vorliegen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft, wenn die Tat nicht nach § 218 strafbar ist.
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(2) Die Frau, an der der Eingriff vorgenommen wird, ist nicht nach Absatz 1 strafbar."
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2. Nach bisherigem Recht war die Abtötung der Leibesfrucht einer Schwangeren generell eine strafbare Handlung (§ 218 StGB). Allerdings wurde spätestens seit der Entscheidung des Reichsgerichts vom 11. März 1927 (RGSt 61, 242) von der Rechtsprechung im Falle der sogenannten medizinischen Indikation der Rechtfertigungsgrund des übergesetzlichen Notstands nach den Grundsätzen der Pflichten- und Güterabwägung anerkannt. Danach entfiel die Rechtswidrigkeit der Tat bei einer ernsten, auf andere Weise nicht abwendbaren Gefahr für das Leben oder die Gesundheit der Schwangeren, sofern der Eingriff von einem Arzt mit Einwilligung der Schwangeren nach den Regeln der ärztlichen Kunst vorgenommen wurde. Durch § 14 Abs. 1 des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses in der Fassung des Änderungsgesetzes vom 26. Juni 1935 (RGBl. I S. 773) wurden diese Voraussetzungen für die aus medizinischen Gründen zulässige Schwangerschaftsbeendigung gesetzlich festgelegt. Diese Vorschrift galt auch nach 1945 in einzelnen Bundesländern fort; wo sie aufgehoben wurde, waren die darin angeführten Voraussetzungen nach der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 15. Januar 1952 (BGHSt 2, 111) als Mindestvoraussetzungen für die Zulässigkeit der Schwangerschaftsunterbrechung nach den Grundsätzen des übergesetzlichen Notstandes zu beachten.
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3. Die Strafvorschrift des § 218 StGB geht in ihrem Kern auf die §§ 181, 182 des Strafgesetzbuchs für die Preußischen Staaten vom 14. April 1851 (Gesetz-Sammlung S. 101) zurück; denn diese Vorschriften dienten als Vorbild für die Regelung im Strafgesetzbuch des Norddeutschen Bundes vom 31. Mai 1870 (Bundes-Gesetzblatt des Norddeutschen Bundes S. 197), die wörtlich in das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich vom 15. Mai 1871 (RGBl. S. 127) übernommen wurde. Die Bestimmung lautete in ihrer ursprünglichen Fassung:
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"§ 218
Eine Schwangere, welche ihre Frucht vorsätzlich abtreibt oder im Mutterleibe tötet, wird mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren bestraft.
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Sind mildernde Umstände vorhanden, so tritt Gefängnisstrafe nicht unter sechs Monaten ein.
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Dieselben Strafvorschriften finden auf denjenigen Anwendung, welcher mit Einwilligung der Schwangeren die Mittel zu der Abtreibung oder Tötung bei ihr angewendet oder ihr beigebracht hat."
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Die Strafvorschrift blieb mehr als 50 Jahre lang unverändert. Erst das Gesetz zur Abänderung des Strafgesetzbuchs vom 18. Mai 1926 (RGBl. I S. 239) milderte die Strafandrohungen (grundsätzlich Gefängnisstrafe, jedoch Zuchthausstrafe für den gewerbsmäßigen Fremdabtreiber).
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Durch die Verordnung zur Durchführung der Verordnung zum Schutz von Ehe, Familie und Mutterschaft vom 18. März 1943 (RGBl. I S. 169) wurden die Strafandrohungen wieder erheblich verschärft.
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Das erste Gesetz zur Reform des Strafrechts (1. StrRG) vom 25. Juni 1969 (BGBl. I S. 645) milderte die Strafdrohung bei Selbstabtreibung, indem der besonders schwere Fall entfiel. Die Fremdabtreibung wurde zu einem Vergehen herabgestuft.
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4. a) Das generelle Abtreibungsverbot war von Anfang an Gegenstand von Angriffen. Insbesondere nach der wende begann auch innerhalb der Rechtswissenschaft eine lebhafte Diskussion über die Strafwürdigkeit der Abtreibung. Die Zweifel setzten schon bei der Frage ein, welches Rechtsgut durch das Abtreibungsverbot geschützt werden solle. Aber auch die Zulassung von Ausnahmen von dem uneingeschränkten Verbot und die richtige Bemessung der anzudrohenden Strafen wurden erörtert.
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Der 1909 vom Reichsjustizamt veröffentlichte Vorentwurf für ein deutsches Strafgesetzbuch, der Gegenentwurf der Professoren Kahl, v. Lilienthal, Franz v. Liszt und Goldschmidt von 1911, der Entwurf nach den Beschlüssen der Strafrechtskommission von 1913 und der Entwurf von 1919 wollten lediglich die Strafandrohung mildern. In der Begründung zum Entwurf von 1919 wurde die Straflosigkeit des Schwangerschaftsabbruchs "im Hinblick auf die schweren Schädigungen, die aus dem Umsichgreifen der Abtreibung für das Volkswohl erwachsen", abgelehnt.
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b) Während der Weimarer Republik war im Rahmen der - allerdings nicht zum Abschluß gekommenen - Arbeiten an einer großen Strafrechtsreform auch § 218 StGB Gegenstand lebhafter Erörterungen. Eine große Zahl von Gesetzesinitiativen und Interpellationen zur Reform dieser Strafvorschrift wurden im Reichstag eingebracht. Sie verfolgten teils das Ziel, die §§ 218 bis 220 StGB ersatzlos zu streichen, teils schlugen sie vor, die Strafandrohung für die ersten drei Schwangerschaftsmonate zurückzunehmen. Ein Antrag, den Frau Schuch, Professor Radbruch und 53 andere Mitglieder der SPD-Fraktion am 31. Juli 1920 im Reichstag stellten, sah die Straflosigkeit der Abtreibung vor, "wenn sie von der Schwangeren oder einem staatlich anerkannten (approbierten) Arzt innerhalb der ersten drei Monate der Schwangerschaft vorgenommen worden" ist (vgl. auch zur Begründung Radbruch in: Grotjahn-Radbruch, Die Abtreibung der Leibesfrucht, 1921). Sämtliche Anträge hatten letztlich keinen Erfolg.
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Der Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs, den Radbruch als damaliger Reichsjustizminister im Jahre 1922 vorlegte und der zur Grundlage der weiteren Strafrechtsreformarbeiten wurde, drohte für die Abtreibung Gefängnisstrafe an (vgl. "Gustav Radbruchs Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches [1922]", Tübingen 1952, S. 28, § 225). Ähnliche Regelungen sahen die Entwürfe von 1925, 1927 und 1930 vor.
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c) In der nationalsozialistischen Zeit wurde die Abtreibung vornehmlich unter den Gesichtspunkten "Schutz der Volkskraft", "Angriffe auf die Lebenskraft des Volkes", "Angriffe auf Rasse und Erbgut" gesehen. Die Bestrebungen zielten, abgesehen von einigen Indikationsfällen, die straflos bleiben sollten (vgl. auch § 10a des Gesetzes zur Verhütung des erbkranken Nachwuchses), auf strenge Strafen.
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5. Als vorläufiges Ergebnis der nach 1945 wiederaufgenommenen Reformarbeiten am Strafgesetzbuch stellte das Bundesjustizministerium im Jahre 1960 auf der Grundlage der Beschlüsse der Großen Strafrechtskommission einen Gesamtentwurf mit Begründung zusammen, der auch die Beratungen einer Länderkommission verwertete (Entwurf eines Strafgesetzbuches [StGB] - E 1960 - mit Begründung, Bonn 1960).
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Danach blieb die Abtreibung grundsätzlich strafbar (§§ 140, 141); jedoch wurde für den Fall der medizinischen Indikation (§ 157) Straffreiheit gewährt. Ferner sollte nach § 160 die Strafbarkeit einer von einem Arzt mit Einwilligung der Schwangeren vorgenommenen Abtötung der Leibesfrucht entfallen, wenn das Gericht festgestellt hat, daß jemand an der Frau eine Notzucht, eine schwere Schändung, während sie geisteskrank, willenlos, bewußtlos oder zum Widerstand körperlich unfähig war, begangen hat oder ihr Samen von einem anderen als ihrem Ehemann ohne ihre Einwilligung übertragen hat und dringende Gründe für die Annahme sprechen, daß die Schwangerschaft auf der Tat beruht, sofern seit dem Ende des Monats, in den der Beginn der Schwangerschaft fällt, nicht mehr als zwölf Wochen verstrichen sind.
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Diese ethische Indikation war jedoch in der von der Bundesregierung den gesetzgebenden Körperschaften vorgelegten Fassung des Entwurfs 1960 nicht mehr enthalten (vgl. BRDrucks. 270/60, S. 38 und S. 278). Zu einer Beratung dieses Entwurfs kam es in der 3. Wahlperiode des Bundestages nicht mehr.
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Im Jahre 1962 wurde den Gesetzgebungsorganen ein neuer Regierungsentwurf zugeleitet, der die §§ 140, 141, 157 des Entwurfs 1960 im wesentlichen unverändert übernommen hatte (vgl. BRDrucks. 200/62, S. 35/36, 38). Auch dieser Entwurf konnte in der 4. Wahlperiode des Bundestages nicht verabschiedet werden.
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Im November 1965 wurde der Entwurf 1962 von einer Gruppe von Bundestagsabgeordneten als Initiativgesetzentwurf eingebracht (BTDrucks. V/32). Der Bundestag überwies den Entwurf an den Sonderausschuß für die Strafrechtsreform, der unter Berücksichtigung des von deutschen und schweizerischen Strafrechtslehrern im Jahre 1966 veröffentlichten sogenannten Alternativ-Entwurfs (AE) eines Strafgesetzbuchs (Allgemeiner Teil) zwei Teilentwürfe zur Reform des Strafrechts vorlegte, die vom Bundestag im Jahre 1969 als Erstes und Zweites Gesetz zur Reform des Strafrechts verabschiedet wurden. Durch das erste Gesetz erhielten die Strafandrohungen des § 218 StGB den bereits erwähnten milderen Strafrahmen. Man war sich bei der Beratung im Strafrechtssonderausschuß jedoch darin einig, daß mit der Korrektur des Strafmaßes die Problematik des § 218 StGB nicht gelöst sei, daß vielmehr eine umfassende Reform dieses Bereichs erfolgen müsse (vgl. die Ausführungen des Abgeordneten Dr. Müller-Emmert, Deutscher Bundestag, 5. Wp., 144. Sitzung des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform, StenBer. S. 3195).
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Von dieser Auffassung ging auch der im Frühjahr 1970 veröffentlichte Besondere Teil des Alternativ-Entwurfs aus (AE, Bes. Teil, Straftaten gegen die Person, Erster Halbband, Tübingen 1970, S. 25 ff.). Schwangerschaftsabbrüche seien zwar - so wurde dargelegt - fast ausnahmslos verboten und strafbar. Die soziale Wirklichkeit habe sich jedoch von diesen Rechtsnormen so weit entfernt, daß die Strafandrohungen kaum noch eine Wirkung ausüben könnten. Dies sei in hohem Maße schädlich und unzureichend; denn die Vernichtung werdenden Lebens sei - von Ausnahmesituationen abgesehen - nicht nur ethisch verwerflich, sondern stelle auch die Vernichtung eines Rechtsgutes dar. Über die gesetzgeberischen Maßnahmen, mit denen ein wirksamer Schutz des werdenden Lebens zu erreichen sei, konnten sich die Verfasser indes nicht einigen.
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Die Mehrheit entschied sich dafür, in den ersten drei Monaten der Schwangerschaft den Abbruch straffrei zu lassen, und zwar innerhalb von vier Wochen nach der Empfängnis generell, im zweiten und dritten Monat unter der Voraussetzung, daß der Abbruch von einem Arzt vorgenommen wird, nachdem die Schwangere eine Beratungsstelle aufgesucht hat (§ 105 AE). Dazu wurden folgende Erwägungen vorgetragen:
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"Der Grundgedanke dieses Vorschlags ist der, daß dem Entschluß einer Frau zur Schwangerschaftsunterbrechung und seiner Verwirklichung nur dadurch entgegengewirkt werden kann, daß der Schwangeren in den Grenzen des Möglichen Hilfe bei der Behebung der materiellen, sozialen und familiären Schwierigkeiten gewährt wird, die sie zur Schwangerschaftsunterbrechung drängen, und daß ihr durch eine persönliche Beratung und offene Aussprache eine überlegte und verantwortliche Entscheidung ermöglicht wird. Diesem Zweck soll die Institution der Beratungsstellen dienen, ... .
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Die Beratungsstellen sollen deshalb die Möglichkeit besitzen, finanzielle, soziale und familiäre Hilfe zu leisten. Sie sollen ferner der Schwangeren und ihren Angehörigen durch geeignete Mitarbeiter seelische Betreuung gewähren und dabei den Beteiligten namentlich verdeutlichen, daß die Schwangerschaftsunterbrechung auch medizinisch keine Bagatelle darstellt, sondern ein schwerwiegender und u.U. folgenreicher Eingriff ist und daß die Unterbrechung selbst bei noch so drängenden Motiven eben die Vernichtung werdenden Lebens darstellt, also eine hohe ethische Verantwortung berührt und verletzt" (a.a.O., S. 27)."
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Die zum Schwangerschaftsabbruch neigende Frau solle die Beratungsstelle aufsuchen können, ohne befürchten zu müssen, daß ihr damit die Verwirklichung ihrer Absicht rechtlich unmöglich gemacht werde. Eine später als drei Monate nach der Empfängnis vorgenommene Schwangerschaftsunterbrechung solle nur bei Vorliegen medizinischer oder eugenischer Indikation straflos sein, wobei die Voraussetzungen dieser Indikationen durch eine ärztliche Gutachterstelle festzustellen seien (§ 106 AE).
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Die Minderheit sah in diesem Vorschlag keinen wirksamen, sondern allenfalls einen mittelbaren Schutz des werdenden Lebens, der in all den Fällen aufgegeben sei, in denen die Schwangere von der Beratungsstelle nicht überzeugt werden könne. Deshalb hielten die Vertreter dieser Meinung grundsätzlich an der Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs mit Ausnahme der ersten vier Wochen fest, sahen jedoch Straflosigkeit vor, "wenn der Schwangeren die Austragung der Schwangerschaft unter Berücksichtigung der gesamten Lebensumstände nicht zumutbar ist", und konkretisierten diese Generalklausel durch einen Katalog von fünf Indikationen. Weitere Voraussetzung der Straflosigkeit sollte sein, daß die Einwilligung der Schwangeren sowie die Genehmigung einer ärztlichen Gutachterstelle vorliege und daß der Abbruch in den ersten drei Monaten seit der Empfängnis vorgenommen werde.
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6. Anfang 1972 legte die Bundesregierung den Entwurf eines Fünften Gesetzes zur Reform des Strafrechts (5. StrRG) vor (BRDrucks. 58/72). Er hielt an der grundsätzlichen Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs fest. In der Begründung wurde ausgeführt, menschliches Leben sei auch vor der Geburt ein schutzwürdiges und schutzbedürftiges Rechtsgut. Das Grundgesetz habe in den Art. 1 und Art. 2 Abs. 2 eine Wertentscheidung für das Leben getroffen. Bei der Reform der Abtreibungsvorschriften handele es sich demnach nicht um die Beseitigung von Straftatbeständen, die kein sozialschädliches Verhalten zum Gegenstand hätten. Vielmehr müsse eine an der Grundrechtsordnung orientierte Strafrechtsreform die Vorschriften über den Schwangerschaftsabbruch so ausgestalten, daß der Schutz des werdenden Lebens nach Lage der Dinge am ehesten gewährleistet sei. Zu diesem Zweck müsse die Neuregelung dem Grundsatz der Unantastbarkeit des werdenden Lebens gerecht werden, gleichzeitig aber einen Ausgleich zwischen dem Recht des ungeborenen Kindes und der Menschenwürde der Schwangeren sowie ihrem Recht auf freie Persönlichkeitsentfaltung herstellen. Dabei könne weder dem einen noch dem anderen Recht ein absoluter Vorrang eingeräumt werden. Es komme darauf an, für besondere, schwerwiegende Konfliktsituationen Lösungen zu finden, die den Wertentscheidungen der Verfassung Rechnung trügen (a.a.O., S. 8).
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Die Fristenregelung könnte die mit ihr verbundenen gesundheitspolitischen Erwartungen nur erfüllen, wenn jeder Schwangerschaftsabbruch in den ersten drei Monaten als rechtlich gebilligt erscheine. Das sei mit der Wertordnung der Verfassung unvereinbar. Wenn die Gesellschaft das werdende Leben als schutzwürdiges Rechtsgut von vergleichsweise hohem Rang anerkenne, dann könne sie nicht, ohne in Widerspruch zu dieser Prämisse zu geraten, die Vernichtung dieses Rechtsgutes von dem freien Belieben des Einzelnen abhängig machen (a.a.O., S. 9).
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Hiervon ausgehend lehnte der Entwurf die "in der Zeit der Weimarer Republik und neuerdings wieder lebhaft erörterte Fristenlösung" ab und entschied sich dafür, daß Ausnahmen von dem grundsätzlichen Verbot des Schwangerschaftsabbruchs nur beim Vorliegen einer gesetzlichen Indikation gelten sollten. Eine Indikation sollte angenommen werden,
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a) wenn der Abbruch der Schwangerschaft nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft angezeigt ist, um von der Schwangeren eine Gefahr für ihr Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung ihres Gesundheitszustandes abzuwenden, sofern die Gefahr nicht auf eine andere für sie zumutbare Weise abgewendet werden kann (§ 219 - medizinische Indikation);
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b) wenn nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft dringende Gründe für die Annahme sprechen, daß das Kind infolge einer Erbanlage oder infolge schädlicher Einflüsse vor der Geburt an einer nicht behebbaren Schädigung seines Gesundheitszustandes leiden würde, die so schwer wiegt, daß von der Schwangeren die Fortsetzung der Schwangerschaft nicht verlangt werden kann, sofern seit dem Beginn der Schwangerschaft nicht mehr als zwanzig Wochen verstrichen sind (§ 219b - eugenische oder kindliche Indikation);
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c) wenn an der Schwangeren eine rechtswidrige Tat nach § 176 (sexueller Mißbrauch von Kindern), § 177 (Vergewaltigung) oder § 179 Abs. 1 (sexueller Mißbrauch Widerstandsunfähiger) vorgenommen worden ist und dringende Gründe für die Annahme sprechen, daß die Schwangerschaft auf der Tat beruht, sofern seit dem Beginn der Schwangerschaft nicht mehr als zwölf Wochen verstrichen sind (§ 219c - ethische oder kriminologische Indikation);
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d) wenn der Abbruch der Schwangerschaft angezeigt ist, um von der Schwangeren die Gefahr einer schwerwiegenden Notlage abzuwenden, sofern die Gefahr nicht auf eine andere für die Schwangere zumutbare Weise abgewendet werden kann und wenn seit dem Beginn der Schwangerschaft nicht mehr als zwölf Wochen verstrichen sind (§ 219d - soziale oder Notlagen-Indikation).
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Beim Vorliegen eines dieser Indikationsfälle sollte der von einem Arzt mit Einwilligung der Schwangeren vorgenommene Schwangerschaftsabbruch nicht nach § 218 strafbar sein. Als Beginn der Schwangerschaft im Sinne des Gesetzes wurde der Abschluß der Einnistung des befruchteten Eies in der Gebärmutter bestimmt (§ 218 Abs. 5).
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Zur gleichen Zeit legten die Abgeordneten Dr. de With und Genossen den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des § 218 des Strafgesetzbuches vor (BTDrucks. VI/3137), der einen Schwangerschaftsabbruch innerhalb der ersten drei Monate straflos lassen wollte, falls er mit Einwilligung der Schwangeren nach ärztlicher Beratung von einem Arzt vorgenommen werde (Fristenregelung).
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Beide Entwürfe wurden im Sonderausschuß für die Strafrechtsreform gemeinsam behandelt. Am 10., 11. und 12. April 1972 fand eine öffentliche Anhörung von Sachverständigen und Auskunftspersonen aller einschlägigen Fachrichtungen statt, in der alle mit der Reform der Abtreibungsvorschriften zusammenhängenden Fragen umfassend erörtert wurden (vgl. Deutscher Bundestag, 6. Wp., 74., 75., 76. Sitzung des Sonderausschusses für Strafrechtsreform vom 10., 11. und 12. April 1972, StenBer. S. 2141 bis S. 2361). Die vorzeitige Auflösung des 6. Deutschen Bundestages führte zum Abbruch der Beratungen.
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n der 7. Wahlperiode brachte die Bundesregierung keinen eigenen Gesetzentwurf ein. Statt dessen wurden vier Gesetzentwürfe aus der Mitte des Bundestages vorgelegt. Der Entwurf der Abgeordneten Dr. Müller-Emmert und Genossen hatte eine Indikationenregelung zum Inhalt und sah zusätzlich vor, daß die Schwangere stets straffrei bleiben sollte (BTDrucks. 7/443). Der Entwurf der Fraktionen der SPD, FDP (BTDrucks. 7/375) schlug dagegen eine Fristenregelung vor. In einem Entwurf der CDU/CSU-Fraktion war eine engere Indikationenregelung vorgesehen (medizinische - die eugenische einschließend - und ehtische Indikation; Absehen von Strafe bei Unzumutbarkeit - BTDrucks. 7/554 -). Ein von den Abgeordneten Dr. Heck und Genossen eingebrachter Entwurf wollte die Straflosigkeit des Schwangerschaftsabbruchs im wesentlichen auf den Fall einer - weitgefaßten - medizinischen Indikation begrenzen (BTDrucks. 7/561).
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Alle vier Entwürfe wurden an den Sonderausschuß für die Strafrechtsreform zur gemeinsamen Beratung überwiesen. Keiner dieser Entwürfe erhielt jedoch hier die erforderliche Mehrheit (vgl. BTDrucks. 7/1982 S. 4). Der Ausschuß sah sich deshalb nicht in der Lage, dem Plenum "bestimmte Beschlüsse zu empfehlen", sondern legte alle vier Entwürfe in getrennten Berichten zur Entscheidung vor - vgl. die BTDrucks. 7/1982, 7/1981 (neu), 7/1983, 7/1984 (neu). Für die später vom Bundestag angenommene, von den Fraktionen der SPD, FDP vorgeschlagene Fristenregelung waren nach dem Bericht des Sonderausschusses - BTDrucks. 7/1981 (neu) S. 9/10 - insbesondere folgende Erwägungen maßgeblich
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"Im Bereich des Strafrechts schlagen die Befürworter dieses Entwurfs für die ersten drei Schwangerschaftsmonate vor, die Strafandrohung im Interesse einer Verbesserung der Beratungssituation zurückzunehmen. Das heißt, strafrechtlich gesichert ist nur noch die Pflicht, sich einer umfassenden Beratung zu unterziehen und den Eingriff von einem Arzt vornehmen zu lassen. Das heißt weiter, daß in den ersten drei Monaten der Schutz des werdenden Lebens nicht mehr von der durchgängigen Strafdrohung, sondern von einem Beratungssystem gewährleistet wird, dessen Benutzung durch eine Strafdrohung verlangt wird. Die Befürworter der Fristenregelung gehen davon aus, daß die Strafdrohung erst nach dem dritten Monat wirklich 'greift'. Es hat sich gezeigt, daß ein durchgängiges strafrechtliches Verbot nicht geeignet ist, den Schutz des ungeborenen Lebens zu gewährleisten. Eine schwangere Frau, die ihre Schwangerschaft abbrechen lassen will, wird dies in aller Regel tun ohne Rücksicht auf das Strafgesetz, sie wird in jedem Fall einen Weg finden, einen Abbruch zu erreichen. Die Ursachen der Wirkungslosigkeit der Strafvorschrift wurden u.a. von Sachverständigen in der Öffentlichen Anhörung überzeugend damit erklärt, daß die Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch in aller Regel einer schwerwiegenden Konfliktsituation der Schwangeren entspringt und in den Tiefen der Persönlichkeit getroffen wird, die eine Strafdrohung nicht zu erreichen vermag (Rolinski AP VI S. 2219, 2225; Schulte AP VI S. 2200; Brocher AP VI S. 2209) ... .
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Die Fristenregelung gibt nicht den Gedanken von der Schutzwürdigkeit und Schutzbedürftigkeit des ungeborenen Lebens auf. Die Befürworter dieses Entwurfs sind nur der Auffassung, daß das Strafrecht in seiner geltenden Form nicht das geeignete Mittel ist ... .
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Bei einem Schwangerschaftsabbruch müssen (und können) Beratung und Hilfe einsetzen, bevor die schwangere Frau den entscheidenden Schritt getan hat. Solange jedoch die Frau irgendwelche strafrechtlichen Sanktionen befürchten muß, wird sie kaum Beratung und Hilfe in Anspruch nehmen. Eine Frau, die, aus welchen Gründen auch immer, einen Schwangerschaftsabbruch will, wird vielmehr den Eingriff entweder selbst vornehmen oder einen Arzt oder eine andere Person suchen, von der sie weiß, daß diese den Eingriff vornimmt, ohne viel zu fragen ... . Solange eine Strafvorschrift besteht, sind diese Frauen für eine Beratung und Hilfe schwerlich erreichbar, weil sie sich meist nur an solche Personen um 'Hilfe' wenden, von denen sie sicher sind, daß sie sie dem gewünschten Schwangerschaftsabbruch näher bringen. Sie kommen meist gar nicht in den Bereich irgendeiner Person, die ihnen echte Hilfe bieten könnte und wollte."
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Bei der Abstimmung in der zweiten Beratung des Deutschen Bundestages erhielt keiner der Entwürfe die als erforderlich vereinbarte Mehrheit der Stimmen. Daraufhin wurden die beiden Fraktionsentwürfe, welche die höchsten Stimmenzahlen erhalten hatten, zur Entscheidung gestellt. 245 Abgeordnete stimmten für den Entwurf der SPD, FDP-Fraktionen, 219 Abgeordnete für den Antrag der CDU/CSU-Fraktion (vgl. im einzelnen Deutscher Bundestag, 7. Wp., 95. Sitzung, StenBer. S. 6443).
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Bei der namentlichen Schlußabstimmung über den Entwurf der Fraktionen der SPD, FDP in der dritten Beratung stimmten von 489 voll stimmberechtigten Abgeordneten 247 mit Ja, 233 mit Nein, 9 enthielten sich der Stimme (Deutscher Bundestag, 7. Wp., 96. Sitzung, StenBer. S. 6503).
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Der Bundesrat bezeichnete den Gesetzesbeschluß als zustimmungsbedürftig, versagte ihm nach erfolgloser Anrufung des Vermittlungsausschusses die Zustimmung und legte vorsorglich Einspruch gemäß Art. 77 Abs. 3 GG ein (Bundesrat, 406. Sitzung vom 31. Mai 1974, StenBer. S. 214). Diesen Einspruch wies der Bundestag, der das Gesetz nicht als zustimmungsbedürftig ansah, am 5.Juni 1974 mit 260 gegen 218 Stimmen bei 4 Enthaltungen zurück (Deutscher Bundestag, 7. Wp., 104. Sitzung, StenBer. S. 6947).
69
7. Zur Unterstützung der strafrechtlichen Reform durch sozialpolitische Maßnahmen beschloß der Deutsche Bundestag am 21. März 1974 auf einen Initiativantrag der Fraktionen der SPD, FDP (BTDrucks. 7/376) das Gesetz über ergänzende Maßnahmen zum Fünften Strafrechtsreformgesetz (Strafrechtsreform-Ergänzungsgesetz - StREG). Darin sind u.a. Ansprüche auf ärztliche Beratung über Fragen der Empfängnisregelung sowie auf ärztliche Hilfe bei straffreiem Schwangerschaftsabbruch als Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung und der Sozialhilfe vorgesehen (vgl. BTDrucks. 7/1753 und Deutscher Bundestag, 7. Wp., 88. Sitzung, StenBer. S. 5769).
70
Diesem Gesetzbeschluß verweigerte der Bundesrat nach erfolgloser Anrufung des Vermittlungsausschusses seine Zustimmung (Bundesrat, 410. Sitzung vom 12. Juli 1974, StenBer. S. 324). Daraufhin rief die Bundesregierung ihrerseits den Vermittlungsausschuß an. Dieser hat bisher noch keine Entschließung getroffen.
71
8. Am 21. Juni 1974 ordnete das Bundesverfassungsgericht auf Antrag der Regierung des Landes Baden-Württemberg im Wege der einstweiligen Anordnung u.a. an, daß § 218a Strafgesetzbuch in der Fassung des Fünften Gesetzes zur Reform des Strafrechts (5. StrRG) einstweilen nicht in Kraft tritt, jedoch der medizinisch, eugenisch oder der ethisch indizierte Schwangerschaftsabbruch innerhalb der ersten zwölf Wochen seit der Empfängnis straffrei bleibt (BVerfGE 37, 324; BGBl. 1974 I S. 1309). Die einstweilige Anordnung wurde bis zur Verkündung dieses Urteils verlängert.
72
II.
193 Mitglieder des Deutschen Bundestages sowie die Landesregierungen von Baden-Württemberg, Bayern, Rheinland-Pfalz, des Saarlandes und von Schleswig-Holstein haben gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, § 13 Nr. 6 BVerfGG den Antrag auf verfassungsrechtliche Überprüfung des § 218a StGB in der Fassung des Fünften Strafrechtsreformgesetzes gestellt. Sie halten die Vorschrift für unvereinbar mit dem Grundgesetz, weil die darin enthaltene Freigabe des Schwangerschaftsabbruchs während der ersten zwölf Wochen nach der Empfängnis (Fristenregelung) vor allem gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 und außerdem gegen die Art. 3 sowie 6 Abs. 1, 2 und 4 GG sowie gegen das Rechtsstaatsprinzip verstoße. Die antragstellenden Landesregierungen sind ferner der Meinung, für das Fünfte Strafrechtsreformgesetz sei die Zustimmung des Bundesrates erforderlich gewesen.
73
Zur Begründung sind im wesentlichen vorgetragen:
74
1. Das Gesetz enthalte in Art. 6 und 7 Änderungen der Strafprozeßordnung und des Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch, also von Gesetzen, die ihrerseits mit Zustimmung des Bundesrates ergangen seien. Dies allein begründe bereits die Zustimmungsbedürftigkeit. Die gegenteilige Auffassung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 37, 363) möge nochmals überprüft werden.
75
Abgesehen davon enthalte aber das Fünfte Strafrechtsreformgesetz selbst Vorschriften, welche die Zustimmungsbedürftigkeit gemäß Art. 84 Abs. 1 GG auslösten; denn in § 218c Abs. 1 Nr. 1 StGB sei die Einschaltung einer "ermächtigten Beratungsstelle" und in § 219 Abs. 1 StGB die Bestätigung der Indikation durch eine "zuständige Stelle" vorgesehen. Ferner sei auch nach der erwähnten Entscheidung (a.a.O., S. 383) ein Änderungsgesetz dann zustimmungsbedürftig, wenn es sich zwar auf die Regelung materiell-rechtlicher Fragen beschränke, in diesem Bereich jedoch Neuerungen in Kraft setze, die den nicht ausdrücklich geänderten Vorschriften über das Verwaltungsverfahren eine wesentlich andere Bedeutung und Tragweite verliehen. Das müsse zwangsläufig auch dann zur Zustimmungsbedürftigkeit eines Änderungsgesetzes führen, wenn das Ursprungsgesetz zwar noch keine Vorschriften über das Verwaltungsverfahren enthalte, das Änderungsgesetz aber durch die Ausgestaltung seiner materiell-rechtlichen Regelungen den notwendigen Vorschriften über das Verwaltungsverfahren derart vorgreife, daß die Länder in entscheidenden Punkten festgelegt würden. Dies sei hier der Fall; denn den Ländern werde bei der Ausgestaltung des Verwaltungsverfahrens nur noch ein geringer Spielraum belassen.
76
Schließlich müßten dieses Gesetz und das Strafrechtsreform-Ergänzungsgesetz rechtlich als eine Einheit angesehen werden, weil diese Gesetze der Sache nach unlöslich zusammengehörten. Ziel des Reformvorhabens sei eine "Fristenregelung mit Beratung"; die Beratung ihrerseits werde aber für alle im Mittelpunkt der Reform stehenden Fälle durch das Strafrechtsreform-Ergänzungsgesetz erst ermöglicht. Beide Gesetze stellten eine einheitliche politische Entscheidung dar. Es sei deshalb sachwidrig, wenn die Aufhebung der Strafandrohung und die Vorschriften über die Ermöglichung der Beratung in zwei verschiedenen Gesetzesvorlagen untergebracht worden seien. Offenbar sei dies deshalb geschehen, um die Zustimmung des Bundesrates zu umgehen; denn das Strafrechtsreform-Ergänzungsgesetz bedürfe zweifellos der Zustimmung des Bundesrates. Der Bundestag habe damit sein ihm prinzipiell zustehendes Ermessen, den zu regelnden Rechtsstoff auf mehrere Gesetze zu verteilen, überschritten.
77
2. Das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG als das fundamentalste und ursprünglichste Menschenrecht schütze in umfassender Weise auch das ungeborene Leben. Diese Rechtsauffassung stimme mit der Entstehungsgeschichte und der herrschenden Meinung überein, stehe in der Tradition deutscher Rechtskultur und könne sich auf den Wortlaut der Verfassung stützen. Vor allem aber werde nur diese Rechtsansicht der erkennbaren Funktion der Verfassungsnorm gerecht.
78
Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG enthalte nicht nur ein Abwehrrecht gegen unmittelbare staatliche Eingriffe, sondern bilde zugleich die Grundlage für einen positiven Schutzanspruch gegenüber dem Staat. Die Schutzpflicht könne der Grundwertentscheidung der Verfassung für das werdende Leben entnommen werden, deren spezifische Funktion es sei, die in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG zum Ausdruck kommende Wertung auch für das Verhältnis zu Dritten fruchtbar werden zu lassen. Diese Verpflichtung ergebe sich aber auch unmittelbar aus Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG.
79
Der Schutz entspreche verfassungsrechtlichen Anforderungen nur dann, wenn er prinzipiell umfassend ausgestaltet sei. Dies beruhe nicht nur auf dem besonders hohen Rang der Rechtsgüter des Art. 2 Abs. 2 GG und auf der Tatsache, daß jedes einzelne Leben den Schutz des Grundrechts genieße, vielmehr sei entscheidend, daß Verletzungen speziell des Grundrechts auf (biologisches) Leben zur totalen Vernichtung der Basis menschlicher Existenz führten.
80
Allerdings dürfe der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Schutzes für das werdende Leben etwaige kollidierende Rechtssphären Dritter, insbesondere der Mutter, berücksichtigen, soweit diese Drittinteressen ihrerseits von der Verfassung getragen würden. Auf der Hand liege dies im Falle einer Gefährdung des Lebens der Schwangeren. Aber auch bei andersartigen schwerwiegenden Gefahren für die Frau könne der Gesetzgeber zu dem Ergebnis gelangen, daß ihr die unfreiwillige Austragung der Leibesfrucht nicht zugemutet werden könne. Das besage nicht, daß das werdende Leben als Rechtsgut geringer geachtet werde als etwa die Gesundheit oder sonstige Rechtsgüter der Frau. Wohl aber stoße die vollständige Verwirklichung des Schutzes des werdenden Lebens an die Grenzen des rechtlich Durchsetzbaren. Dem Gesetzgeber sei deshalb die Befugnis zuzusprechen, einzelne (Indikations-) Tatbestände näher zu konkretisieren. Damit sei ausreichend Raum gegeben, um einem etwaigen Wandel der gesellschaftlichen Wertvorstellungen in den Bahnen der Verfassung Rechnung zu tragen. Dieser Gesichtspunkt müsse aber dort versagen, wo keinerlei relevante Rechtspositionen der Mutter tangiert seien, wo der Schwangerschaftsabbruch aus Gleichgültigkeit oder reiner Bequemlichkeit erfolge.
81
Die Pflicht des Staates, das ungeborene Leben zu schützen, gewinne dann einen besonderen Akzent, wenn es darum gehe, einen seit 100 Jahren bestehenden strafrechtlichen Schutz zu beseitigen. Dann bedürfe es einer besonders strengen Prüfung, ob die Schutzbeseitigung sich nicht mit der grundgesetzlichen Wertentscheidung für das Leben in Widerspruch setze.
82
Mit der Fristenlösung verstoße der Staat in mehrfacher Hinsicht gegen die ihm obliegende Schutzverpflichtung:
83
a) Der Gesetzgeber verletze seine Pflicht schon dadurch, daß er die Vernichtung ungeborenen Lebens innerhalb der ersten zwölf Schwangerschaftswochen rechtlich erlaube, sofern sie nur von einem Arzt mit Einwilligung der Schwangeren vorgenommen werde. Anders als im Sinne rechtlicher Billigung könne die strafrechtliche Freigabe des Schwangerschaftsabbruchs nicht gedeutet werden.
84
b) Ferner entziehe der Gesetzgeber durch die Aufhebung der Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs in den ersten zwölf Wochen dem werdenden Leben für die Zukunft die sozialethische Wertschätzung in der Bevölkerung. Es entspreche gesicherter rechtssoziologischer Erkenntnis, daß strafrechtliche Normen normbildende Kraft für das sozialethische Urteil der Bürger besäßen.
85
c) Aber selbst wenn man unterstelle, daß der Staat den Schwangerschaftsabbruch weiterhin diskriminiere, verletze er seine verfassungsrechtliche Schutzpflicht schon dadurch, daß er die bisherige Strafandrohung für die ersten zwölf Schwangerschaftswochen ausnahmslos aufhebe. Sozialfürsorgerische Maßnahmen allein könnten nicht verhindern, daß abtreibungswillige Schwangere ihre Absicht realisierten. Denn wenn sie das Hilfsangebot nicht anzunehmen gewillt seien, so könne auf diesem Wege der Schutz des werdenden Lebens nicht gewährleistet werden. Der Wegfall der Strafsanktion hinterlasse daher eine relevante Schutzlücke. Hinzu komme, daß die als einzige Hilfsmaßnahme vorgeschriebene Beratung, so wie sie im Gesetz geregelt sei, sich in der Praxis als wirkungslos erweisen werde. Wenn die Schwangere wisse, daß die Entscheidung letztlich von ihr allein abhänge, werde sie wenig Neigung verspüren, sich diese Entscheidung durch Ermahnungen des Beraters erschweren zu lassen. Aber auch die Berater seien in einer widersprüchlichen Situation: Erkläre eine Schwangere, sie sei zur Abtreibung entschlossen, so stünden sie vor der Alternative, entweder nur formularmäßig Abtreibungserlaubnisse auszuschreiben oder der Schwangeren gegen ihren Willen Gewissensskrupel aufzuzwingen, die ihr das spätere Leben nur noch mehr belasten würden. Im übrigen seien auch die Ärzte, die die Hauptlast der medizinischen Beratung zu tragen hätten, damit überfordert.
86
Zwar habe der Gesetzgeber bei der Abwägung, ob eine Strafsanktion eher schädlich als nützlich sei, einen gewissen Spielraum. Dieser werde aber durch das beherrschende rechtsstaatliche Prinzip der Erforderlichkeit (Übermaßverbot) eng begrenzt. Folge man der inzwischen herrschend gewordenen Lehre von der praktischen Konkordanz und des nach beiden Seiten hin schonendsten Ausgleichs, so müßten kollidierende Rechtsgüter einander so zugeordnet werden, daß jedes von ihnen Wirklichkeit gewinne. Es laufe auf die totale Verkehrung dieser Grundsätze hinaus, wenn einem der kollidierenden Güter generell der absolute Vorrang zugesprochen werde. Hierauf aber basiere die Fristenlösung, die der Selbstbestimmungsmacht der Frau, die in Wahrheit insoweit eine Fremdbestimmungsmacht sei, den ausschließlichen Vorrang einräume. Hinzu komme, daß hier einzelne Leben gegen andere einzelne Leben (oder Gesundheitsgüter) abgewogen werden sollten. Dabei gehe es um eine Art abstrakter staatlicher Abzählung und Aufrechnung von Leben gegen Leben. Dadurch werde aber der beherrschende und primäre individualrechtliche Gehalt des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG in Frage gestellt; es gebe kein anderes Grundrecht, das unmittelbarer auf den Schutz des Einzelnen als solchen abziele.
87
Im übrigen könne man eine solche Abwägung nur mit der Annahme zu legitimieren versuchen, daß die Zahl der geretteten Leben erwartungsgemäß die der preisgegebenen deutlich übersteige. Indes stehe das Gegenteil fest. Während der parlamentarischen Beratungen habe der Regierungsvertreter aufgrund umfangreicher Untersuchungen und Vergleiche erklärt, selbst bei niedriger Schätzung sei mit einer Steigerung der Gesamtzahl legaler und illegaler Aborte um 40% zu rechnen.
88
Schließlich sei auch zu beachten, daß die Fristenregelung gerade der bedrängten Frau jede Möglichkeit nehme, einen auf Abtreibung gerichteten Druck des Erzeugers oder sonstiger Beteiligter dadurch zu mildern, daß sie auf das Unrecht, die Strafbarkeit, das Risiko des ihr angesonnenen Verhaltens hinweise. Daran könne keine Beratung etwas ändern, am allerwenigsten eine solche, die wirkliche Gegendruck-Mittel nicht einsetzen dürfe. So sei es gerade die Fristenlösung, die die Schwangere in die Isolation treibe und sie unsachlichen Pressionen ausliefere. Sie sei die in Wahrheit unsoziale Regelung.
89
3. Die Freigabe des Schwangerschaftsabbruchs in den ersten zwölf Wochen verstoße auch gegen Art. 3 GG; denn unter keinem sachlichen Gesichtspunkt lasse sich eine Fristenregelung, innerhalb derer kein Rechtsschutz für das werdende Leben bestehe, rechtfertigen. Ferner verletze die Fristenregelung Art. 6 Abs. 1 und Abs. 4 GG sowie das Rechtsstaatsprinzip.
90
III.
Von den Verfassungsorganen, denen gemäß § 77 BVerfGG Gelegenheit zur Äußerung gegeben worden ist, haben der Bundestag und die Bundesregierung Stellung genommen. Die Regierung des Landes Nordrhein-Westfalen hat erklärt, daß sie sich der Stellungnahme der Bundesregierung anschließe.
91
1. Der Bundesminister der Justiz, der sich namens der Bundesregierung geäußert hat, hält die Anträge für unbegründet.
92
a) Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 25. Juni 1974 (BVerfGE 37, 363) habe das Fünfte Strafrechtsreformgesetz nicht der Zustimmung des Bundesrates bedurft. Es enthalte weder neue Vorschriften, welche die Zustimmungsbedürftigkeit begründeten, noch ändere es Regelungen, die der Zustimmungsbedürftigkeit unterlegen hätten. Der Gesetzgeber sei nicht gehindert gewesen, das Fünfte Strafrechtsreformgesetz und das Strafrechtsreform-Ergänzungsgesetz getrennt zu beraten und zu verabschieden.
93
b) Die im Fünften Strafrechtsreformgesetz vorgesehene Fristenregelung sei mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG vereinbar.
94
Die Bundesregierung sei stets davon ausgegangen, daß das ungeborene Leben in den Schutz des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG einbezogen sei. Auch in den ausführlichen Beratungen im Bundestag und Bundesrat seien der Verfassungsrang und die Verpflichtung zum Schutz des ungeborenen Lebens außer Streit gewesen.
95
Ungeachtet der Verpflichtung zu einem angemessenen und wirksamen Schutz des ungeborenen Lebens verlange Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG jedoch keinen Schutz des werdenden Lebens, der dem des geborenen gleichartig sei. Der Gesetzgeber müsse sich deshalb nicht für einen durchgängigen strafrechtlichen Schutz des ungeborenen Lebens entscheiden, sofern der Schutz auf andere Weise den Anforderungen der Schutzwürdigkeit und Schutzbedürftigkeit des ungeborenen Lebens entspreche.
96
Diese Auffassung werde zunächst durch die Entstehungsgeschichte des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG bestätigt. Aus ihr ergebe sich eindeutig, daß nicht von einem durchgehenden Pönalisierungszwang zum Schutz des ungeborenen Lebens ausgegangen werden müsse.
97
Gleichartigkeit des Schutzes sei allerdings erforderlich, soweit staatliche Angriffe abzuwenden seien. Es gehe jedoch weder darum noch um die Abwehr von Angriffen Dritter; denn das Verhältnis der Leibesfrucht zur Mutter sei von besonderer Art. Die Leibesfrucht sei mit Leib und Leben der Mutter in denkbar engster Weise verbunden, auch wenn sie als selbständiges Rechtsgut anerkannt werde. Den Schutz habe bereits die Natur in die unmittelbare Obhut der Mutter gelegt. Die Möglichkeiten der Rechtsordnung, das ungeborene Leben auch gegenüber der Mutter zu schützen, seien von der Sache her begrenzt. Strafrechtliche Sanktionen hätten nach den bisherigen Erfahrungen nur in beschränktem Maße Schwangere zum Austragen einer Leibesfrucht bewegen können, wenn bei ihnen dazu die Bereitschaft nicht vorhanden sei. Die Schutzpflicht könne deshalb für den Staat nicht eine durchgehende Strafpflicht begründen. Mit der Zurücknahme der Strafdrohung gegenüber einem Abbruch der Schwangerschaft in den ersten Schwangerschaftswochen verleihe der Staat der Mutter kein Recht zum Eingriff. Der Gesetzgeber begrenze lediglich die Strafdrohung im Hinblick darauf, daß andere Schutzvorkehrungen als geeigneter und wirksamer angesehen würden oder um schutzwürdigen Belangen der Schwangeren Rechnung zu tragen.
98
Verfassungsrechtlich könne von einer generellen Strafpflicht des Staates auch deshalb nicht ausgegangen werden, weil der Gesetzgeber gehalten sei, entgegenstehende Grundrechte der Schwangeren selbst und verfassungsrechtliche Wertentscheidungen zu berücksichtigen. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG wirke zugunsten schwangerer Frauen als ein auch ihnen zustehendes Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Dem Schutz des Lebens und der Gesundheit Schwangerer komme im Hinblick auf die große Zahl der nicht von Ärzten vorgenommenen Schwangerschaftsabbrüche ein beachtliches Gewicht zu. Das Kurpfuschertum sei zwar im Vergleich zu früheren Zeiten zurückgegangen, begründe aber immer noch für das Leben und die Gesundheit schwangerer Frauen eine erhebliche Gefahr. Auch bei rechtswidrigen Schwangerschaftsabbrüchen durch Ärzte sei in kritischen Fällen die erforderliche Not- sowie die Nachversorgung nicht unbedingt gewährleistet. Außerdem sei die Selbstverantwortung schwangerer Frauen zu beachten. Die Wertentscheidung zugunsten der Selbstverantwortung des Menschen habe hier insofern eine entscheidende verfassungsrechtliche Bedeutung, als der Gesetzgeber sie gerade bei der Regelung eines Lebensbereichs, der in starkem Maße von der natürlichen Verantwortung der Frau für ihre Leibesfrucht geprägt sei, mit zugrunde legen müsse. Der Gesetzgeber habe angesichts der sich gegenseitig beeinflussenden und begrenzenden Wertentscheidungen und Grundrechte die Aufgabe, alle Rechtspositionen zu berücksichtigen und zum Ausgleich zu bringen.
99
Beim Erlaß von Strafrechtsnormen sei überdies zu beachten, daß dem Strafrecht aus dem Gebot des sinn- und maßvollen Strafens Grenzen gesetzt seien. Nicht überall dort, wo verfassungsrechtliche Wertentscheidungen vorlägen, sei ihre Sicherung durch Strafsanktionen geboten. Eine durchgehende Parallelität von verfassungsrechtlicher und strafrechtlicher Wertordnung lasse sich nicht herstellen; beide Bereiche seien nicht identisch.
100
Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG könne hiernach grundsätzlich kein weitergehender Auftrag für die Ausgestaltung der allgemeinen Rechtsordnung entnommen werden, als der, einen dem ungeborenen Leben angemessenen und wirksamen Schutz zu gewährleisten. Der Gesetzgeber habe die von einer verfassungsrechtlichen Grundentscheidung ausgehenden Richtlinien und Impulse zu beachten. Im übrigen sei er jedoch in der Ausgestaltung dieser Maßnahmen frei.
101
c) Die Fristenregelung des Fünften Strafrechtsreformgesetzes genüge in Inhalt und Ausgestaltung den verfassungsrechtlichen Anforderungen des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG. Die Beratung schwangerer Frauen während der ersten zwölf Schwangerschaftswochen, das Kernstück der Fristenregelung, gewährleiste auch ohne Strafdrohung den erforderlichen Schutz des ungeborenen Lebens.
102
Der Gesetzgeber sei dabei davon ausgegangen, daß die Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch in aller Regel einer schwerwiegenden Konfliktsituation der Schwangeren entspringe und in den Tiefen der Persönlichkeit getroffen werde. Eine Strafvorschrift vermöge deshalb zum Schwangerschaftsabbruch geneigte oder bereite Frauen regelmäßig nicht zu erreichen. Andererseits liege, wenn eine Frau trotz des Risikos für ihre eigene Gesundheit oder gar das eigene Leben einen Schwangerschaftsabbruch erwäge, eine Situation vor, die Beratung und Hilfestellung erfordere. Beides erscheine auch nicht als aussichtslos, da viele dieser Frauen noch in ihrem Entschluß schwankten und keineswegs von vornherein auf den Schwangerschaftsabbruch fixiert seien. Solche Frauen könnten durch eine eingehende Beratung zu einer positiven Einstellung zur Schwangerschaft gebracht werden. Eine durchgehende Strafandrohung auch für die erste Zeit der Schwangerschaft, wie sie bei Indikationsregelungen vorgesehen sei, schwäche die Effektivität von Beratungs- und Hilfsangeboten entscheidend. Da eine Indikationsregelung zwangsläufig irgendeine Form eines Begutachtungssystems voraussetze, unterwerfe sie die Schwangere dem Zwang, sich dieser Begutachtung zu unterziehen. Dies sei aber einer offenen Beteiligung der Schwangeren an der Beratung abträglich und führe bei abtreibungsbereiten und -geneigten Frauen häufig dazu, daß der Weg zur Beratung und zur Gutachterstelle von vornherein vermieden werde.
103
Im übrigen ließen die im Zusammenhang mit der Reform des § 218 StGB angestellten Prognosen keine verfassungsrechtlichen Schlußfolgerungen zu. Sie müßten auf unbekannte Größen zurückgreifen und erlaubten deshalb keine zuverlässigen Rückschlüsse. Die Prognosefehler kumulierten sich überdies, wenn die dem Fünften Strafrechtsreformgesetz zugrunde liegende Regelung als Entkriminalisierung erklärt und mit der Rechtslage in Ländern verglichen werde, in denen diese tatsächlich so verstanden werden müsse. Der Zweck dieses Gesetzes sei nicht die Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs, sondern die Gewährleistung eines angemessenen und wirksamen Schutzes des ungeborenen Lebens, auch wenn anstelle einer durchgehenden Bestrafung des Schwangerschaftsabbruchs eine verbundene Regelung vorgesehen sei, die für die ersten zwölf Schwangerschaftswochen der Beratung als vorbeugender Maßnahme eine größere Eignung als der Strafandrohung beimesse.
104
Der Gesetzgeber habe die Beratung wirksam gestaltet. Neben einer Beratung, bei der ärztliche Gesichtspunkte im Vordergrund stünden, stehe die Unterrichtung über die zur Verfügung stehenden öffentlichen und privaten Hilfen für Schwangere, Mütter und Kinder sowie insbesondere über solche Hilfen, die die Fortsetzung der Schwangerschaft und die Lage von Mutter und Kind erleichtern. Unzweideutig sei, daß die Beratung auf Fortsetzung der Schwangerschaft ausgerichtet sein müsse. Der Gesetzgeber habe die Beratung durch eine Strafandrohung abgesichert. Durch das Strafrechtsreform-Ergänzungsgesetz werde sichergestellt, daß der Weg zum Arzt oder zur Beratungsstelle nicht aus Kostengründen erschwert werde. Die Befürchtung, die Fristenregelung führe zu einem "Dammbruch" im Rechtsbewußtsein unseres Volkes, sei bereits in der wissenschaftlichen Literatur überzeugend widerlegt.
105
d) Die bedingte Rücknahme der Strafdrohung für den Schwangerschaftsabbruch in den ersten zwölf Schwangerschaftswochen verstoße auch nicht gegen Art. 3 GG. Die unterschiedlichen Schutzvorkehrungen beruhten nicht auf einer verschiedenen Bewertung der Leibesfrucht nach ihrem Alter, sondern seien Teil einer einheitlichen Regelung, die nicht nur insgesamt, sondern auch in ihren Teilen auf einen gleichwertigen Schutz der Leibesfrucht ausgerichtet sei und diesen Schutz in einer dem jeweiligen Entwicklungsstadium angemessenen und wirksamen Weise ausgestalte. Auch Art. 6 Abs. 1 und 4 GG sowie das Rechtsstaatsprinzip seien nicht verletzt.
106
2. Für den Deutschen Bundestag hat der Bundestagsabgeordnete Rechtsanwalt Professor Dr. Ehmke eine Stellungnahme abgegeben. Er ist ebenfalls der Auffassung, die Fristenregelung des Fünften Strafrechtsreformgesetzes sei mit dem Grundgesetz vereinbar. Er verneint die Zustimmungsbedürftigkeit dieses Gesetzes aus den gleichen Gründen wie die Bundesregierung.
107
Weiter führt er aus:
108
Das Gesetz enthalte keine "perfekte", aber eine sinnvolle Lösung des seit Jahrzehnten diskutierten Reformproblems. Die hohen Dunkelziffern, die geringe Zahl der - nur auf leichte Strafen lautenden - Verurteilungen, die sich negativ auf die soziale Geltungskraft des § 218 StGB ausgewirkt habe, die Benachteiligung der Frauen aus sozial schwächeren Schichten, die sich Kurpfuschern hätten anvertrauen müssen, sowie die Folgekriminalität hätten dringend eine Reform des § 218 StGB verlangt. Gesundheitspolitisch wie gesellschaftspolitisch sei die Fristenlösung vorzuziehen; sie werde insbesondere mit hoher Wahrscheinlichkeit die Zahl der illegalen Schwangerschaftsabbrüche und die mit ihnen verbundenen gesundheitlichen Gefahren für die Mütter vermindern und im übrigen auch die Folgekriminalität eindämmen können. Im Gegensatz zu einer Indikationslösung schließe die Fristenlösung sowohl regionale wie individuelle Ungleichheit und damit Ungerechtigkeit bei der Anwendung der Indikationstatbestände als auch die soziale Ungleichheit hinsichtlich der Ausweichmöglichkeiten ins Ausland aus. Sie beseitige die Angst der Frauen vor dem Abgewiesenwerden, die sie wieder in die Illegalität treibe, und eröffne damit einer ohne Zeitdruck erfolgenden Beratung und selbstverantwortlichen Überlegung der Mutter überhaupt erst eine Chance. Es verspreche mehr Erfolg, die Einsicht und die Selbstverantwortung der Frauen zu stärken, als auf ihre Angst vor der Strafdrohung zu bauen.
109
Die Frage der Verfassungsmäßigkeit der Fristenlösung lasse sich nicht allein aus dem Wortlaut des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und der Entstehungsgeschichte dieser Vorschrift beantworten. Aus den Verhandlungen des Parlamentarischen Rates ergebe sich nur, daß er eine Reform der Strafvorschriften über den Schwangerschaftsabbruch bewußt nicht habe präjudizieren wollen und deshalb die Frage, ob und wieweit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG auch ungeborenes Leben schütze, nicht ausdrücklich entschieden habe. Daher sei auf anderem Wege über die Auslegung des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG Klarheit zu gewinnen.
110
Die Verwendung des Wortes "jeder" spreche gegen die Annahme eines Grundrechts des ungeborenen Lebens, da sowohl in der Umgangs- wie auch in der Rechtssprache mit "jeder" eindeutig eine menschliche Person bezeichnet werde. Auch im Rechtssinne beginne das Person- und Menschsein erst mit der Geburt.
111
Damit sei allerdings noch nicht entschieden, ob und inwieweit ungeborenes Leben ein durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG geschütztes Rechtsgut darstelle. In Übereinstimmung mit der in der Lehre überwiegend und im Deutschen Bundestag einhellig vertretenen Meinung sei Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nach seinem Sinn und Zweck dahin auszulegen, daß er als Grundsatznorm der Verfassung auch das ungeborene Leben als Vorstufe des Menschenlebens schütze. Damit sei aber noch völlig offen, wann der Rechtsschutz beginne, welcher Art er zu sein habe und wie er gegenüber verschiedenen potentiellen Verletzern zu differenzieren sei.
112
Diese Frage könne weder durch Rückgriff auf kirchliche Lehren oder religiöse Überzeugungen noch mit den Methoden der Naturwissenschaft beantwortet werden. Auch eine Berufung auf Art. 1 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 2 GG könne keine zusätzlichen Erkenntnisse bringen. Bei der Interpretation des Begriffs "Mensch" stellten sich die gleichen noch nicht beantworteten Auslegungsfragen. Art. 19 Abs. 2 GG bestimme nicht den Umfang eines Grundrechts, sondern seinen unverzichtbaren "Kern"; bevor diese Bestimmung herangezogen werden könne, müsse also zunächst geprüft werden, ob und inwieweit ungeborenes Leben durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG überhaupt geschützt werde.
113
Die Frage des Strafrechtsschutzes ungeborenen Lebens verlange differenzierte Antworten, je nachdem gegen welchen potentiellen Täter er sich richte und in welchem Entwicklungsstadium sich das ungeborene Leben befinde. Auch die Rechtsgeschichte zeige, daß das ungeborene Leben - sowohl im weltlichen wie im kirchlichen Recht - immer anders, und zwar schwächer geschützt worden sei als das geborene Leben.
114
Nach kirchlichem Recht sei bis zum Ende des 19. Jahrhunderts nur die Abtötung einer "beseelten" Leibesfrucht strafbar gewesen, wobei als Zeitpunkt der Beseelung in der Praxis der 80. Tag nach der Empfängnis angenommen worden sei. Das weltliche Recht sei zunächst nachhaltig von der kirchlichen Lehre und vom kirchlichen Recht beeinflußt worden; seit dem Aufkommen naturwissenschaftlichen Denkens habe es auf den Beginn der Kindesbewegungen (im Common Law: quickening) abgestellt, bis zu deren Einsetzen der Schwangerschaftsabbruch wesentlich milder bestraft worden sei. Aus bevölkerungspolitischen Gründen habe das Preußische Allgemeine Landrecht dann zwar den Schwangerschaftsabbruch schon von der Empfängnis an bestraft, die Strafdrohung aber nach der 30. Schwangerschaftswoche, also nach der Lebensfähigkeit des Kindes, abgestuft.
115
Daß ungeborenes Leben strafrechtlich nicht wie ein Menschenleben zu bewerten sei, zeige sich auch darin, daß selbst die Gegner der Fristenlösung über die medizinische Indikation hinausgehende weitere Indikationstatbestände vorgeschlagen hätten. Von dem irrigen Ausgangspunkt her, ungeborenes Leben sei strafrechtlich ein dem Menschenleben gleichwertiges Rechtsgut, käme diese Strafrechtslehre bei der eugenischen und der ethischen Indikation in Bedrängnis. Letztlich gehe es entscheidend um die Wahrung mütterlicher Interessen, wobei man gleichzeitig bemüht sei, die des nasciturus soweit als möglich zu schützen. Man müsse deshalb die Frage von den Rechten der Mutter her betrachten und die Strafvorschrift des § 218 StGB dogmatisch richtig als ein Gesetz verstehen, daß zum Schutz des objektiven Rechtsguts ungeborenes Leben in Grundrechte der Mutter eingreife. Diese Bewertung des Schwangerschaftsabbruchs sei allgemein im Rechtsbewußtsein der freien Welt zu beobachten, wie ein rechtsvergleichender Blick auf das westliche Ausland zeige.
116
Sehe man die Lage so, dann stärke die Fristenregelung die Grundrechte der Frau aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG. Das heiße zwar nicht, daß ihre individuelle Freiheit unbeschränkt sein könnte. Es sei jedoch für die Frage des Schwangerschaftsabbruchs zunächst von der Selbstverantwortung der Frau auszugehen, die allerdings nicht im Sinne eines "Verfügungsrechts" der Frau über die Leibesfrucht, die nicht Teil des Körpers der Frau sei, mißverstanden werden dürfe. Eine Strafvorschrift gegen den Schwangerschaftsabbruch verlange von der Frau nicht nur, wie von Dritten, eine bloße Unterlassung, sondern vielmehr das Aufsichnehmen von Gefahren für Leib und Leben, von körperlichen und psychischen Belastungen sowie der Pflichten, die sich später aus dem Muttersein und der Verantwortung für die Erziehung und Betreuung ihrer Kinder ergäben. Ferner garantiere Art. 6 Abs. 1 GG einen Bereich privater, familiärer Lebensgestaltung, der dem Eingriff des Staates grundsätzlich entzogen sei. Art. 6 Abs. 1 GG sei heute im Lichte des werdenden Menschenrechts auf Familienplanung zu interpretieren. Weiter ergebe sich aus Art. 6 Abs. 4 GG eine positive soziale Schutzpflicht des Staates. Schließlich seien in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG Leben und Gesundheit der Mutter im Gegensatz zum ungeborenen Leben nicht bloß als objektive Rechtsgüter, sondern als echte Grundrechte geschützt.
117
Bei Abwägung aller Umstände könne Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, der als Grundsatznorm auch ungeborenes Leben schütze, nicht dahin ausgelegt werden, daß er die durchgehende Pönalisierung des Schwangerschaftsabbruchs vom Beginn des Lebens an vorschreibe.
118
Der Gesetzgeber habe endlich den Weg eines positiven Schutzes ungeborenen Lebens betreten. Die vorgesehene Beratung solle der Frau einerseits zeigen, welche Hilfen sie bei Austragung der Schwangerschaft und für die Mutterschaft von der Gesellschaft erwarten könne, und solle ihr andererseits alle medizinischen Gesichtspunkte der Schwangerschaft wie des Schwangerschaftsabbruchs vor Augen führen. Das Strafrechtsreform-Ergänzungsgesetz solle die Beratung durch einen Beratungsanspruch absichern und im übrigen die soziale Sicherung für die werdende Mutter und damit für das werdende Leben verbessern.
119
Prognosen über die zukünftige Wirkung eines Gesetzes seien naturgemäß mit erheblicher Unsicherheit belastet. Dies gelte insbesondere in einem Bereich, in dem man angesichts der ungewöhnlich hohen Dunkelziffer nur von geschätzten Zahlen ausgehen könne. Auch hier müsse der vom Bundesverfassungsgericht aufgestellte Grundsatz gelten, daß eine gesetzliche Maßnahme nicht schon deshalb als verfassungswidrig angesehen werden dürfe, weil sie auf einer Fehlprognose beruhen könnte. Das Bundesverfassungsgericht habe vielmehr nur zu prüfen, ob die Annahmen des Gesetzgebers so verfehlt seien, daß sie als nicht sachgerecht und und unvertretbar bezeichnet werden müßten.
120
IV.
In der mündlichen Verhandlung am 18. und 19. November haben sich zu den verfassungsrechtlichen Fragen geäußert:
121
Für die Antragsteller der Justizminister des Landes Baden-Württemberg, Dr. Bender, der Minister für Familie, Gesundheit und Sozialordnung des Saarlandes, Frau Rita Waschbuesch, die Professoren Dr. Lerche, Dr. Ossenbühl und Dr. Rudolphi, Rechtsanwalt Erhard (MdB) sowie die Ministerialdirigenten Professor Dr. Odersky (Bayern) und Dr. Fischer (Rheinland-Pfalz), für den Deutschen Bundestag dessen Vizepräsidentin Frau Liselotte Funcke, Rechtsanwalt Professor Dr. Ehmke (MdB) und Professor Dr. Stratenwerth, für die Bundesregierung der Bundesminister der Justiz Dr. Vogel, die Professoren Dr. Baumann und Dr. Peter Schneider sowie Ministerialdirektor Bahlmann und Ministerialrat Harsdorf.
122
Auf Anregung der Bundesregierung ist ferner Professor Dr.Dr. Jürgens als Auskunftsperson angehört worden.
123
B.
Das Fünfte Strafrechtsreformgesetz bedurfte nicht der Zustimmung des Bundesrates.
124
1. Das Gesetz ändert zwar in den Artikeln 6 und 7 die Strafprozeßordnung und das Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch, die ihrerseits mit Zustimmung des Bundesrates ergangen sind. Deswegen allein ist es aber noch nicht zustimmungsbedürftig (BVerfGE 37, 363). Das Gesetz ändert ferner keine gesetzlichen Bestimmungen, die ihrerseits zustimmungsbedürftig waren.
125
2. Das Fünfte Strafrechtsreformgesetz enthält selbst keine gemäß Art. 84 Abs. 1 oder einer anderen Bestimmung des Grundgesetzes zustimmungsbedürftigen Vorschriften. Weder § 218c noch § 219 STgb n.F. regeln die Einrichtung von Behörden oder das Verwaltungsverfahren. Sie setzen vielmehr lediglich die materiell-rechtlich Voraussetzungen eines nicht strafbaren Schwangerschaftsabbruchs fest. Das gilt auch, soweit § 218c Abs. 1 Nr. 1 StGB verlangt, daß die Schwangere sich vor dem Abbruch an eine ermächtigte Beratungsstelle gewandt hat, und den Gegenstand der Beratung umschreibt. Die Errichtung und Einrichtung von Beratungsstellen sowie der Erlaß von Verwaltungsvorschriften für das von diesen Stellen zu praktizierende Verfahren bleiben in vollem Umfang den Ländern überlassen. Aus den gleichen Gründen löst § 219 StGB nicht das Zustimmungserfordernis des Bundesrates aus, wenn diese Vorschrift vor der Durchführung eines nach § 218b indizierten Schwangerschaftsabbruchs die Bestätigung der sachlichen Voraussetzungen durch "eine zuständige Stelle" fordert.
126
3. Den antragstellenden Landesregierungen kann auch nicht gefolgt werden, soweit sie bei der Beurteilung der Zustimmungsbedürftigkeit an den in der Entscheidung vom 25. Juni 1974 aufgestellten Rechtsgrundsatz anknüpfen, wonach ein Änderungsgesetz dann der Zustimmung des Bundesrates bedarf, "wenn durch die Änderung materiell- rechtlicher Normen die nicht ausdrücklich geänderten Vorschriften über das Verwaltungsverfahren bei sinnorientierter Auslegung ihrerseits eine wesentlich andere Bedeutung und Tragweite erfahren" (BVerfGE 37, 363, 4. Leitsatz und [383]). Die tatsächlichen Voraussetzungen für eine unmittelbare Anwendung dieses Leitsatzes liegen hier unbestrittenermaßen nicht vor. Ob eine Fortentwicklung dieses Rechtsgrundsatzes in dem von der Landesregierung von Rheinland-Pfalz vorgetragenen Sinn überhaupt in Betracht kommen könnte, mag dahinstehen. Auch nach dieser Rechtsansicht ergäbe sich keine Zustimmungsbedürftigkeit des Fünften Strafrechtsreformgesetzes, da den Ländern nach den materiell-rechtlichen Vorschriften für die ihnen obliegenden Verwaltungsregelungen noch ein weiter Gestaltungsspielraum verbleibt.
127
4. Schließlich kann auch aus dem engen Zusammenhang des Fünften Strafrechtsreformgesetzes mit dem Strafrechtsreform-Ergänzungsgesetz, das mit dem vom Bundestag beschlossenen Inhalt für zustimmungsbedürftig angesehen wird, kein Zustimmungserfordernis abgeleitet werden. Abgesehen davon, daß das Strafrechtsreform-Ergänzungsgesetz noch nicht zustande gekommen ist, ist der Gesetzgeber in Ausübung seiner gesetzgeberischen Freiheit grundsätzlich nicht gehindert, ein Gesetzesvorhaben in mehrere Einzelgesetze aufzuteilen. Das Bundesverfassungsgericht ist bisher von der Zulässigkeit solcher Aufspaltungen ausgegangen (vgl. BVerfGE 34, 9 [28]; 37, 363 [382]). In der Entscheidung BVerfGE 24, 184 (199 f.) - Apostille - hat es das Gericht offengelassen, ob der Aufspaltungsbefugnis verfassungsrechtliche Grenzen gezogen sind und wo diese Grenzen verlaufen. Hier sind solche Grenzen jedenfalls nicht überschritten.
128
Das Fünfte Strafrechtsreformgesetz un das geplante Strafrechtsreform-Ergänzungsgesetz sind zwar aufeinander abgestimmt, sie müssen aber nicht notwendig zu einer gesetzestechnischen Einheit miteinander verbunden werden. Das erstgenannte Gesetz enthält im wesentlichen nur Straf- und Strafverfahrensrecht. Demgegenüber hat das Strafrechtsreform-Ergänzungsgesetz sozial- und arbeitsrechtliche Maßnahmen zum Inhalt. Die inhaltliche Unabhängigkeit des Strafrechtsreform-Ergänzungsgesetzes vom Fünften Strafrechtsreformgesetz ergibt sich augenfällig schon daraus, daß das Strafrechtsreform-Ergänzungsgesetz seinem Wortlaut nach auf alle für die Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs vorgeschlagenen Lösungen, nämlich die "Fristenlösung" und die drei "Indikationslösungen", anwendbar wäre.
129
C.
Die Frage der rechtlichen Behandlung des Schwangerschaftsabbruchs wird in der Öffentlichkeit seit Jahrzehnten unter mannigfachen Gesichtspunkten diskutiert. In der Tat wirft dieses Phänomen des Soziallebens vielfältige Probleme biologischer, insbesondere humangenetischer, anthropologischer, ferner medizinischer, psychologischer, sozialer, gesellschaftspolitischer und nicht zuletzt ethischer und moraltheologischer Art auf, die Grundfragen menschlicher Existenz berühren. Aufgabe des Gesetzgebers ist es, die aus diesen verschiedenen Sichtweisen entwickelten, unter sich vielseitig verschränkten Argumente zu würdigen, sie durch spezifisch rechtspolitische Überlegungen sowie durch die praktischen Erfahrungen des Rechtslebens zu ergänzen und auf dieser Grundlage die Entscheidung zu gewinnen, in welcher Weise die Rechtsordnung auf diesen sozialen Vorgang reagieren soll. Die nach außergewöhnlich umfangreichen Vorarbeiten im Fünften Strafrechtsreformgesetz getroffene gesetzliche Regelung kann vom Bundesverfassungsgericht allein unter dem Gesichtspunkt geprüft werden, ob sie mit dem Grundgesetz als dem höchsten in der Bundesrepublik geltenden Recht vereinbar ist. Gewicht und Ernst der verfassungsrechtlichen Fragestellung werden deutlich, wenn bedacht wird, daß es hier um den Schutz menschlichen Lebens geht, eines zentralen Wertes jeder rechtlichen Ordnung. Die Entscheidung über Maßstäbe und Grenzen der gesetzgeberischen Entscheidungsfreiheit erfordert eine Gesamtschau des verfassungsrechtlichen Normenbestandes und der in ihm beschlossenen Wertordnung.
130
I.
1. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG schützt auch das sich im Mutterleib entwickelnde Leben als selbständiges Rechtsgut.
131
a) Die ausdrückliche Aufnahme des an sich selbstverständlichen Rechts auf Leben in das Grundgesetz - anders als etwa in der Weimarer Verfassung - erklärt sich hauptsächlich als Reaktion auf die "Vernichtung lebensunwerten Lebens", auf "Endlösung" und "Liquidierung", die vom nationalsozialistischen Regime als staatliche Maßnahmen durchgeführt wurden. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG enthält ebenso wie die Abschaffung der Todesstrafe durch Art. 102 GG "ein Bekenntnis zum grundsätzlichen Wert des Menschenlebens und zu einer Staatsauffassung, die sich in betonten Gegensatz zu den Anschauungen eines politischen Regimes stellt, dem das einzelne Leben wenig bedeutete und das deshalb mit dem angemaßten Recht über Leben und Tod des Bürgers schrankenlosen Mißbrauch trieb" (BVerfGE 18, 112 [117]).
132
b) Bei der Auslegung des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ist auszugehen von seinem Wortlaut: "Jeder hat das Recht auf Leben ... ". Leben im Sinne der geschichtlichen Existenz eines menschlichen Individuums besteht nach gesicherter biologisch-physiologischer Erkenntnis jedenfalls vom 14. Tage nach der Empfängnis (Nidation, Individuation) an (vgl. hierzu die Ausführungen von Hinrichsen vor dem Sonderausschuß für die Strafrechtsreform, 6. Wp., 74. Sitzung, StenBer. S. 2142 ff.). Der damit begonnene Entwicklungsprozeß ist ein kontinuierlicher Vorgang, der keine scharfen Einschnitte aufweist und eine genaue Abgrenzung der verschiedenen Entwicklungsstufen des menschlichen Lebens nicht zuläßt. Er ist auch nicht mit der Geburt beendet; die für die menschliche Persönlichkeit spezifischen Bewußtseinsphänomene z.B. treten erst längere Zeit nach der Geburt auf. Deshalb kann der Schutz des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG weder auf den "fertigen" Menschen nach der Geburt noch auf den selbständig lebensfähigen nasciturus beschränkt werden. Das Recht auf Leben wird jedem gewährleistet, der "lebt"; zwischen einzelnen Abschnitten des sich entwickelnden Lebens vor der Geburt oder zwischen ungeborenem und geborenem Leben kann hier kein Unterschied gemacht werden. "Jeder" im Sinne des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ist "jeder Lebende", anders ausgedrückt: jedes Leben besitzende menschliche Individuum; "jeder" ist daher auch das noch ungeborene menschliche Wesen.
133
c) Gegenüber dem Einwand, "jeder" bezeichne sowohl in der Umgangs- als auch in der Rechtssprache gemeinhin eine "fertige" menschliche Person, eine reine Wortinterpretation spreche daher gegen die Einbeziehung des ungeborenen Lebens in den Wirkungsbereich des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ist zu betonen, daß jedenfalls Sinn und Zweck dieser Grundgesetzbestimmung es erfordern, den Lebensschutz auch auf das sich entwickelnde Leben auszudehnen. Die Sicherung der menschlichen Existenz gegenüber staatlichen Übergriffen wäre unvollständig, wenn sie nicht auch die Vorstufe des "fertigen Lebens", das ungeborene Leben, umfaßte.
134
Diese extensive Auslegung entspricht dem in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aufgestellten Grundsatz, "wonach in Zweifelsfällen diejenige Auslegung zu wählen ist, welche die juristische Wirkungskraft der Grundrechtsnorm am stärksten entfaltet" (BVerfGE 32, 54 [71]; 6, 55 [72]).
135
d) Zur Begründung dieses Ergebnisses läßt sich auch die Entstehungsgeschichte des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG heranziehen.
136
Nachdem die Fraktion der Deutschen Partei (DP) wiederholt den Antrag gestellt hatte, im Zusammenhang mit dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit auch das "keimende Leben" ausdrücklich zu erwähnen (Drucks. des Parlamentarischen Rates 11.48 - 298 und 12.48 - 398), beriet der Parlamentarische Rat erstmalig in der 32. Sitzung seines Ausschusses für Grundsatzfragen am 11. Januar 1949 diesen Problemkreis. Bei der Erörterung der Frage, ob in das Grundgesetz eine Vorschrift aufgenommen werden solle, die ärztliche Eingriffe verbietet, die nicht der Heilung dienen, erklärte der Abgeordnete Dr. Heuss (FDP), ohne damit auf Widerspruch zu stoßen, gedacht sei hier an die Zwangssterilisation und beim Recht auf Leben an die Abtreibung. Der Hauptausschuß des Parlamentarischen Rates befaßte sich in seiner 42. Sitzung am 18. Januar 1949 bei der zweiten Lesung über die Grundrechte (Verhandlungen des Hauptausschusses des Parlamentarischen Rates, StenBer. S. 529 ff.) eingehender mit der Frage nach der Einbeziehung des werdenden Lebens in den Schutz der Verfassung. Der Abgeordnete Dr. Seebohm (DP) beantragte, dem damaligen Art. 2 Abs. 1 GG die beiden Sätze anzufügen: "Das keimende Leben wird geschützt" und "Die Todesstrafe wird abgeschafft". Dazu führte Dr. Seebohm (a.a.O., S. 533 f.) aus, das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit umfasse möglicherweise nicht unbedingt auch das keimende Leben. Deshalb müsse es hier besonders erwähnt werden. Mindestens müsse man aber, wenn eine andere Auffassung vorliegen sollte, hierzu ausdrücklich zu Protokoll geben, daß bei dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit das keimende Leben ausdrücklich eingeschlossen sei.
137
Die Abgeordnete Frau Dr. Weber erklärte namens der CDU/CSU, daß ihre Fraktion, wenn sie für das Recht auf Leben eintrete, das Leben schlechthin meine und für sie auch das keimende Leben und vor allem der Schutz des keimenden Lebens darin enthalten sei (a.a.O., S. 534). Dr. Heuss (FDP) stimmte an sich mit Frau Dr. Weber überein, daß der Begriff des Lebens auch das keimende Leben mit umfasse; in die Verfassung sollten aber nicht Dinge hineingenommen werden, die im Strafgesetz geregelt seien. Infolgedessen halte er die Erwähnung sowohl des keimenden Lebens als auch der Todesstrafe als Sonderfrage für überflüssig (a.a.O., S. 535).
138
"Nach den unwidersprochenen Erklärungen, wonach das keimende Leben in das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit einbezogen ist", wollte Dr. Seebohm seinen Antrag zurückziehen (a.a.O., S. 535). Indessen erklärte der Abgeordnete Dr. Greve (SPD): "Ich muß hier ausdrücklich zu Protokoll geben, daß zum mindesten, was mich angeht, ich unter dem Recht auf Leben nicht auch das Recht auf das keimende Leben verstehe. Ich darf auch für meine Freunde, zum mindesten in ihrer sehr großen Mehrzahl, eine Erklärung gleichen Inhaltes abgeben, um protokollarisch festzuhalten, daß der Hauptausschuß des Parlamentarischen Rates in seiner Gesamtheit nicht auf dem von Herrn Kollegen Dr. Seebohm soeben zum Ausdruck gebrachten Standpunkt steht". Der darauf von Dr. Seebohm wieder aufgenommene Antrag wurde zwar mit 11 gegen 7 Stimmen abgelehnt (a.a.O., S. 535). In dem Schriftlichen Bericht des Hauptausschusses (S. 7) führte der Abgeordnete Dr. von Mangoldt (CDU) jedoch zu Art. 2 GG aus: "Dabei hat mit der Gewährleistung des Rechts auf Leben auch das keimende Leben geschützt werden sollen. Von der Deutschen Partei im Hauptausschuß eingebrachte Anträge, einen besonderen Satz über den Schutz des keimenden Lebens einzufügen, haben nur deshalb keine Mehrheit gefunden, weil nach der im Ausschuß vorherrschenden Auffassung das zu schützende Gut bereits durch die gegenwärtige Fassung gesichert war".
139
Das Plenum des Parlamentarischen Rates stimmte dem Art. 2 Abs. 2 GG am 6. Mai 1949 in zweiter Lesung bei 2 Gegenstimmen zu. Bei der dritten Lesung am 8. Mai 1949 brachten sowohl der Abgeordnete Dr. Seebohm als auch die Abgeordnete Dr. Weber zum Ausdruck, daß nach ihrer Auffassung Art. 2 Abs. 2 GG auch das keimende Leben in den Schutz dieses Grundrechts einbeziehe (Verhandlungen des Parlamentarischen Rates, StenBer. S. 218, 223). Beide Redner blieben mit ihren Ausführungen ohne Widerspruch.
140
Die Entstehungsgeschichte des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG legt es somit nahe, daß die Formulierung "jeder hat das Recht auf Leben" auch das "keimende" Leben einschließen sollte. Jedenfalls kann aus den Materialien noch weniger für die gegenteilige Ansicht abgeleitet werden. Andererseits ergibt sich aus ihr kein Anhaltspunkt für die Beantwortung der Frage, ob das ungeborene Leben strafrechtlich geschützt werden muß.
141
e) Bei den Beratungen des Fünften Strafrechtsreformgesetzes bestand im übrigen Einigkeit über die Schutzwürdigkeit des ungeborenen Lebens, wobei allerdings die verfassungsrechtliche Problematik nicht abschließend behandelt wurde. In dem Bericht des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform zu dem von den Fraktionen der SPD und FDP eingebrachten Gesetzentwurf heißt es hierzu u.a.:
142
"Das ungeborene Leben ist ein Rechtsgut, das geborenem grundsätzlich gleich zu achten ist.
143
Diese Feststellung versteht sich für das Stadium, in dem das ungeborene Leben auch außerhalb des Mutterleibes lebensfähig wäre, von selbst. Sie ist aber bereits für das frühere, etwa mit dem 14. Tag nach der Empfängnis beginnende Entwicklungsstadium gerechtfertigt, wie u.a. Hinrichsen in der Öffentlichen Anhörung (AP VI S. 2142 ff.) überzeugend begründet hat ... . Daß in der gesamten späteren Entwicklung keine diesem Vorgang entsprechende Zäsur mehr festzustellen sei, ist die ganz überwiegende Auffassung in der medizinischen, anthropologischen und theologischen Wissenschaft ... .
144
Damit verbietet es sich, das ungeborene Leben ab dem Ende der Nidation zu negieren oder auch nur mit Indifferenz zu betrachten. Dabei braucht die in der Literatur umstrittene Frage, ob und ggf. inwieweit das Grundgesetz es in seinen Schutz einbeziehe, an dieser Stelle nicht beantwortet zu werden. Jedenfalls entspricht es, sieht man von extremen Auffassungen einzelner Gruppen ab, dem Rechtsverständnis der Allgemeinheit, das ungeborene Leben als Rechtsgut von hohem Rang zu bewerten. Dieses Rechtsverständnis liegt auch dem Entwurf zu Grunde." (BTDrucks.7/1981 neu, S. 5)
145
Nahezu gleichlautend sind insoweit die Ausschußberichte zu den übrigen Entwürfen (BTDrucks. 7/1982 S. 5; BTDrucks. 7/1983 S. 5; BTDrucks. 7/1984 neu, S. 4).
146
2. Die Pflicht des Staates, jedes menschliche Leben zu schützen, läßt sich deshalb bereits unmittelbar aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ableiten. Sie ergibt sich darüber hinaus auch aus der ausdrücklichen Vorschrift des Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG; denn das sich entwickelnde Leben nimmt auch an dem Schutz teil, den Art. 1 Abs. 1 GG der Menschenwürde gewährt. Wo menschliches Leben existiert, kommt ihm Menschenwürde zu; es ist nicht entscheidend, ob der Träger sich dieser Würde bewußt ist und sie selbst zu wahren weiß. Die von Anfang an im menschlichen Sein angelegten potentiellen Fähigkeiten genügen, um die Menschenwürde zu begründen.
147
3. Hingegen braucht die im vorliegenden Verfahren wie auch in der Rechtsprechung und im wissenschaftlichen Schrifttum umstrittene Frage nicht entschieden zu werden, ob der nasciturus selbst Grundrechtsträger ist oder aber wegen mangelnder Rechts- und Grundrechtsfähigkeit "nur" von den objektiven Normen der Verfassung in seinem Recht auf Leben geschützt wird. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts enthalten die Grundrechtsnormen nicht nur subjektive Abwehrrechte des Einzelnen gegen den Staat, sondern sie verkörpern zugleich eine objektive Wertordnung, die als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gilt und Richtlinien und Impulse für Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung gibt (BVerfGE 7, 198 [205] - Lüth -; 35, 79 [114] - Hochschulurteil - mit weiteren Nachweisen). Ob und gegebenenfalls in welchem Umfang der Staat zu rechtlichem Schutz des werdenden Lebens von Verfassungs wegen verpflichtet ist, kann deshalb schon aus dem objektiv-rechtlichen Gehalt der grundrechtlichen Normen erschlossen werden.
148
II.
1. Die Schutzpflicht des Staates ist umfassend. Sie verbietet nicht nur - selbstverständlich - unmittelbare staatliche Eingriffe in das sich entwickelnde Leben, sondern gebietet dem Staat auch, sich schützend und fördernd vor diese Leben zu stellen, das heißt vor allem, es auch vor rechtswidrigen Eingriffen von seiten anderer zu bewahren. An diesem Gebot haben sich die einzelnen Bereiche der Rechtsordnung, je nach ihrer besonderen Aufgabenstellung, auszurichten. Die Schutzverpflichtung des Staates muß um so ernster genommen werden, je höher der Rang des in Frage stehenden Rechtsgutes innerhalb der Wertordnung des Grundgesetzes anzusetzen ist. Das menschliche leben stellt, wie nicht näher begründet werden muß, innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung einen Höchstwert dar; es ist die vitale Basis der Menschenwürde und die Voraussetzung aller anderen Grundrechte.
149
2. die Verpflichtung des Staates, das sich entwickelnde Leben in Schutz zu nehmen, besteht grundsätzlich auch gegenüber der Mutter. Unzweifelhaft begründet die natürliche Verbindung des ungeborenen Lebens mit dem der Mutter eine besonders geartete Beziehung, für die es in anderen Lebenssachverhalten keine Parallele gibt. Die Schwangerschaft gehört zur Intimsphäre der Frau, deren Schutz durch Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich verbürgt ist. Wäre der Embryo nur als Teil des mütterlichen Organismus anzusehen, so würde auch der Schwangerschaftsabbruch in dem Bereich privater Lebensgestaltung verbleiben, in den einzudringen dem Gesetzgeber verwehrt ist (BVerfGE 6, 32 [41]; 6, 389 [433]; 27, 344 [350]; 32, 373 [379]). Da indessen der nasciturus ein selbständiges menschliches Wesen ist, das unter dem Schutz der Verfassung steht, kommt dem Schwangerschaftsabbruch eine soziale Dimension zu, die ihn der Regelung durch den Staat zugänglich und bedürftig macht. Das Recht der Frau auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit, welches die Handlungsfreiheit im umfassenden Sinn zum Inhalt hat und damit auch die Selbstverantwortung der Frau umfaßt, sich gegen eine Elternschaft und die daraus folgenden Pflichten zu entscheiden, kann zwar ebenfalls Anerkennung und Schutz beanspruchen. Dieses Recht ist aber nicht uneingeschränkt gewährt - die Rechte anderer, die verfassungsmäßige Ordnung, das Sittengesetz begrenzen es. Von vornherein kann es niemals die Befugnis umfassen, in die geschützte Rechtssphäre eines anderen ohne rechtfertigenden Grund einzugreifen oder sie gar mit dem Leben selbst zu zerstören, am wenigsten dann, wenn nach der Natur der Sache eine besondere Verantwortung gerade für dieses Leben besteht.
150
Ein Ausgleich, der sowohl den Lebensschutz des nasciturus gewährleistet als auch der Schwangeren die Freiheit des Schwangerschaftsabbruchs beläßt, ist nicht möglich, da Schwangerschaftsabbruch immer Vernichtung des ungeborenen Lebens bedeutet. Bei der deshalb erforderlichen Abwägung "sind beide Verfassungswerte in ihrer Beziehung zur Menschenwürde als dem Mittelpunkt des Wertsystems der Verfassung zu sehen" (BVerfGE 35, 202 [225]). Bei einer Orientierung an Art. 1 Abs. 1 GG muß die Entscheidung zugunsten des Vorrangs des Lebensschutzes für die Leibesfrucht vor dem Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren fallen. Diese kann durch Schwangerschaft, Geburt und Kindeserziehung in manchen persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten beeinträchtigt sein. Das ungeborene Leben hingegen wird durch den Schwangerschaftsabbruch vernichtet. Nach dem Prinzip des schonendsten Ausgleichs konkurrierender grundgesetzlich geschützter Positionen unter Berücksichtigung des Grundgedankens des Art. 19 Abs. 2 GG muß deshalb dem Lebensschutz des nasciturus der Vorzug gegeben werden. Dieser Vorrang gilt grundsätzlich für die gesamte Dauer der Schwangerschaft und darf auch nicht für eine bestimmte Frist in Frage gestellt werden. Die bei der dritten Beratung des Strafrechtsreformgesetzes im Bundestag geäußerte Meinung, es gehe darum, den Vorrang " des aus der Menschenwürde fließenden Selbstbestimmungsrechtes der Frau gegenüber allem anderen, auch dem Lebensrecht des Kindes, für eine bestimmte Frist herauszustellen" (Deutscher Bundestag, 7.Wp., 96. Sitzung, StenBer. S. 6492), ist mit der grundgesetzlichen Wertordnung nicht vereinbar.
151
3. Von hier aus erschließt sich die von der Verfassung geforderte Grundhaltung der Rechtsordnung zum Schwangerschaftsabbruch: Die Rechtsordnung darf nicht das Selbstbestimmungsrecht der Frau zur alleinigen Richtschnur ihrer Regelungen machen. Der Staat muß grundsätzlich von einer Pflicht zur Austragung der Schwangerschaft ausgehen, ihren Abbruch also grundsätzlich als Unrecht ansehen. In der Rechtsordnung muß die Mißbilligung des Schwangerschaftsabbruchs klar zum Ausdruck kommen. Es muß der falsche Eindruck vermieden werden, als handle es sich beim Schwangerschaftsabbruch um den gleichen sozialen Vorgang wie etwa den Gang zum Arzt zwecks Heilung einer Krankheit oder gar um eine rechtlich irrelevante Alternative zur Empfängnisverhütung. Der Staat darf sich seiner Verantwortung auch nicht durch Anerkennung eines "rechtsfreien Raumes" entziehen, indem er sich der Wertung enthält und diese der eigenverantwortlichen Entscheidung des Einzelnen überläßt.
152
III.
Wie der Staat seine Verpflichtung zu einem effektiven Schutz des sich entwickelnden Lebens erfüllt, ist in erster Linie vom Gesetzgeber zu entscheiden. Er befindet darüber, welche Schutzmaßnahmen er für zweckdienlich und geboten hält, um einen wirksamen Lebensschutz zu gewährleisten.
153
1. Dabei gilt auch und erst recht für den Schutz des ungeborenen Lebens der Leitgedanke des Vorranges der Prävention vor der Repression (vgl. BVerfGE 30, 336 [350]). Es ist daher Aufgabe des Staates, in erster Linie sozialpolitische und fürsorgerische Mittel zur Sicherung des werdenden Lebens einzusetzen. Was hier geschehen kann und wie die Hilfsmaßnahmen im einzelnen auszugestalten sind, bleibt weithin dem Gesetzgeber überlassen und entzieht sich im allgemeinen verfassungsgerichtlicher Beurteilung. Dabei wird es hauptsächlich darauf ankommen, die Bereitschaft der werdenden Mutter zu stärken, die Schwangerschaft eigenverantwortlich anzunehmen und die Leibesfrucht zum vollen Leben zu bringen. Bei aller Schutzverpflichtung des Staates darf nicht aus den Augen verloren werden, daß das sich entwickelnde Leben von Natur aus in erster Linie dem Schutz der Mutter anvertraut ist. Den mütterlichen Schutzwillen dort, wo er verlorengegangen ist, wieder zu erwecken und erforderlichenfalls zu stärken, sollte das vornehmste Ziel der staatlichen Bemühungen um Lebensschutz sein. Freilich sind die Einwirkungsmöglichkeiten des Gesetzgebers hier begrenzt. Von ihm eingeleitete Maßnahmen werden häufig nur mittelbar und mit zeitlicher Verzögerung durch eine umfassende Erziehungsarbeit und die dadurch erreichte Veränderung gesellschaftlicher Einstellungen und Anschauungen wirksam.
154
2. Die Frage, inwieweit der Staat von Verfassungs wegen verpflichtet ist, zum Schutz des ungeborenen Lebens auch das Mittel des Strafrechts als der schärfsten ihm zur Verfügung stehenden Waffe einzusetzen, kann nicht von der vereinfachten Fragestellung aus beantwortet werden, ob der Staat bestimmte Handlungen bestrafen muß. Notwendig ist eine Gesamtbetrachtung, die einerseits den Wert des verletzten Rechtsgutes und das Maß der Sozialschädlichkeit der Verletzungshandlung - auch im Vergleich mit anderen unter Strafe gestellten und sozialethisch etwa gleich bewerteten Handlungen - in den Blick nimmt, andererseits die traditionellen rechtlichen Regelungen dieses Lebensbereichs ebenso wie die Entwicklung der Vorstellungen über die Rolle des Strafrechts in der modernen Gesellschaft berücksichtigt und schließlich die praktische Wirksamkeit von Strafdrohungen und die Möglichkeit ihres Ersatzes durch andere rechtliche Sanktionen nicht außer acht läßt.
155
Der Gesetzgeber ist grundsätzlich nicht verpflichtet, die gleichen Maßnahmen strafrechtlicher Art zum Schutze des ungeborenen Lebens zu ergreifen, wie er sie zur Sicherung des geborenen Lebens für zweckdienlich und geboten hält. Wie ein Blick in die Rechtsgeschichte zeigt, war dies bei der Anwendung strafrechtlicher Sanktionen nie der Fall und traf auch für die bis zum Fünften Strafrechtsreformgesetz gegebene Rechtslage nicht zu.
156
a) Aufgabe des Strafrechts war es seit jeher, die elementaren Werte des Gemeinschaftslebens zu schützen. Daß das Leben jedes einzelnen Menschen zu den wichtigsten Rechtsgütern gehört, ist oben dargelegt worden. Der Abbruch einer Schwangerschaft zerstört unwiderruflich entstandenes menschliches Leben. Der Schwangerschaftsabbruch ist eine Tötungshandlung; das wird aufs deutlichste dadurch bezeugt, daß die ihn betreffende Strafdrohung - auch noch im Fünften Strafrechtsreformgesetz - im Abschnitt "Verbrechen und Vergehen wider das Leben" enthalten ist und im bisherigen Strafrecht als "Abtötung der Leibesfrucht" bezeichnet war - die jetzt übliche Bezeichnung als "Schwangerschaftsabbruch" kann diesen Sachverhalt nicht verschleiern. Keine rechtliche Regelung kann daran vorbeikommen, daß mit dieser Handlung gegen die in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verbürgte grundsätzliche Unantastbarkeit und Unverfügbarkeit des menschlichen Lebens verstoßen wird. Von hier aus gesehen ist der Einsatz des Strafrechts zur Ahndung von "Abtreibungshandlungen" ohne Zweifel legitim; er ist in den meisten Kulturstaaten - unter verschieden gestalteten Voraussetzungen - geltendes Recht und entspricht insbesondere auch der deutschen Rechtstradition. Ebenso ergibt sich hieraus, daß auf eine klare rechtliche Kennzeichnung dieses Vorgangs als "Unrecht" nicht verzichtet werden kann.
157
b) Indes kann Strafe niemals Selbstzweck sein. Ihr Einsatz unterliegt grundsätzlich der Entscheidung des Gesetzgebers. Er ist nicht gehindert, unter Beachtung der oben angegebenen Gesichtspunkte die grundgesetzlich gebotene rechtliche Mißbilligung des Schwangerschaftsabbruchs auch auf andere Weise zum Ausdruck zu bringen als mit dem Mittel der Strafdrohung. Entscheidend ist, ob die Gesamtheit der dem Schutz des ungeborenen Lebens dienenden Maßnahmen, seien sie bürgerlich-rechtlicher, öffentlichrechtlicher, insbesondere sozialrechtlicher oder strafrechtlicher Natur, einen der Bedeutung des zu sichernden Rechtsgutes entsprechenden tatsächlichen Schutz gewährleistet. Im äußersten Falle, wenn nämlich der von der Verfassung gebotene Schutz auf keine andere Weise zu erreichen ist, kann der Gesetzgeber verpflichtet sein, zum Schutze des sich entwickelnden Lebens das Mittel des Strafrechts einzusetzen. Die Strafnorm stellt gewissermaßen die "ultima ratio" im Instrumentarium des Gesetzgebers dar. Nach dem das ganze öffentliche Recht einschließlich des Verfassungsrechts beherrschenden rechtsstaatlichen Prinzip der Verhältnismäßigkeit darf er von diesem Mittel nur behutsam und zurückhaltend Gebrauch machen. Jedoch muß auch dieses letzte Mittel eingesetzt werden, wenn anders ein effektiver Lebensschutz nicht zu erreichen ist. Dies fordern der Wert und die Bedeutung des zu schützenden Rechtsgutes. Es handelt sich dann nicht um eine "absolute" Pflicht zu strafen, sondern um die aus der Einsicht in die Unzulänglichkeit aller anderen Mittel erwachsende "relative" Verpflichtung zur Benutzung der Strafdrohung.
158
Demgegenüber greift der Einwand nicht durch, aus einer Freiheit gewährenden Grundrechtsnorm könne niemals eine staatliche Verpflichtung zum Strafen abgeleitet werden. Wenn der Staat durch eine wertentscheidende Grundsatznorm verpflichtet ist, ein besonders wichtiges Rechtsgut auch gegen Angriffe Dritter wirksam zu schützen, so werden oft Maßnahmen unvermeidlich sein, durch welche die Freiheitsbereiche anderer Grundrechtsträger tangiert werden. Insofern ist die Rechtslage beim Einsatz sozialrechtlicher oder zivilrechtlicher Mittel grundsätzlich nicht anders als bei dem Erlaß einer Strafnorm. Unterschiede bestehen allenfalls hinsichtlich der Stärke des erforderlichen Eingriffes. Allerdings muß der Gesetzgeber den hierbei entstehenden Konflikt durch eine Abwägung der beiden einander gegenüberstehenden Grundwerte oder Freiheitsbereiche nach Maßgabe der grundgesetzlichen Wertordnung und unter Beachtung des rechtsstaatlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes lösen. Würde man die Pflicht generell verneinen, auch das Mittel des Strafrechts einzusetzen, so würde der zu gewährende Lebensschutz wesentlich eingeschränkt. Dem Wert des von Vernichtung bedrohten Rechtsgutes entspricht der Ernst der für die Vernichtung angedrohten Sanktion, dem elementaren Wert des Menschenlebens die strafrechtliche Ahndung seiner Vernichtung.
159
3. Die Verpflichtung des Staates zum Schutz des werdenden Lebens besteht - wie dargelegt - auch gegenüber der Mutter. Hier läßt jedoch der Einsatz des Strafrechts besondere Probleme entstehen, die sich aus der singulären Lage der schwangeren Frau ergeben. Die einschneidenden Wirkungen einer Schwangerschaft auf den körperlichen und seelischen Zustand der Frau sind unmittelbar einsichtig und bedürfen keiner näheren Darlegung. Sie bedeuten häufig eine erhebliche Änderung der gesamten Lebensführung und eine Einschränkung der persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten. Nicht immer und nicht voll wird diese Belastung dadurch ausgeglichen, daß die Frau in ihrer Aufgabe als Mutter neue Erfüllung findet und daß die Schwangere Anspruch auf den Beistand der Gemeinschaft hat (Art. 6 Abs. 4 GG). Hier können sich im Einzelfall schwere, ja lebensbedrohende Konfliktsituationen ergeben. Das Lebensrecht des Ungeborenen kann zu einer Belastung der Frau führen, die wesentlich über das normalerweise mit einer Schwangerschaft verbundene Maß hinausgeht. Es ergibt sich hier die Frage der Zumutbarkeit, mit anderen Worten die Frage, ob der Staat auch in solchen Fällen mit dem Mittel des Strafrechts die Austragung der Schwangerschaft erzwingen darf. Achtung vor dem ungeborenen Leben und Recht der Frau, nicht über das zumutbare Maß hinaus zur Aufopferung eigener Lebenswerte im Interesse der Respektierung dieses Rechtsgutes gezwungen zu werden, treffen aufeinander. In einer solchen Konfliktslage, die im allgemeinen auch keine eindeutige moralische Beurteilung zuläßt und in der die Entscheidung zm Abbruch einer Schwangerschaft den Rang einer achtenswerten Gewissensentscheidung haben kann, ist der Gesetzgeber zur besonderen Zurückhaltung verpflichtet. Wenn er in diesen Fällen das Verhalten der Schwangeren nicht als strafwürdig ansieht und auf das Mittel der Kriminalstrafe verzichtet, so ist das jedenfalls als Ergebnis einer dem Gesetzgeber obliegenden Abwägung auch verfassungsrechtlich hinzunehmen.
160
Für die inhaltliche Ausfüllung des Unzumutbarkeitskriteriums müssen jedoch Umstände ausscheiden, die den Pflichtigen nicht schwerwiegend belasten, da sie die Normalsituation darstellen, mit der jeder fertig werden muß. Vielmehr müssen Umstände erheblichen Gewichts gegeben sein, die dem Betroffenen die Erfüllung seiner Pflicht außergewöhnlich erschweren, so daß sie von ihm billigerweise nicht erwartet werden kann. Sie liegen insbesondere dann vor, wenn der Betroffene durch die Pflichterfüllung in schwere innere Konflikte gestürzt wird. Die Lösung solcher Konflikte durch eine Strafdrohung erscheint im allgemeinen nicht als angemessen (vgl. BVerfGE 32, 98 [109] - Gesundbeter), da sie äußeren Zwang einsetzt, wo die Achtung vor der Persönlichkeitssphäre des Menschen volle innere Entscheidungsfreiheit fordert.
161
Unzumutbar erscheint die Fortsetzung der Schwangerschaft insbesondere, wenn sich erweist, daß der Abbruch erforderlich ist, um von der Schwangeren "eine Gefahr für ihr Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung ihres Gesundheitszustandes abzuwenden" (§ 218b Nr. 1 StGB in der Fassung des Fünften Strafrechtsreformgesetzes). In diesem Fall steht ihr eigenes "Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit" (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) auf dem Spiel, dessen Aufopferung für das ungeborene Leben von ihr nicht erwartet werden kann. Darüber hinaus steht es dem Gesetzgeber frei, auch bei anderen außergewöhnlichen Belastungen für die Schwangere, die unter dem Gesichtspunkt der Unzumutbarkeit ähnlich schwer wie die in § 218b Nr. 1 angeführten wiegen, den Schwangerschaftsabbruch straffrei zu lassen. Hierzu können insbesondere die in dem in der 6. Wahlperiode des Bundestages vorgelegten Entwurf der Bundesregierung enthaltenen und sowohl in der öffentlichen Diskussion wie auch im Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens erörterten Fälle der eugenischen (vgl. § 218b Nr. 2 StGB), der ethischen (kriminologischen) und der sozialen oder Notlageindikation zum Schwangerschaftsabbruch gezählt werden. Bei den Beratungen des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform (7. Wp., 25. Sitzung, StenBer. S. 1470 ff.) hat der Vertreter der Bundesregierung ausführlich und mit überzeugenden Gründen dargelegt, warum in diesen vier Indikationsfällen die Austragung der Schwangerschaft nicht als zumutbar erscheint. Der entscheidende Gesichtspunkt ist, daß in allen diesen Fällen ein anderes, vom Standpunkt der Verfassung aus ebenfalls schutzwürdiges Interesse sich mit solcher Dringlichkeit geltend macht, daß die staatliche Rechtsordnung nicht verlangen kann, die Schwangere müsse hier dem Recht des Ungeborenen unter allen Umständen den Vorrang einräumen.
162
Auch die Indikation der allgemeinen Notlage (soziale Indikation) kann hierher eingeordnet werden. Denn die allgemeine soziale Lage der Schwangeren und ihrer Familie kann Konflikte von solcher Schwere erzeugen, daß von der Schwangeren über ein bestimmtes Maß hinaus Opfer zugunsten des ungeborenen Lebens mit den Mitteln des Strafrechts nicht erzwungen werden können. Bei der Regelung dieses Indikationsfalles muß der Gesetzgeber den straffreien Tatbestand so umschreiben, daß die Schwere des hier vorauszusetzenden sozialen Konflikts deutlich erkennbar wird und - unter dem Gesichtspunkt der Unzumutbarkeit betrachtet - die Kongruenz dieser Indikation mit den anderen Indikationsfällen gewahrt bleibt. Wenn der Gesetzgeber echte Konfliktsfälle dieser Art aus dem Strafrechtsschutz herausnimmt, verletzt er nicht seine Verpflichtung zum Lebensschutz. Auch in diesen Fällen darf der Staat sich nicht damit begnügen, bloß zu prüfen und gegebenenfalls zu bescheinigen, daß die gesetzlichen Voraussetzungen für einen straffreien Schwangerschaftsabbruch vorliegen. Vielmehr wird auch hier von ihm erwartet, daß er Beratung und Hilfe anbietet mit dem Ziel, die Schwangere an die grundsätzliche Pflicht zur Achtung des Lebensrechts des Ungeborenen zu mahnen, sie zur Fortsetzung der Schwangerschaft zu ermutigen und sie - vor allem in Fällen sozialer Not - durch praktische Hilfsmaßnahmen zu unterstützen.
163
In allen anderen Fällen bleibt der Schwangerschaftsabbruch strafwürdiges Unrecht; denn hier steht die Vernichtung eines Rechtsgutes von höchstem Rang im freien - nicht durch eine Notlage motivierten - Belieben eines anderen. Wollte der Gesetzgeber auch hier auf die strafrechtliche Ahndung verzichten, so wäre das nur unter der Voraussetzung mit dem Schutzgebot des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG vereinbar, daß ihm eine andere gleich wirksame rechtliche Sanktion zu Gebote stände, die den Unrechtscharakter der Handlung (die Mißbilligung durch die Rechtsordnung) deutlich erkennen läßt und Schwangerschaftsabbrüche ebenso wirksam verhindert wie eine Strafvorschrift.
164
D.
Prüft man nach diesen Maßstäben die angegriffene Fristenregelung des Fünften Strafrechtsreformgesetzes, so ergibt sich, daß das Gesetz der Verpflichtung aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG, das werdende Leben wirksam zu schützen, nicht in dem gebotenen Umfang gerecht geworden ist.
165
I.
Das Verfassungsgebot, das sich entwickelnde Leben zu schützen, richtet sich zwar in erster Linie an den Gesetzgeber. Dem Bundesverfassungsgericht obliegt jedoch die Aufgabe, in Ausübung der ihm vom Grundgesetz zugewiesenen Funktion festzustellen, ob der Gesetzgeber dieses Gebot erfüllt hat. Zwar muß das Gericht den Spielraum des Gesetzgebers sorgfältig beachten, der diesem bei der Beurteilung der seiner Normierung zugrundeliegenden tatsächlichen Verhältnisse, der etwa erforderlichen Prognose und der Wahl der Mittel zukommt. Das Gericht darf sich nicht an die Stelle des Gesetzgebers setzen; es ist jedoch seine Aufgabe, zu überprüfen, ob der Gesetzgeber im Rahmen der ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten das Erforderliche getan hat, um Gefahren von dem zu schützenden Rechtsgut abzuwenden. Das gilt grundsätzlich auch für die Frage, ob der Gesetzgeber zum Einsatz seines schärfsten Mittels, des Strafrechts, verpflichtet ist, wobei sich die Prüfung allerdings nicht etwa auf die einzelnen Modalitäten des Strafens erstrecken kann.
166
II.
Es ist allgemein anerkannt, daß der bisherige § 218 StGB, gerade weil er für nahezu alle Fälle des Schwangerschaftsabbruchs undifferenziert Strafe androhte, das sich entwickelnde Leben im Ergebnis nur unzureichend geschützt hat. Denn die Einsicht, daß es Fälle gibt, in denen die strafrechtliche Sanktion unangemessen ist, hat schließlich dazu geführt, daß auch wirklich strafwürdige Fälle nicht mehr mit der notwendigen Strenge verfolgt werden. Dazu kommt die bei diesem Delikt der Natur der Sache nach häufig schwierige Aufklärung des Sachverhalts. Gewiß gehen die Zahlen über die Dunkelziffer bei Schwangerschaftsabbrüchen weit auseinander und es mag auch kaum möglich sein, durch empirische Untersuchungen hierüber zuverlässige Angaben zu ermitteln. Jedenfalls war die Zahl der illegalen Schwangerschaftsabbrüche in der Bundesrepublik hoch. Das Bestehen einer generellen Strafnorm mag auch dazu beigetragen haben, daß der Staat es unterlassen hat, andere ausreichende Maßnahmen zum Schutze des werdenden Lebens zu ergreifen.
167
Der Gesetzgeber ist bei der endgültigen Fassung des Fünften Strafrechtsreformgesetzes von dem Leitgedanken des Vorranges der präventiven Maßnahmen vor den repressiven Sanktionen ausgegangen (vgl. hierzu den vom Bundestag im Zusammenhang mit der Verabschiedung des Fünften Strafrechtsreformgesetzes angenommenen Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD, FDP - BTDrucks. 7/2042). Dem Gesetz liegt die Vorstellung zugrunde, das werdende Leben werde besser durch individuelle Beratung der Schwangeren geschützt als durch eine Strafandrohung, welche die Abtreibungswillige einer möglichen Beeinflussung entziehe, kriminalpolitisch verfehlt sei und sich ohnedies als wirkungslos erwiesen habe. Hieraus hat der Gesetzgeber die Folgerung gezogen, die Strafandrohung für die ersten zwölf Wochen der Schwangerschaft unter bestimmten Voraussetzungen überhaupt aufzugeben und statt dessen die präventive Beratung und Unterrichtung (§§ 218a und 218c) einzuführen.
168
Es ist verfassungsrechtlich unbedenklich und zu billigen, wenn der Gesetzgeber seine Pflichte zu einem besseren Schutz ungeborenen Lebens durch präventive Maßnahmen einschließlich einer die Eigenverantwortung der Frau stärkenden Beratung zu erfüllen versucht. Jedoch begegnet die getroffene Regelung in mehrfacher Hinsicht durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken.
169
1. Die von der Verfassung geforderte rechtliche Mißbilligung des Schwangerschaftsabbruchs muß auch in der Rechtsordnung unterhalb der Verfassung deutlich in Erscheinung treten. Davon können - wie dargelegt - nur die Fälle ausgenommen werden, in denen die Fortsetzung der Schwangerschaft der Frau auch unter Berücksichtigung der in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG getroffenen Wertentscheidung nicht zumutbar ist. Dieses generelle Unwerturteil kommt in den Bestimmungen des Fünften Strafrechtsreformgesetzes über den Schwangerschaftsabbruch in den ersten zwölf Wochen nicht zum Ausdruck; denn das Gesetz läßt es im unklaren, ob der nicht indizierte Schwangerschaftsabbruch nach Aufhebung der Strafandrohung durch § 218a StGB noch Recht oder Unrecht ist. Das gilt ungeachtet der Tatsache, daß sich § 218a StGB gesetzestechnisch als eine Ausnahmeregelung im Verhältnis zu der allgemeinen Strafvorschrift des § 218 StGB darstellt, und auch unabhängig davon, welche Auffassung man in der Frage vertritt, ob die Vorschrift den § 218 StGB tatbestandlich einengt oder ob sie einen Rechtfertigungsgrund schafft oder endlich nur einen Schuld- oder Strafausschließungsgrund zum Inhalt hat. Beim unbefangenen Leser der Bestimmung muß der Eindruck entstehen, daß § 218a das rechtliche Unwerturteil durch die generelle Aufhebung der Strafbarkeit - ohne Ansehung der Gründe - vollständig zurücknimmt und den Schwangerschaftsabbruch unter den dort genannten Voraussetzungen rechtlich erlaubt. Der Tatbestand des § 218 StGB tritt demgegenüber um so mehr in den Hintergrund, als nach aller Erfahrung in den ersten zwölf Wochen die weitaus meisten Schwangerschaftsabbrüche - nach Angaben des Regierungsvertreters (a.a.O., S. 1472) über 9/10 - vorgenommen werden. Es entsteht das Bild einer fast völligen - strafrechtlichen - Freigabe des Schwangerschaftsabbruchs (so auch Roxin in: J. Baumann [Hrsg.], Das Abtreibungsverbot des § 218, S. 185). Auch in keiner anderen Bestimmung des Fünften Strafrechtsreformgesetzes kommt zum Ausdruck, daß der nicht indizierte Schwangerschaftsabbruch in den ersten zwölf Wochen weiterhin rechtlich mißbilligt wird. Insbesondere besagt Art. 2 des Gesetzes, wonach grundsätzlich niemand verpflichtet ist, an einem Schwangerschaftsabbruch mitzuwirken, nichts über die Legalität oder Illegalität einer solchen Maßnahme; diese Vorschrift will in erster Linie der Gewissensfreiheit des Einzelnen Rechnung tragen und die Freiheit der ethischen Überzeugung dessen schützen, der sich vor die Frage gestellt sieht, ob er an einem nach § 218a StGB straffreien Schwangerschaftsabbruch durch aktives Handeln mitwirken kann und soll.
170
Ein Blick in die im Strafrechtsreform-Ergänzungsgesetz für das Gebiet des Sozialrechts vorgesehenen Regelungen zwingt darüber hinaus zu dem Schluß, daß es sich bei dem Schwangerschaftsabbruch in den ersten zwölf Wochen um einen Vorgang handelt, dem rechtlich nichts Verwerfliches anhaftet und der deshalb auch sozialrechtlich gefördert und erleichtert werden darf. Denn gesetzliche Rechtsansprüche auf soziale Leistungen setzen voraus, daß der Tatbestand, bei dessen Erfüllung sie gewährt werden, keine rechtlich verbotene (mißbilligte) Handlung darstellt. Die vorgesehene Gesamtregelung kann deshalb nur so gedeutet werden, daß der vom Arzt vorgenommene Schwangerschaftsabbruch während der ersten zwölf Wochen nicht rechtswidrig, also (vom Recht) erlaubt sein soll.
171
Diese Auffassung vertrat auch die Bundesregierung bei der in der 6. Wahlperiode des Deutschen Bundestages eingebrachten Gesetzesvorlage; dort heißt es in der Begründung zu Art. 1 (BTDrucks. VI/3434 S. 9):
172
"Während sich der Gesetzgeber in anderen Bereichen darauf verlassen darf, daß eine Aufhebung strafrechtlicher Verbote nicht als rechtliche Billigung des bisher strafbaren Verhaltens verstanden werden wird, sind bei der Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs besondere Gesichtspunkte zu beachten: Die Fristenlösung könnte die von ihr erwartete gesundheitspolitische Aufgabe nur erfüllen, wenn jeder Schwangerschaftsabbruch in den ersten drei Monaten als rechtlich gebilligt erscheint. Der Eingriff müßte im Rahmen der allgemeinen ärztlichen Versorgung vorgenommen werden. Der ärztliche Behandlungsvertrag müßte wirksam sein. Nicht zuletzt wegen der Unanwendbarkeit der §§ 134, 138 BGB könnten diese und andere Umstände nur in dem Sinne interpretiert werden, daß die Rechtsordnung den Eingriff vor Ablauf der Dreimonatsfrist in jedem Fall als einen normalen sozialen Vorgang anerkennt".
173
Ähnlich äußerte sich der Regierungsvertreter vor dem Sonderausschuß für die Strafrechtsreform (7. Wp., 25. Sitzung, StenBer. S. 1473):
174
"So viel ist wichtig festzuhalten: Der ärztliche Schwangerschaftsabbruch im ersten Trimester der Schwangerschaft ist im Rahmen der Fristenregelung nicht rechtswidrig; er ist erlaubt. Nur so läßt sich seine Integration in das System des Strafrechts - mit Straffreiheit auch der Teilnehmer, Ausschluß der Nothilfe - rechtfertigen, und nur so lassen sich die zivilrechtlichen Implikationen - Gültigkeit des Behandlungsvertrags trotz § 134 BGB -, die gesundheitsrechtliche Förderung des Vorganges und vor allen Dingen der mit dem Strafrechtsreform-Ergänzungsgesetz geplante Einbau in die Sozialversicherung begründen."
175
2. Eine - formale - gesetzliche Mißbilligung des Schwangerschaftsabbruchs würde im übrigen nicht ausreichen; denn darüber wird sich die zum Schwangerschaftsabbruch entschlossene Frau hinwegsetzen. Der Gesetzgeber des Fünften Strafrechtsreformgesetzes hat aus der Einsicht heraus, daß auch positive Maßnahmen zum Schutze des werdenden Lebens erforderlich sind, hinsichtlich des mit Einwilligung der Schwangeren von einem Arzt vorgenommenen Schwangerschaftsabbruchs die Strafnorm durch ein Beratungssystem nach § 218c StGB ersetzt. Durch die völlige Aufhebung der Strafbarkeit ist jedoch eine Schutzlücke entstanden, welche die Sicherung des sich entwickelnden Lebens in einer nicht geringen Anzahl von Fällen gänzlich beseitigt, indem es dieses Leben der völlig freien Verfügungsgewalt der Frau ausliefert. Es gibt viele Frauen, die von vornherein zum Schwangerschaftsabbruch entschlossen und einer Beratung, wie sie § 218c Abs. 1 vorsieht, nicht zugänglich sind, ohne daß ein nach der Wertordnung der Verfassung achtenswerter Grund für den Abbruch vorliegt. Diese Frauen befinden sich weder in einer materiellen Notlage noch in einer schwerwiegenden seelischen Konfliktsituation. Sie lehnen die Schwangerschaft ab, weil sie nicht willens sind, den damit verbundenen Verzicht und die natürlichen mütterlichen Pflichten zu übernehmen. Sie mögen ernstliche Gründe für ihre Haltung gegenüber dem werdenden Leben haben; es sind aber keine Gründe, die gegenüber dem Gebot des Schutzes menschlichen Lebens Bestand haben können. Die Schwangerschaft ist diesen Frauen nach den oben wiedergegebenen Grundsätzen zumutbar. Das Verhalten auch dieser durch keine verfassungsrechtlich erheblichen Beweggründe zum Schwangerschaftsabbruch rechtlich legitimierten Gruppe von Frauen ist nach § 218a des Fünften Strafrechtsreformgesetzes voll gedeckt. Das sich entwickelnde Leben ist ihrer willkürlichen Entschließung schutzlos preisgegeben.
176
Hiergegen wird eingewandt, unbeeinflußbare Frauen verständen es erfahrungsgemäß zumeist, sich der Strafe zu entziehen, so daß die Strafandrohung ohnehin weitgehend leerlaufe. Außerdem stehe der Gesetzgeber vor dem Dilemma, daß sich präventive Beratung und repressive Strafdrohung in ihrer lebensschützenden Wirkung notwendig teilweise ausschlössen: Die Strafandrohung der Indikationenlösung vermöge zwar durch ihre Abschreckungswirkung in einem nicht genau feststellbaren Umfang unmotivierte Schwangerschaftsabbrüche zu verhindern. Zugleich verhindere aber die Strafandrohung, daß durch Beratung beeinflußbarer Frauen in anderen Fällen Leben gerettet würde; denn gerade Frauen, bei denen die Voraussetzungen einer Indikation fehlten, und darüber hinaus auch solche, die dem Ausgang eines Indikationsfeststellungsverfahrens nicht trauten, würden ihre Schwangerschaft angesichts der Strafandrohung vorsorglich geheimhalten und sich daher weithin einer helfenden Beeinflussung durch Umgebung und Beratungsstellen entziehen. Von dieser Einsicht her könne es einen lückenlosen Schutz ungeborenen Lebens nicht geben. Der Gesetzgeber habe keine andere Wahl als Leben gegen Leben abzuwägen, nämlich das Leben, das durch eine bestimmte Regelung der Abtreibungsfrage voraussichtlich gerettet werden könne, gegen das Leben, das durch ebendieselbe Regelung voraussichtlich geopfert werde; denn auch die Strafdrohung schütze nicht nur, sondern vernichte zugleich ungeborenes Leben. Da keine Lösung dem Schutz individuellen Lebens eindeutig besser diene, habe der Gesetzgeber mit der Fristenregelung die ihm verfassungsrechtlich gezogenen Grenzen nicht überschritten.
177
a) Diese Auffassung wird zunächst dem Wesen und der Funktion des Strafrechts nicht gerecht. Die Strafnorm richtet sich grundsätzlich an alle Rechtsunterworfenen und verpflichtet sie in gleicher Weise. Zwar gelingt es den Strafverfolgungsbehörden praktisch nie, alle Täter, die gegen das Strafgesetz verstoßen, einer Bestrafung zuzuführen. Die Dunkelziffern sind bei den verschiedenen Strafdelikten verschieden hoch. Unbestritten sind sie bei Abtreibungstaten besonders erheblich. Indessen darf darüber die generalpräventive Funktion des Strafrechts nicht vergessen werden. Sieht man die Aufgabe des Strafrechts in dem Schutz besonders wichtiger Rechtsgüter und elementarer Werte der Gemeinschaft, so kommt gerade dieser Funktion eine hohe Bedeutung zu. Ebenso wichtig wie die sichtbare Reaktion im Einzelfall ist die Fernwirkung einer Strafnorm, die in ihrem prinzipiellen normativen Inhalt ("die Abtreibung ist strafbar") nunmehr seit sehr langer Zeit besteht. Schon die bloße Existenz einer solchen Strafandrohung hat Einfluß auf die Wertvorstellungen und die Verhaltensweisen der Bevölkerung (vgl. Bericht des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform, BTDrucks. 7/1981 (neu) S. 10). Das Wissen um die Rechtsfolgen im Falle ihrer Übertretung bildet eine Schwelle, vor deren Überschreitung viele zurückschrecken. Diese Wirkung wird ins Gegenteil verkehrt, wenn durch eine generelle Aufhebung der Strafbarkeit auch zweifellos strafwürdiges Verhalten für rechtlich einwandfrei erklärt wird. Dies muß die in der Bevölkerung herrschenden Auffassungen von "Recht" und "Unrecht" verwirren. Die rein theoretische Verlautbarung, der Schwangerschaftsabbruch werde "toleriert", aber nicht "gebilligt", muß wirkungslos bleiben, solange keine rechtliche Sanktion erkennbar ist, die die gerechtfertigten Fälle des Schwangerschaftsabbruchs von den verwerflichen klar scheidet. Entfällt die Drohung mit Strafe ganz allgemein, so wird notwendig im Bewußtsein der Staatsbürger der Eindruck entstehen, in allen Fällen sei der Schwangerschaftsabbruch rechtlich erlaubt und darum auch sozialethisch nicht mehr zu mißbilligen. Der "gefährliche Schluß von der rechtlichen Sanktionslosigkeit auf das moralische Erlaubtsein" (Engisch, Auf der Suche nach der Gerechtigkeit, 1971, S. 104) liegt zu nahe, als daß er nicht von einer großen Anzahl Rechtsunterworfener gezogen würde.
178
Dem entspricht auch die Auffassung der Bundesregierung in der Begründung zu dem in der 6. Wahlperiode des Deutschen Bundestages eingebrachten Gesetzentwurf (BTDrucks. VI/3434 S. 9):
179
"Die Fristenlösung würde dazu führen, daß das allgemeine Bewußtsein von der Schutzwürdigkeit des ungeborenen Lebens während der ersten drei Schwangerschaftsmonate schwindet. Sie würde der Ansicht Vorschub leisten, daß der Schwangerschaftsabbruch, jedenfalls im Frühstadium der Schwangerschaft, ebenso dem freien Verfügungsrecht der Schwangeren unterliegt wie die Verhütung der Schwangerschaft. Eine solche Auffassung ist mit der Wertordnung der Verfassung unvereinbar".
180
b) Die pauschale Abwägung von Leben gegen Leben, die zur Freigabe der Vernichtung der vermeintlich geringeren Zahl im Interesse der Erhaltung der angeblich größeren Zahl führt, ist nicht vereinbar mit der Verpflichtung zum individuellen Schutz jedes einzelnen konkreten Lebens.
181
In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist der Grundsatz entwickelt worden, daß die Verfassungswidrigkeit einer gesetzlichen Vorschrift, die ihrer Struktur und tatsächlichen Wirkung nach einen bestimmten Personenkreis benachteiligt, nicht mit dem Hinweis darauf widerlegt werden kann, daß diese Vorschrift oder andere Bestimmungen des Gesetzes einen anderen Kreis von Personen begünstigen. Noch weniger genügt hierfür die Betonung der allgemein rechtsschutzfreundlichen Tendenz des Gesetzes im ganzen. Dieses Prinzip (vgl. BVerfGE 12, 151 [168]; 15, 328 [333]; 18, 97 [108]; 32, 260 [269]) muß in besonderem Maße für das höchstpersönliche Rechtsgut "Leben" gelten. Der Schutz des einzelnen Lebens darf nicht deswegen aufgegeben werden, weil das an sich achtenswerte Ziel verfolgt wird, andere Leben zu retten. Jedes menschliche Leben - auch das erst sich entwickelnde Leben - ist als solches gleich wertvoll und kann deshalb keiner irgendwie gearteten unterschiedlichen Bewertung oder gar zahlenmäßigen Abwägung unterworfen werden.
182
In der rechtspolitischen Grundkonzeption des Fünften Strafrechtsreformgesetzes wird auch eine Auffassung von der Funktion des rechtsstaatlichen Gesetzes erkennbar, der nicht gefolgt werden kann. Der von der Verfassung geforderte Rechtsschutz für das konkrete einzelne Menschenleben wird zurückgestellt zugunsten einer mehr "sozialtechnischen" Verwendung des Gesetzes als einer gezielten Aktion des Gesetzgebers zur Erreichung eines bestimmten gesellschaftspolitisch erwünschten Zieles, der "Eindämmung der Abtreibungsseuche". Der Gesetzgeber darf aber nicht nur das Ziel im Auge haben, sei es auch noch so erstrebenswert; er muß beachten, daß auch jeder Schritt auf dem Wege dahin sich vor der Verfassung und ihren unverzichtbaren Postulaten zu rechtfertigen hat. Der Effizienz der Regelung im ganzen darf der Grundrechtsschutz im einzelnen nicht geopfert werden. Das Gesetz ist nicht nur Instrument zur Steuerung gesellschaftlicher Prozesse nach soziologischen Erkenntnissen und Prognosen, es ist auch bleibender Ausdruck sozialethischer und - ihr folgend - rechtlicher Bewertung menschlicher Handlungen; es soll sagen, was für den Einzelnen Recht und Unrecht ist.
183
c) Einer - prinzipiell abzulehnenden - "Gesamtrechnung" fehlt übrigens auch eine verläßliche tatsächliche Grundlage. Es fehlen ausreichende Anhaltspunkte dafür, daß die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche in Zukunft erheblich geringer sein werde als bei der bisherigen gesetzlichen Regelung. Der Regierungsvertreter ist vielmehr vor dem Sonderausschuß für die Strafrechtsreform (7. Wp., 25. Sitzung, StenBer. S. 1451) aufgrund sehr eingehender Erwägungen und Vergleiche zu dem Ergebnis gekommen, daß in der Bundesrepublik nach Einführung der Fristenregelung eine Steigerung der Gesamtzahl legaler und illegaler Aborte um 40% zu erwarten sei. Diese Berechnung ist allerdings von dem in der mündlichen Verhandlung gehörten Professor Dr.Dr. Jürgens in Zweifel gezogen worden. Jedoch läßt das aus dem Ausland, insbesondere aus England nach Inkrafttreten der Abortion Act von 1967 (vgl. die Angaben im Report of the Committee on the Working of the Abortion Act - Lane-Report) und aus der DDR nach Erlaß des Gesetzes über die Unterbrechung der Schwangerschaft vom 9. März 1972 (vgl. Deutsches Ärzteblatt 1974, S. 2/65) vorliegende Zahlenmaterial keinen sicheren Schluß auf einen wesentlichen Rückgang der Schwangerschaftsabbrüche zu. Experimente sind aber bei dem hohen Wert des zu schützenden Rechtsgutes nicht zulässig.
184
Indessen haben es Vertreter aller Parteien im Sonderausschuß für die Strafrechtsreform abgelehnt, ausländische Zahlen über die Schwangerschaftsabbrüche schematisch auf die Bundesrepublik Deutschland umzurechnen (7. Wp., 20. Sitzung, StenBer. S. 1286 ff.); die Auswirkungen unterschiedlicher Sozialstrukturen, Mentalitäten, religiöser Bindungen und Verhaltensweisen ließen sich kaum kalkulieren. Selbst wenn man aber alle Besonderheiten der Verhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland nur zugunsten der Fristenregelung in Rechnung stellt, ist mit einem Anstieg der Schwangerschaftsabbrüche zu rechnen, weil - wie dargelegt - schon das bloße Bestehen der Strafnorm des § 218 StGB Einfluß auf Wertvorstellungen und Verhaltensweisen der Bevölkerung gehabt hat. Dabei fällt ins Gewicht, daß infolge der Strafbarkeit die Möglichkeit, einen Schwangerschaftsabbruch überhaupt oder gar lege artis zu erlangen, bisher erheblich (u.a. finanziell) eingeschränkt war. Daß von der Fristenlösung eine auch nur quantitative Verstärkung des Lebensschutzes ausgehen könnte, ist jedenfalls nicht ersichtlich.
185
3. Die in § 218c Abs. 1 StGB vorgesehene Beratung und Unterrichtung der Schwangeren kann - auch für sich betrachtet - nicht als geeignet angesehen werden, auf eine Fortsetzung der Schwangerschaft hinzuwirken.
186
Die in dieser Bestimmung vorgesehenen Maßnahmen bleiben hinter den Vorstellungen des Alternativ-Entwurfs der 16 Strafrechtswissenschaftler zurück, auf dem die Konzeption des Fünften Strafrechtsreformgesetzes im übrigen weitgehend beruht. Die dort (in § 105 Abs. 1 Nr. 2) vorgesehenen Beratungsstellen sollten die Möglichkeit haben, selbst finanzielle, soziale und familiäre Hilfe zu leisten. Sie sollten ferner der Schwangeren und ihren Angehörigen durch geeignete Mitarbeiter seelische Betreuung gewähren und intensiv auf die Fortsetzung der Schwangerschaft hinwirken (vgl. im einzelnen oben S. 11 f.).
187
Die Beratungsstellen etwa im Sinne dieser oder ähnlicher Vorschläge so auszustatten, daß sie unmittelbare Hilfe vermitteln können, hätte um so näher gelegen, als nach dem Bericht des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform (BTDrucks. 7/1981 [neu] S. 7 mit Nachweisen aus dem Anhörungsverfahren) die ungünstige Wohnsituation, die Unmöglichkeit, neben einer Ausbildung oder Erwerbstätigkeit ein Kind zu versorgen, sowie wirtschaftliche Not und sonstige materielle Gründe, außerdem bei ledigen Schwangeren die Angst vor gesellschaftlichen Sanktionen zu den am häufigsten genannten Ursachen und Motiven für den Wunsch nach Schwangerschaftsabbruch gehören sollen.
188
Demgegenüber sollen die Beratungsstellen über die "zur Verfügung stehenden öffentlichen und privaten Hilfen für Schwangere, Mütter und Kinder" unterrichten, "insbesondere über solche Hilfen, die die Fortsetzung der Schwangerschaft und die Lage von Mutter und Kind erleichtern". Dies könnte dahin gedeutet werden, daß die Beratungsstellen nur informieren sollen, ohne auf den Motivationsprozeß gezielt Einfluß zu nehmen. Ob die neutrale Umschreibung der Aufgabe der Beratungsstellen darauf zurückzuführen ist, daß im Sonderausschuß für die Strafrechtsreform die Meinung vertreten wurde, die Schwangere solle durch die Beratung nicht in ihrem Entschluß beeinflußt werden (so Abg. von Schoeler, FDP, 7. Wp., 25. Sitzung, StenBer. S. 1473), kann offenbleiben. Auf eine solche Einflußnahme kommt es jedenfalls entscheidend an, wenn der Beratung ein Schutzeffekt zugunsten des werdenden Lebens zukommen soll. § 218c Abs. 1 Nr. 1 und 2 lassen allerdings auch die Auslegung zu, daß Beratung und Unterrichtung die Schwangere zur Austragung ihrer Schwangerschaft veranlassen sollen. In diesem Sinne ist wohl der Bericht des Sonderausschusses (BTDrucks. 7/1981 [neu] S. 16) zu verstehen; danach soll die Beratung die gesamten Lebensumstände der Schwangeren berücksichtigen und persönlich-individuell erfolgen, nicht telefonisch oder durch Aushändigung gedruckten Materials (vgl. auch die bereits erwähnte Entschließung des Bundestages, BTDrucks. 7/2042).
189
Selbst wenn man es für denkbar halten mag, daß eine derartige Beratung eine gewisse Wirkung im Sinne einer Abkehr von dem Entschluß zum Schwangerschaftsabbruch ausüben könnte, so weist jedenfalls ihre Ausgestaltung im einzelnen Mängel auf, die keinen effektiven Schutz des werdenden Lebens erwarten lassen.
190
a) Die Unterrichtung über die zur Verfügung stehenden öffentlichen und privaten Hilfen für Schwangere, Mütter und Kinder nach § 218c Abs. 1 Nr. 1 kann auch von jedem Arzt vorgenommen werden. Sozialrecht und Sozialwesen sind jedoch schon für den fachlich Vorgebildeten schwer zu überblicken. Von einem Arzt kann eine zuverlässige Unterrichtung über die gerade im Einzelfall bestehenden Ansprüche und Möglichkeiten nicht erwartet werden, zumal dafür häufig individuelle Bedürftigkeitsermittlungen erforderlich sind (z.B. für Mietbeihilfe oder Sozialhilfe). Die Ärzte sind für eine solche Beratungstätigkeit weder nach ihrer Berufsausbildung qualifiziert noch steht ihnen im allgemeinen die für eine individuelle Beratung erforderliche Zeit zur Verfügung.
191
b) Besonders bedenklich ist, daß die Unterrichtung über soziale Hilfen von demselben Arzt vorgenommen werden kann, der den Schwangerschaftsabbruch ausführen soll. Dadurch wird auch die ärztliche Beratung nach § 218c Abs. 1 Nr. 2 entwertet, die an sich in den ärztlichen Aufgabenbereich fällt. Sie soll sich nach den Vorstellungen des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform wie folgt gestalten:
192
"Damit ist einmal die Beratung über die Art des Eingriffs und dessen mögliche gesundheitliche Folgen gemeint. Sie darf sich jedoch - was durch die bewußte Wahl des Begriffs "ärztlich" ausgedrückt wird - nicht auf diesen rein medizinischen Aspekt beschränken. Vielmehr muß sie sich in dem jeweils möglichen und angemessenen Umfang auf die gegenwärtige und künftige Gesamtsituation der Schwangeren, soweit sie durch den Schwangerschaftsabbruch tangiert werden kann, erstrecken und zugleich, dem anderen Auftrag des Arztes entsprechend, den Schutz des ungeborenen Lebens miteinbeziehen. Der Arzt muß also die Schwangere auch darüber aufklären, daß durch den Eingriff menschliches Leben vernichtet wird und in welchem Entwicklungsstadium es sich befindet. Die - in der Öffentlichen Anhörung z.B. von Pross (AP VI S. 2255, 2256) und Rolinski (AP VI S. 2221) bestätigte - Erfahrung zeigt, daß viele Frauen in dieser Hinsicht keine klaren Vorstellungen haben, und daß dieser Umstand, wenn sie später davon erfahren, häufig der Anlaß für schwerwiegende Zweifel und Gewissensbedenken ist. Dementsprechend muß die Beratung mit darauf ausgerichtet sein, derartigen Konfliktsituationen vorzubeugen." (BTDrucks. 7/1981 [neu] S. 16)
193
Eine Aufklärung in der hier vorgesehenen Weise mit dem verfassungsrechtlich gebotenen Ziel, auf eine Fortsetzung der Schwangerschaft hinzuwirken, kann von dem Arzt, der von der Schwangeren gerade zu dem Zwecke aufgesucht wird, daß er den Schwangerschaftsabbruch vornehme, nicht erwartet werden. Da nach dem Ergebnis der bisherigen Umfragen und nach den Stellungnahmen repräsentativer ärztlicher Standesgremien angenommen werden muß, daß die Mehrzahl der Ärzte die Vornahme von nicht indizierten Schwangerschaftsabbrüchen ablehnt, werden sich vor allem solche Ärzte zur Verfügung stellen, die im Schwangerschaftsabbruch entweder ein gewinnbringendes Geschäft sehen oder jedem Wunsch einer Frau nach Schwangerschaftsabbruch zu entsprechen geneigt sind, weil sie darin lediglich eine Manifestation des Selbstbestimmungsrechts oder ein Mittel zur Emanzipation der Frau erblicken. In beiden Fällen ist eine Beeinflussung der Schwangeren im Sinne einer Fortsetzung der Schwangerschaft durch den Arzt sehr unwahrscheinlich.
194
Dies zeigen die Erfahrungen in England. Dort muß die (sehr weit gefaßte) Indikation von zwei beliebigen Ärzten festgestellt werden. Dies hat dazu geführt, daß bei den darauf spezialisierten Privatärzten praktisch jeder gewünschte Schwangerschaftsabbruch ausgeführt wird. Das Auftreten gewerbsmäßiger Vermittler, die Frauen diesen Privatkliniken zuführen, ist eine besonders unerfreuliche, aber schwer vermeidbare Nebenerscheinung (vgl. Lane-Report, Bd. 1 Nr. 436 und 452).
195
c) Weiterhin ist den Erfolgsaussichten abträglich, daß der Unterrichtung und Beratung der Schwangerschaftsabbruch unmittelbar folgen kann. Eine ernsthafte Auseinandersetzung der Schwangeren und ihrer Angehörigen mit den in der Beratung ihr entgegengehaltenen Argumenten ist unter diesen Umständen nicht zu erwarten. Die vom Bundesjustizministerium dem Sonderausschuß für die Strafrechtsreform vorgelegte Formulierungsalternative für § 218c sah deshalb vor, daß der Schwangerschaftsabbruch erst vorgenommen werden dürfe, nachdem mindestens drei Tage seit der Unterrichtung über die zur Verfügung stehenden Hilfen (§ 218 Abs. 1 Nr. 1) verstrichen seien (Sonderausschuß 7. Wp., 30. Sitzung, StenBer. S. 1659). Indessen wurde nach dem Bericht des Sonderausschusses "auf eine strafrechtlich erzwungene Karenzzeit zwischen den Beratungen und dem Eingriff ... verzichtet. Dies könnte in Einzelfällen für die Schwangere je nach ihrem Wohnort und ihrer persönlichen Situation unzumutbare Schwierigkeiten mit der Folge mit sich bringen, daß die Schwangere auf die Beratung verzichtet" (BTDrucks. 7/1981 (neu) S. 17). Für die zum Schwangerschaftsabbruch entschlossene Frau kommt es somit nur darauf an, einen willfährigen Arzt zu finden; da er sowohl die soziale wie die ärztliche Beratung vornehmen und schließlich auch den Eingriff durchführen darf, ist von ihm nicht der ernsthafte Versuch zu erwarten, die Schwangere von ihrem Entschluß abzubringen.
196
III.
Zusammenfassend ist zur verfassungsrechtlichen Beurteilung der im Fünften Strafrechtsreformgesetz getroffenen Fristenregelung folgendes auszuführen:
197
Es ist mit der dem Gesetzgeber obliegenden Lebensschutzpflicht unvereinbar, daß Schwangerschaftsabbrüche auch dann rechtlich nicht mißbilligt und nicht unter Strafe gestellt werden, wenn sie aus Gründen erfolgen, die vor der Wertordnung des Grundgesetzes keinen Bestand haben. Zwar wäre die Einschränkung der Strafbarkeit verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn sie mit anderen Maßnahmen verbunden wäre, die den Wegfall des Strafschutzes in ihrer Wirkung zumindest auszugleichen vermöchten. Das ist indes - wie dargelegt - offensichtlich nicht der Fall. Die parlamentarischen Auseinandersetzungen um die Reform des Abtreibungsrechts haben zwar die Einsicht vertieft, daß es die vornehmste Aufgabe des Staates ist, die Abtötung ungeborenen Lebens durch Aufklärung über vorbeugende Schwangerschaftsverhütung einerseits sowie durch wirksame soziale Förderungsmaßnahmen und durch eine allgemeine Veränderung der gesellschaftlichen Auffassungen andererseits zu verhindern. Jedoch vermögen weder die gegenwärtig angebotenen und gewährten Hilfen dieser Art noch die im Fünften Strafrechtsreformgesetz vorgesehene Beratung den individuellen Lebensschutz zu ersetzen, den eine Strafnorm grundsätzlich auch heute noch in den Fällen gewährt, in denen für den Abbruch einer Schwangerschaft kein nach der Wertordnung des Grundgesetzes achtenswerter Grund besteht.
198
Wenn der Gesetzgeber die bisherige undifferenzierte Strafandrohung für den Schwangerschaftsabbruch als ein fragwürdiges Mittel des Lebensschutzes ansieht, so entbindet ihn dies doch nicht von der Verpflichtung, zumindest den Versuch zu unternehmen, durch eine differenziertere strafrechtliche Regelung einen besseren Lebensschutz zu erreichen, indem er diejenigen Fälle unter Strafe stellt, in denen der Schwangerschaftsabbruch verfassungsrechtlich zu mißbilligen ist. Eine klare Abgrenzung dieser Fallgruppe gegenüber den anderen Fällen, in denen die Fortsetzung der Schwangerschaft der Frau nicht zumutbar ist, wird die rechtsbewußtseinsbildende Kraft der Strafnorm verstärken. Wer überhaupt den Vorrang des Lebensschutzes vor dem Anspruch der Frau auf freie Lebensgestaltung anerkennt, wird in diesen durch keine besondere Indikation gedeckten Fällen den Unrechtsgehalt der Tat nicht bestreiten können. Wenn der Staat diese Fälle nicht nur für strafbar erklärt, sondern sie auch in der Rechtspraxis verfolgt und bestraft, wird dies im Rechtsbewußtsein der Allgemeinheit weder als ungerecht noch als unsozial empfunden werden.
199
Die leidenschaftliche Diskussion der Abtreibungsproblematik mag Anlaß zu der Befürchtung geben, daß in einem Teil der Bevölkerung der Wert des ungeborenen Lebens nicht mehr voll erkannt wird. Das gibt jedoch dem Gesetzgeber nicht das Recht zur Resignation. Er muß vielmehr den ernsthaften Versuch unternehmen, durch eine Differenzierung der Strafandrohung einen wirksameren Lebensschutz und eine Regelung zu erreichen, die auch vom allgemeinen Rechtsbewußtsein getragen wird.
200
IV.
Die im Fünften Strafrechtsreformgesetz getroffene Regelung wird bisweilen mit dem Hinweis verteidigt, daß in anderen demokratischen Ländern der westlichen Welt in jüngster Zeit die strafrechtlichen Vorschriften über den Schwangerschaftsabbruch in ähnlicher oder noch weitergehender Weise "liberalisiert" oder "modernisiert" worden seien; dies sei ein Anzeichen dafür, daß die Neuregelung jedenfalls der allgemeinen Entwicklung der Anschauungen auf diesem Gebiet entspreche und mit fundamentalen sozialethischen und rechtlichen Prinzipien nicht unvereinbar sei.
201
Diese Erwägungen können die hier zu treffende Entscheidung nicht beeinflussen. Abgesehen davon, daß alle diese ausländischen Regelungen in ihren eigenen Ländern stark umstritten sind, unterscheiden sich die rechtlichen Maßstäbe, die dort für das Handeln des Gesetzgebers gelten, wesentlich von denen der Bundesrepublik Deutschland.
202
Dem Grundgesetz liegen Prinzipien der Staatsgestaltung zugrunde, die sich nur aus der geschichtlichen Erfahrung und der geistig-sittlichen Auseinandersetzung mit dem vorangegangenen System des Nationalsozialismus erklären lassen. Gegenüber der Allmacht des totalitären Staates, der schrankenlose Herrschaft über alle Bereiche des sozialen Lebens für sich beanspruchte und dem bei der Verfolgung seiner Staatsziele die Rücksicht auch auf das Leben des Einzelnen grundsätzlich nichts bedeutete, hat das Grundgesetz eine wertgebundene Ordnung aufgerichtet, die den einzelnen Menschen und seine Würde in den Mittelpunkt aller seiner Regelungen stellt. Dem liegt, wie das Bundesverfassungsgericht bereits früh ausgesprochen hat (BVerfGE 2, 1 [12]), die Vorstellung zugrunde, daß der Mensch in der Schöpfungsordnung einen eigenen selbständigen Wert besitzt, der die unbedingte Achtung vor dem Leben jedes einzelnen Menschen, auch dem scheinbar sozial "wertlosen", unabdingbar fordert und der es deshalb ausschließt, solches Leben ohne rechtfertigenden Grund zu vernichten. Diese Grundentscheidung der Verfassung bestimmt Gestaltung und Auslegung der gesamten Rechtsordnung. Auch der Gesetzgeber ist ihr gegenüber nicht frei; gesellschaftspolitische Zweckmäßigkeitserwägungen, ja staatspolitische Notwendigkeiten können diese verfassungsrechtliche Schranke nicht überwinden (BVerfGE 1, 14 [36]). Auch ein allgemeiner Wandel der hierüber in der Bevölkerung herrschenden Anschauungen - falls er überhaupt festzustellen wäre - würde daran nichts ändern können. Das Bundesverfassungsgericht, dem von der Verfassung aufgetragen ist, die Beachtung ihrer grundlegenden Prinzipien durch alle Staatsorgane zu überwachen und gegebenenfalls durchzusetzen, kann seine Entscheidungen nur an diesen Prinzipien orientieren, zu deren Entfaltung es selbst in seiner Rechtsprechung entscheidend beigetragen hat. Damit wird kein absprechendes Urteil über andere Rechtsordnungen gefällt, "die diese Erfahrungen mit einem Unrechtssystem nicht gemacht haben und die aufgrund einer anders verlaufenen geschichtlichen Entwicklung, anderer staatspolitischer Gegebenheiten und staatsphilosophischer Grundauffassungen eine solche Entscheidung für sich nicht getroffen haben" (BVerfGE 18, 112 [117]).
203
E.
Nach alledem ist § 218a StGB in der Fassung des Fünften Strafrechtsreformgesetzes mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG insoweit unvereinbar, als er den Schwangerschaftsabbruch auch dann von der Strafbarkeit ausnimmt, wenn keine Gründe vorliegen, die nach den vorstehenden Ausführungen vor der Wertordnung des Grundgesetzes Bestand haben. In diesem Umfang war die Nichtigkeit der Vorschrift festzustellen. Es ist Sache des Gesetzgebers, die Fälle des indizierten und des nicht indizierten Schwangerschaftsabbruchs näher voneinander anzugrenzen. Im Interesse der Rechtsklarheit bis zum Inkrafttreten der gesetzlichen Regelung erschien es geboten, gemäß § 35 BVerfGG eine Anordnung des aus dem Urteilstenor ersichtlichen Inhalts zu erlassen.
204
Es bestand kein Anlaß, weitere Vorschriften des Fünften Strafrechtsreformgesetzes für nichtig zu erklären.
205
Dr. Benda, Ritterspach, Dr. Haager, Rupp-v.Brünneck, Dr. Böhmer, Dr. Faller, Dr. Brox, Dr. Simon
Abweichende Meinung der Richterin Rupp-v. Brünneck und des Richters Dr. Simon zum Urteil des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 25.Februar 1975 - 1 BvF 1, 2, 3, 4, 5, 6/74 -
Das Leben jedes einzelnen Menschen ist selbstverständlich ein zentraler Wert der Rechtsordnung. Unbestritten umfaßt die verfassungsrechtliche Pflicht zum Schutz dieses Lebens auch seine Vorstufe vor der Geburt. Die Auseinandersetzungen im Parlament und vor dem Bundesverfassungsgericht betrafen nicht das Ob, sondern allein das Wie dieses Schutzes. Die Entscheidung hierüber gehört in die Verantwortung des Gesetzgebers. Aus der Verfassung kann unter Umständen eine Pflicht des Staates hergeleitet werden, den Schwangerschaftsabbruch in jedem Stadium der Schwangerschaft unter Strafe zu stellen. Der Gesetzgeber durfte sich sowohl für die Beratungs- und Fristenregelung wie für die Indikationenlösung entscheiden.
206
Eine entgegengesetzte Verfassungsauslegung ist mit dem freiheitlichen Charakter der Grundrechtsnormen nicht vereinbar und verlagert in folgenschwerem Ausmaß Entscheidungskompetenzen auf das Bundesverfassungsgericht (A). Bei der Beurteilung des Fünften Strafrechtsreformgesetzes vernachlässigt die Mehrheit die Singularität des Schwangerschaftsabbruchs im Verhältnis zu anderen Gefährdungen des Lebens (B I 1). Sie würdigt nicht hinreichend die vom Gesetzgeber vorgefundene soziale Problematik sowie die Ziele der dringlichen Reform (B I 2). Schon weil jede Lösung Stückwerk bleibt, ist es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, daß der deutsche Gesetzgeber - im Einklang mit den Reformen in anderen westlichen Kulturstaaten (B III) - sozialpolitischen Maßnahmen den Vorrang vor weitgehend wirkungslosen Strafdrohungen gegeben hat (B I 3-5). Eine gesetzliche "Mißbilligung" sittlich nicht achtenswerten Verhaltens ohne Rücksicht auf ihre tatsächliche Schutzwirkung schreibt die Verfassung nirgends vor (B II).
207
A. -- I.
Die Befugnis des Bundesverfassungsgerichts, Entscheidungen des parlamentarischen Gesetzgebers zu annullieren, erfordert einen sparsamen Gebrauch, wenn eine Verschiebung der Gewichte zwischen den Verfassungsorganen vermieden werden soll. Das Gebot richterlicher Selbstbeschränkung (judicial self-restraint), das als das "Lebenselexier" der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bezeichnet worden ist (Leibholz, VVDStRL 20 [1963], S. 119.), gilt vor allem, wenn es sich nicht um die Abwehr von Übergriffen der staatlichen Gewalt handelt, sondern wenn dem Volk unmittelbar legitimierten Gesetzgeber im Wege der verfassungsgerichtlichen Kontrolle Vorschriften für die positive Gestaltung der Sozialordnung gemacht werden sollen. Hier darf das Bundesverfassungsgericht nicht der Versuchung erliegen, selbst die Funktion des zu kontrollierenden Organs zu übernehmen, soll nicht auf lange Sicht die Stellung der Verfassungsgerichtsbarkeit gefährdet werden.
208
1. Die in diesem Verfahren begehrte Prüfung verläßt den Boden der klassischen verfassungsgerichtlichen Kontrolle. Die im Zentrum unserer Verfassung stehenden Grundrechtsnormen gewährleisten als Abwehrrechte dem Bürger im Verhältnis zum Staat einen Bereich freier, eigenverantwortlicher Lebensgestaltung. Die klassische Funktion des Bundesverfassungsgerichts liegt insoweit darin, Verletzungen dieses Freiheitsraums durch übermäßige Eingriffe der staatlichen Gewalt abzuwehren. In der Skala der staatlichen Eingriffsmöglichkeiten stehen Strafvorschriften an der Spitze: Sie befehlen dem Bürger ein bestimmtes Verhalten und unterwerfen ihn bei Zuwiderhandlungen empfindlichen Freiheitsbeschränkungen oder finanziellen Belastungen. Verfassungsgerichtliche Kontrolle solcher Vorschriften bedeutet daher die Prüfung, ob der mit dem Erlaß oder der Anwendung der Strafvorschrift verbundene Eingriff in die grundrechtlich geschützte Freiheitssphäre zulässig ist, ob also der Staat überhaupt oder in dem vorgesehenen Umfang strafen darf.
209
Im vorliegenden Verfassungsstreit wird gerade umgekehrt erstmalig zur Prüfung gestellt, ob der Staat strafen muß, nämlich ob die Aufhebung der Strafvorschrift gegen den Schwangerschaftsabbruch in den ersten drei Monaten der Schwangerschaft mit den Grundrechten vereinbar ist. Es liegt aber auf der Hand, daß das Absehen von Strafe das Gegenteil eines staatlichen Eingriffs ist. Da die teilweise Rücknahme der Strafvorschrift nicht zur Begünstigung von Schwangerschaftsabbrüchen geschah, sondern weil sich die bisherige Strafdrohung nach der durch Erfahrung erhärteten, unwiderlegten Annahme des Gesetzgebers weitgehend als wirkungslos erwiesen hat, läßt sich nicht einmal mittelbar ein staatlicher "Eingriff" in das ungeborene Leben konstruieren. Weil es daran fehlt, hat der Österreichische Verfassungsgerichtshof eine Verletzung des nach innerösterreichischem Recht geltenden Grundrechtskatalogs durch die dortige Fristenregelung verneint (Vgl. das Erkenntnis vom 11. Oktober 1974 - G 8/74 - II 2 b der Entscheidungsgründe, EuGRZ 1975, S. 74 [76].).
210
2. Da die Grundrechte als Abwehrrechte von vornherein ungeeignet sind, den Gesetzgeber an der Beseitigung von Strafvorschriften zu hindern, will die Senatsmehrheit die Grundlage dafür in der weitergehenden Bedeutung der Grundrechte als objektive Wertentscheidungen finden (C I 3 und C III b). Danach normieren die Grundrechte nicht nur Abwehrrechte des Einzelnen gegen den Staat, sondern enthalten zugleich objektive Wertentscheidungen, deren Verwirklichung durch aktives Handeln ständige Aufgabe der staatlichen Gewalt ist. Diese Auffassung ist vom Bundesverfassungsgericht in dem begrüßenswerten Bemühen entwickelt worden, den Grundrechten in ihrem freiheitssichernden und auf soziale Gerechtigkeit angelegten Gehalt größere Wirksamkeit zu verleihen. Die Senatsmehrheit berücksichtigt jedoch die für die verfassungsgerichtliche Kontrolle wesentlichen Unterschiede der beiden Grundrechtsaspekte nicht hinreichend.
211
Als Abwehrrechte haben die Grundrechte einen verhältnismäßig deutlich erkennbaren Inhalt; in ihrer Auslegung und Anwendung hat die Rechtsprechung praktikable, allgemein anerkannte Kriterien zur Kontrolle staatlicher Eingriffe - etwa den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit - entwickelt. Demgegenüber ist es regelmäßig eine höchst komplexe Frage, wie eine Wertentscheidung durch aktive Maßnahmen des Gesetzgebers zu verwirklichen ist. Die notwendig allgemein gehaltenen Wertentscheidungen könnten insoweit etwa als Verfassungsaufträge charakterisiert werden, die zwar für alles staatliche Handeln richtungweisend, aber notwendig auf eine Umsetzung in verbindliche Regelungen angewiesen sind. Je nach der Beurteilung der tatsächlichen Verhältnisse, der konkreten Zielsetzungen und ihrer Priorität, der Eignung der denkbaren Mittel und Wege sind sehr verschiedene Lösungen möglich. Die Entscheidung, die häufig Kompromisse voraussetzt und sich im Verfahren des trial and error vollzieht, gehört nach dem Grundsatz der Gewaltenteilung und dem demokratischen Prinzip in die Verantwortung des vom Volk unmittelbar legitimierten Gesetzgebers (Vgl. dazu näher unsere abweichende Meinung im Hochschul-Urteil, BVerfGE 37, 148 [150, 153, 155 f.]).
212
Freilich kann schon wegen der wachsenden Bedeutung fördernder Sozialmaßnahmen für die Effektuierung der Grundrechte auch in diesem Bereich nicht auf jede verfassungsgerichtliche Kontrolle verzichtet werden; die Erarbeitung eines geeigneten, die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers respektierenden Instrumentariums wird möglicherweise zu den Hauptaufgaben der Rechtsprechung in den nächsten Jahrzehnten gehören. Solange es aber daran noch fehlt, droht die Gefahr, daß die verfassungsgerichtliche Kontrolle sich nicht auf die Nachprüfung der vom Gesetzgeber getroffenen Entscheidung beschränkt, sondern diese durch eine andere, vom Gericht für besser gehaltene ersetzt. Diese Gefahr besteht in erhöhtem Maße, wenn - wie hier - in stark kontroversen Fragen eine nach langen Auseinandersetzungen getroffene Entscheidung der Parlamentsmehrheit von der unterlegenen Minderheit vor dem Bundesverfassungsgericht angegriffen wird. Unbeschadet der legitimen Befugnis der Antragsberechtigten, verfassungsrechtliche Zweifel auf diesem Wege klären zu lassen, gerät hier das Bundesverfassungsgericht unversehens in die Lage, als politische Schiedsinstanz für die Auswahl zwischen konkurrierenden Gesetzgebungsprojekten in Anspruch genommen zu werden.
213
Der Gedanke der objektiven Wertentscheidung darf aber nicht zum Vehikel werden, um spezifisch gesetzgeberische Funktionen in der Gestaltung der Sozialordnung auf das Bundesverfassungsgericht zu verlagern. Sonst würde das Gericht in eine Rolle gedrängt, für die es weder kompetent noch ausgerüstet ist. Daher sollte das Bundesverfassungsgericht weiter die Zurückhaltung wahren, die es bis zum Hochschul-Urteil geübt hat (vgl. BVerfGE 4, 7 [18]; 27, 253 [283]; 33, 303 [333 f.]; 35, 148 - abw.M. - [152 ff.]; 36, 321 [330 ff.]). Es darf dem Gesetzgeber nur dann entgegentreten, wenn er eine Wertentscheidung ganz außer acht gelassen hat oder die Art und Weise ihrer Realisierung offensichtlich fehlsam ist. Demgegenüber legt die Mehrheit dem Gesetzgeber trotz vermeintlicher Anerkennung seiner Gestaltungsfreiheit faktisch zur Last, er habe eine an sich anerkannte Wertentscheidung nach ihrer Auffassung nicht bestmöglich verwirklicht. Sollte das zum allgemeinen Prüfungsmaßstab werden, so wäre damit das Gebot richterlicher Selbstbeschränkung preisgegeben.
214
II.
1. Unser stärkstes Bedenken richtet sich dagegen, daß erstmals in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung eine objektive Wertentscheidung dazu dienen soll, eine Pflicht des Gesetzgebers zum Erlaß von Strafnormen, also zum stärksten denkbaren Eingriff in den Freiheitsbereich des Bürgers zu postulieren. Dies verkehrt die Funktion der Grundrechte in ihr Gegenteil. Wenn die in einer Grundrechtsnorm enthaltene objektive Wertentscheidung zum Schutz eines bestimmten Rechtsgutes genügen soll, um daraus die Pflicht zum Strafen herzuleiten, so könnten die Grundrechte unter der Hand aus einem Hort der Freiheitssicherung zur Grundlage einer Fülle von freiheitsbeschränkenden Reglementierungen werden. Was für den Schutz des Lebens gilt, kann auch für andere Rechtsgüter von hohem Rang - etwa körperliche Unversehrtheit, Freiheit, Ehe und Familie - in Anspruch genommen werden.
215
Selbstverständlich setzt die Verfassung voraus, daß der Staat zum Schutz eines geordneten Zusammenlebens auch seine Strafgewalt gebrauchen kann; der Sinn der Grundrechte geht jedoch nicht dahin, solchen Einsatz zu fordern, sondern ihm Grenzen zu ziehen. So hat der Supreme Court der Vereinigten Staaten die Bestrafung von Schwangerschaftsabbrüchen, die mit Einwilligung der Schwangeren im ersten Drittel der Schwangerschaft durch einen Arzt vorgenommen werden, sogar als Grundrechtsverletzung angesehen (Roe v. Wade, 410 U.S. 113 [1973] = 93 S.Ct. 705 = 41 USLaw Week 4213.). Dies ginge nach deutschem Verfassungsrecht zwar zu weit. Jedoch braucht auch nach dem freiheitlichen Charakter unserer Verfassung der Gesetzgeber eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung dafür, daß er straft, nicht aber dafür, daß er von Strafe absieht, weil nach seiner Auffassung eine Strafdrohung keinen Erfolg verspricht oder aus anderen Gründen als unangemessene Reaktion erscheint (vgl. BVerfGE 22, 49 [78]; 27, 18 [28]; 32, 40 [48]).
216
Die entgegengesetzte Grundrechtsinterpretation führt zwangsläufig zu einer nicht minder bedenklichen Ausweitung der verfassungsgerichtlichen Kontrolle: Es ist nicht mehr allein zu prüfen, ob eine Strafvorschrift zu weit in den Rechtsbereich des Bürgers eingreift, sondern auch umgekehrt, ob der Staat zu wenig straft. Dabei wird das Bundesverfassungsgericht entgegen der Mehrheitsmeinung (D I) nicht bei der Frage stehenbleiben können, ob der Erlaß irgendeiner Strafnorm gleich welchen Inhalts geboten ist, sondern klären müssen, welche Strafsanktion zum Schutz des jeweiligen Rechtsguts hinreicht. In letzter Konsequenz könnte das Gericht sogar zu der Prüfung genötigt sein, ob die Anwendung einer Strafnorm im Einzelfall dem Schutzgedanken genügt.
217
Ein verfassungsrechtliches Festschreiben von Strafnormen - wie die Mehrheit es fordert - ist schließlich auch deswegen abzulehnen, weil gerade die Leitgedanken des Strafrechts nach den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte und der zu erwartenden Entwicklung im Bereich der Sozialwissenschaften einen schnellen und starken Wandel unterliegen. Dies zeigt nicht allein ein Blick auf die grundlegenden Veränderungen etwa in der Beurteilung der Sittlichkeitsdelikte - z.B. Homosexualität, Ehegattenkuppelei, Exhibitionismus -, sondern läßt sich speziell für die Strafvorschriften gegen Abtreibung belegen. Die Straflosigkeit der ethisch (kriminologisch) indizierten Abtreibung, die heute der ganz überwiegenden Rechtsauffassung entspricht, war noch in den sechziger Jahren äußerst umstritten (Vgl. die Auseinandersetzung im Bundesrat und Bundestag [Niederschrift über die 254. Sitzung des Bundesratsrechtsausschusses vom 26. Juni 1962 S. 30 ff.; Verhandlungen des Bundesrats 1962 S. 140 f., 153, 154 f.; Verhandlunben des Deutschen Bundestages, 4. Wp., SenBer. der 70. Sitzung vom 28. März 1963, S. 3188, 3208, 3210, 3217, 3221]; s. ferner die Nachweise bei Lang-Hinrichsen, JZ 1963, S. 725 ff.). Die von der Bundesregierung 1960 und 1962 vorgelegten Entwürfe eines Strafgesetzbuches lehnten diese Indikation ausdrücklich ab (Vgl. §§ 140 f., 157 und die Begründung BTDrucks. III/2150 S. 262, 274 f.; BTDrucks. IV/650 S. 278, 292 f.); zur sozialen und eugenischen Indikation begnügten sie sich mit dem Hinweis, daß sich die Ablehnung "von selbst verstehe" (BTDrucks. III/2150 S. 262, IV/650 S. 278.).
218
2. Auch die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes spricht dagegen, aus Grundrechtsnormen eine Pflicht zum Strafen abzuleiten. Wo der Parlamentarische Rat Strafsanktionen von Verfassungs wegen für geboten erachtete, hat er dies ausdrücklich in das Grundgesetz aufgenommen: Art. 26 Abs. 1 für die Vorbereitung eines Angriffskrieges und Art. 143 in der ursprünglichen Fassung für Hochverrat.
219
Demgegenüber finden sich in den Materialien zu Art. 2 Abs. 2 GG, wie auch die Mehrheit einräumt (C I 1 d), keine Anhaltspunkte für eine Verpflichtung, das ungeborene Leben strafrechtlich zu schützen. Eine nähere Analyse der Entstehungsgeschichte des Artikels spricht darüber hinaus dafür, daß die strafrechtliche Bewertung von Schwangerschaftsabbrüchen bewußt der eigenverantwortlichen Entscheidung des einfachen Gesetzgebers überlassen bleiben sollte. Die insoweit erheblichen Äußerungen der Abgeordneten Heuss und Greve und die Ablehnung des Antrages des Abgeordneten Seebohm (C I 1 d mit den dortigen Nachweisen) müssen vor ihrem zeitgeschichtlichen Hintergrund verstanden werden. In der Weimarer Zeit war die Bestrafung der Abtreibung außerordentlich umstritten; es handelte sich damals um ein ungleich schwerer wiegendes Problem, weil es die heute allgemein verbreiteten und leicht anwendbaren Mittel zur Empfängnisverhütung noch nicht gab. Dieser Zustand dauerte zur Zeit des Parlamentarischen Rates unverändert fort. Wenn unter diesen Umständen die beantragte Aufnahme einer ausdrücklichen Bestimmung über den Schutz keimenden Lebens abgelehnt worden ist, so ist das in Verbindung mit den erwähnten Äußerungen nur dahin zu verstehen, daß die Reform des umstrittenen § 218 StGB durch die Verfassung nicht präjudiziert werden sollte.
220
Ein gegenteiliger Standpunkt läßt sich nicht damit begründen, daß die Aufnahme des Art. 2 Abs. 2 GG unstreitig der Reaktion auf die unmenschliche Ideologie und Praxis der nationalsozialistischen Regimes entsprang (Vgl. aber C I 1 a und D IV des Urteils.). Diese Reaktion bezieht sich auf die Massenvernichtung menschlichen Lebens von Staats wegen in Konzentrationslagern und bei Geisteskranken, auf behördlich angeordnete Sterilisierungen und Zwangsabtreibungen, auf medizinische Versuche mit Menschen gegen deren Willen und auf die in zahllosen anderen staatlichen Maßnahmen zum Ausdruck kommende Mißachtung des individuellen Lebens und der Menschenwürde.
221
Hieraus Schlußfolgerungen für die verfassungsrechtliche Bewertung einer nicht vom Staat, sondern von der Schwangeren selbst oder mit ihrem Willen von Dritten vorgenommenen Abtötung der Leibesfrucht zu ziehen, ist um so weniger am Platze, als das nationalsozialistische Regime entsprechend seiner biologisch-bevölkerungspolitischen Ideologie gerade dazu einen rigorosen Standpunkt eingenommen hatte. Neben neuen Vorschriften gegen die Werbung für Abtreibungen oder Abtreibungsmittel wurde durch entsprechende staatliche Maßnahmen darauf hingewirkt, im Gegensatz zur Praxis in der Weimarer Zeit eine striktere Anwendung der Strafbestimmungen durchzusetzen (Vgl. über den Anstieg der Verurteilungen im Dritten Reich: Dotzauer, Abtreibung, in: Handwörterbuch der Kriminologie [hrsg. von Sieverts], 2. Aufl., Bd. I [1966], S. 10 f.). Diese an sich schon hohen Strafdrohungen wurden 1943 wesentlich verschärft. Während bisher sowohl für die Schwangere wie für den nicht gewerbsmäßig handelnden Helfer nur Gefängnisstrafe vorgesehen war, wurde nunmehr die Selbstabtreibung in besonders schweren Fällen mit Zuchthaus belegt. Die Fremdabtreibung war, abgesehen von minder schweren Fällen, stets mit Zuchthaus zu bestrafen; hatte der Täter "dadurch die Lebenskraft des deutschen Volkes fortgesetzt beeinträchtigt", sogar mit Todesstrafe. Angesichts dieser, bei der Entstehung des Grundgesetzes noch unveränderten, lediglich durch das alliierte Verbot grausamer oder übermäßig hoher Strafen in ihrer Anwendung gemilderten Bestimmungen können die Gründe, die zur Aufnahme des Art. 2 Abs. 2 GG führten, schlechterdings nicht zugunsten einer verfassungsrechtlichen Pflicht zur Bestrafung von Abtreibungen herangezogen werden. Vielmehr gebietet die mit dem Grundgesetz vollzogene, entschiedene Abkehr vom totalitären nationalsozialistischen Staat eher umgekehrt Zurückhaltung im Umgang mit der Kriminalstrafe, deren verfehlter Gebrauch in der Geschichte der Menschheit schon unendlich viel Leid angerichtet hat.
222
B.
Selbst wenn man entgegen unserer Auffassung mit der Mehrheit eine verfassungsrechtliche Pflicht zum Strafen für denkbar hält, kann dem Gesetzgeber hier kein Verfassungsverstoß zur Last gelegt werden. Die Mehrheitsbegründung begegnet - ohne daß es eines Eingehens auf jedes Detail bedarf - den folgenden Einwänden:
223
I.
Auch nach Meinung der Mehrheit soll eine verfassungsrechtliche Pflicht zum Strafen nur als ultima ratio in Betracht kommen (C III 2 b). Macht man damit wirklich Ernst, so setzt eine solche Pflicht zunächst voraus, daß geeignete Mittel milderer Art fehlen oder ihr Einsatz sich als wirkungslos erwiesen hat; darüber hinaus muß die Strafsanktion geeignet und erforderlich sein, um das erstrebte Ziel überhaupt oder besser zu erreichen. Beides muß - folgt man der bisherigen Rechtsprechung (vgl. etwa BVerfGE 17, 306 [313 f.]) - zweifelsfrei nachgewiesen werden. Denn wenn schon die Zulässigkeit einer bestehenden Strafvorschrift davon abhängt, ob sie zum Schutz des jeweiligen Rechtsgutes geeignet und erforderlich ist, dann bedarf es eines solchen Nachweises erst recht, wenn der Gesetzgeber sogar gegen seinen Willen zum Strafen gezwungen werden soll. Soweit es dafür auf die Beurteilung der Sachlage und der Effektivität beabsichtigter Maßnahmen ankommt, hat das Gericht die Auffassung des Gesetzgebers zugrunde zu legen, solange sie nicht als offensichtlich irrig widerlegt wird (vgl. BVerfGE 7, 377 [412]; 24, 367 [406]; 35, 148 - abw.M. - [165]).
224
Diesen Anforderungen genügt die Urteilsbegründung nicht. Sie verstrickt sich wiederholt in Widersprüche und kehrt am Ende die Beweislast geradezu um: Ein Verzicht auf Strafsanktionen soll dem Gesetzgeber nur noch erlaubt sein, wenn zweifelsfrei feststeht, daß die von ihm bevorzugten milderen Maßnahmen zur Erfüllung der Schutzpflicht "zumindest" ebenso wirksam oder gar wirksamer sind (D III, C III 3; vgl. auch D II 2 c).
225
1. Die zunächst eindrucksvollen Ausführungen über den unbestrittenen hohen Rang des Lebensschutzes vernachlässigen die Singularität des Schwangerschaftsabbruchs im Verhältnis zu anderen Gefährdungen menschliches Lebens. Es handelt sich hier nicht um die akademische Frage, ob der Einsatz der staatlichen Strafgewalt zum Schutz vor Mördern und Totschlägern, auf die in keiner anderen Weise präventiv eingewirkt werden kann, unumgänglich ist. In der europäischen, kirchlich beeinflußten Rechtsgeschichte ist stets zwischen geborenem und ungeborenem Leben unterschieden worden. Auch die Wertentscheidung der Verfassung läßt bei der Auswahl der erforderlichen Schutzmaßnahmen Raum für eine solche Differenzierung, zumal da das Grundrecht des Art. 2 Abs. 2 GG nicht - wie die Mehrheit formuliert (C II 1) - "umfassend" gewährleistet ist, sondern unter Gesetzesvorbehalt steht. Anderenfalls ließe sich weder die ethische noch die eugenische oder gar die soziale Indikation begründen.
226
Auch die Mehrheit bezweifelt nicht die Berechtigung dieser Unterscheidung (C III 2 a), trennt aber wiederum nicht zwischen den verschiedenen Aspekten der Grundrechtsnorm. Soweit es sich um die Abwehr staatlicher Eingriffe handelt, kann selbstverständlich nicht zwischen dem vor- und nachgeburtlichen Entwicklungsstadium unterschieden werden; der Embryo ist insoweit als potentieller Grundrechtsträger durchgängig in gleicher Weise zu schützen wie jedes geborene Menschenleben. Diese rechtliche Gleichbehandlung läßt sich schon auf die Verletzung ungeborenen Lebens durch Dritte gegen den Willen der Schwangeren nur begrenzt übertragen, keinesfalls aber auf die Weigerung der Frau, die Menschwerdung ihrer Leibesfrucht im eigenen Körper zuzulassen.
227
Die Besonderheit, daß in der Person der Schwangeren eine singuläre Einheit von "Täter" und "Opfer" vorliegt (So auch die Mehrheit unter C II 2, C III 3), fällt rechtlich bereits deswegen ins Gewicht, weil der Schwangeren - anders als dem Adressaten von Strafvorschriften gegen Tötungsdelikte - weit mehr abverlangt wird als nur ein Unterlassen: Sie soll nicht nur die mit dem Austragen der Leibesfrucht verbundenen tiefgreifenden Veränderungen ihrer Gesundheit und ihres Wohlbefindens dulden, sondern auch die Eingriffe in ihre Lebensgestaltung hinnehmen, die sich aus Schwangerschaft und Geburt ergeben, besonders die mütterliche Verantwortung für die weitere Entwicklung des Kindes nach der Geburt tragen. Anders als bei den genannten Tötungsdelikten kann und muß der Gesetzgeber ferner davon ausgehen, daß das Schutzobjekt - die Leibesfrucht - am wirksamsten durch die Mutter selbst geschützt wird und daß deren Bereitschaft zum Austragen der Leibesfrucht durch Maßnahmen verschiedenster Art gestärkt werden kann. Da es von Natur aus keiner Strafvorschrift bedarf, um die mütterliche Schutzbeziehung herzustellen und zu sichern, läßt sich schon deswegen fragen, ob einer Störung dieser Beziehung, wie sie bei Schwangerschaftsabbrüchen zutage tritt, gerade durch eine Strafsanktion in geeigneter Weise begegnet werden kann. Jedenfalls darf der Gesetzgeber darauf wegen der genannten Besonderheiten anders reagieren als auf die Tötung menschlichen Lebens durch Dritte.
228
Nach Auffassung der unterzeichnenden Richterin ist die Weigerung der Schwangeren, die Menschwerdung ihrer Leibesfrucht in ihrem Körper zuzulassen, nicht allein nach dem natürlichen Empfindungen der Frau, sondern auch rechtlich etwas wesentlich anderes als die Vernichtung selbständig existenten Lebens. Schon deswegen verbietet es sich von vornherein, die Abtreibung im ersten Stadium der Schwangerschaft mit Mord oder vorsätzlicher Tötung prinzipiell gleichzustellen. Erst recht ist es verfehlt, wenn nicht unsachlich, die Fristenlösung in die Nähe der Euthanasie oder gar der "Tötung unwerten Lebens" zu rücken, um sie von daher zu diskriminieren - wie dies in der öffentlichen Diskussion geschehen ist. Der Umstand, daß erst in einem längeren Entwicklungsprozeß ein vom mütterlichen Organismus trennbares selbständig existentes Lebewesen entsteht, legt es vielmehr nahe oder läßt es wenigsten zu, bei der rechtlichen Beurteilung zeitliche, dieser Entwicklung entsprechende Zäsuren zu berücksichtigen (Vgl. das Erkenntnis des Österreichischen Verfassungsgerichtshofs unter II 5 b der Entscheidungsgründe, EuGRZ 1975, S. 74 [80]; Lay, JZ 1970, S. 465 ff.; noch weiter gehend bezeichnet es Roman Herzog [JR 1969, S. 441] als Sache des Gesetzgebers, "von welcher Entwicklungsphase an [der] staatliche Schutz für das werdende Leben wirksam werden soll".). Die biologische Kontinuität der Gesamtentwicklung bis zur Geburt (Siehe C I 1 b) - deren Beginn bei konsequenter Anwendung der Mehrheitsauffassung nicht erst bei der Einnistung, sondern bei der Empfängnis anzusetzen wäre - ändert nichts daran, daß den verschiedenen Entwicklungsstufen des Embryos eine Veränderung in der Einstellung der Schwangeren im Sinne einer wachsenden mütterlichen Bindung entspricht. Demgemäß ist es für das Rechtsbewußtsein der Schwangeren, aber auch für das allgemeine Rechtsbewußtsein nicht das gleiche, ob ein Schwangerschaftsabbruch im ersten Stadium der Schwangerschaft oder in einer späteren Phase stattfindet. Dies hat zu allen Zeiten in in- und ausländischen Rechtsordnungen seinen Niederschlag in einer an solche zeitlichen Einschnitte anknüpfenden verschiedenen strafrechtlichen Bewertung der Abtreibung gefunden, wie etwa der Supreme Court eindrucksvoll dargestellt hat (410 U.S. 113 [132 ff., 160 f.]). Für den deutschen Rechtsraum verdient Hervorhebung, daß das Kirchenrecht, gestützt auf die Beseelungslehre, bis zum Ende des 19. Jahrhunderts die Abtreibung in die Zeitspanne bis zum 80. Tag nach der Empfängnis als straflos angesehen hat; auch das weltliche Strafrecht sah bis zum Erlaß des Strafgesetzbuches von 1871 zeitliche Abstufungen für die Höhe der Strafdrohung vor (Vgl. Dähn in: Das Abtreibungsverbot des § 218 StGB [hrsg. von Baumann], 2. Aufl., 1972, S. 331 f.; Supreme Court, a.a.O., 134; Simson-Geerds, Straftaten gegen die Person und Sittlichkeitsdelikte in rechtsvergleichender Sicht, 1969, S. 87; Sonderausschuß für die Strafrechtsreform, 7. Wp., Anlage zur 15. Sitzung, StenBer. S. 690 ff., 697 f.).
229
Der unterzeichnende Richter neigt dazu, diesen weiteren Überlegungen zum Verhältnis zwischen der Schwangeren und ihrer Leibesfrucht rechtlich eine geringere Bedeutung beizumessen. Wenn jedoch die Rücknahme der Strafdrohung in den ersten drei Monaten der Schwangerschaft aus anderen - bereits genannten oder noch zu erörternden - Gründen verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist, dann handelt der Gesetzgeber jedenfalls nicht sachfremd, wenn er den genannten Umständen bei seiner Regelung Rechnung trägt.
230
2. Die Prüfung, ob trotz der genannten Besonderheiten auch zum Schutz ungeborenen Lebens eine Pflicht zum Strafen als ultima ratio zu fordern ist, muß von dem sozialen Problem ausgehen, das den Gesetzgeber zu seiner Regelung veranlaßt hat. In der Mehrheitsbegründung finden sich lediglich knappe Hinweise auf die Komplexität dieses Problems und - im Zusammenhang mit der Indikationenregelung - einige Erörterungen über die sozialen Ursachen für Abtreibungen (C, C III 2, C III 3, D II, D II 3); insgesamt unterbleibt jedoch wegen der mehr dogmatischen Betrachtungsweise eine hinreichende Würdigung der vom Gesetzgeber vorgefundenen Verhältnisse und der daraus folgenden Schwierigkeiten für die allseits als notwendig anerkannte Reform.
231
a) Diese Verhältnisse sind in erster Linie geprägt durch die enorme Dunkelziffer, die nicht damit bagatellisiert werden kann, daß - verständlicherweise - keine sicheren Daten zu ermitteln sind. Nach den Berichten des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform ist " nach ernst zu nehmenden Untersuchungen" von 75.000 bis 300.000 illegalen Abtreibungen jährlich auszugehen (Vgl. BTDrucks. 7/1981 (neu) S.6; 7/1982, S. 5; 7/1983 S. 5, je mit weiteren Nachweisen); innerhalb dieses Bereichs bewegen sich auch die von den Sachverständigen bei der öffentlichen Anhörung vor dem Sonderausschuß genannten Zahlen (Vgl. Sonderausschuß für die Strafrechtsreform, 6. Wp., 74., 75. und 76. Sitzung, StenBer. S. 2173, 2218, 2241.). Noch bis vor kurzem, d.h. vor Beginn der Diskussion im Parlament wurden allgemein weit höhere Zahlen angenommen (Vgl. die Nachweise in der Antwort des Bundesministers der Justiz auf eine Kleine Anfrage der Fraktion der CDU/CSU, BTDrucks. VI/2025 S. 3; s. auch E.-W. Böckenförde, der 200.000 bis 400.000 illegale Aborte zugrunde legt (Stimmen der Zeit, Bd. 188 [1971], S. 147 [152]).).
232
Auch wenn man nur die niedrigsten Schätzungen zugrunde legt, bleibt die Zahl erschreckend hoch. Ihr steht eine verschwindend geringe Zahl behördlich bekanntgewordener Abtreibungsfälle und gerichtlicher Verurteilungen gegenüber: für 1971 bei 584 bekanntgewordenen Straftaten 184 Verurteilungen, für 1972 bei 476 Fällen 154 Verurteilungen (Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland, 1973, S. 117, 121; 1974, S. 116, 121.). Ganz überwiegend wird dabei nur auf Geldstrafen erkannt; ausnahmsweise verhängte kurzfristige Freiheitsstrafen werden meist zur Bewährung ausgesetzt (Vgl. Statistisches Bundesamt, Fachserie A "Bevölkerung und Kultur", Reihe 9 "Rechtspflege", 1972, S. 100 f., 144 f., 160 f.). Die hierin erkennbare Nichtbeachtung der Strafvorschrift bedeutet nicht allein eine Entwertung des werdenden Lebens, sondern wirkt sich auch korrumpierend für die allgemeine Rechtsgeltung aus, zumal da unter diesen Umständen die strafgerichtliche Verfolgung zum reinen Zufall wird.
233
Den Gesetzgeber konnte es ferner nicht gleichgültig lassen, daß illegale Schwangerschaftsabbrüche auch heute noch zu Gesundheitsschäden führen, und zwar nicht nur bei Abtreibungen durch "Kurpfuscher" und "Engelmacherinnen", sondern in größerem Umfang auch deswegen, weil bei ärztlichen Eingriffen die Illegalität den vollen Einsatz des modernen Instrumentariums und des erforderlichen Hilfspersonals beeinträchtigt oder eine notwendige Nachbehandlung verhindert. Als Übelstand erscheint weiter die kommerzielle Ausbeutung abtreibungswilliger Frauen im In- und Ausland und die damit verbundene soziale Ungleichheit; bessergestellte Frauen können, besonders durch Reisen ins benachbarte Ausland, weit leichter eine Abtreibung durch einen Arzt erreichen als ärmere oder weniger gewandte. Schließlich kommt die sogenannte Folgekriminalität hinzu; so steht die Erpressung mit der Kenntnis eines illegalen Aborts in der Reihe der Erpressungsmittel an dritter Stelle (Geerds, Erpressung, in Handwörterbuch der Kriminologie, a.a.O., S. 182.).
234
b) Für die Entscheidung des Gesetzgebers, wie diese Zustände am besten zu reformieren sind, war besonders bedeutsam, daß der Entschluß zum Schwangerschaftsabbruch regelmäßig aus einer Konfliktsituation erwächst, die auf mannigfaltigen, stark von den Verhältnissen des Einzelfalles geprägten Motivationen beruht. Neben wirtschaftlichen oder materiellen Gründen - etwa unzulängliche Wohnverhältnisse, nicht ausreichendes oder ungesichertes Einkommen der vielleicht schon vielköpfigen Familie, Notwendigkeit einer Erwerbstätigkeit beider Ehegatten - stehen persönliche Gründe: die immer noch nicht beseitigte gesellschaftliche Diskriminierung der unverheirateten Mutter, der Druck des Erzeugers oder der Familie, die Furcht vor einer Gefährdung der Partnerbeziehung oder einem Zerwürfnis mit den Eltern, der Wunsch oder die Notwendigkeit, eine begonnene Ausbildung fortzusetzen oder einen Beruf weiter auszuüben, Schwierigkeiten in der Ehe, das Gefühl, der Betreuung weiterer Kinder physisch oder psychisch nicht mehr gewachsen zu sein, bei Alleinstehenden auch die Ablehnung einer nicht zu verantwortenden Heimerziehung des Kindes. Die Angst der Schwangeren, daß die ungewollte Schwangerschaft zu einem irreparablen Einbruch in ihre persönliche Lebensgestaltung oder den Lebensstandard der Familie führen wird, das Empfinden, daß sie beim Austragen ihrer Leibesfrucht nicht auf eine wirksame Hilfe der Umwelt rechnen kann, sondern daß die nachteiligen Folgen eines nicht nur von ihr zu verantwortenden Verhaltens sie allein treffen, lassen ihr die Schwangerschaftsunterbrechung häufig als einzigen Ausweg erscheinen. Selbst wo nach der persönlichen Situation nicht-einsichtige Motivationen der Bequemlichkeit, des Egoismus, besonders des Konsumstrebens im Vordergrund stehen, kann dies nicht ausschließlich der Frau zur Last gelegt werden, sondern spiegelt zugleich die materialistische, weitgehend kinderfeindliche Gesamteinstellung der "Wohlstandsgesellschaft" wider. Auch haben Staat und Gesellschaft bisher noch keine hinreichenden Einrichtungen und Lebensformen entwickelt, die es der Frau ermöglichen, Mutterschaft und Familienleben mit einer chancengleichen persönlichen Entfaltung, besonders auf beruflichem Gebiet, zu verbinden (Vgl. zu alledem etwa das Memorandum des Bensberger Kreises zur Reform des § 218 StGB (Publik-Forum Sonderdruck) unter I 1 sowie die Ausführungen der Sachverständigen und des Regierungsvertreters vor dem Sonderausschuß für die Strafrechtsreform, 6. Wp., 74., 75. und 76. Sitzung, StenBer. S. 2219 mit der tabellarischen Übersicht in Anlage 3 S. 2368 (Rolinski); S. 2233 (Dotzauer); S. 2251 ff. (Pross); 7. Wp., 23. Sitzung, StenBer. S. 1390 f.; s. ferner die Berichte des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform, BTDrucks. 7/1981 (neu) S. 7; 7/1982 S. 7; 7/1983 S. 7; 7/1984 (neu) S. 5.).
235
3. In dieser Gesamtsituation ist die "Eindämmung der Abtreibungsseuche" nicht nur ein "gesellschaftspolitisch erwünschtes Ziel" (D II 2 b), sondern gerade auch im Sinne eines besseren Lebensschutzes und zur Wiederherstellung der Glaubwürdigkeit der Rechtsordnung dringend geboten. Im Bemühen um eine Lösung dieser höchst schwierigen Aufgabe hat der Gesetzgeber alle wesentlichen Gesichtspunkte erschöpfend gewürdigt. Die Reform des § 218 StGB hatte bereits die in dieser Frage tief gespaltene Öffentlichkeit nachhaltig beschäftigt. Die parlamentarischen Beratungen sind auf diesem Hintergrund mit großem Ernst und ungewöhnlicher Gründlichkeit durchgeführt worden. Hierbei wurden die Wertentscheidungen der Verfassung ausdrücklich herangezogen; namentlich bestand Einigkeit über die staatliche Pflicht zum Schutz des ungeborenen Lebens. Bei der Ermittlung der maßgeblichen Faktoren und Argumente für eine sachgerechte Entscheidung entsprach das Vorgehen der Gesetzgebungsorgane ganz dem, was das KPD-Urteil als charakteristisch für eine legitime Willensbildung im freiheitlich-demokratischen Staat ansieht (BVerfGE 5, 85 [135, 197 f.]).
236
Bei der gewählten Lösung konnte der Gesetzgeber davon ausgehen, daß angesichts des Versagens der Strafsanktion die geeigneten Mittel zur Abhilfe im sozialen und gesellschaftlichen Bereich zu suchen sind, daß es darauf ankommt, einerseits durch präventive psychologische, sozial- und gesellschaftspolitische Förderungsmaßnahmen der Mutter das Austragen des Kindes zu erleichtern und ihre eigene Bereitschaft dazu zu stärken, andererseits durch bessere Information über die Möglichkeiten der Empfängnisverhütung die Zahl ungewollter Schwangerschaften zu vermindern. Auch die Mehrheit bezweifelt offenbar nicht (C III 1, D II, D III), daß solche Maßnahmen insgesamt gesehen am wirksamsten sind und am ehesten einer Effektuierung der Grundrechte im Sinne größerer Freiheit und vermehrter sozialer Gerechtigkeit entsprechen.
237
Förderungsmaßnahmen dieser Art können in ein Strafgesetz schon wegen der verschiedenen staatlichen Kompetenzen begreiflicherweise nur begrenzt Eingang finden. Das Fünfte Strafrechtsreformgesetz enthält daher insoweit lediglich eine Pflicht zur Beratung. Nach der Konzeption des Gesetzgebers soll dadurch die Schwangere - ohne Furcht vor Strafe - aus ihrer Isolierung herausgeholt, die Bewältigung ihrer Schwierigkeiten soll ihr durch offene Kontakte mit ihrer Umwelt und durch eine auf ihre persönliche Konfliktsituation abgestellte individuelle Beratung erleichtert werden. Daß die vorgeschriebene Beratung dem Schutz werdenden Lebens dienen soll, indem sie die Bereitschaft zum Austragen der Leibesfrucht weckt und stärkt, wo dem nicht schwerwiegende Gründe entgegenstehen, ergibt sich bereits aus den in der Urteilsbegründung zitierten Gesetzesmaterialien und der dort erwähnten Entschließung der Bundestagsmehrheit (A I 6 d, D II, D II 3, D II 3 b; s. weiter die Ausführungen von Regierungsvertretern und Abgeordneten in der 2. und 3. Beratung [Abg. de With, Frau Funcke, Frau Eilers, Dr. Eppler, Scheu, Bundesminister Frau Dr. Focke und Bundeskanzler Brandt] 95. Sitzung, StenBer. S. 6383 [D]; 6384 [A]; 6391 [A]; 6402 [B]; 96. Sitzung, StenBer. S. 6471 [B]; 6482 [B]; 6499; 6500 [B].).
238
Wir bestreiten nicht, daß diese Beratungsregelung - wie im Urteil dargelegt (D II 3) - noch Schwächen aufweist. Soweit diese sich nicht durch eine verfassungskonforme Auslegung des Gesetzes und entsprechende Durchführungsregelungen der Länder hätten ausräumen lassen, wäre aber eine verfassungsrechtliche Beanstandung allein auf diese Mängel zu beschränken gewesen und durfte nicht die Fristen- und Beratungsregelung in ihrer Gesamtkonzeption in Frage stellen. Nicht zuletzt hängt der Erfolg einer Beratungsregelung wesentlich davon ab, ob der beratenen Frau Hilfen angeboten oder vermittelt werden können, die ihr Auswege aus ihren Schwierigkeiten eröffnen. Fehlt es daran, dann ist auch das Strafrecht nichts anderes als ein Alibi für das Defizit wirksamer Hilfen; Verantwortung und Lasten werden allein auf die schwächsten Glieder der Gesellschaft abgewälzt. Die Mehrheit erklärt sich - in Übereinstimmung mit der bisherigen Rechtsprechung - außerstande, insoweit die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers zu beschränken und ihm eine Erweiterung sozial-präventiver Maßnahmen vorzuschreiben (C III 1). Wenn aber dafür richterliche Selbstbeschränkung gilt, dann darf das Verfassungsgericht den Gesetzgeber erst recht nicht zum Einsatz der Strafgewalt als des stärksten staatlichen Zwangsmittels zwingen, um soziale Pflichtversäumnis (Vgl. dazu Rudolphi, Straftaten gegen das werdende Leben, ZStrW 83 [1971], S. 105 [114 f., 128 f., 134].) durch Strafdrohung zu kompensieren. Dies entspricht gewiß nicht der Funktion des Strafrechts in einem freiheitlichen Sozialstaat.
239
4. Auch die Mehrheit erkennt die gesetzgeberische Absicht, durch Beratung Leben zu erhalten, als "achtenswertes Ziel" an (D II 2 b, D II 1), hält aber - in Übereinstimmung mit den Antragstellern - die Anordnung flankierender Strafsanktionen für unabdingbar, weil der durchgängige Verzicht auf Bestrafung in den Fällen, in denen der Schwangerschaftsabbruch auf keinerlei achtenswerten Gründen beruhe, eine "Schutzlücke" hinterlasse (A II 2 c, C III 2 b, D II 2).
240
a) Die Eignung von Strafsanktionen für den beabsichtigten Lebensschutz erscheint jedoch von vornherein als zweifelhaft. Auch die Mehrheit räumt ein, daß die bisherige generelle Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs das werdende Leben gerade nicht ausreichend geschützt und möglicherweise sogar dazu beigetragen hat, andere wirksame Schutzmaßnahmen zu vernachlässigen (D II). Sie glaubt - wenn sie sich dessen auch nicht ganz sicher ist (Vgl. D III) -, diesem Versagen des Strafschutzes werde durch eine differenzierende Strafdrohung abgeholfen, nach der der Schwangerschaftsabbruch in den im Gesetzgebungsverfahren erörterten Indikationsfällen straflos bleiben soll. Hinsichtlich der schon bisher anerkannten oder praktizierten medizinischen, ethischen und eugenischen Indikation bringt diese Indikationenlösung freilich keine wesentliche Veränderung des bisherigen unbefriedigenden Rechtszustandes. Eine wirkliche Differenzierung liegt nur in der Anerkennung der sozialen Indikation, sofern der Gesetzgeber bei der ihm obliegenden Abgrenzung nicht übermäßig streng verfährt und wenigstens hier die erwähnte Wechselbeziehung zwischen geschuldeter sozialer Hilfe und vertretbarem Strafen beachtet: Je weniger der Staat seinerseits zur Hilfe imstande ist, desto fragwürdiger und zugleich wirkungsloser sind Strafdrohungen gegenüber Frauen, die sich ihrerseits der Pflicht zum Austragen der Leibesfrucht nicht gewachsen fühlen.
241
Die von der Mehrheit insgesamt zugunsten der Indikationenlösung angestellten Erwägungen verdienen rechtspolitisch gewiß Berücksichtigung. Verfassungsrechtlich ist aber entscheidend, daß sich bei realistischer Betrachtung auf keinem Wege, auch nicht mit differenzierenden Strafdrohungen ein lückenloser Lebensschutz erreichen läßt und daß daher keine Lösung verfassungsrechtlich "festgeschrieben" werden kann. Die Mehrheit bleibt schon den ihr obliegenden Nachweis schuldig, daß im Zeitalter des "Abtreibungstourismus" von innerstaatlichen Strafvorschriften ein günstiger Einfluß gerade auf solche Frauen zu erwarten ist, die ohne einsichtigen Grund zur Abtreibung entschlossen sind. Wenn überhaupt, so läßt sich ein solcher Erfolg nur in einer gewissen Zahl von Fällen - besonders bei Angehörigen sozial schwächerer Gruppen - erreichen. Bei an sich beeinflußbaren Frauen zeigt sich die ambivalente Wirkung von Strafdrohungen unter anderem darin, daß diese einerseits einen gewissen Rückhalt gegen das Abtreibungsverlangen des Erzeugers oder der Familie bieten mögen, andererseits zur Erhöhung der Aborte beitragen können, indem sie die Schwangere in die Isolierung treiben, dadurch erst recht solchen Pressionen aussetzen und zu Kurzschlußhandlungen veranlassen.
242
b) Wie immer aber die Schutzwirkung von Strafdrohungen zu beurteilen sein mag, jedenfalls beruht ihre teilweise Rücknahme auf Erwägungen, die gerade unter dem Gesichtspunkt des Lebensschutzes Gewicht haben und sich - mindestens bei einer verbesserten Beratungsregelung - keinesfalls als offensichtlich fehlsam widerlegen lassen.
243
Der Gesetzgeber hatte bei seiner Konzeption das ganze Spektrum der Abtreibungsproblematik vor Augen, besonders die Vielzahl jener Schwangeren, die einer Beeinflussung zugänglich sind. Er durfte davon ausgehen, daß sich Frauen normalerweise nicht leichten Herzens und ohne Grund einem solchen Eingriff unterziehen. In aller Regel liegt ein ernst zu nehmender, jedenfalls verständlicher Konflikt vor; die Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch wird "in Tiefen der Persönlichkeit getroffen, in die der Appell des Strafgesetzes nicht eindringt" (Rolinski, Sonderausschuß für die Strafrechtsreform, 6. Wp., 74., 75. und 76. Sitzung, StenBer. S. 2219.). Gerade in diesen Fällen setzt nach Auffassung des Gesetzgebers die erfolgreiche Verwirklichung der Beratungsregelung zwingend voraus, daß eine gleichzeitige Strafdrohung entfällt; denn zur Abtreibung geneigte Frauen werden die Beratungsstellen nicht aufsuchen, solange sie befürchten müssen, dadurch ihre Entscheidungsfreiheit zu verlieren und sich durch das Bekanntwerden ihrer Schwangerschaft im Falle eines späteren illegalen Eingriffs strafrechtlicher Verfolgung auszusetzen. Diese auf das Urteil vieler Sachverständiger gestützte und zudem der Lebenserfahrung entsprechende Auffassung ist weder von den Antragstellern in der mündlichen Verhandlung noch von der Senatsmehrheit widerlegt worden.
244
Der Gesetzgeber befand sich daher in dem Dilemma, daß sich nach seiner Beurteilung präventive Beratung und repressive Strafdrohung in ihrer lebensschützenden Wirkung teilweise ausschließen. Seine Erwägung, auf eine mögliche abortverhindernde Wirkung von Strafsanktionen in einer wahrscheinlich geringen Zahl von Fällen zu verzichten, um möglicherweise in einer größeren Zahl von Fällen anderes Leben zu retten, läßt sich nicht damit abtun, dies sei eine "pauschale Abwägung von Leben gegen Leben", die mit der verfassungsrechtlichen Pflicht zum individuellen Schutz jedes einzelnen ungeborenen Lebens unvereinbar sei (So D II 2 b-c). Mit dieser Argumentation verschließt sich die Mehrheit in schwer verständlicher Weise der Einsicht, daß sie selbst tut, was sie dem Gesetzgeber vorwirft. Denn sie nötigt ihrerseits den Gesetzgeber sogar von Verfassungs wegen zu einer Verrechnung, indem sie ihn durch die Forderung nach Beibehaltung der Strafvorschrift zwingt, solches ungeborene Leben schutzlos zu lassen, das bei einer Rücknahme der Strafdrohung durch geeignete Beratung bewahrt bleiben könnte.
245
Der Rigorismus der Mehrheit verträgt sich zudem schwer mit der ausdrücklichen Zulassung einer Abwägung nicht nur von Leben gegen Leben, sondern sogar von Leben gegen minderrangige Rechtsgüter bei indizierten Schwangerschaftsabbrüchen. Soweit bei der Indikationenregelung über diese Abwägung staatlich ermächtigte Gutachterstellen befinden müssen, durfte der Gesetzgeber es als einen spezifischen Nachteil dieser Lösung werten, daß danach das Abtöten einer Leibesfrucht ausdrücklich amtlich legitimiert wird. Die Mehrheit läßt freilich für den Fall der sozialen Indikation offen, ob die Prüfung der Voraussetzungen vorweg durch Gutachterstellen vorzunehmen oder einem späteren Strafverfahren zu überlassen ist (C III 3). Der zweite Weg würde aber ein wesentliches Anliegen der Reform verfehlen, weil er eine rechtsstaatlich höchst bedenkliche Unsicherheit für die betroffenen Frauen und die beteiligten Ärzte zur Folge hätte.
246
5. Da nach alledem jede Lösung unter dem Gesichtspunkt des Lebensschutzes Stückwerk bleibt, durfte der Gesetzgeber zugunsten der Fristenlösung weitere - von der Mehrheit außer acht gelassene - verfassungsrechtliche, gesundheits- und kriminalpolitische Gesichtspunkte berücksichtigen. Er konnte besonders davon ausgehen, daß diese Regelung die Eigenverantwortung der Frau und Mutter in einer ihr Lebensschicksal betreffenden Frage am besten respektiert und vermeidet, sie den schon mit der Verfahrensprozedur vor einer Gutachterstelle verbundenen Eingriffen in ihren Persönlichkeitsbereich auszusetzen. Er durfte auch berücksichtigen, daß der Schutz des werdenden Lebens über die physische Existenz hinausgeht und die Lebenschancen für ein nach entsprechender Beratung von der Mutter eigenverantwortlich angenommenes Kind besser sind, als wenn sie es nur aus Angst vor Strafe austrägt. Wesentlich konnte ferner sein, daß die mit illegalen Abtreibungen verbundenen Gesundheitsschäden wegfallen und das Rechtsbewußtsein nicht mehr durch eine leer laufende Strafdrohung oder deren bagatellisierende Anwendung erschüttert wird.
247
Nicht zuletzt war es nicht offensichtlich fehlsam, wenn der Gesetzgeber, gestützt auf Erfahrungen im Ausland, einen wesentlichen Nachteil der Indikationenlösung darin sah, daß es als schwierig, wenn nicht unmöglich erscheint, objektivierbare, einheitliche Abgrenzungsmerkmale für die - unter dem Blickpunkt der Reform allein relevante - soziale Indikation zu finden (Vgl. u.a. BTDrucks. 7/1981 [neu] S. 12 sowie den unter A I 5 zitierten Alternativ-Entwurf, a.a.O., S. 27.). Die starken Kontroversen bei den Gesetzberatungen haben offenbar gemacht, daß gerade in diesem Bereich kein Konsens über die Grenze des Zulässigen besteht. Voraussichtlich wird daher die behördliche Beurteilung darüber, wann die Gefahr einer schwerwiegenden sozialen Notlage vorliegt und welche anderen Maßnahmen zur Abwendung dieser Gefahr von der Schwangeren hinzunehmen sind, regional und nach der persönlichen Einstellung der Gutachter und Richter weit auseinandergehen. Das Ergebnis wäre eine schwer erträgliche Rechtsunsicherheit und Rechtsungleichheit für die betroffenen Frauen und die beteiligten Ärzte sowie weiterhin ein Ausweichen in die Illegalität.
248
Aus allen diesen Gründen durfte der Gesetzgeber den Versuch wagen, die jetzigen unhaltbaren Zustände im Wege der Beratungs- und Fristenlösung zu reformieren, auch wenn eine sichere Voraussage der weiteren Entwicklung nicht möglich ist. Da auch die Mehrheit zutreffend davon ausgeht, daß das bekannte Zahlenmaterial einen sicheren Schluß in der einen oder anderen Richtung nicht erlaubt (D II 2 c), bedarf es keines weiteren Eingehens auf die kritischen Äußerungen gegen die Prognose des Gesetzgebers (Nach neuesten Berichten aus der DDR, wo seit 1972 die Fristenregelung gilt, soll die Zahl der Schwangerschaftsunterbrechungen in den beiden letzten Jahren wesentlich zurückgegangen sein. Dies wird auf die intensiven staatlichen Maßnahmen zur Förderung junger Familien und den Ausbau der Ehe- und Sexualberatung zurückgeführt [vgl. Mehlan, Das deutsche Gesundheitswesen 1974, S. 2216 ff.].).
249
II.
Die Mehrheit begründet die Aufrechterhaltung einer - differenzierten - Strafdrohung nachdrücklich damit, die verfassungsrechtlich geforderte "Mißbilligung" nichtindizierter Schwangerschaftsabbrüche müsse klar zum Ausdruck kommen (C II 3, C III 2 b, C III 3, D II 1, D II 2, D III.). Soweit damit die general-präventive Wirkung des Strafrechts angesprochen sein soll, d.h. das Bestreben, eine Tat durch Auferlegung eines Übels zu mißbilligen und dadurch das tatsächliche Verhalten der Rechtsunterworfenen zu beeinflussen, ist - wie erörtert - nicht dargetan, daß die Indikationenlösung ihrerseits effektiven Lebensschutz gewährleistet. Es ist daher vielleicht kein Zufall, daß die Mehrheit "zweispurig" argumentiert: Sie verlangt auch unabhängig von der angestrebten tatsächlichen Wirkung eine Mißbilligung als Ausdruck eines sozialethischen Unwerturteils, das die unmotivierten Abtreibungen deutlich als Unrecht kennzeichnet.
250
1. Es kann dahingestellt bleiben, wieweit die neuere Strafrechtswissenschaft einer derartigen Auffassung über die Funktion des Strafrechts und seine Zuordnung zur Ethik zustimmt (Vgl. etwa Baumann, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 6. Aufl., 1974, S. 7 f., 27 f., ders., Das Verhältnis von Moral und Recht, in Moral [hrsg. von Anselm Hertz, 1972] S. 60 ff.; Hanack, Verhandlungen des 47. DJT 1968, Bd. I, S. A 29 ff.; Sax, Grundsätze der Strafrechtspflege, in: Bettermann-Nipperdey-Scheuner, Die Grundrechte, Bd. III/2, 1959, S. 930 f., 955 f.; Arthur Kaufmann, Recht und Sittlichkeit, 1964, S. 42 ff.) und ob damit nicht doch das Strafrecht zum Selbstzweck erhoben wird. Selbstverständlich sind unmotivierte Schwangerschaftsabbrüche ethisch verwerflich. Gegenüber der Mehrheitsbegründung ist aber zunächst zu bedenken, daß das Absehen von Strafe hier wie auch sonst nicht den Schluß aufdrängt, ein nicht mehr strafbares Verhalten werde gebilligt. Hierfür ist namentlich dann kein Raum, wenn der Gesetzgeber eine Strafvorschrift aufhebt, weil sie nach seiner Meinung wirkungslos oder sogar schädlich ist oder weil dem bisher strafbaren, sozialschädlichen Verhalten auf andere Weise begegnet werden soll. So wird wohl niemand aus der Aufhebung oder Einschränkung der Strafvorschriften gegen Prostitution, Drogenmißbrauch, Ehebruch oder Ehegattenkuppelei schließen, entsprechende Handlungen erfreuten sich nunmehr der offiziellen Anerkennung als rechtmäßig und sittlich. Die Auseinandersetzungen um die Reform des § 218 StGB bieten keinen Anhaltspunkt dafür, als sei das Abtöten ungeborenen Lebens im Ernst als "normaler sozialer Vorgang" angesehen worden.
251
Soweit die Mehrheit in diesem Zusammenhang zur Beurteilung der Beratungs- und Fristenregelung im Fünften Strafrechtsreformgesetz das bisher von den gesetzgebenden Körperschaften noch nicht abschließend behandelte Strafrechtsreform-Ergänzungsgesetz heranzieht (D II 1) kommt es darauf schon deswegen nicht an, weil beide Gesetze auch nach Auffassung der Mehrheit inhaltlich voneinander unabhängig sind (B 4). Erst wenn das Strafrechtsreform-Ergänzungsgesetz erlassen würde, wäre selbständig zu prüfen, ob die geplante generelle Kostenerstattung und Lohnfortzahlung bei nicht strafbaren Schwangerschaftsabbrüchen eine unzulässige staatliche Förderung für die nicht indizierten Fälle enthielte oder ob dies aus bestimmten gewichtigen Gründen noch hinzunehmen wäre, etwa wegen der Bekämpfung der mit illegalen Abtreibungen verbundenen Gesundheitsgefahren, die den Supreme Court sogar zum verfassungsrechtlichen Verbot des Strafens veranlaßt haben (410 U.S. 113 [148 ff., 162 ff.].). Im ersten Fall ließe sich dieser Mangel innerhalb des Strafrechtsreform-Ergänzungsgesetzes korrigieren, z.B. durch Beschränkung der Kostenerstattung auf indizierte Fälle, wobei die erforderliche Prüfung auch nach dem Schwangerschaftsabbruch, also ohne Zeitdruck vorgenommen werden könnte. (Auf diese Weise hätte sich übrigens zugleich die gewünschte Mißbilligung unmotivierter Abtreibungen erreichen lassen).
252
2. Unser wesentlicher Einwand richtet sich dagegen, daß die Mehrheit nicht darlegt, woraus verfassungsrechtlich das Erfordernis der Mißbilligung als einer selbständigen Pflicht hergeleitet werden soll. Nach unserer Auffassung schreibt die Verfassung nirgends vor, ethisch verwerfliches oder strafwürdiges Verhalten müsse per se Rücksicht auf den damit erzielten Effekt mit Hilfe des Gesetzesrechts mißbilligt werden. In einem pluralistischen, weltanschaulich neutralen und freiheitlichen demokratischen Gemeinwesen bleibt es den gesellschaftlichen Kräften überlassen, Gesinnungspostulate zu statuieren. Der Staat hat darin Enthaltsamkeit zu üben; seine Aufgabe ist der Schutz der von der Verfassung gewährleisteten und anerkannten Rechtsgüter. Für die verfassungsrechtliche Entscheidung kommt es allein darauf an, ob die Strafvorschrift zwingend geboten ist, um einen effektiven Schutz des werdenden Lebens unter Berücksichtigung der schutzwürdigen Interessen der Frau zu sichern.
253
III.
Daß die Entscheidung des deutschen Gesetzgebers für die Fristen- und Beratungsregelung weder einer sittlich noch rechtlich zu mißbilligenden Grundhaltung entspringt noch von offensichtlich falschen Prämissen in der Beurteilung der Lebensverhältnisse ausgeht, wird durch gleiche oder ähnliche Reformvorschriften in zahlreichen ausländischen Staaten bestätigt. In Österreich, Frankreich, Dänemark und Schweden ist der von einem Arzt mit Einwilligung der Schwangeren vorgenommene Schwangerschaftsabbruch in den ersten zwölf (in Frankreich zehn) Wochen der Schwangerschaft nicht strafbar; in Großbritannien und den Niederlanden gilt eine Indikationenregelung, die in der praktischen Anwendung auf das gleiche hinausläuft (Für die Vereinigten Staaten vgl. oben A II 1 der abweichenden Meinung.). Diese Staaten können sich zum Teil einer eindrucksvollen Verfassungstradition rühmen und stehen sämtlich in der unbedingten Achtung vor dem Leben jedes einzelnen Menschen der Bundesrepublik gewiß nicht nach; einige von ihnen haben ebenfalls geschichtliche Erfahrungen mit einem menschenverachtenden Unrechtssystem. Ihre Entscheidung erforderte eine Auseinandersetzung mit den gleichen rechtlichen und sozialen Problemen wie in der Bundesrepublik. In allen diesen Staaten gilt zudem rechtsverbindlich die Europäische Menschenrechtskonvention, deren Artikel 2 in Absatz 1 ("Das Recht jedes Menschen auf das Leben wird gesetzlich geschützt") der Verfassungsvorschrift des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nahekommt und der im ganzen eher weitergehen könnte als die innerdeutsche Norm. Der Österreichische Verfassungsgerichtshof hat ausdrücklich festgestellt, daß die dortige Fristenlösung mit der Menschenrechtskonvention, der in Österreich Verfassungsrang zukommt, vereinbar ist (A.a.O. unter II 3 b der Entscheidungsgründe, EuGRZ, 1975, S. 74 [77 f.]. Auch in Frankreich hat die Konvention vor innerfranzösischen Gesetzen, vgl. Art. 55 der französischen Verfassung, s. auch die Entscheidung des Conseil constitutionnel vom 15. Januar 1975, Journal officiel vom 16. Januar 1975 S. 671 = EuGRZ 1975, S. 54.).
254
IV.
Insgesamt war es daher nach unserer Ansicht dem Gesetzgeber durch die Verfassung nicht verwehrt, auf eine nach seiner unwiderlegten Auffassung weitgehend wirkungslose, inadäquate und sogar schädliche Strafdrohung zu verzichten. Sein Versuch, dem in den gegenwärtigen Zuständen offenbar werdenden Unvermögen von Staat und Gesellschaft im Dienste des Lebensschutzes durch sozial adäquatere Mittel abzuhelfen, mag unvollkommen sein; er entspricht aber dem Geist des Grundgesetzes mehr als die Forderung nach Strafe und Mißbilligung.
Rupp-v. Brünneck, Dr. Simon
"unheilbar" krank - muss GKV dann Biostase bezahlen ?
Verfasst:
Fr 6. Jan 2017, 00:59
von Gedankenpolizei
BVerfG Beschluss vom 06. Dezember 2005
- 1 BvR 347/98 -L e i t s a t z
zum Beschluss des Ersten Senats
vom 6. Dezember 2005
- 1 BvR 347/98 -
Es ist mit den Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip und aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht vereinbar, einen gesetzlich Krankenversicherten, für dessen lebensbedrohliche oder regelmäßig tödliche Erkrankung eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung steht, von der Leistung einer von ihm gewählten, ärztlich angewandten Behandlungsmethode auszuschließen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 347/98 -
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn F...
- Bevollmächtigte:
Rechtsanwälte Berner, Fischer & Partner,
Andreaswall 2, 27283 Verden -
gegen das Urteil des Bundessozialgerichts vom 16. September 1997 - 1 RK 28/95 -
hat das Bundesverfassungsgericht - Erster Senat – unter Mitwirkung
des Präsidenten Papier,
der Richterin Haas,
der Richter Hömig,
Steiner,
der Richterin Hohmann-Dennhardt,
und der Richter Hoffmann-Riem,
Bryde,
Gaier
am 6. Dezember 2005 beschlossen:
Das Urteil des Bundessozialgerichts vom 16. September 1997 - 1 RK 28/95 - verletzt den Beschwerdeführer in seinen Grundrechten aus Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip und aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes. Es wird aufgehoben. Die Sache wird an das Bundessozialgericht zurückverwiesen.
Die Bundesrepublik Deutschland hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe:
A.
1
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung für so genannte neue Behandlungsmethoden in Fällen einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung im Rahmen der ambulanten ärztlichen Versorgung.
I.
2
1. Die gesetzliche Krankenversicherung in Deutschland, der gegenwärtig etwa 62 Millionen Menschen als Pflichtversicherte und knapp neun Millionen Menschen als freiwillige Versicherte angehören, beruht auf dem Grundkonzept, dass Menschen bei Eintritt von Krankheit unabhängig von der Höhe ihrer am Prinzip der individuellen Leistungsfähigkeit ausgerichteten Beiträge eine bedarfsgerechte medizinische Versorgung erhalten. Die Versicherten tragen gemeinschaftlich das sich individuell entfaltende Risiko der Krankheit. Ihnen wird nach dem die gesetzliche Krankenversicherung prägenden Sachleistungsprinzip ein Anspruch auf Gewährung freier ärztlicher Behandlung gewährt.
3
Die für das Leistungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung maßgebliche Vorschrift des § 2 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (SGB V) in der Fassung des Gesetzes vom 19. Juni 2001 (BGBl I S. 1046) hat, soweit hier von Interesse, folgenden Wortlaut:
4
Leistungen
5
(1) Die Krankenkassen stellen den Versicherten die im Dritten Kapitel genannten Leistungen unter Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebots (§ 12) zur Verfügung, soweit diese Leistungen nicht der Eigenverantwortung der Versicherten zugerechnet werden. Behandlungsmethoden, Arznei- und Heilmittel der besonderen Therapierichtungen sind nicht ausgeschlossen. Qualität und Wirksamkeit der Leistungen haben dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zu entsprechen und den medizinischen Fortschritt zu berücksichtigen.
6
(2) Die Versicherten erhalten die Leistungen als Sach- und Dienstleistungen, soweit dieses oder das Neunte Buch nichts Abweichendes vorsehen. Über die Erbringung der Sach- und Dienstleistungen schließen die Krankenkassen nach den Vorschriften des Vierten Kapitels Verträge mit den Leistungserbringern.
7
(3) und (4) ...
8
Zu § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V führt die Gesetzesbegründung (BTDrucks 11/2237, S. 157) aus:
9
Der "allgemein anerkannte Stand der medizinischen Kenntnisse" schließt Leistungen aus, die mit wissenschaftlich nicht anerkannten Methoden erbracht werden. Neue Verfahren, die nicht ausreichend erprobt sind, oder Außenseitermethoden (paramedizinische Verfahren), die zwar bekannt sind, aber sich nicht bewährt haben, lösen keine Leistungspflicht der Krankenkasse aus. Es ist nicht Aufgabe der Krankenkassen, die medizinische Forschung zu finanzieren. Dies gilt auch dann, wenn neue Methoden im Einzelfall zu einer Heilung der Krankheit oder Linderung der Krankheitsbeschwerden führen.
10
Nach § 11 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Leistungen zur Behandlung einer Krankheit. § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V bestimmt im Zusammenhang mit den Vorschriften, die diesen Leistungsanspruch konkretisieren, dass Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung haben, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Nach § 27 Abs. 1 Satz 2 SGB V gehört zur Krankenbehandlung unter anderem die ärztliche Behandlung (Nr. 1). Die ärztliche Behandlung umfasst die Tätigkeit des Arztes, die zur Verhütung, Früherkennung und Behandlung von Krankheiten nach den Regeln der ärztlichen Kunst ausreichend und zweckmäßig ist (§ 28 Abs. 1 Satz 1 SGB V).
11
Nach dem in § 12 Abs. 1 SGB V geregelten Wirtschaftlichkeitsgebot müssen die Leistungen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen. Dem entspricht, soweit es um die Beziehungen zwischen den Krankenkassen und den Ärzten als Leistungserbringern geht, § 70 SGB V. Nach § 13 Abs. 1 SGB V darf die Krankenkasse anstelle der Sach- oder Dienstleistung Kosten nur erstatten, soweit es das SGB V oder das SGB IX vorsehen. § 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V trifft eine für den vorliegenden Fall wichtige Regelung zur Kostenerstattung. Konnte die Krankenkasse eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen oder hat sie eine Leistung zu Unrecht abgelehnt und sind dadurch Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden, sind diese von der Krankenkasse in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war. Mit der Durchbrechung des Sachleistungsgrundsatzes trägt § 13 Abs. 3 SGB V dem Umstand Rechnung, dass die gesetzlichen Krankenkassen eine umfassende Versorgung ihrer Mitglieder sicherstellen müssen (vgl. BSGE 81, 54 <56>).
12
2. a) Nach § 92 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 SGB V beschließt der Gemeinsame Bundesausschuss, der seit dem Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung vom 14. November 2003 (BGBl I S. 2190) an die Stelle der bisherigen, im Zeitpunkt der hier angegriffenen Entscheidung des Bundessozialgerichts zuständigen Bundesausschüsse getreten ist, die zur Sicherung der ärztlichen Versorgung erforderlichen Richtlinien über die Gewähr für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung der Versicherten. Er wird durch die Kassenärztlichen Bundesvereinigungen, die Deutsche Krankenhausgesellschaft, die Bundesverbände der Krankenkassen, die Deutsche Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See und die Verbände der Ersatzkassen gebildet (§ 91 Abs. 1 Satz 1 SGB V). Nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 SGB V soll er Richtlinien beschließen über die Einführung neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden. Dafür sieht § 135 Abs. 1 SGB V ein besonderes Verfahren vor. Die Vorschrift lautet wie folgt:
13
Neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden dürfen in der vertragsärztlichen und vertragszahnärztlichen Versorgung zu Lasten der Krankenkassen nur erbracht werden, wenn der Gemeinsame Bundesausschuss auf Antrag einer Kassenärztlichen Bundesvereinigung, einer Kassenärztlichen Vereinigung oder eines Spitzenverbandes der Krankenkassen in Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 Empfehlungen abgegeben hat über
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1. die Anerkennung des diagnostischen und therapeutischen Nutzens der neuen Methode sowie deren medizinische Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit - auch im Vergleich zu bereits zu Lasten der Krankenkassen erbrachte Methoden - nach dem jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse in der jeweiligen Therapierichtung,
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2. die notwendige Qualifikation der Ärzte, die apparativen Anforderungen sowie Anforderungen an Maßnahmen der Qualitätssicherung, um eine sachgerechte Anwendung der neuen Methode zu sichern, und
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3. die erforderlichen Aufzeichnungen über die ärztliche Behandlung.
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Der Gemeinsame Bundesausschuss überprüft die zu Lasten der Krankenkassen erbrachten vertragsärztlichen und vertragszahnärztlichen Leistungen daraufhin, ob sie den Kriterien nach Satz 1 Nr. 1 entsprechen. Falls die Überprüfung ergibt, dass diese Kriterien nicht erfüllt werden, dürfen die Leistungen nicht mehr als vertragsärztliche oder vertragszahnärztliche Leistungen zu Lasten der Krankenkassen erbracht werden.
18
b) Gegenwärtig gilt die "Richtlinie zur Bewertung medizinischer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden" (BUB-Richtlinie) in der Fassung vom 1. Dezember 2003. Sie ist am 23. März 2004 veröffentlicht worden (Bundesanzeiger Nr. 57) und am 24. März 2004 in Kraft getreten. In verschiedenen Anlagen werden einerseits die anerkannten Untersuchungs- und Behandlungsmethoden (Anlage A) und andererseits die Methoden aufgelistet, die nicht als vertragsärztliche Leistungen zu Lasten der Krankenkassen erbracht werden dürfen (Anlage B). Die Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses definiert Untersuchungs- und Behandlungsmethoden als neu, wenn sie noch nicht als abrechnungsfähige ärztliche Leistungen im "Einheitlichen Bewertungsmaßstab für die ärztlichen Leistungen" (EBM) enthalten sind. Er ist Bestandteil der Bundesmantelverträge nach § 87 Abs. 1 Satz 1 SGB V und enthält ein abgeschlossenes Leistungsverzeichnis. Nur die dort genannten Leistungspositionen können von den Ärzten mit der Kassenärztlichen Vereinigung abgerechnet werden.
19
c) Für das Recht des SGB V vertritt das Bundessozialgericht in inzwischen ständiger Rechtsprechung (vgl. BSGE 78, 70 <75 ff.>; 81, 54 <59 ff.>) die Auffassung, das Gesetz inkorporiere die Richtlinie unmittelbar in den Bundesmantelvertrag und die Gesamtverträge. Die Vorschriften des § 92 Abs. 1 Satz 1 SGB V über das Leistungserbringungsrecht und die leistungsrechtliche Vorschrift des § 12 Abs. 1 SGB V stünden in einem unmittelbaren sachlogischen Zusammenhang. Die Richtlinie binde den Vertragsarzt, präzisiere aber auch den Umfang der Leistungspflicht der Krankenkassen gegenüber den Versicherten. Der Umfang der zu gewährenden Krankenversorgung im Verhältnis von Versicherten zu Krankenkassen sei kein anderer als im Verhältnis der ärztlichen Leistungserbringer zu den Kassenärztlichen Vereinigungen und wiederum zu den Krankenkassen. Gemäß § 135 Abs. 1 Satz 1 SGB V in seiner Auslegung durch die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts steht gesetzlich Krankenversicherten ein Leistungsanspruch auf neue medizinische Behandlungsmethoden gegen ihre Krankenkasse nur dann zu, wenn der zuständige Bundesausschuss (jetzt: Gemeinsamer Bundesausschuss) die jeweilige Methode "zugelassen" hat. Daran sind die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit gebunden. Grundsätzlich dürfen sie nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung im einzelnen Leistungsfall nur dann prüfen, ob eine neue Behandlungsmethode medizinisch notwendig, zweckmäßig und wirtschaftlich ist, wenn im Zusammenhang mit dem Verfahren vor dem Bundesausschuss Fehler aufgetreten sind, die ein so genanntes Systemversagen begründen.
II.
20
1. Der im Juli 1987 geborene Beschwerdeführer war im streitgegenständlichen Zeitraum von 1992 bis 1994 in der Barmer Ersatzkasse als Familienangehöriger (§ 10 SGB V) versichert. Er leidet an der Duchenne'schen Muskeldystrophie (englische Abkürzung: DMD). Es handelt es dabei um eine so genannte progressive Muskeldystrophie. Darunter werden sehr variable Muskelerkrankungen zusammengefasst, die durch einen pathologischen Umbau des Gewebes mit erheblichen Funktionsstörungen gekennzeichnet sind. Die DMD ist die häufigste Form der progressiven Muskeldystrophien. Sie wird x-chromosomal-rezessiv vererbt. DMD tritt ausschließlich beim männlichen Geschlecht auf, und zwar mit einer Häufigkeit von 1 zu 3.500. Die Krankheit manifestiert sich in den ersten Lebensjahren; ihr prognostizierter Verlauf ist progredient. Mit dem Verlust der Gehfähigkeit ist normalerweise zwischen dem zehnten und zwölften Lebensjahr zu rechnen; es tritt zunehmende Ateminsuffizienz auf. Die Krankheit äußert sich auch in Wirbelsäulendeformierungen, Funktions- und Bewegungseinschränkungen von Gelenken sowie in Herzmuskelerkrankungen. Die Lebenserwartung ist stark eingeschränkt. Die Krankheit geht nach den heutigen Erkenntnissen auf das Dystrophin-Gen zurück. Üblicherweise wird nur eine symptomorientierte Behandlung (Cortisonpräparate, Operationen, Krankengymnastik) durchgeführt. Bislang gibt es keine wissenschaftlich anerkannte Therapie, die eine Heilung oder eine nachhaltige Verzögerung des Krankheitsverlaufs bewirken kann (vgl.
http://www.duchenne-forschung.de/richtli1.htm).
21
Seit September 1992 befindet sich der Beschwerdeführer in Behandlung bei Dr. B., Facharzt für Allgemeinmedizin, der über keine Zulassung zur vertragsärztlichen Versorgung verfügt. Bei dieser Behandlung werden neben Thymuspeptiden, Zytoplasma und homöopathischen Mitteln hochfrequente Schwingungen ("Bioresonanztherapie") angewandt. Bis Ende 1994 hatten die Eltern des Beschwerdeführers dafür einen Betrag von 10.000 DM aufgewandt. Die Ärzte der Orthopädischen Klinik der Technischen Hochschule A. hielten den bisherigen Krankheitsverlauf für günstig. Seit Herbst 2000 ist der Beschwerdeführer, der eine öffentliche Schule besucht, auf einen Rollstuhl angewiesen, zunächst für Wegstrecken außerhalb des Hauses, seit Frühjahr 2001 aber auch im Haus. Eine mitbetreuende Ärztin stufte seinen Gesundheitszustand trotz des Verlustes der Gehfähigkeit im Vergleich zu anderen Betroffenen als gut ein.
22
2. Der Antrag auf Übernahme der Kosten für die Therapie bei Dr. B. wurde von der zuständigen Krankenkasse abgelehnt. Im Widerspruchsverfahren hat die Krankenkasse Stellungnahmen des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Niedersachsen eingeholt. Die Kinderärztin Dr. F. vertrat in ihrer Stellungnahme nach Aktenlage die Auffassung, Muskeldystrophien seien nicht heilbar, aber behandelbar. Ein Therapieerfolg der von Dr. B. angewandten Methoden sei wissenschaftlich nicht nachgewiesen. Nach Auffassung der Fachärztin für Neurologie, Kinder- und Jugendpsychiatrie Dr. W.-V. überwog im damaligen Stadium der Erkrankung die altersbedingte motorische Weiterentwicklung gegenüber dem progredienten Krankheitsverlauf. Die Behandlung durch Dr. B. sei für die Besserung des Zustandes nicht kausal.
23
3. Die gegen das klageabweisende Urteil des Sozialgerichts eingelegte Berufung hatte Erfolg (NZS 1996, S. 74). Das Landessozialgericht holte einen Befundbericht bei der Orthopädischen Klinik der Technischen Hochschule A. ein, bei der sich der Beschwerdeführer in regelmäßigen Abständen vorstellt. Die Klinik empfahl, die Therapie wegen der günstigen Verlaufsform fortzusetzen. Ferner hörte das Gericht den behandelnden Arzt Dr. B. in der mündlichen Verhandlung als sachverständigen Zeugen. Das Landessozialgericht hob das Urteil des Sozialgerichts auf und verurteilte die beklagte Krankenkasse, dem Beschwerdeführer die ab März 1993 entstandenen Kosten für die Therapie des Dr. B. zu erstatten. Das SGB V sehe keine Begrenzung des Leistungsanspruchs des Versicherten auf die Schulmedizin vor. Aus § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V folge, dass ein gewisser Qualitätsstandard gewahrt sein müsse. Auf den allgemein anerkannten Stand der schulmedizinischen Erkenntnisse komme es aber nicht an. Ansonsten würde durch § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V die grundsätzliche Einbeziehung der besonderen Therapierichtungen in die Versorgung weitgehend in Frage gestellt. Maßgeblich könne nur sein, ob die besondere Therapierichtung nach ihrem eigenen Denkansatz plausibel sei. Dies sei hier der Fall.
24
Die Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen (im Folgenden: Bundesausschuss), die damals gegolten haben, seien nicht geeignet, den Leistungsanspruch des Versicherten zu definieren. Der Ausschuss habe nicht die Kompetenz, das Leistungsrecht zu regeln. Dafür fehle es bereits an der gesetzlichen Ermächtigung. Die im Leistungserbringungsrecht vorgesehenen Institutionen könnten das Leistungsrecht schon deswegen nicht konkretisieren, weil deren Vorschriften keine Verbindlichkeit gegenüber den Versicherten besäßen. Darüber hinaus habe der Ausschuss über drei der vier von Dr. B. zu einem Gesamtkonzept verbundenen Einzeltherapien keine Stellungnahme abgegeben. Die Auffassung, der Versicherte könne nur die Leistungen beanspruchen, über die der Ausschuss positiv entschieden habe, finde im Gesetz keine Stütze. Soweit der Ausschuss das Bioresonanzverfahren mit der Begründung abgelehnt habe, es handle sich dabei um "Mystik", stelle dies kein akzeptables Ergebnis einer ernst zu nehmenden wissenschaftlichen Diskussion dar. Eine die Therapie des Beschwerdeführers ausschließende Leistungsbegrenzung wäre im Übrigen auch verfassungswidrig.
25
4. Auf die von der beklagten Krankenkasse eingelegte Revision hat das Bundessozialgericht das Urteil des Landessozialgerichts aufgehoben und die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts zurückgewiesen (BSGE 81, 54).
26
Die Voraussetzungen des § 13 Abs. 3 SGB V für die Erstattung der Kosten der als einheitliches Behandlungskonzept einzustufenden, aber nicht den bekannten besonderen Therapierichtungen (Homöopathie, Anthroposophie, Phytotherapie) zuzurechnenden Therapie durch Dr. B. seien nicht erfüllt, weil die Krankenkasse die Leistung nicht zu Unrecht abgelehnt habe. Ein Kostenerstattungsanspruch könne nur insoweit bestehen, als die zur Anwendung gekommene Untersuchungs- oder Behandlungsmethode zu den von den gesetzlichen Krankenkassen geschuldeten Leistungen gehöre.
27
Das sei aber nicht der Fall. Dass die in Streit stehenden Behandlungen nicht zum Leistungsspektrum der gesetzlichen Krankenversicherung gehörten, ergebe sich aus § 135 Abs. 1 SGB V in Verbindung mit den Richtlinien des Bundesausschusses über die Einführung neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden, wie sie damals gegolten haben. Für neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden sehe § 135 Abs. 1 SGB V eine Art Verbot mit Erlaubnisvorbehalt vor. Neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden seien so lange von der Abrechnung zu Lasten der Krankenkasse ausgeschlossen, bis der Bundesausschuss sie als zweckmäßig anerkannt habe. Bei der streitgegenständlichen Therapie handle es sich um eine neue Behandlungsmethode. Die hier angewandte Therapie - das Bundessozialgericht bezeichnet sie als immunbiologische Therapie - sei bisher nicht Bestandteil des vertragsärztlichen Leistungsspektrums gewesen. Eine vorherige Anerkennung durch den Bundesausschuss liege bezüglich dieser Therapie nicht vor.
28
Dem stehe nicht entgegen, dass sich § 135 Abs. 1 SGB V vordergründig nicht mit dem Verhältnis zwischen Versicherten und Krankenkassen befasse. Der systematische Zusammenhang zwischen Leistungsrecht und Leistungserbringungsrecht führe dazu, dass das Leistungsrecht gegenüber dem Leistungserbringungsrecht nicht vorrangig sei. Die Regelungen im Leistungsrecht gewährten nur Rahmenrechte. Ein unmittelbar durchsetzbarer Anspruch werde nicht begründet. Das Rahmenrecht werde durch den Arzt konkretisiert, dessen Handlungsspielraum seinerseits durch die gesetzlichen Regelungen und damit auch durch die Richtlinien des Bundesausschusses abgesteckt werde. Die Vorschriften des Vertragsarztrechts einschließlich der Richtlinien des Bundesausschusses bestimmten den Leistungsanspruch für Krankenkassen, Leistungserbringer und Versicherte gleichermaßen verbindlich. Unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten sei es nicht zu beanstanden, dass § 135 Abs. 1 SGB V die für die vertragsärztliche Behandlung freigegebenen neuen Methoden nicht selbst nenne, sondern insoweit auf die Richtlinien verweise. Diese seien nunmehr in die Bundesmantelverträge und die Gesamtverträge über die vertragsärztliche Versorgung eingegliedert und nähmen an deren normativer Wirkung teil. Für die vertragsunterworfenen Krankenkassen und Vertragsärzte setzten sie unmittelbar verbindliches, außenwirksames Recht. Die im Schrifttum dagegen geäußerten verfassungsrechtlichen Einwände teile das Gericht nicht.
29
Angesichts der Verbindlichkeit der Richtlinien auch im Verhältnis zum Versicherten sei dem Versicherten, der sich eine vom Bundesausschuss nicht empfohlene Behandlung auf eigene Rechnung beschaffe, im Kostenerstattungsverfahren der Einwand abgeschnitten, die Methode sei gleichwohl zweckmäßig und in seinem konkreten Fall wirksam gewesen oder lasse einen Behandlungserfolg zumindest als möglich erscheinen. Etwas anderes gelte nur dann, wenn ein Systemmangel vorliege. Davon sei insbesondere auszugehen, wenn der Bundesausschuss innerhalb vertretbarer Zeit noch keine Stellungnahme zu einer Behandlungsmethode abgegeben habe, etwa weil er eine solche aus willkürlichen Erwägungen blockiere oder verzögere. Anhaltspunkte dafür bestünden im vorliegenden Fall nicht.
30
Allerdings habe der Beschwerdeführer bislang keine Gelegenheit gehabt, hierzu Stellung zu nehmen, weil es nach der bisherigen Rechtsauffassung des Bundessozialgerichts darauf nicht angekommen sei. Eine Zurückverweisung an das Berufungsgericht sei jedoch entbehrlich, weil bereits jetzt davon ausgegangen werden könne, dass die Methode von Dr. B. nicht dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entspreche. Für die immunbiologische Therapie lägen Wirksamkeitsnachweise nicht vor. Allerdings stoße ein Wirksamkeitsnachweis für eine Behandlung der DMD auf erhebliche Schwierigkeiten. Letztlich könne der Verlauf der Krankheit weder erklärt noch gezielt beeinflusst werden; nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse komme bestenfalls eine symptomatische Behandlung in Frage. Beschränkten sich die Einwirkungsmöglichkeiten anerkannter Behandlungsmethoden wie hier auf eine mehr oder weniger vorübergehende und nur begrenzt objektivierbare Unterdrückung der Krankheitssymptome, genüge es nicht, sich zur Ablehnung der Kostenerstattung für noch nicht empfohlene Methoden auf den fehlenden oder mangelhaften Wirksamkeitsnachweis zu berufen. Maßstab könne dann nur entweder die naturwissenschaftlich-medizinische Prüfung oder die Bewertung der Methode durch die Verwaltung und die Gerichte sein oder die Feststellung, ob der neuen Methode in der medizinischen Fachdiskussion bereits ein solches Gewicht zukomme, dass eine Überprüfung und Entscheidung durch den Bundesausschuss veranlasst gewesen wäre.
31
Dieser letztgenannte Prüfungsansatz richte sich nicht an medizinischen Kategorien aus, sondern an der tatsächlichen Verbreitung in der Praxis und in der fachlichen Diskussion. Daran sei hier anzuknüpfen. Es könne nicht Sinn eines Gerichtsverfahrens sein, die Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft voranzutreiben oder in wissenschaftlichen Auseinandersetzungen Position zu beziehen. Eine Behandlungsmethode sei dann erstattungsfähig, wenn sie in der medizinischen Fachdiskussion eine breite Resonanz gefunden habe und von einer erheblichen Anzahl von Ärzten angewandt werde. Die von Dr. B. eingesetzte Behandlungsmethode erfülle diese Voraussetzungen nicht.
32
5. Gegen dieses Urteil richtet sich die Verfassungsbeschwerde. Der Beschwerdeführer rügt die Verletzung von Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 sowie von Art. 2 Abs. 2 Satz 1, Art. 14 Abs. 1 und Art. 103 Abs. 1 GG.
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Pflichtleistungen der gesetzlichen Krankenversicherung unterlägen dem Eigentumsschutz des Art. 14 GG. Sie seien ein Äquivalent eigener Arbeit und Leistung. Aus Art. 14 Abs. 1 GG folge ein verfassungsrechtlich garantierter Anspruch des Versicherten auf Gewährung von Krankenbehandlung im Fall von Krankheit. Die Regelungen des SGB V seien als Inhaltsbestimmung zu sehen. § 2 Abs. 1 Satz 3 und § 12 Abs. 1 SGB V begrenzten die Leistungsansprüche auf solche Behandlungen, die nach Qualität und Wirksamkeit dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprächen und darüber hinaus das Wirtschaftlichkeitsgebot beachteten. Weiter gehende Einschränkungen durch die Richtlinien des Bundesausschusses seien nicht möglich. Eine entsprechende normative Wirkung lasse sich weder einfach-rechtlich noch verfassungsrechtlich begründen.
34
Somit dürfe das Begehren des Beschwerdeführers nur am Maßstab des § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V gemessen werden. Dabei sei der jeweilige Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse in der jeweiligen Therapierichtung maßgeblich. Das Landessozialgericht habe in seinem Urteil, an dessen tatsächliche Feststellungen das Bundessozialgericht gebunden sei, festgestellt, dass die Behandlung des Beschwerdeführers über eine solche so genannte Binnenanerkennung verfüge. Aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG resultiere das Recht des Beschwerdeführers, selbstbestimmt über seine Behandlung zu entscheiden. Da die Richtlinien des Bundesausschusses nicht zur verfassungsmäßigen Ordnung gehörten, könne ein Leistungsanspruch nicht von einer Anerkennung durch sie abhängig gemacht werden. Aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG folge, dass bei der Ausfüllung des Rahmenrechts auf Krankenbehandlung solche Maßnahmen zu berücksichtigen seien, die zumindest geeignet seien, die Verschlimmerung einer Krankheit zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Das treffe nach den Feststellungen des Landessozialgerichts auf die Behandlung des Beschwerdeführers zu.
35
Auch sei Art. 103 Abs. 1 GG verletzt. Soweit nunmehr das Bundessozialgericht auch auf die Verbreitung der Methode abstelle, sei dies für den Beschwerdeführer völlig überraschend gewesen. Da die Kriterien in dem Urteil erstmals festgelegt worden seien, hätten weder das Berufungsgericht noch er selbst Veranlassung gehabt, dazu Stellung zu nehmen. Der Rechtsstreit hätte daher zur weiteren Sachverhaltsaufklärung an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden müssen.
III.
36
Zur Verfassungsbeschwerde haben die Bundesregierung, der AOK-Bundesverband, die Barmer Ersatzkasse als Beklagte des Ausgangsverfahrens und der Verband der privaten Krankenversicherung Stellung genommen. Der Bundesausschuss und der Gemeinsame Bundesausschuss haben ihnen vom Bundesverfassungsgericht gestellte Fragen beantwortet.
37
1. Die Bundesregierung sieht sowohl die bedarfsgerechte Verteilung der begrenzten Mittel als auch die finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung gefährdet, wenn neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden in der vertragsärztlichen Versorgung anerkannt würden, deren Nutzen wissenschaftlich nicht belegt sei. Mit § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V verfolge das Gesetz neben dem gesundheitspolitischen Ziel der Qualitätsverbesserung insbesondere das finanzpolitische Ziel der Kostendämpfung. Nur bei dessen konsequenter Verfolgung sei gewährleistet, dass allen Versicherten eine dem medizinisch-technischen Fortschritt entsprechende medizinische Versorgung zur Verfügung gestellt werden könne. Es dürfe nicht sein, dass die Solidargemeinschaft der Versicherten mit den Kosten einer Behandlung belastet würde, deren medizinischer Nutzen nicht belegt sei.
38
Das gelte auch dann, wenn die Wirksamkeit im Einzelfall nachgewiesen oder zumindest sehr wahrscheinlich sei. Bei der Bewertung eines lediglich im Einzelfall eingesetzten Verfahrens könne eine positive Veränderung sowohl wegen als auch trotz der ergriffenen Maßnahme eingetreten sein; es sei nicht möglich, beobachtete Wirkungen auf die durchgeführte Maßnahme zurückzuführen. Jede Aussage über die Wirksamkeit einer Behandlungsmethode erfordere einen Vergleich; denn nur so lasse sich beurteilen, ob der beobachtete klinisch relevante Effekt auf die medizinische Intervention zurückzuführen oder ob er als Spontanverlauf oder Placebo-Effekt zu werten sei. Eine solche Einzelfallbetrachtung würde in eine Therapiebeliebigkeit münden.
39
2. Nach Auffassung des AOK-Bundesverbands, der sich auch im Namen der übrigen Spitzenverbände der Krankenkassen geäußert hat, verletze die angegriffene Entscheidung des Bundessozialgerichts den Beschwerdeführer weder in Grundrechten noch in grundrechtsähnlichen Rechten.
40
Aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ergebe sich kein verfassungsrechtlicher Anspruch gegen die Krankenkasse auf Bereitstellung bestimmter Gesundheitsleistungen. Zwar folge aus ihm eine objektiv-rechtliche Pflicht des Staates, sich schützend und fördernd vor das Rechtsgut des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG zu stellen. Angesichts des weiten Gestaltungsspielraums bei der Erfüllung der Schutzpflichten könne aber nur geprüft werden, ob die öffentliche Gewalt Vorkehrungen zum Schutz der Grundrechte treffe, die nicht völlig ungeeignet oder unzulänglich seien.
41
Die Richtlinien des Bundesausschusses beschränkten den Leistungsanspruch des Versicherten nicht, sondern konkretisierten ihn lediglich. Unmittelbar aus dem Gesetz ergebe sich kein Leistungsanspruch. Dieser werde in den meisten Fällen erst durch die zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern geschlossenen Verträge und Richtlinien konkret ausgestaltet. § 135 Abs. 1 SGB V gestalte unmittelbar das Leistungsrecht. Das Bundessozialgericht gehe in der angegriffenen Entscheidung gerade nicht davon aus, die Richtlinien des Bundesausschusses verkörperten Akte autonomer Rechtsetzung im Rahmen einer Satzungsautonomie. Vielmehr qualifiziere es sie als untergesetzliche Rechtsnormen und damit als materielles Recht eigener Art. Einen numerus clausus zulässiger Rechtsetzungsformen sehe das Grundgesetz nicht vor. Weitere Typen untergesetzlicher Rechtsnormen seien jedenfalls unter bestimmten Voraussetzungen zulässig; zu ihnen gehörten auch die Richtlinien des Bundesausschusses. Sie seien Teil eines historisch gewachsenen umfassenden Gefüges untergesetzlicher Normen der gemeinsamen Selbstverwaltung zwischen Krankenkassen und Ärzten, dessen Wurzeln bis in die vorkonstitutionelle Zeit zurückreichten.
42
3. Die Barmer Ersatzkasse sieht den Beschwerdeführer nicht in Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten verletzt. Der Bundesausschuss sei paritätisch mit Vertretern der Ärzte und der Krankenkassen, zwei weiteren unparteiischen Mitgliedern sowie einem ebenfalls unparteiischen Vorsitzenden besetzt. Die Prüfung von Behandlungsmethoden, die bisher noch nicht Gegenstand der vertragsärztlichen Versorgung gewesen seien, erfolge unter Berücksichtigung des allgemein anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnis. Eine Ablehnung durch den Bundesausschuss bedeute zugleich auch, dass die abgelehnte Außenseitermethode nicht zur notwendigen Krankenbehandlung gehöre, so dass die Versicherten nach Maßgabe des § 27 SGB V keinen Anspruch gegenüber der Krankenkasse hätten. Die Richtlinien stellten somit außenwirksames Recht dar. Der Bundesausschuss sei hierfür auch verfassungsrechtlich ausreichend legitimiert.
43
4. Nach Auskunft des Verbandes der privaten Krankenversicherung sind in der privaten Krankenversicherung, sowohl in der Voll- als auch in der Zusatzversicherung, nach den einschlägigen Musterbedingungen Kosten alternativer Behandlungsmethoden in jedem Krankheitsfall dann erstattungsfähig, wenn sie sich in der Praxis als ebenso Erfolg versprechend bewährt hätten wie schulmedizinische Verfahren und wenn die Alternativmethode keine höheren Kosten verursache. Darüber hinaus seien die Kosten alternativer Behandlungsmethoden dann zu erstatten, wenn es sich um unheilbare Erkrankungen handle, für die keine schulmedizinischen Methoden oder Arzneimittel zur Verfügung stünden. Dies dürfte nach Einschätzung des Verbandes nur vergleichsweise selten der Fall sein, weil die schulmedizinischen Behandlungsformen nicht nur die Heilung, sondern auch die Linderung, Besserung und Verhinderung einer Verschlechterung umfassten. Im Übrigen müsse auch die Heilbehandlung nach alternativen Methoden auf einem nach medizinischen Erkenntnissen nachvollziehbaren Ansatz beruhen, der die prognostizierte Wirkungsweise auf das angestrebte Behandlungsziel zu erklären vermöge. Dabei reiche es aus, wenn die Erreichung des Behandlungsziels mit einer nicht nur ganz geringen Erfolgsaussicht möglich erscheine.
44
Für das Vorliegen dieser Voraussetzungen sei der Versicherungsnehmer nachweispflichtig. Dabei dürfte die Berufung auf die "Binnenanerkennung" abzulehnen sein, weil mit diesem Verfahren die medizinische Wirksamkeit und Notwendigkeit jeder neuen Alternativmethode zwangsläufig bejaht würde. Vielmehr müsse eine objektive Bewertung der Erforderlichkeit möglich sein und die medizinische Notwendigkeit einer Heilbehandlung vom Standpunkt der Schulmedizin aus beurteilt werden. Dabei seien noch nicht abschließend gesicherte Erkenntnisse mit zu berücksichtigen. Neben den üblichen Versicherungen gebe es im Übrigen Spezialtarife, die bestimmte Leistungen aus dem Spektrum der besonderen Therapierichtungen ausdrücklich zusagten.
45
5. Der Bundesausschuss und der Gemeinsame Bundesausschuss haben auf die Fragen des Bundesverfassungsgerichts eingehend geantwortet und insbesondere ausgeführt: Eine Kostenübernahme durch die gesetzliche Krankenversicherung in Fällen, in denen eine nicht allgemein wissenschaftlich anerkannte Methode im konkreten Fall Wirkung zeige, werde nicht befürwortet. Der Wirkungsnachweis im Einzelfall sei nicht zu führen. Der vermeintliche Erfolg einer Therapie stelle sich oftmals nur als positive Krankheitsentwicklung heraus, die kurze Zeit später durch einen Rückfall in die alten Leiden beendet werde. Selbst wenn eine Krankheit als ausgeheilt gelten könne, sei es nicht möglich nachzuweisen, dass der Heilerfolg auf die gewählte Behandlungsmethode zurückzuführen sei. Das liege daran, dass Krankheiten in vielen Fällen in einem nicht vorhersehbaren
oder rekonstruierbaren Spontanverlauf heilten. Bekannt sei auch die Wirkung von Behandlungen ohne medizinisch-physischen Ursachenzusammenhang (Placebo-Effekt).
46
Würde sich die Ansicht durchsetzen, die Krankenkassen seien auch bei Wirkung einer Methode im Einzelfall zur Kostentragung verpflichtet, sähe man sich mit dem Grundproblem konfrontiert, dass sich die Wirkung einer Therapie allenfalls ex post feststellen lasse, Arzt und Patient aber vor dem Behandlungsbeginn die geeignete Therapie bestimmen müssten. Eine Kostenerstattung aufgrund eines Wirksamkeitsnachweises im Einzelfall würde die medizinisch unverantwortliche Entscheidung für unerforschte, riskante Methoden mit geringer Wirkungswahrscheinlichkeit bei Auftreten eines eher zufälligen Behandlungserfolgs belohnen. Zudem wäre der Patient, bei dem die Methode zufällig nicht angeschlagen habe, finanziell benachteiligt. Des Weiteren würden unkontrollierte Heilversuche zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung unterstützt. Schließlich würde eine Flut von Rechtsstreiten darüber ausgelöst, ob ein Behandlungserfolg vorliege und was die Ursache für ihn gewesen sei.
B.
47
Die Verfassungsbeschwerde ist begründet. Das Urteil des Bundessozialgerichts beruht auf einer Auslegung der leistungsrechtlichen Vorschriften des § 1 Satz 1, § 2 Abs. 1, § 11 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 und § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V, die mit Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG) sowie mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht vereinbar ist.
I.
48
1. a) Vorrangiger Maßstab für die verfassungsrechtliche Prüfung ist Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem grundgesetzlichen Sozialstaatsprinzip.
49
Das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit ist betroffen, wenn der Gesetzgeber Personen der Pflichtversicherung in einem System der sozialen Sicherheit unterwirft (vgl. BVerfGE 29, 221 <235 f.>; 29, 245 <254>; 29, 260 <266 f.>; 109, 96 <109 f.>; stRspr). Dies gilt auch für die Begründung der Pflichtmitgliedschaft mit Beitragszwang in der gesetzlichen Krankenversicherung.
50
Auch Regelungen, die das öffentlich-rechtliche Sozialversicherungsverhältnis, vor allem in Bezug auf die Beiträge der Versicherten und die Leistungen des Versicherungsträgers, näher ausgestalten, sind am Grundrecht des Art. 2 Abs. 1 GG zu messen (vgl. BVerfGE 75, 108 <154>; 97, 271 <286 f.>; 106, 275 <304 f.>). Sein Schutzbereich wird berührt, wenn der Gesetzgeber durch die Anordnung von Zwangsmitgliedschaft und Beitragspflicht in einem öffentlich-rechtlichen Verband der Sozialversicherung die allgemeine Betätigungsfreiheit des Einzelnen durch Einschränkung ihrer wirtschaftlichen Voraussetzungen nicht unerheblich einengt (vgl. BVerfGE 97, 271 <286>). Ein solcher Eingriff bedarf der Rechtfertigung durch eine entsprechende Ausgestaltung der ausreichenden solidarischen Versorgung, die den Versicherten für deren Beitrag im Rahmen des Sicherungszwecks des Systems zu erbringen ist. Für die Hinterbliebenenrenten der gesetzlichen Rentenversicherung hat das Bundesverfassungsgericht Art. 2 Abs. 1 GG als verfassungsrechtlichen Maßstab herangezogen, wenn der Gesetzgeber gesetzlich zugesagte und beitragsfinanzierte Leistungen dieses Versicherungszweigs wesentlich vermindert (vgl. BVerfGE 97, 271 <286>). In Bezug auf die gesetzliche Krankenversicherung ist verfassungsgerichtlich entschieden, dass eine gesetzliche Regelung das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit des Versicherten berührt, wenn die Freiheit zur Auswahl unter Arznei- und Hilfsmitteln, die ihm als Sachleistung zur Verfügung gestellt werden, eingeschränkt wird (vgl. BVerfGE 106, 275 <304 f.>).
51
Der in einem System der Sozialversicherung Pflichtversicherte hat typischerweise keinen unmittelbaren Einfluss auf die Höhe seines Beitrags und auf Art und Ausmaß der ihm im Versicherungsverhältnis geschuldeten Leistungen. In einer solchen Konstellation der einseitigen Gestaltung der Rechte und Pflichten der am Versicherungsverhältnis Beteiligten durch Gesetz (vgl. § 31 SGB I) und durch die auf ihm beruhenden Rechtsakte der Leistungskonkretisierung, schützt das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG den beitragspflichtigen Versicherten vor einer Unverhältnismäßigkeit von Beitrag und Leistung. Daraus lässt sich in der gesetzlichen Krankenversicherung zwar kein verfassungsrechtlicher Anspruch auf bestimmte Leistungen der Krankenbehandlung ableiten. Jedoch sind gesetzliche oder auf Gesetz beruhende Leistungsausschlüsse und Leistungsbegrenzungen daraufhin zu prüfen, ob sie im Rahmen des Art. 2 Abs. 1 GG gerechtfertigt sind. Gleiches gilt, wenn die gesetzlichen Leistungsvorschriften - wie hier - durch die zuständigen Fachgerichte eine für den Versicherten nachteilige Auslegung und Anwendung erfahren.
52
b) Bei der näheren Bestimmung und Entfaltung der dargestellten Schutzfunktion des Art. 2 Abs. 1 GG kommt dem grundgesetzlichen Sozialstaatsprinzip maßgebliche Bedeutung zu. Der Schutz des Einzelnen in Fällen von Krankheit ist in der sozialstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes eine Grundaufgabe des Staates. Ihr ist der Gesetzgeber nachgekommen, indem er durch Einführung der gesetzlichen Krankenversicherung als öffentlich-rechtlicher Pflichtversicherung für den Krankenschutz eines Großteils der Bevölkerung, Sorge getragen und die Art und Weise der Durchführung dieses Schutzes geregelt hat (vgl. BVerfGE 68, 193 <209>). In Konkretisierung des Sozialstaatsprinzips richtet er die Beiträge an der - regelmäßig durch das Arbeitsentgelt oder die Rente bestimmten - wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des einzelnen Versicherten (§ 226 SGB V) und nicht am individuellen Risiko aus (vgl. BVerfGE 103, 172 <185>), ist ferner auf Stabilität der Beitragssätze bedacht (§ 71 SGB V), wirkt auf Beitragssenkungen hin (§ 220 Abs. 4 SGB V) und nimmt auch bei der Ausgestaltung der Verpflichtung zur Erbringung von Zuzahlungen zu gesetzlichen Leistungen (vgl. § 61 SGB V) auf die soziale Situation des Einzelnen Rücksicht (§ 62 SGB V). Damit geht der Gesetzgeber davon aus, dass den Versicherten regelmäßig erhebliche finanzielle Mittel für eine zusätzliche selbständige Vorsorge im Krankheitsfall und insbesondere für die Beschaffung von notwendigen Leistungen der Krankenbehandlung außerhalb des Leistungssystems der gesetzlichen Krankenversicherung nicht zur Verfügung stehen.
53
In der sozialen Krankenversicherung sind abhängig Beschäftigte mit mittleren und niedrigen Einkommen sowie Rentner pflichtversichert (vgl. BVerfGE 103, 172 <185>). Die gesetzliche Krankenversicherung erfasst nach der gesetzlichen Typisierung jedenfalls die Personengruppen, die wegen ihrer niedrigen Einkünfte eines Schutzes für den Fall der Krankheit bedürfen, der durch Zwang zur Eigenvorsorge erreicht werden soll (vgl. BVerfGE 102, 68 <89>). Mit dieser Versicherungsform wird auch einkommensschwachen Bevölkerungsteilen ein voller Krankenversicherungsschutz zu moderaten Beiträgen ermöglicht (vgl. BVerfGE 103, 172 <185>). Es bedarf daher einer besonderen Rechtfertigung vor Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip, wenn dem Versicherten Leistungen für die Behandlung einer Krankheit und insbesondere einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung durch gesetzliche Bestimmungen oder durch deren fachgerichtliche Auslegung und Anwendung vorenthalten werden.
54
Dabei macht es grundsätzlich keinen Unterschied, ob es um den Leistungsanspruch eines Versicherten oder - wie hier - einer nach § 10 SGB V mitversicherten Person (vgl. dazu BVerfGE 107, 205 <206 f.>) geht. Der Beitrag wird zwar in diesem Fall vom Versicherten gezahlt, der dadurch jedoch seiner Pflicht zum Unterhalt nachkommt, zu dem auch der Aufwand für einen angemessenen Krankenversicherungsschutz gehört (vgl. BVerfGE 107, 205 <217>).
55
c) Maßstab für die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit des Leistungsrechts der gesetzlichen Krankenversicherung und seiner fachgerichtlichen Auslegung und Anwendung im Einzelfall sind darüber hinaus auch die Grundrechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG. Zwar folgt aus diesen Grundrechten regelmäßig kein verfassungsrechtlicher Anspruch gegen die Krankenkassen auf Bereitstellung bestimmter und insbesondere spezieller Gesundheitsleistungen (vgl. BVerfGE 77, 170 <215>; 79, 174 <202>; BVerfG, Beschlüsse der 2. Kammer des Ersten Senats vom 5. März 1997, NJW 1997, S. 3085; MedR 1997, S. 318 <319> und vom 15. Dezember 1997, NJW 1998, S. 1775 <1776>). Die Gestaltung des Leistungsrechts der gesetzlichen Krankenversicherung hat sich jedoch an der objektiv-rechtlichen Pflicht des Staates zu orientieren, sich schützend und fördernd vor die Rechtsgüter des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG zu stellen (vgl. BVerfGE 46, 160 <164>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 15. Dezember 1997, a.a.O.; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 22. November 2002, NJW 2003, S. 1236 <1237>; Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 19. März 2004, NJW 2004, S. 3100 <3101>). Insofern können diese Grundrechte in besonders gelagerten Fällen die Gerichte zu einer grundrechtsorientierten Auslegung der maßgeblichen Vorschriften des Krankenversicherungsrechts verpflichten (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 14. August 1998, NJW 1999, S. 857 f.).
56
Dies gilt insbesondere in Fällen der Behandlung einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung. Denn das Leben stellt einen Höchstwert innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung dar (vgl. BVerfGE 39, 1 <42>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 11. August 1999, NJW 1999, S. 3399 <3401>). Behördliche und gerichtliche Verfahren müssen dieser Bedeutung und der im Grundrecht auf Leben enthaltenen grundlegenden objektiven Wertentscheidung (vgl. BVerfGE 39, 1 <41>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 19. März 2004, NJW 2004, S. 3100 <3101>) gerecht werden und sie bei der Auslegung und Anwendung der maßgeblichen Vorschriften des Krankenversicherungsrechts berücksichtigen (vgl. BVerfGE 53, 30 <65>; zur Frage eines originären Leistungsanspruchs aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG vgl. auch Schmidt-Aßmann, Grundrechtspositionen und Legitimationsfragen im öffentlichen Gesundheitswesen, 2001, S. 23 ff. m.w.N.).
57
2. a) Danach ist es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass die gesetzliche Krankenversicherung den Versicherten Leistungen nach Maßgabe eines allgemeinen Leistungskatalogs (§ 11 SGB V) nur unter Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebots (§ 12 SGB V) zur Verfügung stellt, soweit diese Leistungen nicht der Eigenverantwortung der Versicherten zugerechnet werden (§ 2 Abs. 1 Satz 1 SGB V). Gleiches gilt für die Entscheidung des Gesetzgebers, die nähere Konkretisierung der durch unbestimmte Gesetzesbegriffe festgelegten Leistungsverpflichtung im Einzelfall im Rahmen der kassenärztlichen Vorgaben, insbesondere der kassenärztlichen Verträge (§§ 82 ff., 87, 125, 127, 131 SGB V), vor allem den Ärzten vorzubehalten (vgl. § 15 Abs. 1 Satz 1 SGB V; BSGE 73, 271), die an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmen (§ 95 SGB V; vgl. auch BVerfGE 106, 275 <277, 303, 308>). Dem Arzt kommt dabei nicht nur die Feststellung des Eintritts des Versicherungsfalls Krankheit zu, sondern auch und gerade die von ihm zu verantwortende Einleitung, Durchführung und Überwachung einer den Zielen des § 27 Abs. 1 SGB V gerecht werdenden Behandlung (vgl. BSGE 82, 158 <161 f.>). Es steht auch mit dem Grundgesetz im Einklang, wenn der Gesetzgeber vorsieht, dass die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich zu sein haben und nicht das Maß des Notwendigen überschreiten dürfen (§ 12 Abs. 1 Satz 1 SGB V).
58
b) Der Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung darf auch von finanzwirtschaftlichen Erwägungen mitbestimmt sein (vgl. BVerfGE 68, 193 <218>; 70, 1 <26, 30>). Gerade im Gesundheitswesen hat der Kostenaspekt für gesetzgeberische Entscheidungen erhebliches Gewicht (vgl. BVerfGE 103, 172 <184>). Dem Gesetzgeber ist es im Rahmen seines Gestaltungsspielraums grundsätzlich erlaubt, den Versicherten über den Beitrag hinaus zur Entlastung der Krankenkassen und zur Stärkung des Kostenbewusstseins in der Form von Zuzahlungen zu bestimmten Leistungen zu beteiligen, jedenfalls, soweit dies dem Einzelnen finanziell zugemutet werden kann (vgl. BVerfGE 70, 1 <30>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 7. März 1994, NJW 1994, S. 3007). Die gesetzlichen Krankenkassen sind nicht von Verfassungs wegen gehalten, alles zu leisten, was an Mitteln zur Erhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit verfügbar ist (vgl. auch BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 5. März 1997, NJW 1997, S. 3085).
59
c) Es ist dem Gesetzgeber schließlich nicht von Verfassungs wegen verwehrt, zur Sicherung der Qualität der Leistungserbringung, im Interesse einer Gleichbehandlung der Versicherten und zum Zweck der Ausrichtung der Leistungen am Gesichtspunkt der Wirtschaftlichkeit ein Verfahren vorzusehen, in dem neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden in der vertragsärztlichen Versorgung auf ihren diagnostischen und therapeutischen Nutzen sowie ihre medizinische Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit nach dem jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse sachverständig geprüft werden, um die Anwendung dieser Methoden zu Lasten der Krankenkassen auf eine fachlich-medizinisch zuverlässige Grundlage zu stellen.
60
Ob für die Erfüllung dieser Aufgabe das nach § 135 SGB V vorgesehene Verfahren der Entscheidung durch den Gemeinsamen Bundesausschuss verfassungsrechtlichen Anforderungen genügt (vgl. auch BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 19. März 2004, NJW 2004, S. 3100 <3101>), ist hier nicht zu entscheiden. Das Bundessozialgericht hat in dem mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Urteil zur Begründung seiner Entscheidung im Ergebnis allein darauf abgestellt, dass die umstrittene Behandlungsmethode nicht dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Forschung entspreche und keine erfahrungsgemäß wirksame Methode sei. Davon hat die verfassungsrechtliche Beurteilung auszugehen. Das Bundesverfassungsgericht hat daher keinen Anlass zu prüfen, ob die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zur demokratischen Legitimation der Bundesausschüsse und des Gemeinsamen Bundesausschusses und zur rechtlichen Qualität der von ihnen erlassenen Richtlinien als außenwirksamen untergesetzlichen Rechtssätzen (vgl. dazu BSGE 78, 70 <74 ff.>; 81, 54 <59 ff.>; 81, 73 <76 ff.>) mit dem Grundgesetz in Einklang steht (siehe dazu aus dem umfangreichen Schrifttum Axer, Normsetzung der Exekutive in der Sozialversicherung, 2000, S. 119 ff., 153 ff.; Hänlein, Rechtsquellen im Sozialversicherungsrecht, 2001, S. 454 ff.; Schnapp, in: von Wulffen/Krasney <Hrsg.>, Festschrift 50 Jahre Bundessozialgericht, 2004, S. 497 ff.; Hase, MedR 2005, S. 391; Rixen, Sozialrecht als öffentliches Wirtschaftsrecht, 2005, S. 176 ff., jeweils m.w.N.).
61
3. Das angegriffene Urteil des Bundessozialgerichts genügt jedoch nicht den Anforderungen aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip sowie aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und verletzt den Beschwerdeführer in seinem Recht auf eine Leistungserbringung durch die gesetzliche Krankenversicherung, die dem Schutz seines Lebens gerecht wird.
62
a) Nicht zu entscheiden ist dabei, ob die Annahme des Bundessozialgerichts, wegen des eindeutigen Wortlauts des § 135 Abs. 1 SGB V sei die Anwendung einer neuen Behandlungsmethode durch die Leistungserbringer im System der gesetzlichen Krankenversicherung von der vorherigen Anerkennung durch den Bundesausschuss abhängig (vgl. BSGE 81, 54 <57 ff.>; 86, 54 <56>; BSG SozR 4-2500 § 135 Nr. 1), mit dem Grundgesetz auch in den Fällen vereinbar ist, in denen die medizinische Wissenschaft wegen der Eigenart der lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Krankheit über eine wissenschaftlich gesicherte, an Gesichtspunkten der statistischen Evidenz, gegebenenfalls auch niedrigerer Evidenzstufen bei seltenen Krankheiten (vgl. § 20 Abs. 2 Satz 3 der Verfahrensordnung des Gemeinsamen Bundesausschusses in der Fassung vom 20. September 2005), ausgerichtete Therapie auf der Grundlage klinischer oder sonstiger Studien nicht oder noch nicht verfügt (vgl. auch BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 19. März 2004, NJW 2004, S. 3100 <3101>). Denn das Bundessozialgericht stellt in Fällen, in denen - wie hier - eine solche Anerkennung nicht vorliegt und auch kein Fall eines so genannten Systemmangels (vgl. BSGE 81, 54 <65 f.>; 86, 54 <60 ff.>; 88, 51 <61 f.>) gegeben ist, entscheidend darauf ab, ob sich die Methode in der medizinischen Praxis durchgesetzt hat. Ist dies nicht der Fall, dann lehnt das Gericht, wie in der angegriffenen Entscheidung, die Annahme einer gesetzlichen "Versorgungslücke" ab, die durch eine richterliche Entscheidung im Einzelfall zu schließen wäre. Damit wird - wie sich aus der weiteren Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zeigt - die Übernahme von Kosten durch die gesetzlichen Krankenkassen auch in den Fällen einer lebensbedrohlichen oder vorhersehbar tödlich verlaufenden Krankheit ausgeschlossen, für die eine dem allgemein anerkannten medizinischen Standard entsprechende Behandlungsmethode nicht existiert (vgl. BSGE 86, 54 <66>), der behandelnde Arzt jedoch eine Methode zur Anwendung bringt, die nach seiner Einschätzung im Einzelfall den Krankheitsverlauf positiv zu Gunsten des Versicherten beeinflusst.
63
b) Dies steht nicht im Einklang mit dem Grundgesetz.
64
aa) Es ist mit Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem grundgesetzlichen Sozialstaatsprinzip nicht vereinbar, den Einzelnen unter den Voraussetzungen des § 5 SGB V einer Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung zu unterwerfen und für seine an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ausgerichteten Beiträge die notwendige Krankheitsbehandlung gesetzlich zuzusagen, ihn andererseits aber, wenn er an einer lebensbedrohlichen oder sogar regelmäßig tödlichen Erkrankung leidet, für die schulmedizinische Behandlungsmethoden nicht vorliegen, von der Leistung einer bestimmten Behandlungsmethode durch die Krankenkasse auszuschließen und ihn auf eine Finanzierung der Behandlung außerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung zu verweisen. Dabei muss allerdings die vom Versicherten gewählte andere Behandlungsmethode eine auf Indizien gestützte, nicht ganz fern liegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf versprechen. Ein solcher Fall ist hier gegeben. Für die Behandlung der Duchenne'schen Muskeldystrophie steht gegenwärtig allein ein symptomatisches Therapiespektrum zur Verfügung, zu dem auch operative Maßnahmen gehören. Eine unmittelbare Einwirkung auf die Krankheit und ihren Verlauf mit gesicherten wissenschaftlichen Methoden, ist noch nicht möglich (vgl.
http://www.duchenne-forschung.de/richtli1.htm).
65
bb) Die angegriffene Auslegung der leistungsrechtlichen Vorschriften des SGB V durch das Bundessozialgericht ist in der extremen Situation einer krankheitsbedingten Lebensgefahr auch nicht mit der Schutzpflicht des Staates für das Leben aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG zu vereinbaren. Übernimmt der Staat mit dem System der gesetzlichen Krankenversicherung Verantwortung für Leben und körperliche Unversehrtheit der Versicherten, so gehört die Vorsorge in Fällen einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung unter den genannten Voraussetzungen zum Kernbereich der Leistungspflicht und der von Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG geforderten Mindestversorgung (vgl. auch Wiedemann, in: Umbach/Clemens <Hrsg.>, Grundgesetz, Bd. I, 2002, Art. 2 Rn. 376; Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Bd. I, Art. 2 Abs. 2 Rn. 94 <Bearbeitungsstand:
Februar 2004>; Schmidt-Aßmann, NJW 2004, S. 1689 <1691>).
66
c) Die im Streitfall vom Versicherten angerufenen Sozialgerichte haben in solchen Fällen, gegebenenfalls mit sachverständiger Hilfe, zu prüfen, ob es für die vom Arzt nach gewissenhafter fachlicher Einschätzung vorgenommene oder von ihm beabsichtigte Behandlung ernsthafte Hinweise auf einen nicht ganz entfernt liegenden Erfolg der Heilung oder auch nur auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf im konkreten Einzelfall gibt (vgl. auch Schulin, in: Schulin <Hrsg.>, Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd. 1: Krankenversicherungsrecht, 1994, § 6 Rn. 22). Solche Hinweise auf einen individuellen Wirkungszusammenhang können sich aus dem Gesundheitszustand des Versicherten im Vergleich mit dem Zustand anderer, in gleicher Weise erkrankten, aber nicht mit der in Frage stehenden Methode behandelter Personen ergeben sowie auch mit dem solcher Personen, die bereits auf diese Weise behandelt wurden oder behandelt werden. Insbesondere bei einer länger andauernden Behandlung können derartige Erfahrungen Folgerungen für die Wirksamkeit der Behandlung erlauben. Weitere Bedeutung kommt der fachlichen Einschätzung der Wirksamkeit der Methode im konkreten Einzelfall durch die Ärzte des Erkrankten zu, die die Symptome seiner Krankheit behandeln. Hinweise auf die Eignung der im Streit befindlichen Behandlung können sich auch aus der wissenschaftlichen Diskussion ergeben; in Bezug auf die Duchenne'sche Muskeldystrophie liegen inzwischen weltweit Beiträge vor.
67
Auf die Wirksamkeit einer Behandlungsmethode im Einzelfall jedenfalls bei seltenen Krankheiten abzustellen, ist auch dem Recht der gesetzlichen Krankenversicherung nicht fremd. Nach § 31 Abs. 1 Satz 4 SGB V kann der Vertragsarzt Arzneimittel, die aufgrund der Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V von der Versorgung ausgeschlossen sind, ausnahmsweise dennoch in medizinisch begründeten Einzelfällen verordnen. Auch das Bundessozialgericht hat sich in seiner jüngeren Rechtsprechung bei einer Krankenbehandlung mit Arzneimitteln einer Einzelfallbetrachtung unter bestimmten Voraussetzungen nicht verschlossen. Nach seiner Auffassung sind Maßnahmen zur Behandlung einer Krankheit, die so selten auftritt, dass ihre systematische Erforschung praktisch ausscheidet, vom Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung nicht allein deshalb ausgeschlossen, weil der zuständige Bundesausschuss dafür keine Empfehlung abgegeben hat (vgl. BSGE 93, 236 <244 ff.>).
II.
68
Da das mit der Verfassungsbeschwerde angegriffene Urteil gegen Verfassungsrecht verstößt, ist es gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben. Ob es noch weitere Grundrechte des Beschwerdeführers verletzt, kann vorliegend dahinstehen. Die Sache ist an das Bundessozialgericht zurückzuverweisen, das auf der Grundlage der in dieser Entscheidung entwickelten Grundsätze neu über die Revision der beklagten Krankenkasse zu befinden haben wird.
III.
69
Die Kostenentscheidung beruht auf § 34 a Abs. 2 BVerfGG.
Papier Haas Hömig
Steiner Hohmann-Dennhardt Hoffmann-Riem
Bryde Gaier
Lüth Urteil
Verfasst:
Mi 3. Jan 2018, 23:38
von Aufklärer
BVerfG Urteil vom 15. Januar 1958
1 BvR 400/51
1.Die Grundrechte sind in erster Linie Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat; in den Grundrechtsbestimmungen des Grundgesetzes verkörpert sich aber auch eine objektive Wertordnung, die als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gilt.
2. Im bürgerlichen Recht entfaltet sich der Rechtsgehalt der Grundrechte mittelbar durch die privatrechtlichen Vorschriften. Er ergreift vor allem Bestimmungen zwingenden Charakters und ist für den Richter besonders realisierbar durch die Generalklauseln.
3. Der Zivilrichter kann durch sein Urteil Grundrechte verletzen (§ 90 BVerfGG), wenn er die Einwirkung der Grundrechte auf das bürgerliche Recht verkennt. Das Bundesverfassungsgericht prüft zivilgerichtliche Urteile nur auf solche Verletzungen von Grundrechten, nicht allgemein auf Rechtsfehler nach.
4. Auch zivilrechtliche Vorschriften können "allgemeine Gesetze" im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG sein und so das Grundrecht auf Freiheit der Meinungsäußerung beschränken.
5. Die "allgemeinen Gesetze" müssen im Lichte der besonderen Bedeutung des Grundrechts der freien Meinungsäußerung für den freiheitlichen demokratischen Staat ausgelegt werden.
6. Das Grundrecht des Art.5 GG schützt nicht nur das Äußern einer Meinung als solches, sondern auch das geistige Wirken durch die Meinungsäußerung.
7. Eine Meinungsäußerung, die eine Aufforderung zum Boykott enthält, verstößt nicht notwendig gegen die guten Sitten im Sinne des § 826 BGB; sie kann bei Abwägung aller Umstände des Falles durch die Freiheit der Meinungsäußerung verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein.
BVerfG
Urteil des Ersten Senats vom 15. Januar 1958
-- 1 BvR 400/51 --
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde des Senatsdirektors Erich L. in Hamburg gegen das Urteil des Landgerichts Hamburg vom 22. November 1951 - Az. 15. O. 87/51 -.
Entscheidungsformel:
Das Urteil des Landgerichts Hamburg vom 22. November 1951 - Az. 15. O. 87/51 - verletzt das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art. 5 Abs. 1 des Grundgesetzes und wird deshalb aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht Hamburg zurückverwiesen.
Gründe:
A.
Der Beschwerdeführer - damals Senatsdirektor und Leiter der Staatlichen Pressestelle der Freien und Hansestadt Hamburg- hat am 20. September 1950 anläßlich der Eröffnung der "Woche des deutschen Films" als Vorsitzender des Hamburger Presseklubs in einer Ansprache vor Filmverleihern und Filmproduzenten u. a. folgendes erklärt:
"Nachdem der deutsche Film im Dritten Reich seinen moralischen Ruf verwirkt hatte, ist allerdings ein Mann am wenigsten von allen geeignet, diesen Ruf wiederherzustellen: das ist der Drehbuchverfasser und Regisseur des Films "Jud Süß". Möge uns weiterer unabsehbarer Schaden vor der ganzen Welt erspart bleiben, der eintreten würde, indem man ausgerechnet ihn als Repräsentanten des deutschen Films herauszustellen sucht. Sein Freispruch in Hamburg war nur ein formeller. Die Urteilsbegründung war eine moralische Verdammung. Hier fordern wir von den Verleihern und Theaterbesitzern eine Haltung, die nicht ganz billig ist, die man sich aber etwas kosten lassen sollte: Charakter. Und diesen Charakter wünsche ich dem deutschen Film. Beweist er ihn und führt er den Nachweis durch Phantasie, optische Kühnheit und durch Sicherheit im Handwerk, dann verdient er jede Hilfe und dann wird er eines erreichen, was er zum Leben braucht: Erfolg beim deutschen wie beim internationalen Publikum."
Die Firma Domnick-Film-Produktion GmbH, die zu dieser Zeit den Film "Unsterbliche Geliebte" nach dem Drehbuch und unter der Regie des Filmregisseurs Veit Harlan herstellte, forderte daraufhin den Beschwerdeführer zu einer Äußerung darüber auf, mit welcher Berechtigung er die vorerwähnten Erklärungen gegen Harlan abgegeben habe. Der Beschwerdeführer erwiderte mit Schreiben vom 27. Oktober 1950, das er als "Offenen Brief" der Presse übergab, u. a. folgendes:
"Das Schwurgericht hat ebensowenig widerlegt, daß Veit Harlan für einen großen Zeitabschnitt des Hitler- Reiches der "Nazifilm Regisseur Nr. 1" und durch seinen "Jud Süß"-Film einer der wichtigsten Exponenten der mörderischen Judenhetze der Nazis war . . . Es mag im In- und Ausland Geschäftsleute geben, die sich an einer Wiederkehr Harlans nicht stoßen. Das moralische Ansehen Deutschlands in der Welt darf aber nicht von robusten Geldverdienern erneut ruiniert werden. Denn Harlans Wiederauftreten muß kaum vernarbte Wunden wieder aufreißen und abklingendes Mißtrauen zum Schaden des deutschen Wiederaufbaus furchtbar erneuern. Es ist aus allen diesen Gründen nicht nur das Recht anständiger Deutscher, sondern sogar ihre Pflicht, sich im Kampf gegen diesen unwürdigen Repräsentanten des deutschen Films über den Protest hinaus auch zum Boykott bereitzuhalten."
Die Domnick-Film-Produktion GmbH und die Herzog-Film GmbH (diese als Verleiherin des Films "Unsterbliche Geliebte' für das Bundesgebiet) erwirkten nun beim Landgericht Hamburg eine einstweilige Verfügung gegen den Beschwerdeführer, durch die ihm verboten wurde,
1. die deutschen Theaterbesitzer und Filmverleiher aufzufordern, den Film "Unsterbliche Geliebte" nicht in ihr Programm aufzunehmen,
2. das deutsche Publikum aufzufordern, diesen Film nicht zu besuchen.
Das Oberlandesgericht Hamburg wies die Berufung des Beschwerdeführers gegen das landgerichtliche Urteil zurück.
Auf Antrag des Beschwerdeführers wurde den beiden Filmgesellschaften eine Frist zur Klageerhebung gesetzt. Auf ihre Klage erließ das Landgericht Hamburg am 22. November 1951 folgendes Urteil:
"Der Beklagte wird verurteilt, es bei Vermeidung einer gerichtsseitig festzusetzenden Geld- oder Haftstrafe zu unterlassen,
1. die deutschen Theaterbesitzer und Filmverleiher aufzufordern, den bei der Klägerin zu 1 ) produzierten und von der Klägerin zu 2) zum Verleih im Bundesgebiet übernommenen Film "Unsterbliche Geliebte" nicht in ihr Programm aufzunehmen,
2. das deutsche Publikum aufzufordern, diesen Film nicht zu besuchen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.
Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung von 110 000 DM vorläufig vollstreckbar."
Das Landgericht erblickt in den Äußerungen des Beschwerdeführers eine sittenwidrige Aufforderung zum Boykott. Ihr Ziel sei, ein Wiederauftreten Harlans "als Schöpfer repräsentativer Filme" zu verhindern. Die Aufforderung des Beschwerdeführers laufe sogar "praktisch darauf hinaus, Harlan von der Herstellung normaler Spielfilme überhaupt auszuschalten, denn jeder derartige Film könnte durch die Regieleistung zu einem repräsentativen Film werden". Da Harlan aber in dem wegen seiner Beteiligung an dem Film " Jud Süß" gegen ihn eingeleiteten Strafverfahren rechtskräftig freigesprochen worden sei und auf Grund der Entscheidung im Entnazifizierungsverfahren in der Ausübung seines Berufes keinen Beschränkungen mehr unterliege, verstoße dieses Vorgehen des Beschwerdeführers gegen "die demokratische Rechts- und Sittenauffassung des deutschen Volkes". Dem Beschwerdeführer werde nicht zum Vorwurf gemacht, daß er über das Wiederauftreten Harlans eine ablehnende Meinung geäußert habe, sondern daß er die Öffentlichkeit aufgefordert habe, durch ein bestimmtes Verhalten die Aufführung von Harlan-Filmen und damit das Wiederauftreten Harlans als Filmregisseur unmöglich zu machen. Diese Boykottaufforderung richte sich auch gegen die klagenden Filmgesellschaften; denn wenn der in der Herstellung befindliche Film keinen Absatz finden könne, drohe ihnen ein empfindlicher Vermögensschaden. Der objektive Tatbestand einer unerlaubten Handlung nach § 826 BGB sei damit erfüllt, ein Unterlassungsanspruch also gegeben.
Der Beschwerdeführer legte gegen dieses Urteil Berufung zum Oberlandesgericht Hamburg ein. Gleichzeitig hat er Verfassungsbeschwerde erhoben, in der er die Verletzung seines Grundrechts auf freie Meinungsäußerung (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG) rügt. Er habe am Verhalten Harlans und der Filmgesellschaften politische und moralische Kritik geübt. Dazu sei er berechtigt, denn Art. 5 GG verbürge nicht nur die Freiheit der Rede ohne Wirkungsabsicht, sondern gerade auch die Freiheit des Wirkens durch das Wort. Seine Äußerungen stellten Werturteile dar. Das Gericht habe irrigerweise geprüft, ob sie inhaltlich richtig seien und gebilligt werden könnten, während es nur darauf ankomme, ob sie rechtlich zulässig seien. Das aber seien sie, denn das Grundrecht der Meinungsfreiheit habe sozialen Charakter und gewähre ein subjektives öffentliches Recht darauf, durch geistiges Handeln die öffentliche Meinung mitzubestimmen und an der "Gestaltung des Volkes zum Staat" mitzuwirken. Dieses Recht finde seine Grenze ausschließlich in den "allgemeinen Gesetzen" (Art. 5 Abs. 2 GG). Soweit durch die Meinungsäußerung in das öffentliche, politische Leben hineingewirkt werden solle, könnten als "allgemeine Gesetze" nur solche angesehen werden, die öffentliches Recht enthielten, nicht aber die Normen des Bürgerlichen Gesetzbuchs über unerlaubte Handlungen. Was dagegen in der Sphäre des bürgerlichen Rechts sonst unerlaubt sei, könne durch Verfassungsrecht in der Sphäre des öffentlichen Rechts gerechtfertigt sein; die Grundrechte als subjektive Rechte mit Verfassungsrang seien für das bürgerliche Recht "Rechtfertigungsgründe mit Vorrang".
Dem Bundesminister der Justiz, dem Senat der Freien und Hansestadt Hamburg und den beiden Filmgesellschaften wurde Gelegenheit zur Äußerung gegeben. Der Senat hat mitgeteilt, daß er sich den Ausführungen der Verfassungsbeschwerde anschließe. Die Filmgesellschaften halten das Urteil des Landgerichts für zutreffend.
In der mündlichen Verhandlung waren der Beschwerdeführer und die beiden Filmgesellschaften vertreten.
Die Akten des Landgerichts Hamburg 15 Q 35/50 und 15 O 87/51 sowie das Urteil des Schwurgerichts I in Hamburg vom 29. April 1950 - (50) 16/50 // 14 Ks 8/49 - waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
B. -- I.
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig; die Voraussetzungen für die Anwendung des § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG (Entscheidung vor Erschöpfung des Rechtsweges) liegen vor.
II.
Der Beschwerdeführer behauptet, das Landgericht habe durch das Urteil sein Grundrecht auf freie Meinungsäußerung aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 des Grundgesetzes verletzt.
1. Das Urteil des Landgerichts, ein Akt der öffentlichen Gewalt in der besonderen Erscheinungsform der rechtsprechenden Gewalt, kann durch seinen Inhalt ein Grundrecht des Beschwerdeführers nur verletzen, wenn dieses Grundrecht bei der Urteilsfindung zu beachten war.
Das Urteil untersagt dem Beschwerdeführer ;Äußerungen, durch die er andere dahin beeinflussen könnte, sich seiner Auffassung über das Wiederauftreten Harlans anzuschließen und ihr Verhalten gegenüber den von ihm gestalteten Filmen entsprechend einzurichten. Das bedeutet objektiv eine Beschränkung des Beschwerdeführers in der freien Äußerung seiner Meinung. Das Landgericht begründet seinen Ausspruch damit, daß es die Äußerungen des Beschwerdeführers als eine unerlaubte Handlung nach § 826 BGB gegenüber den Klägerinnen betrachtet und diesen daher auf Grund der Vorschriften des bürgerlichen Rechts einen Anspruch auf Unterlassung der Äußerungen zuerkennt. So führt der vom Landgericht angenommene bürgerlich rechtliche Anspruch der Klägerinnen durch das Urteil des Gerichts zu einem die Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers beschränkenden Ausspruch der öffentlichen Gewalt. Dieser kann das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art. 5 Abs. 1 Satz l GG nur verletzen, wenn die angewendeten Vorschriften des bürgerlichen Rechts durch die Grundrechtsnorm inhaltlich so beeinflußt werden, daß sie das Urteil nicht mehr tragen.
Die grundsätzliche Frage, ob Grundrechtsnormen auf das bürgerliche Recht einwirken und wie diese Wirkung im einzelnen gedacht werden müsse, ist umstritten (über den Stand der Meinungen siehe neuestens Laufke in der Festschrift für Heinrich Lehmann, 1956, Band I S. 145 ff., und Dürig in der Festschrift für Nawiasky, 1956, S. 157 ff.). Die äußersten Positionen in diesem Streit liegen einerseits in der These, daß die Grundrechte ausschließlich gegen den Staat gerichtet seien, andererseits in der Auffassung, daß die Grundrechte oder doch einige und jedenfalls die wichtigsten von ihnen auch im Privatrechtsverkehr gegen jedermann gälten. Die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kann weder für die eine noch für die andere dieser extremen Auffassungen in Anspruch genommen werden; die Folgerungen, die das Bundesarbeitsgericht in seinem Urteil vom 10. Mai 1957 - NJW 1957, S. 1688 - aus den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom 17. und 23. Januar 1957 (BVerfGE 6, 55 und 6, 84) in dieser Hinsicht zieht, gehen zu weit. Auch jetzt besteht kein Anlaß, die Streitfrage der sogenannten "Drittwirkung" der Grundrechte in vollem Umfang zu erörtern. Zur Gewinnung eines sachgerechten Ergebnisses genügt folgendes:
Ohne Zweifel sind die Grundrechte in erster Linie dazu bestimmt, die Freiheitssphäre des einzelnen vor Eingriffen der öffentlichen Gewalt zu sichern; sie sind Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat. Das ergibt sich aus der geistesgeschichtlichen Entwicklung der Grundrechtsidee wie aus den geschichtlichen Vorgängen, die zur Aufnahme von Grundrechten in die
Verfassungen der einzelnen Staaten geführt haben. Diesen Sinn haben auch die Grundrechte des Grundgesetzes, das mit der Voranstellung des Grundrechtsabschnitts den Vorrang des Menschen und seiner Würde gegenüber der Macht des Staates betonen wollte. Dem entspricht es, daß der Gesetzgeber den besonderen Rechtsbehelf zur Wahrung dieser Rechte, die Verfassungsbeschwerde, nur gegen Akte der öffentlichen Gewalt gewährt hat.
Ebenso richtig ist aber, daß das Grundgesetz, das keine wertneutrale Ordnung sein will (BVerfGE 2, 1 [12]; 5, 85 [134 ff., 197 ff.]; 6, 32 [40 f.]), in seinem Grundrechtsabschnitt auch eine objektive Wertordnung aufgerichtet hat und daß gerade hierin eine prinzipielle Verstärkung der Geltungskraft der Grundrechte zum Ausdruck kommt (Klein-v. Mangoldt, Das Bonner Grundgesetz, Vorbem. B III 4 vor Art. 1 S. 93). Dieses Wertsystem, das seinen Mittelpunkt in der innerhalb der sozialen Gemeinschaft sich frei entfaltenden menschlichen Persönlichkeit und ihrer Würde findet, muß als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gelten; Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung empfangen von ihm Richtlinien und Impulse. So beeinflußt es selbstverständlich auch das bürgerliche Recht; keine bürgerlich-rechtliche Vorschrift darf in Widerspruch zu ihm stehen, jede muß in seinem Geiste ausgelegt werden.
Der Rechtsgehalt der Grundrechte als objektiver Normen entfaltet sich im Privatrecht durch das Medium der dieses Rechtsgebiet unmittelbar beherrschenden Vorschriften. Wie neues Recht im Einklang mit dem grundrechtlichen Wertsystem stehen muß, so wird bestehendes älteres Recht inhaltlich auf dieses Wertsystem ausgerichtet; von ihm her fließt ihm ein spezifisch verfassungsrechtlicher Gehalt zu, der fortan seine Auslegung bestimmt. Ein Streit zwischen Privaten über Rechte und Pflichten aus solchen grundrechtlich beeinflußten Verhaltensnormen des bürgerlichen Rechts bleibt materiell und prozessual ein bürgerlicher Rechtsstreit. Ausgelegt und angewendet wird bürgerliches Recht, wenn auch seine Auslegung dem öffentlichen Recht, der Verfassung, zu folgen hat.
Der Einfluß grundrechtlicher Wertmaßstäbe wird sich vor allem bei denjenigen Vorschriften des Privatrechts geltend machen, die zwingendes Recht enthalten und so einen Teil des ordre public - im weiten Sinne - bilden, d. h. der Prinzipien, die aus Gründen des gemeinen Wohls auch für die Gestaltung der Rechtsbeziehungen zwischen den einzelnen verbindlich sein sollen und deshalb der Herrschaft des Privatwillens entzogen sind. Diese Bestimmungen haben nach ihrem Zweck eine nahe Verwandtschaft mit dem öffentlichen Recht, dem sie sich ergänzend anfügen. Das muß sie in besonderem Maße dem Einfluß des Verfassungsrechts aussetzen. Der Rechtsprechung bieten sich zur Realisierung dieses Einflusses vor allem die "Generalklauseln", die, wie § 826 BGB, zur Beurteilung menschlichen Verhaltens auf außer-zivilrechtliche, ja zunächst überhaupt außerrechtliche Maßstäbe, wie die "guten Sitten", verweisen. Denn bei der Entscheidung darüber, was diese sozialen Gebote jeweils im Einzelfall fordern, muß in erster Linie von der Gesamtheit der Wertvorstellungen ausgegangen werden, die das Volk in einem bestimmten Zeitpunkt seiner geistig-kulturellen Entwicklung erreicht und in seiner Verfassung fixiert hat. Deshalb sind mit Recht die Generalklauseln als die "Einbruchstellen" der Grundrechte in das bürgerliche Recht bezeichnet worden (Dürig in Neumann-Nipperdey- Scheuner, Die Grundrechte, Band II S. 525).
Der Richter hat kraft Verfassungsgebots zu prüfen, ob die von ihm anzuwendenden materiellen zivilrechtlichen Vorschriften in der beschriebenen Weise grundrechtlich beeinflußt sind; trifft das zu, dann hat er bei Auslegung und Anwendung dieser Vorschriften die sich hieraus ergebende Modifikation des Privatrechts zu beachten. Dies ist der Sinn der Bindung auch des Zivilrichters an die Grundrechte (Art. 1 Abs. 3 GG). Verfehlt er diese Maßstäbe und beruht sein Urteil auf der Außerachtlassung dieses verfassungsrechtlichen Einflusses auf die zivilrechtlichen Normen, so verstößt er nicht nur gegen objektives Verfassungsrecht, indem er den Gehalt der Grundrechtsnorm (als objektiver Norm) verkennt, er verletzt vielmehr als Träger öffentlicher Gewalt durch sein Urteil das Grundrecht, auf dessen Beachtung auch durch die rechtsprechende Gewalt der Bürger einen verfassungsrechtlichen Anspruch hat. Gegen ein solches Urteil kann - unbeschadet der Bekämpfung des Rechtsfehlers im bürgerlich-rechtlichen Instanzenzug - das Bundesverfassungsgericht im Wege der Verfassungsbeschwerde angerufen werden.
Das Verfassungsgericht hat zu prüfen, ob das ordentliche Gericht die Reichweite und Wirkkraft der Grundrechte im Gebiet des bürgerlichen Rechts zutreffend beurteilt hat. Daraus ergibt sich aber zugleich die Begrenzung der Nachprüfung: es ist nicht Sache des Verfassungsgerichts, Urteile des Zivilrichters in vollem Umfange auf Rechtsfehler zu prüfen; das Verfassungsgericht hat lediglich die bezeichnete "Ausstrahlungswirkung" der Grundrechte auf das bürgerliche Recht zu beurteilen und den Wertgehalt des Verfassungsrechtssatzes auch hier zur Geltung zu bringen. Sinn des Instituts der Verfassungsbeschwerde ist es, daß alle Akte der gesetzgebenden, vollziehenden und richterlichen Gewalt auf ihre "Grundrechtmäßigkeit" nachprüfbar sein sollen (§ 90 BVerfGG). Sowenig das Bundesverfassungsgericht berufen ist, als Revisions- oder gar "Superrevisions"-Instanz gegenüber den Zivilgerichten tätig zu werden, sowenig darf es von der Nachprüfung solcher Urteile allgemein absehen und an einer in ihnen etwa zutage tretenden Verkennung grundrechtlicher Normen und Maßstäbe vorübergehen.
2. Die Problematik des Verhältnisses der Grundrechte zum Privatrecht scheint im Falle des Grundrechts der freien Meinungsäußerung (Art. 5 GG) anders gelagert zu sein. Dieses Grundrecht ist - wie schon in der Weimarer Verfassung (Art. 118) - vom Grundgesetz nur in den Schranken der "allgemeinen Gesetze" gewährleistet (Art. 5 Abs. 2). Ohne daß zunächst untersucht wird, welche Gesetze "allgemeine" Gesetze in diesem Sinne sind, ließe sich die Auffassung vertreten, hier habe die Verfassung selbst durch die Verweisung auf die Schranke der allgemeinen Gesetze den Geltungsanspruch des Grundrechts von vornherein auf den Bereich beschränkt, den ihm die Gerichte durch ihre Auslegung dieser Gesetze noch belassen. Das Ergebnis dieser Auslegung müsse, soweit es eine Beschränkung des Grundrechts darstelle, hingenommen werden und könne deshalb niemals als eine "Verletzung" des Grundrechts angesehen werden.
Dies ist indessen nicht der Sinn der Verweisung auf die "allgemeinen Gesetze". Das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung ist als unmittelbarster Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit in der Gesellschaft eines der vornehmsten Menschenrechte überhaupt (un des droits les plus precieux de l'homme nach Artikel 11 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789). Für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung ist es schlechthin konstituierend, denn es ermöglicht erst die ständige geistige Auseinandersetzung, den Kampf der Meinungen, der ihr Lebenselement ist (BVerfGE 5, 85 [205]). Es ist in gewissem Sinn die Grundlage jeder Freiheit überhaupt, "the matrix, the indispensable condition of nearly every other form of freedom" (Cardozo).
Aus dieser grundlegenden Bedeutung der Meinungsäußerungsfreiheit für den freiheitlich- demokratischen Staat ergibt sich, daß es vom Standpunkt dieses Verfassungssystems aus nicht folgerichtig wäre, die sachliche Reichweite gerade dieses Grundrechts jeder Relativierung durch einfaches Gesetz (und damit zwangsläufig durch die Rechtsprechung der die Gesetze auslegenden Gerichte) zu überlassen. Es gilt vielmehr im Prinzip auch hier, was oben allgemein über das Verhältnis der Grundrechte zur Privatrechtsordnung ausgeführt wurde: die allgemeinen Gesetze müssen in ihrer das Grundrecht beschränkenden Wirkung ihrerseits im Lichte der Bedeutung dieses Grundrechts gesehen und so interpretiert werden, daß der besondere Wertgehalt dieses Rechts, der in der freiheitlichen Demokratie zu einer grundsätzlichen Vermutung für die Freiheit der Rede in allen Bereichen, namentlich aber im öffentlichen Leben, führen muß, auf jeden Fall gewahrt bleibt. Die gegenseitige Beziehung zwischen Grundrecht und "allgemeinem Gesetz" ist also nicht als einseitige Beschränkung der Geltungskraft des Grundrechts durch die "allgemeinen Gesetze" aufzufassen; es findet vielmehr eine Wechselwirkung in dem Sinne statt, daß die "allgemeinen Gesetze" zwar dem Wortlaut nach dem Grundrecht Schranken setzen, ihrerseits aber aus der Erkenntnis der wertsetzenden Bedeutung dieses Grundrechts im freiheitlichen demokratischen Staat ausgelegt und so in ihrer das Grundrecht begrenzenden Wirkung selbst wieder eingeschränkt werden müssen.
Das Bundesverfassungsgericht, das durch das Rechtsinstitut der Verfassungsbeschwerde zur Wahrung der Grundrechte letztlich berufen ist, muß demgemäß auch hier die rechtliche Möglichkeit besitzen, die Rechtsprechung der Gerichte dort zu kontrollieren, wo sie in Anwendung eines allgemeinen Gesetzes den grundrechtlich bestimmten Raum betreten und damit möglicherweise den Geltungsanspruch des Grundrechts im Einzelfall unzulässig beschränken. Es muß zu seiner Kompetenz gehören, den spezifischen Wert, der sich in diesem Grundrecht für die freiheitliche Demokratie verkörpert, allen Organen der öffentlichen Gewalt, also auch den Zivilgerichten, gegenüber zur Geltung zu bringen und den verfassungsrechtlich gewollten Ausgleich zwischen den sich gegenseitig widerstreitenden, hemmenden und beschränkenden Tendenzen des Grundrechts und der "allgemeinen Gesetze" herzustellen.
3. Der Begriff des "allgemeinen" Gesetzes war von Anfang an umstritten. Es mag dahinstehen, ob der Begriff nur infolge eines Redaktionsversehens in den Artikel 118 der Reichsverfassung von 1919 gelangt ist (siehe dazu Häntzschel im Handbuch des deutschen Staatsrechts, 1932, Band II S. 658). Jedenfalls ist er bereits während der Geltungsdauer dieser Verfassung dahin ausgelegt worden, daß darunter alle Gesetze zu verstehen sind, die "nicht eine Meinung als solche verbieten, die sich nicht gegen die Äußerung der Meinung als solche richten", die vielmehr "dem Schutze eines schlechthin, ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung, zu schützenden Rechtsguts dienen", dem Schutze eines Gemeinschaftswerts, der gegenüber der Betätigung der Meinungsfreiheit den Vorrang hat (vgl. die Zusammenstellung der inhaltlich übereinstimmenden Formulierungen bei Klein-v. Mangoldt, a.a.O., S. 250 f., sowie veröffentl. der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Heft 4, 1928, S. 6 ff., bes. S. 18 ff., 51 ff.). Dem stimmen auch die Ausleger des Grundgesetzes zu (vgl. etwa Ridder in Neumann- Nipperdey-Scheuner, Die Grundrechte, Band II S. 282: "Gesetze, die nicht die rein geistige Wirkung der reinen Meinungsäußerung inhibieren").
Wird der Begriff "allgemeine Gesetze" so verstanden, dann ergibt sich zusammenfassend als Sinn des Grundrechtsschutzes:
Die Auffassung, daß nur das Äußern einer Meinung grundrechtlich geschützt sei, nicht die darin liegende oder damit bezweckte Wirkung auf andere, ist abzulehnen. Der Sinn einer Meinungsäußerung ist es gerade, "geistige Wirkung auf die Umwelt" ausgehen zu lassen, "meinungsbildend und überzeugend auf die Gesamtheit zu wirken" (Häntzschel, Hdb. DStR II, S. 655). Deshalb sind Werturteile, die immer eine geistige Wirkung erzielen, nämlich andere überzeugen wollen, vom Grundrecht des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG geschützt; ja der Schutz des Grundrechts bezieht sich in erster Linie auf die im Werturteil zum Ausdruck kommende eigene Stellungnahme des Redenden, durch die er auf andere wirken will. Eine Trennung zwischen (geschützter) Äußerung und (nicht geschützter) Wirkung der Äußerung wäre sinnwidrig.
Die - so verstandene - Meinungsäußerung ist als solche, d.h. in ihrer rein geistigen Wirkung, frei; wenn aber durch sie ein gesetzlich geschütztes Rechtsgut eines anderen beeinträchtigt wird, dessen Schutz gegenüber der Meinungsfreiheit den Vorrang verdient, so wird dieser Eingriff nicht dadurch erlaubt, daß er mittels einer Meinungsäußerung begangen wird. Es wird deshalb eine "Güterabwägung" erforderlich: Das Recht zur Meinungsäußerung muß zurücktreten, wenn schutzwürdige Interessen eines anderen von höherem Rang durch die Betätigung der Meinungsfreiheit verletzt würden. Ob solche überwiegendenInteressen anderer vorliegen, ist auf Grund aller Umstände des Falles zu ermitteln.
4. Von dieser Auffassung aus bestehen keine Bedenken dagegen, auch Normen des bürgerlichen Rechts als "allgemeine Gesetze" im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG anzuerkennen. Wenn das bisher in der Literatur im allgemeinen nicht geschehen ist (worauf auch Klein-v. Mangoldt, a.a.O., S. 251, hinweist), so kommt darin nur zum Ausdruck, daß man die Grundrechte lediglich in ihrer Wirkung zwischen Bürger und Staat gesehen hat, so daß folgerichtig als einschränkende allgemeine Gesetze nur solche in Betracht kamen, die staatliches Handeln gegenüber dem einzelnen regeln, also Gesetze öffentlich-rechtlichen Charakters. Wenn aber das Grundrecht der freien Meinungsäußerung auch in den Privatrechtsverkehr hineinwirkt und sein Gewicht sich hier zugunsten der Zulässigkeit einer Meinungsäußerung auch dem einzelnen Mitbürger gegenüber geltend macht, so muß auf der andern Seite auch die das Grundrecht unter Umständen beschränkende Gegenwirkung einer privatrechtlichen Norm, soweit sie höhere Rechtsgüter zu schützen bestimmt ist, beachtet werden. Es wäre nicht einzusehen, warum zivilrechtliche Vorschriften, die die Ehre oder andere wesentliche Güter der menschlichen Persönlichkeit schützen, nicht ausreichen sollten, um der Ausübung des Grundrechts der freien Meinungsäußerung Schranken zu setzen, auch ohne daß zu dem gleichen Zweck Strafvorschriften erlassen werden.
Der Beschwerdeführer befürchtet, daß durch Beschränkung der Redefreiheit einem einzelnen gegenüber die Gefahr heraufgeführt werden könnte, der Bürger werde in der Möglichkeit, durch seine Meinung in der Öffentlichkeit zu wirken, allzusehr beengt und die unerläßliche Freiheit der öffentlichen Erörterung gemeinschaftswichtiger Fragen sei nicht mehr gewährleistet. Diese Gefahr besteht in der Tat (vgl. dazu Ernst Helle, Der Schutz der persönlichen Ehre und des wirtschaftlichen Rufes im Privatrecht, 1957, S. 65, 83-85, 153). Um ihr zu begegnen, ist es aber nicht erforderlich, das bürgerliche Recht aus der Reihe der allgemeinen Gesetze schlechthin auszuscheiden. Es muß nur auch hier der freiheitliche Gehalt des Grundrechts entschieden festgehalten werden. Es wird vor allem dort in die Waagschale fallen müssen, wo von dem Grundrecht nicht zum Zwecke privater Auseinandersetzungen Gebrauch gemacht wird, der Redende vielmehr in erster Linie zur Bildung der öffentlichen Meinung beitragen will, so daß die etwaige Wirkung seiner ;Äußerung auf den privaten Rechtskreis eines anderen zwar eine unvermeidliche Folge, aber nicht das eigentliche Ziel der Äußerung darstellt. Gerade hier wird das Verhältnis von Zweck und Mittel bedeutsam. Der Schutz des privaten Rechtsguts kann und muß um so mehr zurücktreten, je mehr es sich nicht um eine unmittelbar gegen dieses Rechtsgut gerichtete Äußerung im privaten, namentlich im wirtschaftlichen Verkehr und in Verfolgung eigennütziger Ziele, sondern um einen Beitrag zum geistigen Meinungskampf in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage durch einen dazu Legitimierten handelt; hier spricht die Vermutung für die Zulässigkeit der freien Rede.
Es ergibt sich also: Auch Urteile des Zivilrichters, die auf Grund "allgemeiner Gesetze" bürgerlich-rechtlicher Art im Ergebnis zu einer Beschränkung der Meinungsfreiheit gelangen, können das Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG verletzen. Auch der Zivilrichter hat jeweils die Bedeutung des Grundrechts gegenüber dem Wert des im "allgemeinen Gesetz" geschützten Rechtsguts für den durch die Äußerung angeblich Verletzten abzuwägen. Die Entscheidung kann nur aus einer Gesamtanschauung des Einzelfalles unter Beachtung aller wesentlichen Umstände getroffen werden. Eine unrichtige Abwägung kann das Grundrecht verletzen und so die Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht begründen.
III.
Die Beurteilung des Falles auf Grund der vorstehenden allgemeinen Darlegungen ergibt, daß die Rüge des Beschwerdeführers berechtigt ist. Gegenstand der verfassungsgerichtlichen Prüfung ist dabei der Inhalt des landgerichtlichen Urteils, wie er sich aus Tenor und Entscheidungsgründen ergibt. Ob die Entscheidung des Gerichts auch dann verfassungsrechtlichen Bedenken unterläge, wenn sie - im Anschluß an die Ausführungen im Urteil des Oberlandesgerichts Hamburg im Verfahren der einstweiligen Verfügung - auf die Bestimmung des § 823 Abs. 1 BGB gestützt worden wäre, kann das Bundesverfassungsgericht nicht abschließend entscheiden, weil nicht ohne weiteres unterstellt werden darf, daß das Landgericht sich die Begründung des Oberlandesgerichts in allen Einzelheiten zu eigen gemacht haben würde. Wegen der sich hier ergebenden Probleme mag auf die Ausführungen von Helle, a.a.O., S. 75 ff. (bes. S. 83-85) verwiesen werden.
1. In der mündlichen Verhandlung ist erörtert worden, ob das Bundesverfassungsgericht an die tatsächlichen Feststellungen, die das Landgericht seinem Urteil zugrunde gelegt hat, gebunden ist. Das ist nicht lediglich mit dem Hinweis zu beantworten, daß nach § 26 BVerfGG im Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht der Grundsatz der materiellen Wahrheitsfindung gilt, denn der hier angegriffene Akt der öffentlichen Gewalt ist in einem Verfahren zustande gekommen, das seinerseits von der "Dispositionsmaxime" beherrscht wird. Die Frage braucht jedoch hier nicht grundsätzlich entschieden zu werden. Die äußeren Tatsachen, namentlich der Wortlaut der Äußerungen des Beschwerdeführers, sind unbestritten; unbestritten ist auch, daß der Beschwerdeführer als Privatmann, nicht als Vertreter des hamburgischen Staates, gesprochen hat. In der Deutung der Äußerungen kann dem Landgericht jedenfalls soweit gefolgt werden, als es darin eine "Aufforderung zum Boykott", auch in Richtung gegen die Filmgesellschaften, sieht. Der Beschwerdeführer selbst hat insoweit keine Bedenken erhoben. Was das Ziel der Äußerungen anlangt, so ist es unbedenklich, wenn das Landgericht feststellt, daß der Beschwerdeführer "ein Wiederauftreten Harlans als Schöpfer repräsentativer Filme" habe hindern wollen; ob die daran geknüpfte Folgerung, daß dies "praktisch darauf hinauslaufe", Harlan von der Herstellung normaler Spielfilme überhaupt auszuschalten, angesichts des Wortlauts der Äußerungen nicht doch zu weit geht, muß freilich zweifelhaft erscheinen, kann aber dahingestellt bleiben, da es für die Entscheidung ohne Bedeutung ist.
Für die rechtliche Beurteilung ist davon auszugehen, daß "Boykott" kein eindeutiger Rechtsbegriff ist, der als solcher schon eine unerlaubte (sittenwidrige) Handlung bezeichnet. In der Rechtsprechung ist mit Recht darauf hingewiesen worden (so besonders RGZ 155, 257 [276 f.]), daß es keinen fest umgrenzten Tatbestand des sittenwidrigen Boykotts gibt, daß es vielmehr immer darauf ankommt, ob ein Verhalten in seinem konkreten Zusammenhang als "sittenwidrig" anzusehen ist. Auch aus diesem Grunde ist es unbedenklich, die Deutung des Landgerichts zu übernehmen; denn sie sagt über die rechtlichen Folgen dieser Beurteilung noch nichts Entscheidendes aus. Man muß sich von der Suggestivkraft des Begriffs "Boykott" freihalten und das Verhalten des Beschwerdeführers im
Zusammenhang mit allen seinen Begleitumständen sehen.
2. Das Landgericht hat die Verurteilung des Beschwerdeführers auf § 826 BGB gestützt. Es nimmt an, daß das Verhalten des Beschwerdeführers im Sinne dieser Bestimmung gegen die guten Sitten, gegen die "demokratische Rechts- und Sittenauffassung des deutschen Volkes", verstoßen habe und deshalb eine unerlaubte Handlung darstelle, da ein Rechtfertigungsgrund nicht erkennbar sei. Dabei brauche derjenige, dessen Recht sittenwidrig beeinträchtigt werde, nicht mit dem Geschädigten identisch zu sein.
Nach dem oben zu II 4 Ausgeführten muß § 826 BGB, der grundsätzlich alle Rechte und Güter gegen sittenwidrige Angriffe schützt, als ein "allgemeines Gesetz" im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG angesehen werden. Die Prüfung des Bundesverfassungsgerichts beschränkt sich danach auf die Frage, ob das Landgericht bei der Anwendung dieser Generalklausel Bedeutung BVerfGE 7, 198 (214)BVerfGE 7, 198 (215)und Reichweite des Grundrechts der freien Meinungsäußerung richtig erkannt und gegen die Interessen Harlans und der Filmgesellschaften abgewogen hat.
§ 826 BGB verweist auf den Maßstab der "guten Sitten". Es handelt sich hier nicht um irgendwie vorgegebene und daher (grundsätzlich) unveränderliche Prinzipien reiner Sittlichkeit, sondern um die Anschauungen der "anständigen Leute" davon, was im sozialen Verkehr zwischen den Rechtsgenossen "sich gehört". Diese Anschauungen sind geschichtlich wandelbar, können daher - in gewissen Grenzen - auch durch rechtliche Gebote und Verbote beeinflußt werden. Der Richter, der das hiernach sozial Geforderte oder Untersagte im Einzelfall ermitteln muß, hat sich, wie aus der Natur der Sache folgt, ihm aber auch in Art. 1 Abs. 3 GG ausdrücklich vorgeschrieben ist, dabei an jene grundsätzlichen Wertentscheidungen und sozialen Ordnungsprinzipien zu halten, die er im Grundrechtsabschnitt der Verfassung findet. Innerhalb dieser Wertordnung, die zugleich eine Wertrangordnung ist, muß auch die hier erforderliche Abwägung zwischen dem Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG und den seine Ausübung beschränkenden Rechten und Rechtsgütern vorgenommen werden.
Für die Entscheidung der Frage, ob eine Aufforderung zum Boykott nach diesen Maßstäben sittenwidrig ist, sind zunächst Motive, Ziel und Zweck der Äußerungen zu prüfen; ferner kommt es darauf an, ob der Beschwerdeführer bei der Verfolgung seiner Ziele das Maß der nach den Umständen notwendigen und angemessenen Beeinträchtigung der Interessen Harlans und der Filmgesellschaften nicht überschritten hat.
a) Sicherlich haftet den Motiven, die den Beschwerdeführer zu seinen Äußerungen veranlaßt haben, nichts Sittenwidriges an. Der Beschwerdeführer hat keine eigenen Interessen wirtschaftlicher Art verfolgt; er stand namentlich weder mit den klagenden Filmgesellschaften noch mit Harlan in Konkurrenzbeziehungen. Das Landgericht hat selbst bereits in seinem Urteil im Verfahren der einstweiligen Verfügung festgestellt, die mündliche Verhandlung habe nicht die geringsten Anhaltspunkte dafür ergeben, daß der Beschwerdeführer etwa "aus eigennützigen bzw. nicht achtenswerten Motiven" gehandelt habe. Dem ist von keiner Seite widersprochen worden.
b) Das Ziel der Äußerungen des Beschwerdeführers war, wie er selbst angibt, Harlan als repräsentativen Vertreter des deutschen Films auszuschalten; er wollte verhindern, daß Harlan wieder als Schöpfer repräsentativer deutscher Filme herausgestellt werde und damit der Anschein entstehe, als sei ein neuer Aufstieg des deutschen Films notwendig mit der Person Harlans verbunden. Die Gerichte haben nicht zu beurteilen, ob diese Zielsetzung sachlich zu billigen ist, sondern nur, ob ihre Bekundung in der vom Beschwerdeführer gewählten Form rechtlich zulässig war.
Die Äußerungen des Beschwerdeführers müssen im Rahmen seiner allgemeinen politischen und kulturpolitischen Bestrebungen gesehen werden. Er war von der Sorge bewegt, das Wiederauftreten Harlans könne - vor allem im Ausland - so gedeutet werden, als habe sich im deutschen Kulturleben gegenüber der nationalsozialistischen Zeit nichts geändert; wie damals, so sei Harlan auch jetzt wieder der repräsentative deutsche Filmregisseur. Diese Befürchtungen betrafen eine für das deutsche Volk sehr wesentliche Frage, im Grunde die seiner sittlichen Haltung und seiner darauf beruhenden Geltung in der Welt. Dem deutschen Ansehen hat nichts so geschadet wie die grausame Verfolgung der Juden durch den Nationalsozialismus. Es besteht also ein entscheidendes Interesse daran, daß die Welt gewiß sein kann, das deutsche Volk habe sich von dieser Geisteshaltung abgewandt und verurteile sie nicht aus politischen Opportunitätsgründen, sondern aus der durch eigene innere Umkehr gewonnenen Einsicht in ihre Verwerflichkeit.
Die Befürchtungen des Beschwerdeführers sind von ihm nicht nachträglich konstruiert, sie entsprechen der Sachlage, wie sie sich damals für ihn darstellte. Das ist später unter anderem dadurch bestätigt worden, daß z.B. in der Schweiz der Versuch,den Film "Unsterbliche Geliebte" zu zeigen, zu lebhaften Protesten, ja sogar zu einer Interpretation im Nationalrat und zu einer amtlichen Stellungnahme des Bundesrats geführt hat (vgl. Neue Zeitung Nr. 70 vom 22./23. März 1952 und Neue Zürcher Zeitung, Fernausgabe Nr. 327 vom 28. November 1951); der Film wurde einhellig nicht wegen seines Inhalts, sondern wegen der Mitwirkung Harlans abgelehnt und infolge dieser zahlreichen nachdrücklichen Interventionen auch nicht aufgeführt. Auch in mehreren deutschen Städten wurde aus den gleichen Gründen gegen die Aufführung des Films demonstriert. Der Beschwerdeführer konnte also in dem Wiederauftreten Harlans einen im Interesse der deutschen Entwicklung und des deutschen Ansehens in der Welt zu beklagenden Vorgang sehen. Die sich hiermit nach seiner Auffassung - anbahnende Entwicklung wollte er verhindern.
Das Landgericht hält es für zulässig, daß der Beschwerdeführer über das Wiederauftreten Harlans eine Meinung geäußert hat, macht ihm aber zum Vorwurf, daß er die Öffentlichkeit aufgefordert habe, durch ein bestimmtes Verhalten das Wiederauftreten Harlans unmöglich zu machen. Bei dieser Unterscheidung wird übersehen, daß der Beschwerdeführer, wenn man ihm schon gestatten will, über das Wiederauftreten Harlans eine (ablehnende) Meinung zu äußern, kaum über das hinausging was in diesem Werturteil bereits enthalten war. Denn die Aufforderung, Harlan-Filme nicht abzunehmen und nicht zu besuchen, ergab sich als Wirkung des negativen Werturteils über das Wiederauftreten Harlans geradezu von selbst. Das sachliche anliegen des Beschwerdeführers war es, die Gefahr nationalsozialistischer Einflüsse auf das deutsche Filmwesen von vornherein abzuwehren; von da her hat er folgerichtig das Wiederauftreten Harlans bekämpft. Harlan erscheint hier als persönlicher Exponent einer bestimmten, vom Beschwerdeführer abgelehnten kulturpolitischen Entwicklung. Der zulässige Angriff gegen diese führte mit einer gewissen Notwendigkeit zu einem Eingriff in die persönliche Rechtssphäre Harlans.
Der Beschwerdeführer war durch seine besonders nahe persönliche Beziehung zu allem, was das deutsch- jüdische Verhältnis betraf, legitimiert, seine Auffassung in der Öffentlichkeit darzulegen. Er war damals bereits durch seine Bestrebungen um Wiederherstellung eines wahren inneren Friedens mit dem jüdischen Volke bekannt geworden. Er war führend in der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit tätig; er hatte kurz vorher in Rundfunk und Presse die Aktion "Friede mit Israel" eingeleitet, die in Deutschland und im Ausland lebhaft diskutiert worden war und ihm zahlreiche Zustimmungserklärungen eingebracht hatte. Es ist begreiflich, daß er befürchtete, alle diese Bestrebungen könnten durch das Wiederauftreten Harlans gestört und durchkreuzt werden. Er durfte aber auch davon ausgehen, daß man in der Öffentlichkeit gerade von ihm eine Äußerung dazu erwarte, zumal er aus Anlaß einer "Woche des deutschen Films" ohnedies zu aktuellen Filmfragen zu sprechen hatte und die unmittelbar bevorstehende Aufführung des ersten neuen Harlan-Films in Fachkreisen sicherlich als ein wichtiges Ereignis gewertet wurde. Der Beschwerdeführer konnte die Empfindung haben, daß er hier einer Stellungnahme nicht ausweichen dürfe. Daraus ergab sich für ihn eine defensive Situation, die seine Äußerungen nicht als einen unmotivierten und jedenfalls unprovozierten Angriff, sondern als eine verständliche Reaktion der Abwehr erscheinen läßt.
Das Verlangen, der Beschwerdeführer hätte bei dieser Sachlage von der Kundgabe seiner Auffassung, daß Harlan von der Mitwirkung an repräsentativen Filmen ausgeschaltet werden solle, mit Rücksicht auf die beruflichen Interessen Harlans und die wirtschaftlichen Interessen der ihn beschäftigenden Filmgesellschaften trotzdem absehen müssen, ist unberechtigt. Die Filmgesellschaften mögen bei ihrem Entschluß, Harlan wieder zu beschäftigen, formal korrekt verfahren sein. Wenn sie dabei aber die darüber hinaus verbleibende moralische Problematik des Falles nicht berücksichtigt haben, dann kann das nicht dazu führen, das Vorgehen des Beschwerdeführers, der gerade diese Problematik aufgriff, als "unsittlich" zu bezeichnen und ihm so die Freiheit der Meinungsäußerung zu beschneiden. Damit würde der Wert, den das Grundrecht der freien Meinungsäußerung für die freiheitliche Demokratie gerade dadurch besitzt, daß es die öffentliche Diskussion über Gegenstände von allgemeiner Bedeutung und ernstem Gehalt gewährleistet, empfindlich geschmälert. Wenn es darum geht, daß sich in einer für das Gemeinwohl wichtigen Frage eine öffentliche Meinung bildet, müssen private und namentlich wirtschaftliche Interessen einzelner grundsätzlich zurücktreten. Diese Interessen sind darum nicht schutzlos; denn der Wert des Grundrechts zeigt sich gerade auch darin, daß jeder von ihm Gebrauch machen kann. Wer sich durch die öffentliche Äußerung eines andern verletzt fühlt, kann ebenfalls vor der Öffentlichkeit erwidern. Erst im Widerstreit der in gleicher Freiheit vorgetragenen Auffassungen kommt die öffentliche Meinung zustande, bilden sich die einzelnen angesprochenen Mitglieder der Gesellschaft ihre persönliche Ansicht. Der Beschwerdeführer hat zu Recht darauf hingewiesen, daß es z. B. grundsätzlich zulässig ist, aus ernsthaften Motiven in der Öffentlichkeit den Absatz bestimmter Waren oder bestimmte Organisationsformen des Verkaufs zu bekämpfen, auch wenn bei Erfolg solcher Meinungsäußerungen wirtschaftliche Unternehmen zum Erliegen kämen, Arbeitsplätze verlorengingen u. dgl. Solche Äußerungen können nicht schon wegen dieser möglichen Folgen gerichtlich untersagt werden - den Angegriffenen steht es aber frei, sich durch Darlegung ihrer Auffassung zur Wehr zu setzen.
In diesem Zusammenhang hat das Landgericht auf Art. 2 GG hingewiesen Es geht davon aus, Harlan dürfe seinen Beruf als Filmregisseur wieder aufnehmen und ausüben, da er vom Schwurgericht, vor dem er wegen eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit nach dem Kontrollratsgesetz Nr. 10 angeklagt war, freigesprochen, im Entnazifizierungsverfahren als " Entlasteter" eingestuft worden sei und die Spitzenorganisation der Filmwirtschaft (Spio) alle Tätigkeitsbeschränkungen gegen ihn aufgehoben habe. Artikel 2 wirke allerdings nur gegen die öffentliche Gewalt; zugleich komme aber in der Bestimmung die sittliche Auffassung des deutschen Volkes zum Ausdruck, mit der Folge, daß die eigenmächtige Beschränkung dieses Grundrechts, "von wem sie auch kommen mag", gegen die guten Sitten verstoße. Daran ist richtig, daß auch Art. 2 GG zu dem grundrechtlichen Wertsystem gehört und die Vorstellungen davon, was wider die "guten Sitten" verstößt, maßgeblich beeinflussen kann. Trotzdem wird hier die Bedeutung des Artikels 2 nicht richtig gesehen. Daß der Staat, die öffentliche Gewalt, nur in den Schranken der Gesetze gegen Harlan vorgehen durfte und darf, ist selbstverständlich. Daraus folgt aber nichts dafür, was der einzelne Bürger gegenüber Harlan unternehmen und äußern darf. Denn hier ist entscheidend, daß jeder einzelne Träger derselben Grundrechte ist. Da im Zusammenleben in einer großen Gemeinschaft sich notwendig ständig Interessen- und Rechtskollisionen zwischen den einzelnen ergeben, hat im sozialen Bereich ständig ein Ausgleich und eine Abwägung der einander entgegenstehenden Rechte nach dem Grade ihrer Schutzwürdigkeit stattzufinden. Was als Ergebnis einer solchen Abwägung an Beschränkung der freien Entfaltungsmöglichkeit für den einzelnen verbleibt, muß hingenommen werden. Niemand kann sich hier auf die angeblich absolut geschützte Position des Art. 2 GG zurückziehen und jeden Angriff auf sie, "von wem er auch kommen mag", als Unrecht oder Verstoß gegen die guten Sitten ansehen (vgl. auch H. Lehmann, MDR 1952, S.298). Die Argumentation des Oberlandesgerichts Hamburg im Verfahren der einstweiligen Verfügung: "weil der Staat das Recht (zu gewissen Maßnahmen) nicht hat, so kann dieses Recht erst recht nicht der einzelne Bürger haben", ist irrig, weil sie Nicht- Zusammengehöriges in ein einfaches Verhältnis von mehr und weniger bringen will.
Die Ausführungen des Landgerichts könnten auch so gedeutet werden, daß es in den Äußerungen des Beschwerdeführers einen Eingriff in den Kern der künstlerischen Persönlichkeit Harlans erblickt, den "letzten unantastbaren Bereich menschlicher Freiheit" (BVerfGE 6, 32 [41]), einen Eingriff also, der durch keine noch so gewichtigen Interessen des Beschwerdeführers gerechtfertigt werden könne und deshalb, weil er die Menschenwürde Harlans verletze, unter allen Umständen sittenwidrig sei. Eine so weitreichende Folgerung läßt aber der festgestellte Sachverhalt nicht zu. Selbst wenn man - über den Wortlaut der Äußerungen hinaus - mit dem Landgericht annimmt, bei Erfolg der Aufforderung werde Harlan als Regisseur von Spielfilmen völlig ausgeschaltet, würden diesem doch noch andere künstlerische Betätigungsmöglichkeiten - auch im Filmwesen - verbleiben, so daß von einer gänzlichen Vernichtung seiner künstlerischen und menschlichen Existenz nicht gesprochen werden könnte. Eine solche Annahme würde aber überhaupt die Intensität des in den Äußerungen liegenden Eingriffs erheblich überschätzen. Die Äußerungen konnten als solche die künstlerische und menschliche Entfaltungsfreiheit Harlans unmittelbar und wirksam überhaupt nicht beschränken. Dem Beschwerdeführer standen keinerlei Zwangsmittel zu Gebote, um seiner Aufforderung Nachdruck zu verleihen; er konnte nur an das Verantwortungsbewußtsein und die sittliche Haltung der von ihm Angesprochenen appellieren und mußte es ihrer freien Willensentschließung überlassen, ob sie ihm folgen wollten. Daß er auf die Subventionierung von Filmen durch den hamburgischen Staat Einfluß gehabt hätte, also durch die Drohung mit dem Entzug oder der Versagung von Subventionen einen gewissen Druck wenigstens auf die Filmproduzenten hätte ausüben können, ist nicht dargetan.
c) Die Gegner des Beschwerdeführers haben in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht besonderes Gewicht darauf gelegt, daß die vom Beschwerdeführer bei der Boykottaufforderung angewandten Mittel jedenfalls in einer Hinsicht in sich schon sittenwidrig gewesen seien. Der Beschwerdeführer habe nämlich die objektiv unwahre Behauptung aufgestellt, Harlan sei vom Schwurgericht nur formell freigesprochen worden, die Urteilsgründe seien eine moralische Verdammung gewesen.
Es mag dahinstehen, ob dieser Vorwurf, wenn er gerechtfertigt wäre, ein so umfassendes Verbot begründen könnte, wie es im Urteil des Landgerichts ausgesprochen ist. Das Landgericht selbst ist der Auffassung, "daß die Verwendung sittenwidriger Mittel wohl ein Verbot der Boykottaufforderung mit diesen Mitteln, nicht aber ein Verbot der Boykottaufforderung schlechthin rechtfertigen würde". Indessen kann nicht anerkannt werden, daß der Beschwerdeführer sich mit dieser Kennzeichnung des Schwurgerichtsurteils eines Sittenverstoßes schuldig gemacht habe.
Aus dem Inhalt des Schwurgerichtsurteils ist festzustellen: Das Urteil schildert den Lebensgang Harlans, insbesondere seine Laufbahn als Filmregisseur, die nach 1933 begann und ihn alsbald zum "Prestigeregisseur" (so kennzeichnet Harlan selbst seine Stellung in der Schrift: "Meine Beziehung zum Nationalsozialismus", S. 21) aufsteigen ließ. Das Urteil stellt dann die Entstehungsgeschichte des Films "Jud Süß" und die Beteiligung Harlans an diesem Film als Regisseur und Drehbuchmitautor im einzelnen dar. Es schreibt dem Film "klare antisemitische Tendenz" zu, würdigt ihn im Zusammenhang mit den allgemeinen Umständen zur Zeit seiner Entstehung und ersten Aufführung (1940) dahin, daß er durch die tendenziöse Beeinflussung der öffentlichen Meinung im judenfeindlichen Sinn mitursächlich für die Judenverfolgung gewesen sei, und kennzeichnet ihn deshalb in objektiver Hinsicht als ein "Angriffsverhalten", wie es nach der Rechtsprechung für den Begriff des Verbrechens gegen die Menschlichkeit im Sinne des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 erfordert werde. Da Harlan als Mitgestalter des Drehbuchs und Regisseur objektiv zum Kreis der Angriffstäter gehöre und da er auch die mit dem Film verfolgten Absichten erkannt sowie mit den voraussichtlichen Wirkungen des Films gerechnet habe, kommt das Urteil zur Feststellung, daß er durch seine maßgebende Mitwirkung bei der Schaffung dieses Films "in objektiver und subjektiver Hinsicht den Tatbestand des Verbrechens gegen die Menschlichkeit erfüllt" habe. Es spricht ihn trotzdem frei, weil es ihm den Schuldausschließungsgrund des sogenannten Nötigungsnotstands (§ 52 StGB) zubilligt. Dazu wird im einzelnen ausgeführt:
"Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht fest, daß Harlan sich nicht um die Mitwirkung an der Herstellung des Films "Jud Süß" bemüht hat, sondern im Gegenteil erst auf Grund des ihm vom Propagandaminister Goebbels erteilten Befehls tätig geworden ist. Zur Beurteilung der Frage, wie Goebbels sich im Fall der offenen oder versteckten Ablehnung Harlans verhalten haben würde, war zunächst auf Grund allgemeiner gerichtsnotorischer Tatsachen festzustellen, daß im November 1939 bereits der Kriegszustand zwischen Deutschland und Polen und die Möglichkeit der weiteren Ausdehnung des Krieges auf andere Staaten bestand. Goebbels vertrat die These, daß im Kriege jeder Deutsche seine Aufgabe an dem Platz zu erfüllen habe, an den er gestellt sei, und daß jeder Deutsche "Soldat des Führers" sei. Goebbels selbst betrachtete sich in seiner Eigenschaft als Propagandaminister als General des Führers und die unter ihm arbeitenden Beamten des Propagandaministeriums und alle seinem Ministerium unterstellten Personen, auch Filmproduzenten, Regisseure, Schauspieler usw. als unter seinem Befehl stehende Soldaten. Die Nichtausführung eines von Goebbels gegebenen Befehles wurde seit Beginn des Krieges von ihm als Verweigerung eines kriegsdienstlichen Befehles angesehen und es bedarf keiner Erörterung darüber, daß eine solche von den damaligen Machthabern mit den schärfsten Strafen, auch mit der Todesstrafe, belegt worden wäre. In derartigen Fällen bewies Goebbels eine unmenschliche Härte und Skrupellosigkeit zur Durchführung seiner Absichten, so daß die Möglichkeit einer offenen Ablehnung von vornherein ausgeschlossen war. Darüber hinaus bewiesen die angeführten Einzelbeispiele, wie unberechenbar und gefährlich Goebbels in seinen Handlungen sein konnte. Weiter zeigt die Tatsache, daß Goebbels als Propagandaminister jahrelang zugesehen hat, wie deutsche Menschen, deutsche Städte durch einen sinnlosen Krieg zugrunde gerichtet wurden und wie Millionen unschuldiger Menschen durch die Willkürmaßnahmen des nationalsozialistischen Regimes in einer jeder Menschlichkeit Hohn sprechenden Art und Weise gequält, gedemütigt, ja sogar gemordet wurden, und daß Goebbels alle diese Taten durch seine Propaganda zu rechtfertigen suchte, wie skrupellos und ohne moralische Hemmungen dieser Propagandadiktator war. Unter dem nationalsozialistischen Gewaltsystem sind ferner eine große Anzahl bedeutender und im Volke außerordentlich angesehener Männer aus den einflußreichsten Stellungen entfernt worden, in Konzentrationslager verbracht, zum Selbstmord getrieben oder hingerichtet worden, und zwar in vielen Fällen ohne daß auch nur der Schein des Rechtes gewahrt worden wäre. Alle diese Tatsachen erhellen, das Goebbels zur Durchsetzung seiner Absichten ebenso wie die andern nationalsozialistischen Machthaber vor keiner Gewalttat zurückschreckte.
Als Goebbels im Jahre 1938 die Auflage an die Filmgesellschaften erteilte, je einen antisemitischen Filmstoff herauszubringen, verfolgte er planmäßig die im nationalsozialistischen Programm festgelegten antisemitischen Thesen. Im Jahre 1939 mußte die antisemitische Propaganda nach der Auffassung der damaligen Machthaber eine noch weit größere Bedeutung erlangen, da sie das Weltjudentum als den Feind Europas und als ihren stärksten Gegner betrachteten, wie das auch in den Reden Adolf Hitlers ständig zum Ausdruck gekommen ist. Die Durchführung der von Goebbels erteilten Auflage gewann daher zunehmend größere Bedeutung. Sie mußte sogar von seinem Standpunkt aus von größtem staatspolitischen Wert sein. Goebbels war daher schon aus den hier aufgezeigten Gründen an der Durchführung seiner Befehle auf das heftigste interessiert. Bei dem Film "Jud Süß" kam jedoch hinzu, daß Goebbels auch persönlich durch den von den Schauspielern geleisteten Widerstand gegen das Filmprojekt äußerst gereizt war. Es galt für ihn, seinen Willen in diktatorischer Weise gegenüber jedem Widerstand durchzusetzen. Unter Berücksichtigung aller dieser Umstände konnte zumindest die Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden, daß für Harlan im Falle einer offenen oder versteckten Ablehnung, falls diese von Goebbels erkannt wurde, Gefahr für Leib und Leben bestand. Das Schwurgericht ist darüber hinaus sogar der Auffassung, daß diese Lebensbedrohung bei der ,Persönlichkeit Goebbels' durchaus ernsthaft gegeben war und zwar um so mehr, als das Verhältnis zwischen Goebbels und Harlan besonders im Jahre 1939/40 außerordentlich gespannt war. Von der großen Zahl der zu diesem Punkt vernommenen Zeugen hat nicht ein einziger mit Sicherheit sagen können, welche Folgewirkungen für Harlan hätten entstehen können. Sie stimmten jedoch weitgehend darin überein, daß Goebbels in irgendeiner Weise seine furchtbare Macht Harlan hätte spüren lassen. Für die rechtliche Entscheidung kann es jedoch nicht von Bedeutung sein ob Goebbels gegen Harlan als Verweigerer eines kriegsdienstlichen Befehls etwa ein Verfahren vor dem Sondergericht in die Wege geleitet oder ihn der Willkürbehandlung im Konzentrationslager überantwortet hätte, oder ob er schließlich irgendeinen anderen, nicht im Zusammenhang mit dem Filmprojekt stehenden Vorwand gesucht und gefunden hätte, Harlan als politischen Gegner, Saboteur oder wegen irgendeines anderen Deliktes den gleichen Maßnahmen auszusetzen. Daß die Harlan drohende Gefahr eine gegenwärtige war, bedarf keiner weiteren Ausführungen, da die Folgen der Nichtausführung des Goebbelsbefehles in jedem Augenblick eintreten konnten, in dem Goebbels Harlans wahre Absichten erkannte."
Es wird dann geprüft, ob Harlan zu seiner Mitarbeit an dem Film etwa durch andere Beweggründe bestimmt worden sei. Solche Motive lassen sich nach Auffassung des Schwurgerichts nicht feststellen. Es heißt dann weiter:
"Es ist bereits ausgeführt worden, daß die offene Ablehnung der Mitarbeit an dem Filmprojekt "Jud Süß" für Harlan eine schwere Bedrohung und Lebensgefahr bedeutet hätte. Es war aber weiter zu prüfen, welche Möglichkeiten für ihn bestanden haben, durch verstecktes Ausweichen dieser Gefahr zu entgehen und sich dennoch der Beteiligung an der Filmarbeit zu entziehen. Der Angeklagte hat nun behauptet, er habe alle Möglichkeiten, um den Goebbels'schen Befehl herumzukommen, voll ausgeschöpft, andere Möglichkeiten als die von ihm versuchten hätten ihm nicht zur Verfügung gestanden.
Dem Angeklagten konnte nicht widerlegt werden, daß er verschiedene Ausweichmanöver versucht hat und zwar, daß er das Drehbuch bei Goebbels gründlich verrissen, sich zur Darstellung rein negativer Personen unfähig erklärt, auf seine dringenden Arbeiten an seinem Film "Pedro soll hängen" und an dem neuen Projekt "Agnes Bernauer" verwiesen hat und daß er sich schließlich freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet hat. Soweit es sich bei den von dem Angeklagten behaupteten Ausweichmanövern um Einwendungen künstlerischer Art handelte, konnte seine Haltung ihre Erklärung auch in der Besorgnis eines Regisseurs finden, der auf Grund eines schlechten Drehbuchs einen schlechten Film zu drehen fürchtete. Trotzdem konnte das Gericht nicht mit Sicherheit ausschließen, daß alle diese Maßnahmen Harlans aus einer inneren Ablehnung gegen das Filmprojekt als solche ergriffen wurden. Es war daher die weitere Frage zu prüfen, ob sich Harlan über die von ihm behaupteten Ausweichversuche hinaus weitere Möglichkeiten zum Ausweichen geboten haben könnten. Das Gericht hat solche Möglichkeiten nicht feststellen können."
Das Urteil legt dann im einzelnen dar, daß zu der Zeit, als Harlan mit der Gestaltung des Films beauftragt wurde, für ihn kaum noch Möglichkeiten bestanden hätten, sich der Mitarbeit zu entziehen, den Film zu sabotieren oder seinen antisemitischen Inhalt wesentlich zu mildern; daß er das letztere wenigstens versucht habe, wird ihm ausdrücklich bescheinigt. In diesem Zusammenhang wird gesagt:
"Dem Angeklagten konnte auch nicht zum strafrechtlichen Vorwurf gemacht werden, daß er den Film in einer seinen künstlerischen Fähigkeiten entsprechenden Form gestaltet hat. Es wird wohl zutreffen, daß der Film unter Zugrundelegung des Metzger-Möller'schen Drehbuches oder unter der Regie Dr. Brauers einen weit geringeren Zulauf bei dem Filmpublikum erreicht hätte. Es ist logisch und zwingend, daß in diesem Falle die antisemitische Tendenz des Films keine so weite Verbreitung hätte finden können, wie dies bei dem von Harlan hergestellten Film der Fall war. Es war hierbei zu berücksichtigen, daß Harlan durch eine künstlerisch nicht so hoch zu wertende Gestaltung seinen Ruf als großer Regisseur auf das schwerste hätte gefährden können. Das Schwurgericht ist jedoch der Ansicht, daß ein Künstler - ob er nun freiwillig oder gezwungen an die Erfüllung eines Auftrages geht - gar nicht imstande ist, zu bestimmen, ob er einen guten, zugkräftigen oder einen schlechten Film herstellt. In jedem Falle wird der Film so ausfallen, wie es seiner künstlerischen Begabung entspricht."
So gelangt das Urteil schließlich zu dem Ergebnis:
"Zusammenfassend ist zu sagen, daß die Tätigkeit Harlans in objektiver und subjektiver Hinsicht zwar den Tatbestand des Verbrechens gegen die Menschlichkeit erfüllt hat, ihm jedoch der Entschuldigungsgrund des § 52 StGB zuzubilligen war."
Das Schwurgericht hat sonach nicht konkrete Tatsachen festgestellt, die für Harlan einen Notstand begründet hätten; es hat die von Harlan in dieser Richtung vorgetragenen Verteidigungsbehauptungen gewürdigt und ist zu dem Schluß gekommen, man müsse annehmen, daß bei Ablehnung einer Mitwirkung an dem Film für Harlan Gefahr für Leib und Leben bestanden habe; die aus allgemeinem geschichtlichen Wissen bekannten Charakterzüge von Goebbels machten eine solche Gefährdung sogar wahrscheinlich.
Diese Gedankenführung des schwurgerichtlichen Urteils hat der Beschwerdeführer zusammenfassend dahin gewertet, es handle sich hier um einen "formellen Freispruch" und eine "moralische Verdammung". Was der Beschwerdeführer zum Ausdruck bringen wollte, war offenbar dies: Es liege hier nicht ein Freispruch wegen erwiesener Unschuld vor; Harlan sei durch die Urteilsgründe in Wahrheit schwer belastet, da er als maßgebender Mitgestalter eines Werkes erscheine, das als "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" zu charakterisieren sei und dessen mutmaßliche Wirkung auf die Behandlung der Juden er gekannt habe; das Gericht habe ihn nur freigesprochen, weil es ihm nicht habe widerlegen können, daß er unter Zwang an dem Film mitgewirkt habe.
Wenn der Beschwerdeführer seinen Eindruck vom Inhalt des schwurgerichtlichen Urteils in die Worte "formeller Freispruch" und "moralische Verdammung" zusammengefaßt hat, so geht das nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts nicht über die Grenze des in der öffentlichen Diskussion eines Themas von ernstem Gehalt Zulässigen hinaus. Es bedeutet eine unannehmbare Einengung der Redefreiheit in einer freiheitlichen Demokratie, wenn das Landgericht hier von dem Beschwerdeführer, der nicht Jurist ist, die Sorgfalt sogar eines "strafrechtlich geschulten Lesers" fordert, die ihn hätte veranlassen müssen, die Kennzeichnung "formeller Freispruch" zu unterlassen, weil sie nur beim Fehlen objektiver Voraussetzungen der Strafbarkeit angängig sei. Die vom Beschwerdeführer gewählten Bezeichnungen sind keine Tatsachenbehauptungen, deren Wahrheit oder Unwahrheit bewiesen werden könnte; namentlich wird mit der Bezeichnung "formeller Freispruch" kein eindeutiger rechtlicher Tatbestand bezeichnet. Es handelt sich um eine zusammenfassende, wertende Charakterisierung des gesamten Urteilsinhalts, die für zulässig gehalten werden muß, weil sie weder in der Form verletzend ist noch inhaltlich so sehr den gemeinten Sachverhalt verfehlt, daß sie bei Hörern und Lesern ganz irrige Vorstellungen über den Urteilsinhalt erwecken müßte, wie es etwa der Fall wäre, wenn von einem Freigesprochenen ohne nähere Erläuterung behauptet würde, er sei "verurteilt" worden. Es ist hier auch von Bedeutung, daß der Freispruch Harlans in der breiteren Öffentlichkeit und erst recht in den Kreisen der Filmwirtschaft bereits bekannt war. Ebenso war bekannt, daß Harlan der Regisseur des Films "Jud Süß" gewesen war. Damit stand fest, daß das Urteil nicht die völlige "Unschuld" im Sinne einer Nichtbeteiligung Harlans an der Förderung der Judenverfolgung durch diesen Film festgestellt haben konnte, daß mithin der Freispruch auf einem anderen, vergleichsweise "formalen" Gesichtspunkt beruhen mußte. Die Äußerung des Beschwerdeführers kann also nicht in Vergleich gesetzt werden mit den Fällen, in denen eine Boykottaufforderung durch Verbreitung einer summarischen Kennzeichnung eines Sachverhalts begründet wird, die von den Adressaten nicht ohne weiteres richtig verstanden werden kann.
d) Die vom Beschwerdeführer für seine Meinungsäußerung gewählten Formen der Ansprache vor dem Presseklub und des Offenen Briefes gingen nicht über das nach den Umständen Zulässige hinaus. Die Domnick-Film-Produktion GmbH hat in dem Schreiben, das sie nach der Ansprache des Beschwerdeführers an diesen richtete, hervorgehoben, daß ihr daran gelegen sei, die frühere künstlerische Höhe des deutschen Films wieder zu erreichen. In diesem "Bestreben nach künstlerisch anspruchsvollen Filmen" habe sie Harlan zur Mitarbeit herangezogen. Daraus ergibt sich, daß die Gesellschaft sich gerade von der Mitwirkung Harlans an ihren Filmen viel versprach, und es war selbstverständlich, daß sie diese Mitwirkung in ihrer Werbung entsprechend hervorheben werde. Hiermit war ein starkes Hervortreten Harlans in der Öffentlichkeit auch ohne besonderes Zutun von seiner Seite verbunden. Das Massenunterhaltungsmittel des Films erreicht fast gleichzeitig Millionen von Zuschauern im In- und Ausland und läßt so die Mitwirkenden, namentlich die Darsteller und Regisseure, rasch in der breitesten Öffentlichkeit bekannt werden. Wer aber in dieser Weise vor die Öffentlichkeit tritt und dabei an den früheren Ruf eines Mitwirkenden anknüpft, muß sich gefallen lassen, daß auch die Kritik hieran vor der Öffentlichkeit erfolgt; und je intensiver mit einem Namen und unter Hinweis auf die früheren Leistungen eines Künstlers auf breite Bevölkerungskreise gewirkt wird, desto eindringlicher und schärfer darf auch die Form der vorsorglichen Abwehr solcher Wirkung sein. Deshalb ist es nicht zu beanstanden, daß der Beschwerdeführer für seine Kritik die Form einer Ansprache vor Filmproduzenten und Filmverleihern sowie die des Offenen Briefes gewählt hat, die letztere übrigens nur, weil die Domnick-Film-Produktion GmbH ihrerseits ihr Schreiben der Spio bekanntgegeben hatte.
Eine abschließende Gesamtbetrachtung des Falles kann schließlich an folgender Überlegung nicht vorübergehen: Der Beschwerdeführer hat aus lauteren Motiven an das sittliche Gefühl der von ihm angesprochenen Kreise appelliert und sie zu einer nicht zu beanstandenden moralischen Haltung aufgerufen. Das ist in der allgemeinen Volksanschauung nicht verkannt worden. Der Beschwerdeführer hat darauf hinweisen können, daß er sich bei seiner Bewertung des Wiederauftretens Harlans im Einklang mit der Haltung angesehener Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens im Inland und Ausland befinde. Beweise dafür liegen vor; es mag nur auf die in Nr. 3 der Deutschen Universitätszeitung vom 8. Februar 1952 veröffentlichte Stellungnahme von 48 Göttinger Professoren verwiesen werden, ferner etwa auf die Beiträge in der erwähnten Ausgabe der Neuen Zürcher Zeitung. Vor allem aber hat in der 197. Sitzung des Deutschen Bundestags am 29. Februar 1952 der Abgeordnete Dr. Schmid-Tübingen folgendes erklärt (Prot. S. 8474):
"In Bonn läuft zur Zeit der Film "Immensee" aus der Produktion des Ihnen allen als Hersteller des Films "Jud Süß" bekannten Regisseurs Veit Harlan. Es ist eine Schande, daß die Machwerke dieses Mannes in Deutschland überhaupt gezeigt und besucht werden können. Manche berufen sich darauf, daß es keine Gesetze gebe, die es ermöglichten, die Vorführung von Filmen dieses Mannes zu untersagen. Das ist richtig, und auch der Bundestag kann ihre Vorführung nicht verhindern. Ich glaube aber, daß man dem wahren Rechte dient, wenn in diesem Hause dagegen Protest erhoben wird, daß ausgerechnet am Sitze des deutschen Parlaments, das in diesem Lande in ganz besonderem Maße der Hüter und Herold echter Toleranz zu sein hat, Filme eines Mannes aufgeführt werden, der zumindest indirekt mit dazu beigetragen hat, die massenpsychologischen Voraussetzungen für die Vergasungen von Auschwitz zu schaffen."
Das Protokoll verzeichnet hierzu "Beifall links und bei den Regierungsparteien". Für die Beurteilung des Verhaltens des Beschwerdeführers kann die hier zum Ausdruck gekommene Auffassung des repräsentativen Vertretungsorgans des deutschen Volkes nicht gleichgültig sein. Sie macht es unmöglich, in den Äußerungen des Beschwerdeführers einen Verstoß gegen die "Auffassungen der verständigen, billig und gerecht denkenden Bürger" zu sehen.
IV.
Das Bundesverfassungsgericht ist auf Grund dieser Erwägungen zu der Überzeugung gelangt, daß das Landgericht bei seiner Beurteilung des Verhaltens des Beschwerdeführers die besondere Bedeutung verkannt hat, die dem Grundrecht auf freie Meinungsäußerung auch dort zukommt, wo es mit privaten Interessen anderer in Konflikt tritt. Das Urteil des Landgerichts beruht auf diesem Verfehlen grundrechtlicher Maßstäbe und verletzt so das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art. 5 Abs. 1 Satz I GG. Es ist deshalb aufzuheben.