BVerfG-Urteile

Menschenwürdebegriff des BVerfG; Objektformel

Beitragvon MARS » Di 21. Mai 2013, 23:46

BVerfG - Beschluß v. 20.02.2009

BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

- 1 BvR 2266/04 -
- 1 BvR 2620/05 -
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerden


des P... e.V.,
vertreten durch den Vorsitzenden

- Bevollmächtigter:
Rechtsanwalt Wolfgang Schindler,
Wessobrunner Straße 33, 81377 München -

1. gegen a) den Beschluss des Kammergerichts vom 27. August 2004 - 9 U 118/04 -,
b) den Beschluss des Kammergerichts vom 30. Juli 2004 - 9 U 118/04 -,
c) das Urteil des Landgerichts Berlin vom 22. April 2004 - 27 O 207/04 -,
d) den Beschluss des Landgerichts Berlin vom 18. März 2004 - 27 O 207/04 -


- 1 BvR 2266/04 -,

2. gegen a) den Beschluss des Kammergerichts vom 25. November 2005 - 9 U 15/05 -,
b) das Urteil des Landgerichts Berlin vom 2. Dezember 2004 - 27 O 676/04 -


- 1 BvR 2620/05 -


hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch

den Präsidenten Papier
und die Richter Eichberger,
Masing


gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 20. Februar 2009 einstimmig beschlossen:


Die Verfassungsbeschwerden werden nicht zur Entscheidung angenommen.

Gründe:
1

Die Verfassungsbeschwerden richten sich gegen zivilgerichtliche Verurteilungen des Beschwerdeführers zur Unterlassung von Bildveröffentlichungen. Dabei betrifft das Verfahren 1 BvR 2266/04 die im fachgerichtlichen Eilverfahren ergangenen Entscheidungen, während sich die Verfassungsbeschwerde in der Sache 1 BvR 2620/05 gegen die Entscheidungen im Hauptsacheverfahren richtet.
I.
2

1. Der Beschwerdeführer, ein eingetragener Verein, ist die deutsche Repräsentanz der weltweiten Tierschutzorganisation „P.“. Er vertritt die Auffassung, dass wegen des vergleichbaren Leidens- und Schmerzempfindens von Mensch und Tier der Mensch kein Recht habe, Tiere für seine Zwecke zu gebrauchen, sondern moralisch gehalten sei, auf die Nutzung tierischer Produkte zu verzichten. Ausgehend von dieser Haltung setzt der Beschwerdeführer sich nach seiner Satzung für die Verbesserung der Lebensbedingungen von Tieren ein. Zu diesem Zweck wollte der Beschwerdeführer im März 2004 eine im Wesentlichen gleichartig zuvor in den USA präsentierte Werbekampagne unter dem Titel „Der Holocaust auf Ihrem Teller“ beginnen. Dabei sollte unter anderem auf Plakatwänden jeweils ein Foto aus dem Bereich der Massentierhaltung neben einer Abbildung von lebenden oder toten Häftlingen von Konzentrationslagern aus der Zeit des Nationalsozialismus gezeigt werden. Die Darstellungen sollten jeweils mit einer kurzen Beschriftung versehen werden, die so angelegt war, dass sie vom Betrachter als auf beide Fotografien gleichermaßen bezogen angesehen werden musste.
3

Die Antragsteller und Kläger der Ausgangsverfahren (im Folgenden: Kläger) waren seinerzeit der Präsident und die Vizepräsidenten des Zentralrates der Juden in Deutschland, einer Körperschaft des öffentlichen Rechts, die die Interessen der in Deutschland lebenden Juden vertritt. Sie überlebten als Kinder den Holocaust, dem ihre Familien teilweise zum Opfer fielen. Nachdem sie durch öffentliche Ankündigungen des Beschwerdeführers von dessen geplanter Werbekampagne erfahren hatten, beantragten sie beim Landgericht, dem Beschwerdeführer im Wege der einstweiligen Verfügung zu untersagen, die im Einzelnen bezeichneten Darstellungen von nebeneinander gestellten Szenen aus der Massentierhaltung und aus Konzentrationslagern der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
4

Mit dem hier angegriffenen Beschluss vom 18. März 2004 erließ das Landgericht antragsgemäß eine entsprechende Verbotsverfügung. Auf den Widerspruch des Beschwerdeführers bestätigte das Landgericht die einstweilige Verfügung mit dem hier ebenfalls angegriffenen Urteil vom 22. April 2004. Zur Begründung führte das Gericht aus, die Kläger hätten einen Unterlassungsanspruch gegen den Beschwerdeführer aus § 823 Abs. 1 und 2 BGB in Verbindung mit § 1004 Abs. 1 Satz 2 BGB analog, §§ 185 ff. StGB, Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 GG. Die Kläger seien als Überlebende der Judenverfolgung in der Zeit des Nationalsozialismus von den streitgegenständlichen Äußerungen betroffen. Bei diesen handele es sich um Meinungsäußerungen, nicht um Tatsachenbehauptungen. Der in ihnen enthaltene Tatsachenkern trete jedenfalls hinter dem auf die Gegenüberstellung von tierischem und menschlichem Leid zielenden Werturteil zurück. Die Äußerungen unterfielen daher der Schutzwirkung des Art. 5 Abs. 1 GG. Dieser finde allerdings seine Schranke in § 185 StGB, die ihrerseits in Einklang mit dem Grundrecht der Meinungsfreiheit auszulegen und anzuwenden sei. Deshalb bedürfe es grundsätzlich einer einzelfallbezogenen Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit einerseits und dem kollidierenden Rechtsgut andererseits. In deren Rahmen sei zu beachten, dass für die geplante Kampagne, die zur öffentlichen Meinungsbildung beitrage und daher keine Schmähkritik enthalte, die grundsätzliche Vermutung der Zulässigkeit streite. Allerdings bestehe insoweit kein Automatismus; vielmehr sei vorliegend zu berücksichtigen, dass die Gleichsetzung von Holocaustopfern mit Tieren vor dem Hintergrund des Menschenbildes des Grundgesetzes willkürlich erscheine und dass der Beschwerdeführer die Erniedrigung der abgebildeten Menschen im Interesse der von ihm für richtig gehaltenen Ziele instrumentalisiere.
5

Hierauf komme es aber letztlich nicht an, weil anerkannt sei, dass die Meinungsfreiheit stets zurücktreten müsse, wenn eine Äußerung die Menschenwürde eines anderen antaste. Dies sei hier der Fall. Die angegriffenen Darstellungen enthielten eine Gegenüberstellung und damit auch eine Gleichsetzung der Bedingungen, unter denen die Insassen von Konzentrationslagern einerseits und Tiere in Massentierhaltung andererseits gelebt hätten oder noch lebten. Die Abbildungen seien gerade deshalb so öffentlichkeitswirksam und aufwühlend, weil die nebeneinander montierten Fotos scheinbar ähnliche Situationen zeigten, die sich lediglich dadurch unterschieden, dass auf der einen Seite Tiere und auf der anderen Seite lebende oder tote Menschen abgebildet seien. Der durchschnittliche Betrachter entnehme diesen Darstellungen, dass das Schicksal der abgebildeten Tiere und Menschen auf eine Stufe gestellt und die Behandlung beider Wesen als gleichermaßen verwerflich hingestellt werden sollten. Hierin manifestiere sich eine Beleidigung der Kläger als Opfer des Holocaust, indem der ihnen kraft Menschseins zukommende Achtungsanspruch verletzt und damit auch in die gemäß Art. 1 Abs. 1 GG geschützte Menschenwürde eingegriffen werde. Zwar werde nicht das Menschsein der Holocaustopfer als solches in Frage gestellt, doch werde es auf eine Stufe mit dem Leid der Tiere gestellt. Daran ändere auch nichts, dass es dem Beschwerdeführer nach seinen eigenen Angaben nicht um eine Abwertung der Leiden der Menschen, sondern eine Aufwertung der Tiere in der öffentlichen Meinung gehe, denn auch hierin liege eine Gleichsetzung beider Leiden. Diese sei nach dem Grundgesetz nicht zu rechtfertigen, da dieses die Menschenwürde in das Zentrum sämtlichen staatlichen Wirkens stelle, den Tierschutz aber nicht einmal im Rahmen einer Staatszielbestimmung erwähne. So komme auch in Art. 20a GG zum Ausdruck, dass die natürlichen Lebensgrundlagen gerade als eine Funktion künftigen menschlichen Lebens zu schützen seien. Ein Widerspruch zu von dem Beschwerdeführer angeführten obergerichtlichen Entscheidungen bestehe nicht. Insbesondere weise ein lediglich verbaler Vergleich zwischen der Haltung von Legehennen und dem Schicksal der Insassen von Konzentrationslagern eine wesentlich geringere Eingriffsintensität auf als die hier gegenständlichen Bilddarstellungen, in denen die abgebildeten Menschen – gerade infolge ihrer unmenschlichen Behandlung durch andere – auf ihre biologische Existenz zurückgeworfen seien. Die Darstellung von Menschen in Momenten größter Schwäche und Demütigung betreffe deren Achtungsanspruch in besonderer Weise.
6

Die Berufung des Beschwerdeführers gegen das Urteil des Landgerichts verwarf das Kammergericht mit dem hier angegriffenen Beschluss vom 27. August 2004 gemäß § 522 Abs. 2 ZPO. Zur Begründung machte es sich im Wesentlichen die Ausführungen des Landgerichts zueigen. Dieses habe insbesondere nicht verkannt, dass es sich bei dem tenorierten Veröffentlichungsverbot um eine rechtfertigungsbedürftige Einschränkung des Grundrechts auf Meinungsfreiheit handele. Es habe indes zu Recht angenommen, dass die streitgegenständlichen Bilddarstellungen die Menschenwürde der Holocaustopfer und damit auch der Kläger verletze, welche die staatlichen Gerichte auch bei der Entscheidung über einen privatrechtlichen Rechtsstreit zu beachten hätten. Die Subjektqualität der Opfer werde in Frage gestellt, indem ihr Schicksal benutzt werde, um auf das Anliegen des Beschwerdeführers aufmerksam zu machen.
7

Die Kläger verfolgten ihr Unterlassungsbegehren sodann im Hauptsacheverfahren weiter. Mit dem im Verfahren 1 BvR 2620/05 angegriffenen Urteil vom 2. Dezember 2004 gab das Landgericht ihrer Klage statt. Zur Begründung stellte das Gericht darauf ab, dass es an seiner im vorangegangenen einstweiligen Verfügungsverfahren dargelegten Rechtsauffassung festhalte. Ergänzend führte es aus, dass es für den geltend gemachten Unterlassungsanspruch unerheblich sei, ob bei einer naturwissenschaftlichen oder philosophischen Betrachtungsweise das Leiden hochentwickelter Säugetiere dem der Menschen vergleichbar sei. Denn die allein entscheidende rechtliche Beurteilung der streitgegenständlichen Bilder habe sich an dem Wertmaßstab des Grundgesetzes zu orientieren, in dessen Zentrum die Würde des Menschen stehe.
8

Die hiergegen eingelegte Berufung des Beschwerdeführers wies das Kammergericht mit dem hier angegriffenen Beschluss vom 25. November 2005 gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurück. Zur Begründung bekräftigte das Gericht seine bereits in dem vorangegangenen einstweiligen Verfügungsverfahren dargelegte Rechtsauffassung und führte ergänzend aus, dass die Verletzung der Menschenwürde durch die streitgegenständliche Kampagne auch nicht durch die von dem Beschwerdeführer vertretene tierrechtliche Position in Frage gestellt werde. Der Beschwerdeführer berücksichtige nicht hinreichend, dass nicht nur Handlungen in menschenverachtender Tendenz die Menschenwürde verletzen könnten und selbst gute Zwecke, wie der von Art. 20a GG umfasste Tierschutz, einen objektiv gegebenen Menschenwürdeverstoß nicht rechtfertigen könnten.
9

2. Mit seinen Verfassungsbeschwerden macht der Beschwerdeführer geltend, dass die angegriffenen Entscheidungen des einstweiligen Verfügungsverfahrens (1 BvR 2266/04) gegen seine Grundrechte aus Art. 5 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 und Art. 103 Abs. 1 GG verstießen und die im Hauptsacheverfahren ergangenen Entscheidungen (1 BvR 2620/05) ihn in seinen Grundrechten aus Art. 5 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 GG sowie Art. 2 Abs. 1 GG, auch in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip verletzten.
10

Hinsichtlich seines Grundrechts auf Meinungsfreiheit führt er aus, der in den geplanten Bilddarstellungen gezogene Holocaustvergleich sei ein unverzichtbares Mittel, um die geistige Auseinandersetzung zu bereichern. Die Entscheidungen der Fachgerichte beruhten auf einer Fehldeutung des Aussagegehalts der Bilder. Diese setzten die Schicksale der abgebildeten Menschen und Tiere schon nicht gleich. Selbst wenn aber davon ausgegangen werde, dass die Darstellungen die Behauptung der Gleichwertigkeit von Mensch und Tier beinhalteten, so könnte dies nur dann als Herabsetzung des Menschen verstanden werden, wenn davon ausgegangen werden könnte, dass der Äußernde Tiere für minderwertig halte; ebendies sei aber bei dem Beschwerdeführer erkennbar nicht der Fall.
11

Auch behandelten die angegriffenen Entscheidungen die streitgegenständlichen Bilddarstellungen zu Unrecht anders als entsprechende verbale Holocaustvergleiche, die vielfach vorkämen und in keinem Fall als Angriff auf die Würde der Opfer verstanden worden seien; hierdurch verstießen sie zugleich gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Unzutreffend sei auch die Annahme, dass die Leiden der Insassen von Konzentrationslagern durch die streitgegenständliche Kampagne verharmlost würden. Vielmehr sei die Ungeheuerlichkeit des Holocausts gerade Grundlage der Kampagne. Auch in dem Vergleich von deren Leid mit dem Leid der abgebildeten Tiere liege keine Bagatellisierung. Vielmehr sei die Leidensfähigkeit naturwissenschaftlich belegt, und die Bedingungen der Massentierhaltung verursachten bei den betroffenen Tieren auch sehr schweres Leid.
12

Schließlich hätten die Fachgerichte verkannt, dass auch bei unterstelltem Verstoß gegen die Menschenwürde der abgebildeten Opfer des Holocaust jedenfalls die Kläger sich hierauf nicht berufen könnten. Dies gelte umso mehr, weil gar nicht erkennbar sei, ob es sich bei den abgebildeten Personen überhaupt um Juden oder um andere Opfer des Nationalsozialismus wie etwa Homosexuelle, Sinti und Roma oder politisch Andersdenkende handele; auch der Begriff „Holocaust“ bezeichne nicht nur die Verfolgung der Juden.
II.
13

1. Die Verfassungsbeschwerden werden nicht zur Entscheidung angenommen, weil Annahmegründe gemäß § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht vorliegen.
14

a) Den Verfassungsbeschwerden kommt keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung im Sinne des § 93a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG zu. Das Bundesverfassungsgericht hat die maßgeblichen Fragen bereits entschieden. Dies gilt namentlich für den Einfluss des Grundrechts der Meinungsfreiheit bei der Auslegung und Anwendung grundrechtsbeschränkender Vorschriften des einfachen Rechts (vgl. BVerfGE 82, 43 <50 ff.>; 93, 266 <292 ff.>).
15

b) Die Annahme der Verfassungsbeschwerden ist auch nicht zur Durchsetzung der geltend gemachten Rechte des Beschwerdeführers angezeigt.
16

aa) In der Sache 1 BvR 2266/04, die sich gegen die Entscheidungen im fachgerichtlichen Eilverfahren richtet, ist die Verfassungsbeschwerde bereits unzulässig, weil das für die Verfassungsbeschwerde erforderliche Rechtsschutzbedürfnis an einer Sachentscheidung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfGE 105, 239 <246>) jedenfalls nicht mehr besteht. Denn dem Beschwerdeführer ist mit der Rechtskraft der Entscheidung über die Unterlassungsklage im fachgerichtlichen Hauptsacheverfahren ein einfacheres Mittel zur Beseitigung der Beschwer zugewachsen. Nach der zivilgerichtlichen Rechtsprechung ist nämlich davon auszugehen, dass mit Eintritt der Rechtskraft eines dem Titel im Verfügungsverfahren gleichlautenden Hauptsacheurteils der Verfügungsgrund entfällt, wodurch die einstweilige Verfügung ihre Erledigung findet (vgl. OLG Hamm, Urteil vom 12. November 1987 - 4 U 131/87 -, juris; OLG Düsseldorf, Urteil vom 3. Mai 1990 - 2 U 10/90 -, juris). Der Schuldner kann daher regelmäßig die Aufhebung der einstweiligen Verfügung gemäß §§ 927, 936 ZPO verlangen. Da ein ausnahmsweise bestehendes Interesse des Gläubigers am Fortbestand der einstweiligen Verfügung (vgl. OLG Düsseldorf, a.a.O.) vorliegend nicht dargelegt oder sonst ersichtlich ist, muss sich der Beschwerdeführer auf diesen Weg zur Beseitigung des im einstweiligen Rechtsschutzverfahren ergangenen Unterlassungstitels verweisen lassen.
17

bb) Die Annahme der das fachgerichtliche Hauptsacheverfahren betreffenden Verfassungsbeschwerde 1 BvR 2620/05 ist jedenfalls deshalb nicht gemäß § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG angezeigt, weil deutlich abzusehen ist, dass der Beschwerdeführer auch im Falle einer Zurückverweisung im Ergebnis keinen Erfolg haben würde (vgl. BVerfGE 90, 22 <25 f.>).
18

(1) Allerdings begegnet die Begründung, auf die das Landgericht und im Anschluss daran das Kammergericht den Unterlassungsanspruch der Kläger stützen, verfassungsrechtlichen Bedenken. Die Gerichte gehen bei der Anwendung der vorliegend als Schranke des Grundrechts auf Meinungsfreiheit gemäß Art. 5 Abs. 2 GG in Betracht gezogenen zivilrechtlichen Anspruchsgrundlage aus § 823 Abs. 1 und 2 BGB in Verbindung mit § 1004 Abs. 1 Satz 2 BGB analog, §§ 185 ff. StGB davon aus, dass die Kläger als frühere Verfolgte der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft durch die Kampagne des Beschwerdeführers in ihrer Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) betroffen seien. Infolge dieser Auffassung halten die Gerichte es nicht für erforderlich, die Rechte der Kläger einerseits und die Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers andererseits abwägend zueinander ins Verhältnis zu setzen.
19

Das Bundesverfassungsgericht hat mehrfach betont, dass es angesichts des sämtlichen Grundrechten innewohnenden Menschenwürdekerns einer besonders sorgfältigen Begründung bedarf, wenn angenommen werden soll, dass der Gebrauch eines Grundrechts auf die unantastbare Menschenwürde durchschlage und deshalb eine Abwägung ausgeschlossen sei (vgl. BVerfGE 93, 266 <293>; 107, 275 <284>); ein Berühren der Menschenwürde genügt hierfür nicht, sondern es ist eine sie treffende Verletzung vorausgesetzt (vgl. BVerfG, 1. Kammer des Ersten Senats, Beschluss vom 5. April 2001 - 1 BvR 932/94 -, NJW 2001, S. 2957 <2959>).
20

Es erscheint zumindest zweifelhaft, ob die hier angegriffenen Entscheidungen diesem Maßstab entsprechen. Zwar ist die Deutung, die die Gerichte den Bilddarstellungen der streitgegenständlichen Kampagne gegeben haben, nach den Anforderungen, die das Grundrecht auf Meinungsfreiheit bereits auf dieser Ebene stellt (vgl. BVerfGE 82, 43 <52>; 93, 266 <295>), nicht zu beanstanden. Zu Recht gehen die Gerichte davon aus, das insoweit maßgebliche verständige und unvoreingenommene Publikum (vgl. BVerfGE 93, 266 <295>; 114, 339 <348>) verstehe die Gegenüberstellung der Fotografien dahingehend, dass das den abgebildeten Tieren zugefügte Leid als ebenso schwerwiegend wie das der daneben ins Bild gesetzten Menschen und beider Behandlung als gleichermaßen verwerflich hingestellt werde. Diese Interpretation stützen sie nachvollziehbar auf die visuelle Parallelisierung der formal ähnlichen Szenen und die beigefügten Textzeilen. Eine ebenso naheliegende, die Rechte anderer in geringerem Maße beeinträchtigende Alternativdeutung ist nicht ersichtlich und brauchte von den Gerichten nicht erwogen zu werden, zumal auch der Beschwerdeführer selbst dem in den angegriffenen Entscheidungen zugrunde gelegten Verständnis seiner Äußerung nicht entgegentritt, sondern dieses ausdrücklich als naheliegend und wünschenswert bezeichnet.
21

Jedoch dürfte durch die so verstandene Äußerung weder unmittelbar die Menschenwürde der abgebildeten Menschen noch die der Kläger in der von den Fachgerichten angenommenen Weise verletzt sein mit der Folge, dass es auf eine weitere Abwägung nicht mehr ankommen würde. Es steht zwar außer Frage, dass die Fotografien der Holocaustopfer diese fast ausnahmslos in einer Situation zeigen, in der sie durch ihre Peiniger in höchstem Maße entwürdigt sind. Daraus, dass die Kampagne sich bildlicher Darstellungen schwerer Menschenwürdeverletzungen bedient, folgt aber nicht ohne weiteres, dass sie ihrerseits erneut gegen Art. 1 Abs. 1 GG verstößt. Das Bundesverfassungsgericht hat den Gewährleistungsgehalt der durch Art. 1 Abs. 1 GG geschützten Menschenwürde bisher zumeist von dem jeweils in Frage stehenden Verletzungsvorgang her bestimmt (vgl. BVerfGE 109, 279 <311 f.> m.w.N.). Dabei hat es betont, dass sich nicht generell, sondern immer nur in Ansehung des konkreten Falles beurteilen lässt, unter welchen Umständen die Menschenwürde verletzt sein kann (vgl. BVerfGE 30, 1 <25>; 109, 279 <311>; 115, 118 <153>). Als Verletzungshandlungen Dritter, vor denen der Staat den Betroffenen gemäß Art. 1 Abs. 1 GG zu schützen hat, wurden beispielhaft genannt die Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung oder Ächtung eines Menschen (vgl. BVerfGE 1, 97 <104>). In späteren Entscheidungen hat das Gericht in Auseinandersetzung mit Grund und Grenzen der so genannten Objektformel die Schwelle zur Verletzung der Menschenwürde dort überschritten gesehen, wo der Mensch einer Behandlung ausgesetzt wird, die seine Subjektqualität prinzipiell in Frage stellt und daher Ausdruck der Verachtung des dem Menschen kraft seines Personseins zukommenden Wertes ist (vgl. BVerfGE 30, 1 <26>; 109, 279 <312 f.>).
22

Ebendiese Qualität ist der hier gegenständlichen Kampagne aber nicht eigen. Insbesondere wird den dargestellten Holocaustopfern durch die Kampagne des Beschwerdeführers nicht der personale Wert abgesprochen, indem sie wie Tiere bewertet oder gar behandelt werden. Mag auch der Beschwerdeführer generell von der Gleichwertigkeit menschlichen und tierischen Lebens überzeugt sein, so liegt in der geplanten Bildkampagne nach der von den Fachgerichten zugrunde gelegten Deutung keine verächtlich machende Tendenz. Als gleich gewichtig wird nämlich allein das Leiden dargestellt, das den abgebildeten Menschen und Tieren zugefügt wird.
23

Auch die weitere von den Fachgerichten angestellte Erwägung, der Beschwerdeführer benutze das bildlich dargestellte leidvolle Schicksal der Holocaustopfer, das von den Klägern in gewissem Umfang geteilt wird, um auf das Anliegen des Beschwerdeführers aufmerksam zu machen, trägt die Annahme eines Menschenwürdeverstoßes nicht. Denn auch dieser Indienstnahme der leidvollen Lebensgeschichte eines anderen Menschen fehlt es an dem Merkmal der prinzipiellen Objektivierung, also Verachtung des dem Menschen um seiner selbst willen zukommenden Wertes (vgl. auch BVerfGE 107, 275 <285 f.>).
24

(2) Indes braucht die Frage, ob die Gerichte vorliegend von einer Verletzung der Menschenwürde oder des ebenfalls keiner Abwägung zugänglichen Menschenwürdekerns des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG (vgl. BVerfGE 75, 369 <380>) ausgehen durften, nicht abschließend entschieden zu werden, weil sich der den Klägern zugesprochene Unterlassungsanspruch verfassungsrechtlich tragfähig auch ohne den zweifelhaften Rekurs auf die absolut geschützte Menschenwürde begründen lässt und den angegriffenen Entscheidungen hinreichend deutlich zu entnehmen ist, dass die Gerichte im Fall einer Zurückverweisung zu keinem anderen Ergebnis kommen würden.
25

(a) Die Erwägungen, mit denen die Gerichte einen Menschenwürdeverstoß begründet haben, tragen jedenfalls die Annahme einer Beeinträchtigung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts der Kläger. Es ist insbesondere nicht zu beanstanden, dass die angegriffenen Entscheidungen darauf abstellen, dass nicht nur nach der – empirischen – Mehrheitsmeinung, die der Beschwerdeführer gerade nicht teilt, sondern nach den Bestimmungen des Grundgesetzes ein kategorialer Unterschied zwischen menschlichem, würdebegabtem Leben und den Belangen des Tierschutzes besteht, und infolgedessen die Kampagne des Beschwerdeführers als eine Bagatellisierung und Banalisierung des Schicksals der Holocaustopfer bewerten. Dass das Landgericht hierbei offenbar von einer im Entscheidungszeitpunkt nicht mehr aktuellen Fassung des Art. 20a GG ausgegangen ist und die ausdrückliche Aufnahme der Tiere in die Staatszielbestimmung daher nicht gewürdigt hat, wirkt sich nicht aus, denn dieser Fehler ist durch das Kammergericht korrigiert worden.
26

Dem so verstandenen Aussagegehalt der Werbekampagne durften die Gerichte auch eine Herabsetzung gerade der Kläger entnehmen, die deren Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit 1 Abs. 1 GG berührt. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits entschieden, dass es keinen verfassungsrechtlichen Bedenken begegnet, wenn die Fachgerichte in der Leugnung der Judenverfolgung unter dem Nationalsozialismus eine schwere Persönlichkeitsverletzung auch der heute lebenden Juden erblicken (vgl. BVerfGE 90, 241 <252 f.>, wo zwar ausdrücklich von einem Angriff auf die Menschenwürde ausgegangen, aber gleichwohl eine Abwägung vorausgesetzt wird). Die zugrunde liegende Erwägung, dass es zum personalen Selbstverständnis der heute in Deutschland lebenden Juden gehöre, als zugehörig zu einer durch das Schicksal herausgehobenen Personengruppe begriffen zu werden, der gegenüber eine besondere moralische Verantwortung aller anderen bestehe, und dass dieses Teil ihrer Würde sei (vgl. BGHZ 75, 160 <162 f.>; BVerfGE 90, 241 <252>), lässt sich auf den vorliegenden Sachverhalt übertragen.
27

(b) Auch dieser Rechtsposition kann hier – bei Beachtung der danach bestehenden verfassungsrechtlichen Abwägungsanforderungen – der Vorrang vor der Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers eingeräumt werden. Dass die Gerichte bei einer erneuten Befassung mit der Sache zu ebendiesem Abwägungsergebnis auch gelangen würden, ist den angegriffenen Entscheidungen mit einer hinreichend konkreten Wahrscheinlichkeit zu entnehmen, welche die Versagung der Annahme der Verfassungsbeschwerde nach § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG rechtfertigt. Hierfür spricht zum einen, dass die Entscheidungsgründe – verfassungsrechtlich tragfähige – Ansätze zu einer Abwägung enthalten, die auf eine solche Bewertung bereits hindeuten. Außerdem haben die Gerichte ihre Rechtsauffassung, die streitgegenständliche Kampagne des Beschwerdeführers betreffe die Kläger in ihrer absolut geschützten Menschenwürde, maßgeblich darauf gestützt, dass sie den Eingriff in den personalen Geltungsanspruch der Kläger als besonders schwerwiegend beurteilt haben. Da die hierfür angeführten Erwägungen zugleich tragfähige Kriterien für die Gewichtung eines Eingriffs in das allgemeine Persönlichkeitsrecht darstellen, wie sie im Rahmen einer Abwägung gegen die Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers vorzunehmen wäre, ist zu erwarten, dass die Gerichte sich im Fall der Zurückverweisung hiervon leiten lassen und den Persönlichkeitsinteressen der Kläger so den Vorrang vor der Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers einräumen würden.
28

2. Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
29

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Papier Eichberger Masing
MARS
 
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"rettende" Flugzeugabschüsse verfassungswidrig

Beitragvon MARS » Di 28. Mai 2013, 08:14

BVerfG- Urteil v. 15.02. 2006 - 1 BvR 357/05 -

L e i t s ä t z e

zum Urteil des Ersten Senats vom 15. Februar 2006

- 1 BvR 357/05 -


Der Bund hat unmittelbar aus Art. 35 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 Satz 1 GG das Recht zur Gesetzgebung für Regelungen, die das Nähere über den Einsatz der Streitkräfte bei der Bekämpfung von Naturkatastrophen und besonders schweren Unglücksfällen nach diesen Vorschriften und über das Zusammenwirken mit den beteiligten Ländern bestimmen. Der Begriff des besonders schweren Unglücksfalls umfasst auch Vorgänge, die den Eintritt einer Katastrophe mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit erwarten lassen.

Art. 35 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 Satz 1 GG erlaubt es dem Bund nicht, die Streitkräfte bei der Bekämpfung von Naturkatastrophen und besonders schweren Unglücksfällen mit spezifisch militärischen Waffen einzusetzen.

Die Ermächtigung der Streitkräfte, gemäß § 14 Abs. 3 des Luftsicherheitsgesetzes durch unmittelbare Einwirkung mit Waffengewalt ein Luftfahrzeug abzuschießen, das gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden soll, ist mit dem Recht auf Leben nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG in Verbindung mit der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG nicht vereinbar, soweit davon tatunbeteiligte Menschen an Bord des Luftfahrzeugs betroffen werden.

BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

- 1 BvR 357/05 -
Verkündet
am 15. Februar 2006
Achilles
Amtsinspektorin
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
Bundesadler
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde

1. des Herrn Dr. H...,
2. des Herrn B...,
3. des Herrn Dr. F...,
4. des Herrn Dr. H...,
5. des Herrn Dipl.Ing. T...,
6. des Herrn A...,

- Bevollmächtigter der Beschwerdeführer zu 2 bis 6:
Rechtsanwalt Dr. Burkhard Hirsch,
Rheinallee 120, 40545 Düsseldorf -

gegen § 14 Abs. 3 des Luftsicherheitsgesetzes (LuftSiG) vom 11. Januar 2005 (BGBl I S. 78)


hat das Bundesverfassungsgericht - Erster Senat – unter Mitwirkung des Präsidenten Papier,
der Richterin Haas,
der Richter Hömig,
Steiner,
der Richterin Hohmann-Dennhardt
und der Richter Hoffmann-Riem,
Bryde,
Gaier


auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 9. November 2005
durch
Urteil

für Recht erkannt:


§ 14 Absatz 3 des Luftsicherheitsgesetzes vom 11. Januar 2005 (Bundesgesetzblatt I Seite 78) ist mit Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 in Verbindung mit Artikel 87 a Absatz 2 und Artikel 35 Absatz 2 und 3 sowie in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes unvereinbar und nichtig.
Die Bundesrepublik Deutschland hat den Beschwerdeführern ihre notwendigen Auslagen zu erstatten.


Gründe:
A.
1

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die Ermächtigung der Streitkräfte durch das Luftsicherheitsgesetz, Luftfahrzeuge, die als Tatwaffe gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden sollen, durch unmittelbare Einwirkung mit Waffengewalt abzuschießen.
I.
2

1. Am 11. September 2001 wurden in den Vereinigten Staaten von Amerika vier Passagierflugzeuge amerikanischer Fluggesellschaften von einer internationalen Terrororganisation entführt und zum Absturz gebracht. Zwei der Flugzeuge schlugen in das World Trade Center in New York ein, eines stürzte in das Pentagon, das Verteidigungsministerium der Vereinigten Staaten von Amerika. Die vierte Maschine kam, nachdem möglicherweise das Eingreifen von Passagieren an Bord zu einer Kursänderung geführt hatte, südöstlich von Pittsburgh im Bundesstaat Pennsylvania zum Absturz. Bei den Anschlägen starben mehr als 3.000 Menschen in den Flugzeugen, im Bereich des World Trade Center und im Pentagon.
3

Am 5. Januar 2003 kaperte ein bewaffneter Mann ein Sportflugzeug, kreiste damit über dem Bankenviertel von Frankfurt am Main und drohte, das Flugzeug in das Hochhaus der Europäischen Zentralbank zu stürzen, wenn ihm nicht ein Telefonat in die Vereinigten Staaten von Amerika ermöglicht werde. Ein Polizeihubschrauber und zwei Düsenjäger der Luftwaffe stiegen auf und umkreisten den Motorsegler. Die Polizei löste Großalarm aus, die Innenstadt Frankfurts wurde geräumt, Hochhäuser wurden evakuiert. Gut eine halbe Stunde nach der Kaperung war klar, dass es sich bei dem Entführer um einen verwirrten Einzeltäter handelte. Nachdem seine Forderung erfüllt worden war, landete er auf dem Rhein-Main-Flughafen und ließ sich widerstandslos festnehmen.
4

2. Beide Vorfälle lösten eine Vielzahl von Maßnahmen aus mit dem Ziel, unrechtmäßige Eingriffe in die zivile Luftfahrt zu verhindern, die Sicherheit der Zivilluftfahrt insgesamt zu verbessern und dabei auch gegen Gefahren zu schützen, die drohen, wenn Luftfahrzeuge (zum Begriff des Luftfahrzeugs vgl. § 1 Abs. 2 des Luftverkehrsgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 27. März 1999, BGBl I S. 550) in die Gewalt von Menschen gelangen, die sie für luftverkehrsfremde Zwecke missbrauchen wollen.
5

a) Unter dem 16. Dezember 2002 erließen das Europäische Parlament und der Rat der Europäischen Union die - durch Verordnung (EG) 849/2004 vom 29. April 2004 (ABlEG Nr. L 158 vom 30. April 2004, S. 1) geänderte - Verordnung (EG) Nr. 2320/2002 zur Festlegung gemeinsamer Vorschriften für die Sicherheit in der Zivilluftfahrt (ABlEG Nr. L 355 vom 30. Dezember 2002, S. 1). Sie sieht für die Flughäfen in den Hoheitsgebieten der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft die Einführung umfangreicher Sicherheitsmaßnahmen für den Luftverkehr vor. Dazu gehören die Festlegung von Anforderungen an die nationale Flughafenplanung, Regelungen über die Überwachung aller der Öffentlichkeit zugänglichen Flughafenbereiche, Vorschriften über Durchsuchungen von Flugzeugen, Personal und mitgeführten Gegenständen, Bestimmungen über die Kontrolle von Fluggästen und deren Gepäck sowie Vorgaben für ein nationales Programm über die Einstellung und Schulung von Flug- und Bodenpersonal.
6

b) In der Bundesrepublik Deutschland sind sowohl in tatsächlicher als auch in rechtlicher Hinsicht Maßnahmen getroffen worden, die der Stärkung der Sicherheit des Luftverkehrs und dem Schutz vor Angriffen auf diesen Verkehr dienen sollen.
7

aa) Seit dem 1. Oktober 2003 ist ein in Kalkar am Niederrhein eingerichtetes Nationales Lage- und Führungszentrum "Sicherheit im Luftraum" einsatzbereit. Es soll als zentraler Informationsknotenpunkt zur Gewährleistung der Sicherheit im deutschen Luftraum ein koordiniertes, rasches Zusammenwirken aller mit Fragen der Luftsicherheit befassten Stellen von Bund und Ländern sicherstellen. In ihm kontrollieren Angehörige der Bundeswehr, der Bundespolizei und der Deutschen Flugsicherung den Luftraum. Aufgabe des Zentrums ist es vor allem, Gefahren abzuwehren, die von so genannten Renegade-Flugzeugen drohen; das sind zivile Luftfahrzeuge, die in die Gewalt von Menschen gelangt sind, die sie als Waffe für einen gezielten Absturz missbrauchen wollen. Nach der Klassifizierung eines Luftfahrzeugs als Renegade - sei es von Seiten der NATO, sei es durch das Nationale Lage- und Führungszentrum selbst - liegt die Verantwortung für die erforderlichen Abwehrmaßnahmen im deutschen Luftraum bei den zuständigen Stellen der Bundesrepublik Deutschland.
8

bb) Die rechtlichen Grundlagen für diese Maßnahmen sind in dem Gesetz zur Neuregelung von Luftsicherheitsaufgaben vom 11. Januar 2005 (BGBl I S. 78) enthalten.
9

aaa) Mit diesem Gesetz, das der Bundesrat für zustimmungsbedürftig gehalten, dem er aber nicht zugestimmt hat (vgl. BRDrucks 716/04 [Beschluss], zu BRDrucks 716/04 [Beschluss]), sind Bestimmungen zur Abwehr äußerer Gefahren für die Luftsicherheit, die bisher im Luftverkehrsgesetz enthalten und mit fremden Regelungsmaterien verbunden waren, zusammengefasst und Anpassungen an die Verordnung (EG) Nr. 2320/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2002 vorgenommen worden (vgl. BTDrucks 15/2361, S. 14). Artikel 1 des Gesetzes enthält als Herzstück der Neuregelung das Luftsicherheitsgesetz (LuftSiG).
10

(1) Dieses dient nach seinem § 1 dem Schutz vor Angriffen auf die Sicherheit des Luftverkehrs, insbesondere vor Flugzeugentführungen, Sabotageakten und terroristischen Anschlägen. Gemäß § 2 LuftSiG hat die Luftsicherheitsbehörde die Aufgabe, Angriffe auf die Sicherheit des Luftverkehrs abzuwehren. Sie trifft nach § 3 LuftSiG die notwendigen Maßnahmen, um eine im Einzelfall bestehende Gefahr für die Sicherheit des Luftverkehrs abzuwehren, soweit nicht § 5 LuftSiG ihre Befugnisse besonders regelt.
11

Dieser räumt den Luftsicherheitsbehörden zur Sicherung der nicht allgemein zugänglichen Bereiche von Flugplätzen umfassende Kontroll- und Durchsuchungsbefugnisse gegenüber Personen und Gegenständen ein. § 7 LuftSiG überträgt den Luftsicherheitsbehörden die Befugnis zur Zuverlässigkeitsüberprüfung von Personen, die aus beruflichen Gründen mit dem Flug- und Flughafenbetrieb in Berührung kommen. Die §§ 8 und 9 LuftSiG begründen für Flugplatzbetreiber und Luftfahrtunternehmen besondere Pflichten zum Schutz vor Angriffen auf die Sicherheit des Luftverkehrs. § 11 LuftSiG verbietet das Mitführen bestimmter Gegenstände in Luftfahrzeugen. § 12 LuftSiG schließlich regelt die Beleihung der verantwortlichen Luftfahrzeugführer mit Aufgaben und Befugnissen zur Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung an Bord der von ihnen gesteuerten Luftfahrzeuge.
12

Die Aufgaben der Luftsicherheitsbehörden werden nach § 16 Abs. 2 LuftSiG grundsätzlich von den Ländern im Auftrage des Bundes ausgeführt. Der Schutz vor Angriffen auf die Sicherheit des Luftverkehrs gemäß § 5 LuftSiG obliegt dagegen nach § 4 des Bundespolizeigesetzes der Bundespolizei, soweit die Voraussetzungen von § 16 Abs. 3 Satz 2 und 3 LuftSiG vorliegen. Nach den zuletzt genannten Vorschriften können die Aufgaben der Luftsicherheitsbehörden, abgesehen von denen nach § 9 Abs. 1 LuftSiG, durch die vom Bundesministerium des Innern bestimmte Bundesbehörde in bundeseigener Verwaltung ausgeführt werden, wenn dies zur Gewährleistung der bundeseinheitlichen Durchführung der Sicherheitsmaßnahmen erforderlich ist.
13

(2) Einen besonderen Abschnitt 3 des Gesetzes bilden unter der Überschrift "Unterstützung und Amtshilfe durch die Streitkräfte" die §§ 13 bis 15 LuftSiG. Gemäß § 13 Abs. 1 LuftSiG können, wenn auf Grund eines erheblichen Luftzwischenfalls Tatsachen vorliegen, die im Rahmen der Gefahrenabwehr die Annahme begründen, dass ein besonders schwerer Unglücksfall nach Art. 35 Abs. 2 Satz 2 oder Abs. 3 GG bevorsteht, die Streitkräfte zur Unterstützung der Polizeikräfte der Länder im Luftraum zur Verhinderung dieses Unglücksfalls eingesetzt werden, soweit es zur wirksamen Bekämpfung erforderlich ist. Über den Einsatz entscheidet im Fall des so genannten regionalen Katastrophennotstands nach Art. 35 Abs. 2 Satz 2 GG auf Anforderung des betroffenen Landes der Bundesminister der Verteidigung oder im Vertretungsfall das zu seiner Vertretung berechtigte Mitglied der Bundesregierung (§ 13 Abs. 2 LuftSiG), im Fall des überregionalen Katastrophennotstands nach Art. 35 Abs. 3 GG die Bundesregierung im Benehmen mit den betroffenen Ländern (§ 13 Abs. 3 Satz 1 LuftSiG). Ist eine rechtzeitige Entscheidung der Bundesregierung nicht möglich, entscheidet der Bundesminister der Verteidigung oder im Vertretungsfall das zu seiner Vertretung berechtigte Mitglied der Bundesregierung im Benehmen mit dem Bundesminister des Innern (§ 13 Abs. 3 Satz 2 LuftSiG). Gemäß § 13 Abs. 4 Satz 2 LuftSiG richtet sich die Unterstützung durch die Streitkräfte im Rahmen des Einsatzes nach den Vorschriften des Luftsicherheitsgesetzes.
14


Die danach zulässigen Einsatzmaßnahmen und die Grundsätze, die für ihre Auswahl gelten, werden in den §§ 14 und 15 LuftSiG bestimmt. Nach § 15 Abs. 1 LuftSiG dürfen Einsatzmaßnahmen zur Verhinderung des Eintritts eines besonders schweren Unglücksfalls im Sinne von § 14 Abs. 1 und 3 LuftSiG erst getroffen werden, wenn das Luftfahrzeug, von dem die Gefahr eines solchen Unglücksfalls ausgeht, von den Streitkräften zuvor im Luftraum überprüft und sodann erfolglos versucht worden ist, es zu warnen und umzuleiten. Ist diese Voraussetzung erfüllt, dürfen die Streitkräfte gemäß § 14 Abs. 1 LuftSiG das Luftfahrzeug im Luftraum abdrängen, zur Landung zwingen, den Einsatz von Waffengewalt androhen oder Warnschüsse abgeben. Für die Auswahl unter diesen Maßnahmen gilt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (§ 14 Abs. 2 LuftSiG). Erst wenn auch durch sie der Eintritt eines besonders schweren Unglücksfalls nicht verhindert werden kann, ist nach § 14 Abs. 3 LuftSiG die unmittelbare Einwirkung auf das Luftfahrzeug mit Waffengewalt zulässig. Dies gilt jedoch nur, wenn nach den Umständen davon auszugehen ist, dass das Luftfahrzeug gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden soll, und die unmittelbare Einwirkung mit Waffengewalt das einzige Mittel zur Abwehr dieser gegenwärtigen Gefahr ist. Ausschließlich zuständig für die Anordnung dieser Maßnahme ist nach § 14 Abs. 4 Satz 1 LuftSiG der Bundesminister der Verteidigung oder im Vertretungsfall das zu seiner Vertretung berechtigte Mitglied der Bundesregierung.
15

bbb) Während des Gesetzgebungsverfahrens war - abgesehen von Bedenken, die im Hinblick auf die materielle Verfassungsmäßigkeit von § 14 Abs. 3 LuftSiG geäußert wurden - vor allem streitig, ob sich die §§ 13 bis 15 LuftSiG in dem durch Art. 35 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 GG vorgegebenen verfassungsrechtlichen Rahmen halten. Das wurde im Bundestag von der Bundesregierung und den Abgeordneten der Regierungsparteien bejaht (vgl. BTPlenarprotokoll 15/89, S. 7882 f., 7886 <A>, 7900 <C>), von den Vertretern der Oppositionsparteien dagegen verneint (vgl. BTPlenarprotokoll 15/89, S. 7884, 7890 f.). Auch in der vom Bundestagsinnenausschuss durchgeführten Sachverständigenanhörung waren die zu dieser Frage geäußerten Auffassungen kontrovers (vgl. das Ausschussprotokoll Nr. 15/35 über die Sitzung am 26. April 2004). Das Gleiche gilt für die Beratungen des Bundesrates (zur Auffassung der Ausschussmehrheiten vgl. die Empfehlungen in BRDrucks 827/1/03, S. 1 ff., und BRDrucks 509/1/04, S. 13 f.).
16

Die unterschiedliche Einschätzung der verfassungsrechtlichen Lage kam auch darin zum Ausdruck, dass von Seiten der Länder (vgl. vor allem BRDrucks 181/04) und von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion (vgl. BTDrucks 15/2649; 15/4658) wiederholt Gesetzentwürfe vorgelegt wurden, die eine Änderung von Art. 35 und Art. 87 a GG vorsahen. Zu einer Änderung des Grundgesetzes ist es jedoch nicht gekommen (vgl. BTPlenarprotokoll 15/115, S. 10545).
17

ccc) Die Regelungen über die Unterstützung und Amtshilfe durch die Streitkräfte in den §§ 13 bis 15 LuftSiG haben folgenden Wortlaut:
18

§ 13
19

Entscheidung der Bundesregierung
20

(1) Liegen auf Grund eines erheblichen Luftzwischenfalls Tatsachen vor, die im Rahmen der Gefahrenabwehr die Annahme begründen, dass ein besonders schwerer Unglücksfall nach Artikel 35 Abs. 2 Satz 2 oder Abs. 3 des Grundgesetzes bevorsteht, können die Streitkräfte, soweit es zur wirksamen Bekämpfung erforderlich ist, zur Unterstützung der Polizeikräfte der Länder im Luftraum zur Verhinderung dieses Unglücksfalles eingesetzt werden.
21

(2) Die Entscheidung über einen Einsatz nach Artikel 35 Abs. 2 Satz 2 des Grundgesetzes trifft auf Anforderung des betroffenen Landes der Bundesminister der Verteidigung oder im Vertretungsfall das zu seiner Vertretung berechtigte Mitglied der Bundesregierung im Benehmen mit dem Bundesminister des Innern. Ist sofortiges Handeln geboten, ist das Bundesministerium des Innern unverzüglich zu unterrichten.
22

(3) Die Entscheidung über einen Einsatz nach Artikel 35 Abs. 3 des Grundgesetzes trifft die Bundesregierung im Benehmen mit den betroffenen Ländern. Ist eine rechtzeitige Entscheidung der Bundesregierung nicht möglich, so entscheidet der Bundesminister der Verteidigung oder im Vertretungsfall das zu seiner Vertretung berechtigte Mitglied der Bundesregierung im Benehmen mit dem Bundesminister des Innern. Die Entscheidung der Bundesregierung ist unverzüglich herbeizuführen. Ist sofortiges Handeln geboten, sind die betroffenen Länder und das Bundesministerium des Innern unverzüglich zu unterrichten.
23

(4) Das Nähere wird zwischen Bund und Ländern geregelt. Die Unterstützung durch die Streitkräfte richtet sich nach den Vorschriften dieses Gesetzes.
24

§ 14
25

Einsatzmaßnahmen, Anordnungsbefugnis
26

(1) Zur Verhinderung des Eintritts eines besonders schweren Unglücksfalles dürfen die Streitkräfte im Luftraum Luftfahrzeuge abdrängen, zur Landung zwingen, den Einsatz von Waffengewalt androhen oder Warnschüsse abgeben.
27

(2) Von mehreren möglichen Maßnahmen ist diejenige auszuwählen, die den Einzelnen und die Allgemeinheit voraussichtlich am wenigsten beeinträchtigt. Die Maßnahme darf nur so lange und so weit durchgeführt werden, wie ihr Zweck es erfordert. Sie darf nicht zu einem Nachteil führen, der zu dem erstrebten Erfolg erkennbar außer Verhältnis steht.
28

(3) Die unmittelbare Einwirkung mit Waffengewalt ist nur zulässig, wenn nach den Umständen davon auszugehen ist, dass das Luftfahrzeug gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden soll, und sie das einzige Mittel zur Abwehr dieser gegenwärtigen Gefahr ist.
29

(4) Die Maßnahme nach Absatz 3 kann nur der Bundesminister der Verteidigung oder im Vertretungsfall das zu seiner Vertretung berechtigte Mitglied der Bundesregierung anordnen...
30

§ 15
31

Sonstige Maßnahmen
32

(1) Die Maßnahmen nach § 14 Abs. 1 und 3 dürfen erst nach Überprüfung sowie erfolglosen Versuchen zur Warnung und Umleitung getroffen werden. Zu diesem Zweck können die Streitkräfte auf Ersuchen der für die Flugsicherung zuständigen Stelle im Luftraum Luftfahrzeuge überprüfen, umleiten oder warnen...
33

(2) Der ... Inspekteur der Luftwaffe hat den Bundesminister der Verteidigung unverzüglich über Situationen zu informieren, die zu Maßnahmen nach § 14 Abs. 1 und 3 führen könnten.
34

(3) Die sonstigen Vorschriften und Grundsätze der Amtshilfe bleiben unberührt.
II.
35

Die Beschwerdeführer wenden sich mit der Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen das Luftsicherheitsgesetz, weil es dem Staat erlaube, vorsätzlich Menschen zu töten, die nicht Täter, sondern Opfer eines Verbrechens geworden seien. § 14 Abs. 3 LuftSiG, der unter den im Gesetz genannten Voraussetzungen zum Abschuss von Luftfahrzeugen ermächtige, verletze ihre Rechte aus Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 2 GG.
36

1. Die Verfassungsbeschwerde sei zulässig. Die Beschwerdeführer würden durch die angegriffene Regelung unmittelbar in ihren Grundrechten beeinträchtigt. Da sie aus privaten und beruflichen Gründen häufig Flugzeuge benutzten, sei es nicht eine nur theoretische Möglichkeit, dass sie von einer Maßnahme nach § 14 Abs. 3 LuftSiG betroffen sein könnten.
37

2. Die Verfassungsbeschwerde sei auch begründet. Das Luftsicherheitsgesetz verstoße gegen die Grundrechte der Beschwerdeführer auf Menschenwürde und Leben gemäß Art. 1 Abs. l und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG. Es mache sie zum bloßen Objekt staatlichen Handelns. Wert und Erhaltung ihres Lebens würden unter mengenmäßigen Gesichtspunkten und nach der ihnen "den Umständen nach" vermutlich verbleibenden Lebenserwartung in das Ermessen des Bundesministers der Verteidigung gestellt. Sie sollten im Ernstfall geopfert und vorsätzlich getötet werden, wenn der Minister auf der Grundlage der ihm vorliegenden Informationen annehme, dass ihr Leben nur noch kurze Zeit dauern werde und daher im Vergleich zu den sonst drohenden Verlusten keinen Wert mehr habe oder jedenfalls nur noch minderwertig sei.
38

Der Staat dürfe eine Mehrheit seiner Bürger nicht dadurch schützen, dass er eine Minderheit - hier die Besatzung und die Passagiere eines Flugzeugs - vorsätzlich töte. Eine Abwägung Leben gegen Leben nach dem Maßstab, wie viele Menschen möglicherweise auf der einen und wie viele auf der anderen Seite betroffen seien, sei unzulässig. Der Staat dürfe Menschen nicht deswegen töten, weil es weniger seien, als er durch ihre Tötung zu retten hoffe.
39

Eine Relativierung des Lebensrechts der Passagiere lasse sich auch nicht damit begründen, dass diese als Teil der Waffe Flugzeug angesehen würden. Wer so argumentiere, mache sie zum bloßen Objekt staatlichen Handelns und beraube sie ihrer menschlichen Qualität und Würde.
40

Der Gesetzesvorbehalt in Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG führe ebenfalls zu keinem anderen Ergebnis. Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG schließe einen Eingriff in das Recht auf Leben durch vorsätzliche physische Vernichtung aus.
41

Die Beschwerdeführer seien in ihren Grundrechten auf Leben und Menschenwürde auch deshalb verletzt, weil das Luftsicherheitsgesetz und der darin vorgesehene Einsatz der Bundeswehr im Inland wegen Verstoßes gegen Art. 87 a GG verfassungswidrig seien. Die Voraussetzungen von dessen Absatz 2 seien nicht gegeben. Die §§ 13 bis 15 LuftSiG könnten mit Art. 35 Abs. 2 und 3 GG nicht gerechtfertigt werden. Sie wollten für die Bewältigung einer ausweglosen Grenzsituation partielles Kriegsrecht einführen. Ein kriegsmäßiger Kampfeinsatz der Bundeswehr im Inland mit militärischen Mitteln sei von Art. 35 GG aber nicht gedeckt.
42

Mit Art. 35 Abs. 2 und 3 GG sei auch nicht vereinbar, dass der Einsatz der Streitkräfte nicht unter der Verantwortung der jeweiligen Landesregierung und nicht auf der Grundlage des Landespolizeirechts, sondern nach den neuen Regelungen des Bundesrechts erfolgen solle. Nach den Polizeigesetzen aller Länder scheide die vorsätzliche Tötung von Personen, die polizeirechtlich als Unbeteiligte gälten, aus. Diese Konsequenz könne der Bundesgesetzgeber nicht dadurch umgehen, dass er zwar den Einsatz der Bundeswehr in § 13 Abs. 1 LuftSiG als Amtshilfe bezeichne und die Zuständigkeit des Verteidigungsministers gemäß § 13 Abs. 2 LuftSiG mit seiner Befehlsgewalt in Friedenszeiten begründe, dann aber durch § 13 Abs. 4 Satz 2 LuftSiG das Polizeirecht der Länder durch die Vorschriften des Luftsicherheitsgesetzes ersetze.
43


§ 14 Abs. 3 LuftSiG sei im Übrigen schon deswegen nicht verfassungsgemäß, weil das Luftsicherheitsgesetz nicht mit Zustimmung des Bundesrates zustande gekommen sei. Das Gesetz sei nach Art. 87 d Abs. 2 GG zustimmungspflichtig, weil es Vorschriften ändere, durch welche die Luftverkehrsverwaltung auf die Länder übertragen worden sei. Die Zustimmungsbedürftigkeit beziehe sich nicht nur auf einzelne Regelungen eines Gesetzes, sondern auf das Gesetz insgesamt, wenn es zustimmungspflichtige Teile enthalte oder enthalten habe.
III.
44

Zu der Verfassungsbeschwerde haben sich der Deutsche Bundestag, die Bundesregierung, die Bayerische Staatsregierung, die Hessische Landesregierung, der Deutsche BundeswehrVerband, die Vereinigung Cockpit und die Unabhängige Flugbegleiter Organisation UFO schriftlich geäußert.
45

1. Der Deutsche Bundestag hält die angegriffene Regelung für verfassungsgemäß.
46

a) Sie habe ihre verfassungsrechtliche Grundlage in Art. 35 Abs. 3 Satz 1 GG. Unter den Begriff des besonders schweren Unglücksfalls im Sinne dieser Vorschrift fielen auch Ereignisse, die von Menschen verursacht worden seien. Der Unglücksfall müsse ferner nicht schon eingetreten sein. Es reiche aus, dass er unmittelbar bevorstehe. In den vom Luftsicherheitsgesetz erfassten Fällen werde das Gebiet mehr als eines Landes gefährdet. Das Bundesgebiet sei in so kleine Einheiten aufgeteilt, dass ein mit Reisegeschwindigkeit fliegendes Verkehrsflugzeug zwangsläufig die Grenzen mehrerer Bundesländer passiere.
47

Ein Verstoß gegen Art. 1 GG liege nicht vor. Nicht der - nur reagierende - Staat beraube bei einem Vorgehen nach den §§ 13 bis 15 LuftSiG die Menschen im Flugzeug ihrer Würde und mache sie zu Objekten, sondern derjenige, der ein Flugzeug in seine Gewalt bringe, um die Menschen an Bord nicht nur zu töten, sondern sie noch in ihrem Tod zur Auslöschung weiterer Menschen zu instrumentalisieren. In die Nähe eines Verstoßes gegen Art. 1 GG gerate der Staat erst, wenn er die Subjektqualität der betroffenen Menschen negiere und damit zum Ausdruck bringe, dass er den Wert verachte, der dem Menschen kraft seines Personseins zukomme. Darum gehe es dem Luftsicherheitsgesetz aber nicht. Bei ihm handele es sich um das Bemühen des Gesetzgebers, auch für eine verzweifelte Lage einen rechtlichen Rahmen vorzugeben.
48

Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG sei ebenfalls nicht verletzt. Zwar werde in das Grundrecht auf Leben der Besatzung eines entführten Flugzeugs, der Passagiere und der Flugzeugentführer in der schwerstmöglichen Weise eingegriffen. Doch sei dies verfassungsgemäß. Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG lasse die Tötung eines Menschen ausdrücklich zu. Wenn der Gesetzgeber mit Blick auf eine hoffentlich nie eintretende, aber doch realistische Gefahr eine Regelung treffe, die darauf hinauslaufe, zur Vermeidung einer noch größeren Zahl von Toten eine relativ kleinere Zahl von Menschen durch die Streitkräfte töten zu lassen, sei im Hinblick auf Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG in Wahrheit entscheidend, ob das Gesetz sicherstelle, dass dies nur im äußersten Notfall geschehe. Das sei hier zu bejahen. In der dicht besiedelten und relativ kleinen Bundesrepublik Deutschland sei es faktisch fast nicht denkbar, dass es zur Option des § 14 Abs. 3 LuftSiG komme.
49

Es werde auch nicht gegen die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG verstoßen. Das Luftsicherheitsgesetz errichte hohe Hürden für den denkbar schwersten Eingriff. Dadurch sei gewährleistet, dass es im Ergebnis wohl nur dann zum Abschuss eines Passagierflugzeugs kommen könne, wenn sich die Zahl der Opfer wenigstens mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auf die Flugzeuginsassen beschränken lasse.
50

Der Gesetzgeber habe nur die Wahl gehabt, untätig zu bleiben oder eine Regelung zu treffen, die in den Grenzbereich des überhaupt Regelbaren hineinreichen müsse. Terrorismus nach dem Muster des 11. September 2001 unterscheide sich grundsätzlich von Fällen der Notwehr und des Notstands im strafrechtlichen Sinne. Das Gesetz dürfe in einem solchen Fall die verantwortlichen Personen zu ihrem Handeln legitimieren mit der Folge, dass sie durch rechtmäßiges Verhalten Unrecht anrichteten, um noch größeres Unrecht abzuwenden. § 14 Abs. 3 LuftSiG konstituiere demnach einen persönlichen, an das Amt anknüpfenden Rechtfertigungsgrund für den Bundesminister der Verteidigung und die ausführenden Soldaten.
51

b) Die Bundestagsfraktion von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat in einer ergänzenden Stellungnahme ausgeführt, sie habe § 14 Abs. 3 LuftSiG unter der Prämisse zugestimmt, dass der Abschuss eines Passagierflugzeugs nicht erlaubt werde, wenn damit die Tötung Unbeteiligter verbunden sei. Die Regelung schaffe keine grundsätzlich neuen Rechtfertigungstatbestände. Anderenfalls würde das Rechtsbewusstsein hinsichtlich des Grundrechts auf Leben auf gefährliche Weise unterminiert.
52

Eine quantitative oder qualitative Abwägung von Menschenleben gegen Menschenleben sehe § 14 Abs. 3 LuftSiG nicht vor. Der Abschuss eines Luftfahrzeugs sei verfassungsrechtlich allenfalls dann zulässig, wenn sich in diesem nur der "Störer" befinde, der durch sein Verhalten einen besonders schweren Unglücksfall herbeiführen wolle. Die gezielte vorsätzliche Tötung unbeteiligter Personen sei dagegen durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verboten. Auch eine Pflicht des Einzelnen, sich in Situationen, in denen die Existenz des Staates und das Gemeinwohl gefährdet seien, zu deren Erhaltung aufzuopfern, sei abzulehnen. Werde ein Passagierflugzeug als Waffe eingesetzt, dürften die Rechte der Passagiere und der Besatzung auf Unterlassen eines staatlichen Eingriffs in ihr Recht auf Leben nicht gegenüber der Schutzpflicht zurückstehen, die aus diesem Recht zugunsten der durch den gezielten Abschuss des Flugzeugs am Boden gefährdeten Personen abgeleitet werde.
53

2. Die Bundesregierung ist ebenfalls der Auffassung, dass die angegriffene Regelung der Verfassung entspricht.
54

Mit dem Luftsicherheitsgesetz erfülle der Staat seine Schutzpflicht gegenüber jedem menschlichen Leben. Träten - wie hier - das Lebensrecht des einen und das Lebensrecht des anderen zueinander in Konflikt, sei es Aufgabe des Gesetzgebers, Art und Umfang des Lebensschutzes zu bestimmen. Über konkrete Maßnahmen hätten die zuständigen Stellen nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden. Dabei sei der aktive Eingriff in die Grundrechte der Flugzeuginsassen von außerordentlichem Gewicht. Dies könne aber nicht ohne weiteres ein Nichterfüllen der Schutzpflicht gegenüber Dritten erzwingen, wenn auf deren Seite dasselbe Rechtsgut Leben unmittelbar bedroht sei. Es bestehe keine Präferenz der Abwehrfunktion gegenüber der Schutzfunktion. In Erfüllung der Letzteren dürfe der Gesetzgeber daher vorsehen, dass ein gegenwärtiger Angriff auf das Leben von Menschen abgewehrt werde, auch wenn dabei andere Menschen zu Tode kämen oder - etwa durch herabfallende Flugzeugtrümmer - gefährdet würden. Eine Abwägung Leben gegen Leben finde insoweit nicht statt.
55

Der Wesensgehalt des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG werde ebenso wenig verletzt wie der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Vor allem die strengen Voraussetzungen des § 14 LuftSiG schlössen die unmittelbare Einwirkung mit Waffengewalt auf ein Luftfahrzeug, in dem sich unbeteiligte Personen befinden, unter Zugrundelegung aller denkbaren Geschehensabläufe aus. Dies folge daraus, dass die Vorschrift höchste normative Gewissheit über das unmittelbare Bevorstehen eines besonders schweren Unglücksfalls verlange. Zudem gelte es, in der dicht besiedelten Bundesrepublik Deutschland schlimmeren Schaden zu vermeiden.
56

Im Übrigen sei zu berücksichtigen, dass die Flugzeuginsassen im Fall des § 14 Abs. 3 LuftSiG gleichsam Teil der Waffe seien, als die das Luftfahrzeug benutzt werde. Angesichts der gegenwärtigen Bedrohung des Luftverkehrs müsse den Insassen die Gefährdung bewusst sein, in die sie sich selbst begäben, wenn sie am Flugverkehr teilnähmen. Nur wenn der Staat entsprechend § 14 Abs. 3 LuftSiG handele, könne wenigstens ein Teil der bedrohten Leben gerettet werden. Dies dürfe in einer derart außergewöhnlichen Situation auch zu Lasten derer geschehen, die, untrennbar mit der Waffe verbunden, ohnehin nicht zu retten seien.
57

Das Luftsicherheitsgesetz wahre auch die Würde des Menschen. Die Insassen des von einem Abschuss betroffenen Luftfahrzeugs würden in ihrer Menschenwürde geachtet. Sie seien, wenn auch gegen ihren Willen, Teil einer Waffe, die das Leben anderer bedrohe. Nur deshalb und mangels anderer Möglichkeiten, den Angriff abzuwehren, richteten sich die staatlichen Maßnahmen auch gegen sie. Eventuell gefährdete Dritte seien ebenfalls nicht in ihrer Menschenwürde verletzt. Das Gesetz diene mit allen seinen Regelungen auch ihrem Schutz.
58

Das Luftsicherheitsgesetz beachte ferner die grundgesetzliche Kompetenzordnung. Die Gesetzgebungsbefugnis des Bundes ergebe sich aus Art. 73 Nr. 1 und 6 GG, soweit der Einsatz der Streitkräfte betroffen sei. Der Bund habe auch die Verwaltungskompetenz für die Luftsicherheit. Die bundeseigene Luftverkehrsverwaltung nach Art. 87 d Abs. 1 Satz 1 GG schließe die Zuständigkeit ein, für die Sicherheit im Luftverkehr durch bundeseigene Organe zu sorgen. Die Verwaltungskompetenz ergebe sich zudem aus Art. 87 a Abs. 1 und 2 in Verbindung mit Art. 35 Abs. 2 und 3 GG. Der im Luftsicherheitsgesetz vorgesehene Streitkräfteeinsatz erfolge im Rahmen von Art. 35 Abs. 2 und 3 GG zur Abwehr eines Katastrophennotstands.
59

Aus der Funktion dieses Einsatzes, die Länder bei der polizeilichen Gefahrenbekämpfung zu unterstützen, folge nicht, dass er sich immer nach Landesrecht richten müsse. Der für die Unterstützung erforderliche Einsatz von Waffen ziehe die Unterstützung nicht in den Bereich des Art. 87 a Abs. 1 GG.
60

Die Verwendung der Streitkräfte nach den §§ 13 bis 15 LuftSiG diene der Abwehr eines besonders schweren Unglücksfalls im Rahmen des Art. 35 Abs. 2 und 3 GG. Der Einsatz eines Luftfahrzeugs gegen das Leben von Menschen könne zu einem solchen Unglücksfall führen. Dass der Einsatz absichtlich geschehe, stehe dem nicht entgegen. Der Unglücksfall müsse auch nicht schon eingetreten sein.
61

Das Luftsicherheitsgesetz habe nicht der Zustimmung des Bundesrates bedurft. Gleiches gelte für die übrigen Regelungen des Gesetzes zur Neuregelung von Luftsicherheitsaufgaben.
62

3. Nach Ansicht der Bayerischen Staatsregierung und der Hessischen Landesregierung, die eine gemeinsame Stellungnahme abgegeben haben, ist die Verfassungsbeschwerde dagegen begründet. Die angegriffene Regelung verstoße gegen Art. 87 a Abs. 2 in Verbindung mit Art. 35 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 GG.
63

Sie sei nicht durch ein Gesetzgebungsrecht des Bundes aus Art. 35 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 GG gedeckt. Die Streitkräfte könnten danach nur zur Unterstützung der Länder bei der Erfüllung polizeilicher Aufgaben handeln und dabei lediglich von den Befugnissen Gebrauch machen, die ihnen das Landesrecht einräume. Damit stehe nicht im Einklang, dass das Luftsicherheitsgesetz den Bund ermächtige, die Bundeswehr zur Gefahrenabwehr nach Bundesrecht einzusetzen. Die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz des Bundes nach Art. 73 Nr. 1 und 6 GG könne wegen Art. 87 a Abs. 2 GG diesen Befund nicht überspielen.
64

Mit Art. 35 Abs. 2 und 3 GG nicht vereinbar sei ferner, dass die §§ 13 bis 15 LuftSiG einen Einsatz der Streitkräfte auch zu präventiven Zwecken zuließen. Die Verfassung ermögliche einen unterstützenden Einsatz der Streitkräfte nur bei einem schon eingetretenen besonders schweren Unglücksfall. Die in § 14 Abs. 4 LuftSiG geregelte Anordnungsbefugnis trage darüber hinaus nicht dem Umstand Rechnung, dass bei der Konstellation des Art. 35 Abs. 3 GG die Bundesregierung als Kollegialorgan zur Entscheidung berufen sei.
65

Seien danach die §§ 13 ff. LuftSiG schon deshalb verfassungswidrig, weil der Bund den Rahmen von Art. 87 a Abs. 2 in Verbindung mit Art. 35 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 GG verlassen habe, könne dahinstehen, ob auch Grundrechte verletzt seien. Vorsorglich werde aber darauf hingewiesen, dass die Auffassung der Beschwerdeführer nicht geteilt werde, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG schließe es schlechthin aus, zur Verhinderung des Eintritts eines besonders schweren Unglücksfalls Waffengewalt gegen ein entführtes Passagierflugzeug anzuwenden.
66

4. Der Deutsche BundeswehrVerband äußert Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der angegriffenen Regelung. Die Aufgaben, die das Luftsicherheitsgesetz in den §§ 13 ff. regle, beträfen nicht die militärische Landesverteidigung. Vielmehr gehe es um Aufgaben im Bereich der polizeilichen Gefahrenabwehr. Für deren Wahrnehmung fehle es der Bundeswehr an der erforderlichen Ermächtigungsgrundlage. Zu Recht führe die Verfassungsbeschwerde aus, dass ein kriegsmäßiger Kampfeinsatz der Streitkräfte im Inland mit militärischen Mitteln von Art. 35 Abs. 2 GG nicht gedeckt sei.
67

Außerdem bestünden gegen § 14 Abs. 3 LuftSiG Bedenken im Hinblick auf den verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz. Die Norm nenne keine präzisen Kriterien für die darin vorausgesetzte Abwägung Leben gegen Leben. Das führe für den zum Handeln gezwungenen Soldaten zu einem schweren Konflikt zwischen der Pflicht zum Gehorsam und der von ihm zu treffenden höchstpersönlichen Gewissensentscheidung. Es fehle eine Regelung, welche die Soldaten zuverlässig von strafrechtlichen Ermittlungsverfahren und zivilrechtlichen Haftungsklagen - auch vor ausländischen Gerichten - freistelle.
68

5. Die Vereinigung Cockpit hält die Verfassungsbeschwerde für begründet. Geeignetheit und Erforderlichkeit des § 14 Abs. 3 LuftSiG, der den Einsatz von tödlicher Gewalt auch gegen Unbeteiligte erlaube, seien zweifelhaft. Der terroristische Erfolg eines Renegade-Angriffs sei von zahlreichen Unwägbarkeiten abhängig. Schon die Feststellung eines erheblichen Luftzwischenfalls im Sinne des § 13 Abs. 1 LuftSiG sei im Hinblick auf die tatsächlichen Abläufe des Flugverkehrs äußerst schwierig und nur selten mit Gewissheit möglich. Die bei der Überprüfung von Luftfahrzeugen nach § 15 Abs. 1 LuftSiG gewonnenen Erkenntnisse seien selbst bei idealer Wetterlage allenfalls vage. Die mögliche Motivation eines Flugzeugentführers und die Ziele einer Flugzeugentführung blieben bis zuletzt spekulativ. Eine auf gesicherte Tatsachen gestützte Entscheidung über einen Einsatz nach § 14 Abs. 3 LuftSiG komme angesichts des zur Verfügung stehenden knappen Zeitfensters im Zweifel zu spät. Deshalb funktioniere die Konzeption der §§ 13 bis 15 LuftSiG nur, wenn von vornherein im Übermaß reagiert werde.
69

6. Die Unabhängige Flugbegleiter Organisation UFO teilt die mit der Verfassungsbeschwerde vorgetragenen Bedenken. Der Abschuss eines Zivilflugzeugs sei unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt gerechtfertigt. Das Ziel des Luftsicherheitsgesetzes, die Sicherheit des Luftverkehrs und den Schutz der Zivilbevölkerung vor terroristischen Angriffen zu erhöhen, werde zwar unterstützt. Dafür seien aber noch lange nicht alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft.
70

Zudem bestehe die Gefahr, dass von der Erde aus die Situation an Bord falsch eingeschätzt werde. Dort könne praktisch nicht beurteilt werden, ob die Voraussetzungen des § 14 Abs. 3 LuftSiG vorlägen. Die Informationen, die der Bundesminister der Verteidigung für seine Entscheidung benötige, den Abschuss eines Flugzeugs anzuordnen, stammten nicht aus der direkten Gefahrenzone an Bord des Flugzeugs. Es seien nur indirekte Informationen, die der Pilot vom Kabinenpersonal erhalten habe, das sich womöglich in der Gewalt von Terroristen befinde. Abgesehen davon könne sich die Lage an Bord in Sekundenschnelle ändern und dies wegen der langen Kommunikationswege möglicherweise nicht schnell genug dem Boden mitgeteilt werden.
IV.
71

In der mündlichen Verhandlung haben die Beschwerdeführer, der Deutsche Bundestag, die Bundesregierung, die Bayerische Staatsregierung und die Hessische Landesregierung, der Deutsche BundeswehrVerband sowie die Vereinigung Cockpit und die Unabhängige Flugbegleiter Organisation UFO ihren schriftlichen Vortrag ergänzt und vertieft. Dabei haben der Bundesminister des Innern und die Vertreter der Fraktionen des Deutschen Bundestags ihre zum Teil unterschiedlichen Auffassungen zur Reichweite des § 14 Abs. 3 LuftSiG dargelegt. Außerdem haben die Deutsche Flugsicherung und der Verband der Besatzungen strahlgetriebener Kampfflugzeuge der Deutschen Bundeswehr zu der angegriffenen Regelung und vor allem zu tatsächlichen Fragen ihrer Anwendung Stellung genommen.
B.
72

Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig.
I.
73

Unzulässig ist allerdings die Rüge, die angegriffene Regelung sei schon deshalb mit dem Grundgesetz nicht vereinbar, weil das Luftsicherheitsgesetz der Zustimmung des Bundesrates bedurft hätte und diese nicht erteilt worden sei.
74


Die Beschwerdeführer stützen diese Rüge auf Art. 87 d Abs. 2 GG. Danach können den Ländern durch Bundesgesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, Aufgaben der Luftverkehrsverwaltung als Auftragsverwaltung übertragen werden. Die Beschwerdeführer stellen nicht darauf ab, dass das Luftsicherheitsgesetz oder andere in dem Gesetz zur Neuregelung von Luftsicherheitsaufgaben enthaltene Vorschriften zu einer solchen Aufgabenübertragung geführt hätten. Sie machen vielmehr ausschließlich geltend, dass dieses Gesetz zustimmungspflichtige Regelungen, durch die Aufgaben der Luftverkehrsverwaltung auf die Länder übertragen worden seien, geändert und deshalb seinerseits der Zustimmung des Bundesrates bedurft habe. Die Verfassungsbeschwerde führt aber nicht aus, welche Vorschriften mit einem nach Art. 87 d Abs. 2 GG zustimmungsauslösenden Inhalt konkret durch das jetzt erlassene Gesetz geändert worden sein sollen und inwieweit dies nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu dieser Vorschrift (vgl. BVerfGE 97, 198 <226 f.>) die Zustimmungsbedürftigkeit des Änderungsgesetzes begründet haben könnte. Das Beschwerdevorbringen genügt damit insoweit nicht den Anforderungen, die nach § 92 in Verbindung mit § 23 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 BVerfGG an die Begründung einer Verfassungsbeschwerde zu stellen sind (vgl. dazu BVerfGE 99, 84 <87>; 109, 279 <305>).
II.
75

Zulässig ist dagegen die Rüge, die Beschwerdeführer würden in ihren Rechten aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verletzt, weil es § 14 Abs. 3 LuftSiG den Streitkräften unter den dort genannten Voraussetzungen und nach Maßgabe der übrigen Regelungen in den §§ 13 bis 15 LuftSiG erlaube, auch dann auf ein Luftfahrzeug mit Waffengewalt einzuwirken, wenn sich darin Menschen aufhalten, die gegen ihren Willen in die Gewalt derer geraten sind, die das Luftfahrzeug gegen das Leben anderer Menschen einsetzen wollen.
76

1. Auf diesen Regelungsgegenstand beschränken sich die Angriffe der Beschwerdeführer. In Bezug auf § 14 Abs. 1, 2 und 4 sowie § 15 LuftSiG und die darin vorgesehenen Maßnahmen machen sie keine eigenständige Beschwer geltend. Diese Vorschriften werden im Beschwerdevorbringen - ebenso wie die Regelungen in § 13 LuftSiG mit ihrem überwiegend verfahrensrechtlichen Inhalt - nur insoweit erwähnt, als sie der Einsatzmaßnahme nach § 14 Abs. 3 LuftSiG zwingend vorgeschaltet sind und sich auf diese Maßnahme beziehen.
77

2. Hinsichtlich der auf diese Weise angegriffenen Regelung sind die Beschwerdeführer insbesondere beschwerdebefugt.
78

a) Die Beschwerdebefugnis setzt, wenn sich eine Verfassungsbeschwerde - wie hier - unmittelbar gegen ein Gesetz richtet, voraus, dass der Beschwerdeführer durch die angegriffenen Normen selbst, gegenwärtig und unmittelbar in seinen Grundrechten betroffen ist (vgl. BVerfGE 1, 97 <101 ff.>; 109, 279 <305>; stRspr). Die Voraussetzung der eigenen und gegenwärtigen Betroffenheit ist grundsätzlich erfüllt, wenn der Beschwerdeführer darlegt, dass er mit einiger Wahrscheinlichkeit durch die auf den angegriffenen Vorschriften beruhenden Maßnahmen in seinen Grundrechten berührt wird (vgl. BVerfGE 100, 313 <354>; 109, 279 <307 f.>). Unmittelbare Betroffenheit ist schließlich gegeben, wenn die angegriffenen Bestimmungen, ohne eines weiteren Vollzugsakts zu bedürfen, die Rechtsstellung des Beschwerdeführers verändern (vgl. BVerfGE 97, 157 <164>; 102, 197 <207>). Das ist auch dann anzunehmen, wenn dieser gegen einen denkbaren Vollzugsakt nicht oder nicht in zumutbarer Weise vorgehen kann (vgl. BVerfGE 100, 313 <354>; 109, 279 <306 f.>).
79

b) Nach diesen Grundsätzen ist die Beschwerdebefugnis der Beschwerdeführer gegeben. Sie haben glaubhaft dargelegt, dass sie aus privaten und beruflichen Gründen häufig zivile Luftfahrzeuge benutzen.
80

aa) Es ist deshalb hinreichend wahrscheinlich, dass sie durch die von ihnen angegriffene Vorschrift des § 14 Abs. 3 LuftSiG selbst und gegenwärtig in ihren Grundrechten betroffen werden. Unmittelbare Einwirkung auf ein Luftfahrzeug mit Waffengewalt im Sinne dieser Vorschrift bedeutet, wie sich auch aus dem Vergleich mit den in § 14 Abs. 1 LuftSiG aufgeführten Einsatzmaßnahmen und den in § 15 Abs. 1 LuftSiG genannten sonstigen Maßnahmen ergibt, ein Einwirken mit dem Ziel, das von der Einwirkung betroffene Luftfahrzeug erforderlichenfalls zum Absturz zu bringen.
81

Die Betroffenheit der Beschwerdeführer wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass im Verfassungsbeschwerdeverfahren die Auffassung vertreten worden ist, § 14 Abs. 3 LuftSiG sei nicht anwendbar, wenn sich an Bord eines Luftfahrzeugs Personen befänden, die - wie dessen Besatzung und Passagiere - für die Herbeiführung einer Gefahrenlage im Sinne dieser Bestimmung nicht verantwortlich seien. Im Wortlaut des § 14 Abs. 3 LuftSiG findet eine solche Beschränkung des Anwendungsbereichs der Vorschrift keinen Ausdruck. Die Gesetzesbegründung lässt im Gegenteil erkennen, dass von einer unmittelbaren Einwirkung mit Waffengewalt nach § 14 Abs. 3 LuftSiG auch Personen betroffen sein können, welche die Gefahr eines besonders schweren Unglücksfalls nicht geschaffen haben. Dort wird ausdrücklich von der Lebensbedrohung auch der Flugzeuginsassen durch die Angreifer auf das Luftfahrzeug gesprochen und nicht danach unterschieden, ob es sich bei den Insassen um Täter oder Opfer handelt (vgl. BTDrucks 15/2361, S. 21 zu § 14). Das lässt erkennen, dass von einer Anwendung des § 14 Abs. 3 LuftSiG auch unschuldige Menschen an Bord des Luftfahrzeugs betroffen sein können.
82

Davon ist im Übrigen auch bei den Beratungen des Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung von Luftsicherheitsaufgaben im Deutschen Bundestag ausgegangen worden (vgl. vor allem die Ausführungen der Abg. Burgbacher [FDP], Hofmann [SPD] in der 89. Sitzung des 15. Deutschen Bundestages am 30. Januar 2004, BTPlenarprotokoll 15/89, S. 7887 f., 7889, und der Abg. Pau [fraktionslos] in der 115. Sitzung des 15. Deutschen Bundestages am 18. Juni 2004, BTPlenarprotokoll 15/115, S. 10545; anders allerdings der Abg. Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN], BTPlenarprotokoll 15/89, S. 7893 f.; zu den Beiträgen in der Anhörung des Bundestagsinnenausschusses vgl. das Ausschussprotokoll 15/35 über die Sitzung am 26. April 2004, S. 11 f., 22, 33, 43, 44, 57 f., 66 f., 85 f., 94 f., 111 f.). In der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht ist denn auch von den Vertretern des Deutschen Bundestages überwiegend bekräftigt worden, § 14 Abs. 3 LuftSiG betreffe nicht nur den Fall, dass ein nur mit Straftätern besetztes Luftfahrzeug gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden soll. Von dieser Vorschrift - zumindest theoretisch - erfasst würden vielmehr auch Luftzwischenfälle mit unschuldigen, an deren Herbeiführung nicht beteiligten Menschen an Bord.
83

bb) Auch die unmittelbare Betroffenheit der Beschwerdeführer ist unter diesen Umständen gegeben. Es kann ihnen nicht zugemutet werden abzuwarten, bis sie selbst Opfer einer Maßnahme nach § 14 Abs. 3 LuftSiG werden.
C.
84

Die Verfassungsbeschwerde ist auch begründet. § 14 Abs. 3 LuftSiG ist mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 87 a Abs. 2 und Art. 35 Abs. 2 und 3 sowie in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG unvereinbar und nichtig.
I.
85

Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG gewährleistet das Recht auf Leben als Freiheitsrecht (vgl. BVerfGE 89, 120 <130>). Mit diesem Recht wird die biologisch-physische Existenz jedes Menschen vom Zeitpunkt ihres Entstehens an bis zum Eintritt des Todes unabhängig von den Lebensumständen des Einzelnen, seiner körperlichen und seelischen Befindlichkeit, gegen staatliche Eingriffe geschützt. Jedes menschliche Leben ist als solches gleich wertvoll (vgl. BVerfGE 39, 1 <59>). Obwohl es innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung einen Höchstwert darstellt (vgl. BVerfGE 39, 1 <42>; 46, 160 <164>; 49, 24 <53>), steht allerdings auch dieses Recht nach Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG unter Gesetzesvorbehalt. Auch in das Grundrecht auf Leben kann deshalb auf der Grundlage eines förmlichen Parlamentsgesetzes (vgl. BVerfGE 22, 180 <219>) eingegriffen werden. Voraussetzung dafür ist aber, dass das betreffende Gesetz in jeder Hinsicht den Anforderungen des Grundgesetzes entspricht. Es muss kompetenzgemäß erlassen worden sein, nach Art. 19 Abs. 2 GG den Wesensgehalt des Grundrechts unangetastet lassen und darf auch sonst den Grundentscheidungen der Verfassung nicht widersprechen.
II.
86

Diesen Maßstäben wird die angegriffene Vorschrift des § 14 Abs. 3 LuftSiG nicht gerecht.
87

1. Sie greift in den Schutzbereich des durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG garantierten Grundrechts auf Leben sowohl der Besatzung und der Passagiere des von einer Einsatzmaßnahme nach § 14 Abs. 3 LuftSiG betroffenen Luftfahrzeugs als auch derer ein, die dieses im Sinne dieser Vorschrift gegen das Leben von Menschen einsetzen wollen. Die Inanspruchnahme der Ermächtigung zur unmittelbaren Einwirkung mit Waffengewalt auf ein Luftfahrzeug nach § 14 Abs. 3 LuftSiG führt praktisch immer zu dessen Absturz. Dieser wiederum hat mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit den Tod, also die Vernichtung des Lebens aller seiner Insassen zur Folge.
88

2. Für diesen Eingriff lässt sich eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung nicht anführen. § 14 Abs. 3 LuftSiG kann in formeller Hinsicht schon nicht auf eine Gesetzgebungskompetenz des Bundes gestützt werden (a). Die Vorschrift verstößt darüber hinaus, soweit von ihr nicht nur diejenigen, die das Luftfahrzeug als Waffe missbrauchen wollen, sondern außerdem Personen betroffen werden, welche die Herbeiführung des in § 14 Abs. 3 LuftSiG vorausgesetzten erheblichen Luftzwischenfalls nicht zu verantworten haben, auch materiell gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG (b).
89

a) Für die angegriffene Regelung fehlt es an einer Gesetzgebungsbefugnis des Bundes.
90

aa) § 14 Abs. 3 LuftSiG ist Teil der Bestimmungen in Abschnitt 3 des Luftsicherheitsgesetzes. Dieser trägt die Überschrift "Unterstützung und Amtshilfe durch die Streitkräfte" und macht damit deutlich, dass es sich bei deren Einsatz, so wie er in den §§ 13 bis 15 LuftSiG geregelt ist, primär nicht um die Wahrnehmung einer eigenständigen Aufgabe des Bundes, sondern "im Rahmen der Gefahrenabwehr" und der "Unterstützung der Polizeikräfte der Länder" (§ 13 Abs. 1 LuftSiG) um die Hilfe bei der Bewältigung einer den Ländern obliegenden Aufgabe handelt. Diese Hilfe vollzieht sich, wie § 13 LuftSiG in seinen Absätzen 1 bis 3 im Einzelnen ausweist, in den Bahnen einerseits des Art. 35 Abs. 2 Satz 2 GG und andererseits des Art. 35 Abs. 3 GG. Da diese Artikel unstreitig zu den Regelungen des Grundgesetzes gehören, die im Sinne des Art. 87 a Abs. 2 GG den Einsatz der Streitkräfte außerhalb der Verteidigung ausdrücklich zulassen (vgl. BTDrucks V/2873, S. 2 unter B i.V.m. S. 9 f.; zu Art. 35 Abs. 3 GG s. auch BVerfGE 90, 286 <386 f.>), geht es § 14 Abs. 3 LuftSiG ebenso wie den übrigen Regelungen des Abschnitts 3 des Gesetzes, auch im Sinne der Kompetenznorm des Art. 73 Nr. 1 GG, nicht um Verteidigung (a.A. die Begründung zum Entwurf des Gesetzes zur Neuregelung von Luftsicherheitsaufgaben, BTDrucks 15/2361, S. 14, und weiter etwa auch BVerwG, DÖV 1973, S. 490 <492>). Auch der in den Kompetenztitel "Verteidigung" eingeschlossene Teilbereich des Schutzes der Zivilbevölkerung ist deshalb nicht einschlägig.
91

Auf die Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes für den Luftverkehr nach Art. 73 Nr. 6 GG lässt sich § 14 Abs. 3 LuftSiG ebenfalls nicht stützen. Dabei ist hier nicht zu entscheiden, ob der Bund im Rahmen des Art. 73 Nr. 6 GG auch in weiterem Umfang, als er es bisher tut, Aufgaben der Gefahrenabwehr übernehmen könnte. Nach der Konzeption des Gesetzes geht es in den §§ 13 bis 15 LuftSiG um die Unterstützung bei der Gefahrenabwehr der Länder. Regelungsziel ist es, die Verfahrensabläufe im Bereich des Bundes und im Zusammenwirken mit den Ländern festzulegen sowie die Einsatzmittel der Streitkräfte für den Fall zu bestimmen, dass diese den Polizeikräften der Länder zur Unterstützung bei der Abwehr von Gefahren zur Verfügung gestellt werden, die durch einen erheblichen Luftzwischenfall ausgelöst werden. Es handelt sich also um Ausführungsregelungen zum Streitkräfteeinsatz in den Konstellationen des Art. 35 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 GG. Dafür ergibt sich die Gesetzgebungsbefugnis des Bundes nicht aus Art. 73 Nr. 6 GG (so auch die Gesetzesbegründung der Bundesregierung; vgl. BTDrucks 15/2361, S. 14). Die Kompetenz für Regelungen des Bundes, die das Nähere über den Einsatz seiner Streitkräfte im Zusammenwirken mit den beteiligten Ländern zur Bewältigung eines regionalen oder überregionalen Katastrophennotstands bestimmen, folgt vielmehr unmittelbar aus Art. 35 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 GG selbst.
92

bb) § 14 Abs. 3 LuftSiG ist durch diesen Kompetenzbereich des Bundes jedoch deshalb nicht gedeckt, weil sich die Vorschrift mit den wehrverfassungsrechtlichen Vorgaben des Grundgesetzes nicht vereinbaren lässt.
93

aaa) Die Streitkräfte, deren Einsatz die §§ 13 bis 15 LuftSiG regeln, werden vom Bund nach Art. 87 a Abs. 1 Satz 1 GG zur Verteidigung aufgestellt. Zu anderen Zwecken ("Außer zur Verteidigung") dürfen sie gemäß Art. 87 a Abs. 2 GG nur eingesetzt werden, soweit es das Grundgesetz ausdrücklich zulässt. Diese Regelung, die im Zuge der Einfügung der Notstandsverfassung in das Grundgesetz durch das Siebzehnte Gesetz zur Ergänzung des Grundgesetzes vom 24. Juni 1968 (BGBl I S. 709) geschaffen worden ist, soll verhindern, dass für die Verwendung der Streitkräfte als Mittel der vollziehenden Gewalt "ungeschriebene Zuständigkeiten aus der Natur der Sache" abgeleitet werden (so der Bundestagsrechtsausschuss in seinem Schriftlichen Bericht zum Entwurf einer Notstandsverfassung, BTDrucks V/2873, S. 13). Maßgeblich für die Auslegung und Anwendung des Art. 87 a Abs. 2 GG ist daher das Ziel, die Möglichkeiten für einen Einsatz der Bundeswehr im Innern durch das Gebot strikter Texttreue zu begrenzen (vgl. BVerfGE 90, 286 <356 f.>).
94

bbb) Dieses Ziel bestimmt auch die Auslegung und Anwendung der Regelungen, durch welche im Sinne des Art. 87 a Abs. 2 GG der Einsatz der Streitkräfte im Grundgesetz außer zur Verteidigung ausdrücklich zugelassen wird. Zu ihnen gehören, wie schon erwähnt, die Ermächtigungen in Art. 35 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 GG, auf deren Grundlage die §§ 13 bis 15 LuftSiG der Bekämpfung erheblicher Luftzwischenfälle und der damit verbundenen Gefahren dienen sollen. Im Fall des regionalen Katastrophennotstands nach Art. 35 Abs. 2 Satz 2 GG kann das betroffene Land zur Hilfe bei der Naturkatastrophe oder dem besonders schweren Unglücksfall unter anderem Kräfte und Einrichtungen der Streitkräfte anfordern. Liegt ein überregionaler, das Gebiet mehr als eines Landes gefährdender Katastrophenfall vor, bedarf es nach Art. 35 Abs. 3 Satz 1 GG einer solchen Anforderung nicht. Vielmehr kann die Bundesregierung in diesem Fall von sich aus zur Unterstützung der Polizeikräfte der Länder neben Einheiten des - durch Gesetz vom 21. Juni 2005 (BGBl I S. 1818) in Bundespolizei umbenannten - Bundesgrenzschutzes auch Einheiten der Streitkräfte einsetzen, soweit es zur wirksamen Bekämpfung erforderlich ist.
95

ccc) Mit diesen Regelungen steht die Ermächtigung der Streitkräfte zur unmittelbaren Einwirkung auf ein Luftfahrzeug mit Waffengewalt in § 14 Abs. 3 LuftSiG nicht im Einklang.
96

(1) Art. 35 Abs. 2 Satz 2 GG schließt eine solche Einwirkung im Fall des regionalen Katastrophennotstands aus.
97

(a) Von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden ist allerdings, dass § 14 Abs. 3 LuftSiG, wie sich aus dem Zusammenhang der Vorschrift mit § 13 Abs. 1 und § 14 Abs. 1 LuftSiG ergibt, das Ziel verfolgt, im Rahmen der Gefahrenabwehr zu verhindern, dass ein besonders schwerer Unglücksfall nach Art. 35 Abs. 2 Satz 2 GG eintritt, der als Folge eines erheblichen Luftzwischenfalls als gegenwärtige Gefahr bevorsteht.
98



(aa) Unter einem besonders schweren Unglücksfall im Sinne des Art. 35 Abs. 2 Satz 2 GG - und damit auch im Sinne der §§ 13 bis 15 LuftSiG - wird im Allgemeinen ein Schadensereignis von großem Ausmaß verstanden, das - wie ein schweres Flugzeug- oder Eisenbahnunglück, ein Stromausfall mit Auswirkungen auf lebenswichtige Bereiche der Daseinsvorsorge oder der Unfall in einem Kernkraftwerk - wegen seiner Bedeutung in besonderer Weise die Öffentlichkeit berührt und auf menschliches Fehlverhalten oder technische Unzulänglichkeiten zurückgeht (in diesem Sinne schon Abschnitt A Nr. 3 der Richtlinie des Bundesministers der Verteidigung über Hilfeleistungen der Bundeswehr bei Naturkatastrophen oder besonders schweren Unglücksfällen und im Rahmen der dringenden Nothilfe vom 8. November 1988, VMBl S. 279). Von diesem Begriffsverständnis, das verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist, werden auch Ereignisse umfasst, wie sie hier in Rede stehen.
99

(bb) Dass der Absturz des Luftfahrzeugs, gegen das sich die Maßnahme nach § 14 Abs. 3 LuftSiG richtet, absichtlich herbeigeführt werden soll, steht der Anwendung des Art. 35 Abs. 2 Satz 2 GG nicht entgegen.
100

Nach dem allgemeinen Sprachgebrauch kann unter einem Unglücksfall unschwer auch ein Ereignis verstanden werden, dessen Eintritt auf den Vorsatz von Menschen zurückgeht. Anhaltspunkte dafür, dass Art. 35 Abs. 2 Satz 2 GG, davon abweichend, auf unwillentlich ausgelöste oder fahrlässig herbeigeführte Unglücksfälle beschränkt bleiben, auf Vorsatz beruhende Vorfälle also nicht erfassen soll, sind weder dem Wortlaut der Norm noch den Gesetzesmaterialien (vgl. BTDrucks V/1879, S. 22 ff.; V/2873, S. 9 f.) zu entnehmen. Sinn und Zweck des Art. 35 Abs. 2 Satz 2 GG, durch den Einsatz auch der Streitkräfte einen wirksamen Katastrophenschutz zu ermöglichen (vgl. BTDrucks V/1879, S. 23 f.), sprechen ebenfalls dafür, den Begriff des Unglücksfalls weit auszulegen. Die Staatspraxis geht deshalb zu Recht seit langem davon aus, dass als besonders schwere Unglücksfälle auch Schadensereignisse anzusehen sind, die von Dritten absichtlich herbeigeführt werden (vgl. jeweils die Nr. 3 des Erlasses des Bundesministers der Verteidigung über Hilfeleistungen der Bundeswehr bei Naturkatastrophen bzw. besonders schweren Unglücksfällen und dringende Nothilfe vom 22. Mai 1973, VMBl S. 313, und der entsprechenden Richtlinie vom 17. Dezember 1977, VMBl 1978 S. 86).
101

(cc) Verfassungsrechtlich unbedenklich ist es auch, dass die Einsatzmaßnahme nach § 14 Abs. 3 LuftSiG zu einem Zeitpunkt angeordnet und durchgeführt werden soll, zu dem sich zwar bereits ein erheblicher Luftzwischenfall im Sinne des § 13 Abs. 1 LuftSiG ereignet hat, dessen Folge, der besonders schwere Unglücksfall selbst, der durch die unmittelbare Einwirkung mit Waffengewalt verhindert werden soll (vgl. § 14 Abs. 1 LuftSiG), aber noch nicht eingetreten ist. Art. 35 Abs. 2 Satz 2 GG verlangt nicht, dass der besonders schwere Unglücksfall, zu dessen Bekämpfung die Streitkräfte eingesetzt werden sollen, schon vorliegt. Unter den Begriff des Katastrophennotstands fallen vielmehr auch Vorgänge, die den Eintritt einer Katastrophe mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit erwarten lassen.
102

Art. 35 Abs. 2 Satz 2 GG ist nicht zu entnehmen, dass der Hilfeeinsatz der Streitkräfte hinsichtlich des Einsatzbeginns bei Naturkatastrophen und besonders schweren Unglücksfällen unterschiedlich verlaufen soll. Für Naturkatastrophen wird jedoch in Übereinstimmung mit der Hilfeleistungsrichtlinie des Bundesministers der Verteidigung (vgl. Abschnitt A Nr. 2 der Richtlinie vom 8. November 1988) allgemein davon ausgegangen, dass unter diesen Begriff auch unmittelbar drohende Gefahrenzustände fallen (vgl. etwa Bauer, in: Dreier, Grundgesetz, Bd. II, 1998, Art. 35 Rn. 24; Gubelt, in: von Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 4./5. Aufl. 2001, Art. 35 Rn. 25; von Danwitz, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, 5. Aufl., Bd. 2, 2005, Art. 35 Rn. 70), von ihm also auch Gefahrenlagen erfasst werden, die, wenn ihnen nicht rechtzeitig entgegengewirkt wird, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit den Eintritt des jeweils drohenden schädigenden Ereignisses erwarten lassen. Für besonders schwere Unglücksfälle kann schon deshalb nichts anderes gelten, weil sich diese nicht immer scharf von Naturkatastrophen abgrenzen lassen und auch hier die Übergänge von der noch drohenden Gefahr zum schon erfolgten Schadenseintritt im Einzelfall fließend sein können. Auch der Sinn und Zweck des Art. 35 Abs. 2 Satz 2 GG, den Bund zu einer effektiven Hilfeleistung im Aufgabenbereich der Länder zu befähigen, spricht dafür, beide Katastrophenursachen in zeitlicher Hinsicht gleich zu behandeln und in beiden Fällen mit der Hilfeleistung nicht abzuwarten, bis die zum Schadensereignis führende Gefahrenentwicklung ihren Abschluss gefunden hat.
103

Dass die Anforderung der Streitkräfte und deren Einsatz nach Art. 35 Abs. 2 Satz 2 GG "zur Hilfe" "bei" einer Naturkatastrophe und "bei" einem besonders schweren Unglücksfall erfolgen, zwingt nicht zu der Annahme, dass das jeweilige Schadensereignis bereits eingetreten sein muss. Der Wortsinn der Regelung lässt gleichermaßen eine Auslegung dahin gehend zu, dass die Hilfe schon angefordert und geleistet werden kann, wenn erkennbar wird, dass sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in Kürze ein Schadensfall ereignen wird, wenn also im polizeirechtlichen Sinne eine gegenwärtige Gefahr gegeben ist. Davon geht erkennbar auch Art. 35 Abs. 3 Satz 1 GG aus, der, an Art. 35 Abs. 2 Satz 2 GG anknüpfend, die Befugnisse der Bundesregierung für den Fall erweitert, dass die Naturkatastrophe oder der Unglücksfall das Gebiet mehr als eines Landes "gefährdet". Wie hier im überregionalen Katastrophenfall ist demnach für den Streitkräfteeinsatz auch beim regionalen Katastrophennotstand nach Art. 35 Abs. 2 Satz 2 GG das Vorliegen einer gegenwärtigen Gefahr als ausreichend anzusehen.
104

Zu Recht wird deshalb auch in den Richtlinien des Bundesministers der Verteidigung über Hilfeleistungen der Bundeswehr bei Naturkatastrophen oder besonders schweren Unglücksfällen und im Rahmen der dringenden Nothilfe seit langem davon ausgegangen, dass die Streitkräfte nicht nur "in Fällen überregionaler Gefährdung" nach Art. 35 Abs. 3 GG, sondern auch "in Fällen regionaler Gefährdung" nach Art. 35 Abs. 2 Satz 2 GG eingesetzt werden dürfen (so zuletzt Abschnitt A Nr. 4 der Richtlinie vom 8. November 1988). Das schließt notwendigerweise die Annahme aus, der besonders schwere Unglücksfall müsse schon eingetreten sein.
105

(b) Die Einsatzmaßnahme der unmittelbaren Einwirkung auf ein Luftfahrzeug mit Waffengewalt nach § 14 Abs. 3 LuftSiG wahrt jedoch deshalb nicht den Rahmen des Art. 35 Abs. 2 Satz 2 GG, weil diese Vorschrift einen Kampfeinsatz der Streitkräfte mit spezifisch militärischen Waffen bei der Bekämpfung von Naturkatastrophen und besonders schweren Unglücksfällen nicht erlaubt.
106

(aa) Die "Hilfe", von der Art. 35 Abs. 2 Satz 2 GG spricht, wird den Ländern gewährt, damit diese die ihnen obliegende Aufgabe der Bewältigung von Naturkatastrophen und besonders schweren Unglücksfällen wirksam erfüllen können. Davon geht zutreffend auch § 13 Abs. 1 LuftSiG aus, nach dem der Einsatz der Streitkräfte der Unterstützung der Polizeikräfte der Länder bei der Verhinderung des Eintritts eines besonders schweren Unglücksfalls im Rahmen der Gefahrenabwehr dienen soll, soweit es zur wirksamen Bekämpfung erforderlich ist. Die Ausrichtung auf diese Aufgabe im Zuständigkeitsbereich der Gefahrenabwehrbehörden der Länder, der ausweislich der Gesetzesbegründung durch die §§ 13 bis 15 LuftSiG nicht angetastet werden soll (vgl. BTDrucks 15/2361, S. 20 zu § 13), bestimmt notwendig auch die Art der Hilfsmittel, die beim Einsatz der Streitkräfte zum Zweck der Hilfeleistung verwandt werden dürfen. Sie können nicht von qualitativ anderer Art sein als diejenigen, die den Polizeikräften der Länder für die Erledigung ihrer Aufgaben originär zur Verfügung stehen. Das bedeutet, dass die Streitkräfte, wenn sie nach Art. 35 Abs. 2 Satz 2 GG auf Anforderung eines Landes "zur Hilfe" eingesetzt werden, zwar die Waffen verwenden dürfen, die das Recht des betreffenden Landes für dessen Polizeikräfte vorsieht. Militärische Kampfmittel, beispielsweise die Bordwaffen eines Kampfflugzeugs, wie sie für Maßnahmen nach § 14 Abs. 3 LuftSiG benötigt werden, dürfen dagegen nicht zum Einsatz gebracht werden.
107

(bb) Dieses Normverständnis, zu dem der Wortlaut sowie Sinn und Zweck des Art. 35 Abs. 2 Satz 2 GG zwingen, wird durch den systematischen Standort und die Entstehungsgeschichte dieser Vorschrift bestätigt. Der regionale Katastrophennotstand im Sinne des Art. 35 Abs. 2 Satz 2 GG sollte nach dem von der Bundesregierung vorgelegten Entwurf einer Notstandsverfassung ursprünglich - zusammen mit dem so genannten inneren Notstand - in Art. 91 GG geregelt werden (vgl. BTDrucks V/1879, S. 3). Ziel des Vorschlags war es, den Einsatz der Streitkräfte im Innern gegenüber dem Bürger und im Hinblick auf die Kompetenzverteilung des Grundgesetzes auch für den Fall der regionalen Katastrophenhilfe verfassungsrechtlich zu legitimieren (vgl. BTDrucks V/1879, S. 23 zu Art. 91 Abs. 1). Die Streitkräfte sollten aber nach dem ausdrücklichen Wortlaut der beabsichtigten Regelung lediglich "als Polizeikräfte" zur Verfügung gestellt werden können. Die Bundesregierung wollte auf diese Weise sicherstellen, dass die Streitkräfte allein für polizeiliche Aufgaben und nur mit den polizeirechtlich vorgesehenen Befugnissen gegenüber dem Staatsbürger eingesetzt werden können (vgl. BTDrucks V/1879, S. 23 zu Art. 91 Abs. 2). Das schließt die Aussage ein, dass die Verwendung spezifisch militärischer Bewaffnung beim Einsatz der Streitkräfte im Aufgabenbereich der Länder ausgeschlossen sein sollte.
108

Die einschränkende Formulierung einer Verwendung der Streitkräfte "als Polizeikräfte" ist zwar im späteren Verfassungstext nicht mehr enthalten; auf sie ist im Zusammenhang mit dem Vorschlag des Bundestagsrechtsausschusses verzichtet worden, die Hilfe zugunsten der Länder im Fall des Katastrophennotstands in Art. 35 Abs. 2 und 3 GG und die Unterstützung der Länder bei der Bekämpfung des inneren Notstands in Art. 87 a Abs. 4 und Art. 91 GG in unterschiedlichen Sachzusammenhängen zu regeln (vgl. dazu BTDrucks V/2873, S. 2 unter B, S. 9 zu § 1 Nr. 2 c). Eine gegenständliche Erweiterung der zulässigen Einsatzmittel der Streitkräfte auf militärtypische Waffen war damit aber nicht beabsichtigt (vgl. auch Cl. Arndt, DVBl 1968, S. 729 <730>).
109

Der Ausschuss wollte im Gegenteil mit der von ihm vorgeschlagenen - und später vom verfassungsändernden Gesetzgeber insoweit auch übernommenen - Vorschrift die Schwelle für den Einsatz der Streitkräfte als bewaffnete Macht gegenüber der Regierungsvorlage anheben und den bewaffneten Einsatz der Bundeswehr nur für die Bekämpfung von Gruppen militärisch bewaffneter Aufständischer nach Art. 87 a Abs. 4 GG zulassen (vgl. BTDrucks V/2873, S. 2 unter B). Das findet seinen sichtbaren Ausdruck darin, dass die Bestimmung über den Einsatz der Streitkräfte im regionalen Katastrophenfall in den Bund und Länder betreffenden Abschnitt II des Grundgesetzes und nicht in den Abschnitt VIII eingestellt worden ist, in dem auch die militärische Verwendung der Streitkräfte geregelt ist. Deren Einsatz "zur Hilfe" nach Art. 35 Abs. 2 Satz 2 GG sollte sich nach den Vorstellungen des Verfassungsgesetzgebers ausdrücklich darauf beschränken, es der Bundeswehr zu ermöglichen, im Rahmen eines regionalen Katastropheneinsatzes die dabei anfallenden Aufgaben und Zwangsbefugnisse polizeilicher Art wahrzunehmen, beispielsweise gefährdete Grundstücke abzusperren und Verkehrsregelungen zu treffen (vgl. BTDrucks V/2873, S. 10 zu Art. 35 Abs. 2; zum verfassungspolitischen Hintergrund der norddeutschen Flutkatastrophe im Jahre 1962 s. auch die Ausführungen von Senator Ruhnau [Hamburg, SPD] in der 3. öffentlichen Informationssitzung des Rechts- und des Innenausschusses des 5. Deutschen Bundestages am 30. November 1967, Protokoll, S. 8, und des Abg. Schmidt [Hamburg, SPD] in der 175. Sitzung des 5. Deutschen Bundestages am 16. Mai 1968, Sten. Ber., S. 9444).
110

(2) § 14 Abs. 3 LuftSiG ist auch mit der Regelung des Art. 35 Abs. 3 Satz 1 GG über den überregionalen Katastrophennotstand nicht vereinbar.
111

(a) Allerdings ist verfassungsrechtlich insoweit ebenfalls nicht zu beanstanden, dass die unmittelbare Einwirkung mit Waffengewalt auf ein Luftfahrzeug gemäß § 14 Abs. 3 in Verbindung mit § 13 Abs. 1 LuftSiG an einen Vorgang anknüpft, der von denen, die das Luftfahrzeug gegen das Leben von Menschen einsetzen wollen, vorsätzlich herbeigeführt worden ist. Aus den zu Art. 35 Abs. 2 Satz 2 GG ausgeführten Gründen (vgl. oben unter C II 2 a bb ccc [1] [a]) kann in einem solchen absichtlich in Gang gesetzten Vorfall auch im Sinne des Art. 35 Abs. 3 Satz 1 GG ein besonders schwerer Unglücksfall gesehen werden. Dass noch nicht alle seine Konsequenzen eingetreten sind, die Dinge sich vielmehr noch auf die Katastrophe hinbewegen, schließt, wie sich aus dem Tatbestandsmerkmal "gefährdet" ergibt, auch die Anwendung des Art. 35 Abs. 3 Satz 1 GG nicht aus. Wo die Gefährdung eintritt, ob also das Erfordernis einer überregionalen Gefährdung erfüllt ist, ist eine Frage des Einzelfalls. Dass sie beim Vorliegen der Voraussetzungen des § 14 Abs. 3 LuftSiG mehr als nur ein einzelnes Land betrifft, ist jedenfalls möglich, nach der Lagebeurteilung des Gesetzgebers (vgl. BTDrucks 15/2361, S. 20, 21, jeweils zu § 13) und den Stellungnahmen von Bundestag und Bundesregierung sogar eher die Regel.
112

(b) § 14 Abs. 3 LuftSiG begegnet aber schon deshalb verfassungsrechtlichen Bedenken, weil der danach zulässige Streitkräfteeinsatz gemäß § 13 Abs. 3 LuftSiG nicht durchweg eine vorherige Einsatzentscheidung der Bundesregierung voraussetzt.
113

Zum Einsatz der Streitkräfte im Fall des überregionalen Katastrophennotstands ist nach Art. 35 Abs. 3 Satz 1 GG ausdrücklich nur die Bundesregierung ermächtigt. Diese besteht nach Art. 62 GG aus dem Bundeskanzler und den Bundesministern. Sie ist Kollegialorgan. Ist die Zuständigkeit für die Entscheidung über den Einsatz der Streitkräfte zum Zweck der überregionalen Katastrophenhilfe der Bundesregierung vorbehalten, verlangt Art. 35 Abs. 3 Satz 1 GG demzufolge einen Beschluss des Kollegiums (vgl. - zu Art. 80 Abs. 1 Satz 1 GG - BVerfGE 91, 148 <165 f.>). Die Entscheidungszuständigkeit der Bundesregierung als Ganzes sichert auch stärker die Belange der Länder, die durch die Verwendung der Streitkräfte in ihrem Kompetenzbereich ohne vorherige Anforderung durch die gefährdeten Länder nachhaltig berührt werden (vgl. BVerfGE 26, 338 <397 f.>).
114

§ 13 Abs. 3 LuftSiG wird dem lediglich in Satz 1 gerecht, nach dem die Entscheidung über einen Einsatz der Streitkräfte nach Art. 35 Abs. 3 GG die Bundesregierung im Benehmen mit den betroffenen Ländern trifft. Die Sätze 2 und 3 sehen dagegen vor, dass der Bundesminister der Verteidigung oder im Vertretungsfall das zu seiner Vertretung berechtigte Mitglied der Bundesregierung im Benehmen mit dem Bundesminister des Innern entscheidet, wenn eine rechtzeitige Entscheidung der Bundesregierung nicht möglich ist; deren Entscheidung ist in diesem Fall, bei dem es sich nach Auffassung des Gesetzgebers um den Regelfall handeln wird (vgl. BTDrucks 15/2361, S. 21 zu § 13), unverzüglich nachzuholen. Die Bundesregierung wird danach bei der Entscheidung über den Einsatz der Streitkräfte im überregionalen Katastrophenfall nicht nur ausnahmsweise, sondern regelmäßig durch einen Einzelminister ersetzt. Das lässt sich im Blick auf Art. 35 Abs. 3 Satz 1 GG auch nicht mit einer besonderen Eilbedürftigkeit rechtfertigen. Das knappe Zeitbudget, das im Anwendungsbereich des § 13 Abs. 3 LuftSiG im Allgemeinen nur zur Verfügung steht, macht vielmehr gerade deutlich, dass Maßnahmen der in § 14 Abs. 3 LuftSiG normierten Art auf dem in Art. 35 Abs. 3 Satz 1 GG vorgesehenen Wege in der Regel nicht zu bewältigen sein werden.
115


(c) Darüber hinaus ist der wehrverfassungsrechtliche Rahmen des Art. 35 Abs. 3 Satz 1 GG vor allem deshalb überschritten, weil auch im Fall des überregionalen Katastrophennotstands ein Einsatz der Streitkräfte mit typisch militärischen Waffen von Verfassungs wegen nicht erlaubt ist.
116

Art. 35 Abs. 3 Satz 1 GG unterscheidet sich von Art. 35 Abs. 2 Satz 2 GG nur in zweifacher Hinsicht. Einmal verlangt Art. 35 Abs. 3 Satz 1 GG das Vorliegen einer Gefahrenlage, von der das Gebiet mehr als eines Landes bedroht ist. Zum andern werden im Hinblick auf die Überregionalität der Notstandslage die Initiative für die wirksame Bekämpfung dieser Situation auf die Bundesregierung verlagert und deren Kompetenzen zur Unterstützung der Polizeikräfte der Länder erweitert; die Bundesregierung kann unter anderem von sich aus Einheiten der Streitkräfte einsetzen. Dass diese bei einem solchen Einsatz spezifisch militärische Waffen verwenden dürfen, wie sie für eine Maßnahme nach § 14 Abs. 3 LuftSiG benötigt werden, ist dagegen nicht vorgesehen. Der Wortlaut des Art. 35 Abs. 3 Satz 1 GG, der den Streitkräfteeinsatz lediglich "zur Unterstützung" der Polizeikräfte der Länder, also wiederum nur bei Wahrnehmung einer Landesaufgabe, erlaubt, und der daraus ersichtliche Regelungszweck der bloßen Unterstützung der Länder durch den Bund schließen einen Einsatz mit militärtypischer Bewaffnung im Lichte des Art. 87 a Abs. 2 GG vielmehr auch bei der Bekämpfung überregionaler Katastrophennotstände aus.
117

Das wird durch die Entstehungsgeschichte des Art. 35 Abs. 3 Satz 1 GG insoweit bestätigt, als für diese Vorschrift vom verfassungsändernden Gesetzgeber kein Anlass gesehen wurde, die Verwendung der Streitkräfte und deren Einsatzmittel abweichend von Art. 35 Abs. 2 Satz 2 GG zu regeln. Nachdem hinsichtlich dieser Bestimmung zum Ausdruck gebracht worden war, dass im Rahmen eines Hilfeeinsatzes zugunsten der Länder auch die Wahrnehmung der dabei anfallenden Aufgaben polizeilicher Art erlaubt sein soll, war die entsprechende Aussage für Art. 35 Abs. 3 Satz 1 GG offenbar so selbstverständlich, dass auf Ausführungen dazu in den Gesetzesmaterialien verzichtet werden konnte (vgl. BTDrucks V/2873, S. 10 zu Art. 35 Abs. 2 und 3). Das ist im Hinblick auf die nach dem allgemeinen Sprachgebrauch im Wesentlichen inhaltsgleichen Einsatzzwecke "zur Hilfe" in Art. 35 Abs. 2 Satz 2 GG und "zur Unterstützung" in Art. 35 Abs. 3 Satz 1 GG nachvollziehbar (vgl. auch dazu Cl. Arndt, a.a.O.). Auch die Hilfeleistungsrichtlinie des Bundesministers der Verteidigung vom 8. November 1988 geht in Abschnitt A Nr. 5 in Verbindung mit Nr. 4 und in Abschnitt C Nr. 16 wie selbstverständlich davon aus, dass sich die Befugnisse sowie Art und Umfang der Hilfeleistungen der Bundeswehr in den Fällen des Art. 35 Abs. 2 Satz 2 und des Art. 35 Abs. 3 Satz 1 GG nicht voneinander unterscheiden. Sie sehen auch bei der Unterstützung der Polizeikräfte der Länder nach Art. 35 Abs. 3 Satz 1 GG einen Einsatz der Streitkräfte mit militärspezifischen Waffen der in § 14 Abs. 3 LuftSiG vorausgesetzten Art nicht vor.
118

b) § 14 Abs. 3 LuftSiG steht darüber hinaus im Hinblick auf die Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG (aa) auch materiell mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht in Einklang, soweit er es den Streitkräften gestattet, Luftfahrzeuge abzuschießen, in denen sich Menschen als Opfer eines Angriffs auf die Sicherheit des Luftverkehrs im Sinne des § 1 LuftSiG befinden (bb). Nur soweit sich die Einsatzmaßnahme des § 14 Abs. 3 LuftSiG gegen ein unbemanntes Luftfahrzeug oder gegen den- oder diejenigen richtet, denen ein solcher Angriff zuzurechnen ist, begegnet die Vorschrift keinen materiellverfassungsrechtlichen Bedenken (cc).
119

aa) Das durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG gewährleistete Grundrecht auf Leben steht gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG unter dem Vorbehalt des Gesetzes (vgl. auch oben unter C I). Das einschränkende Gesetz muss aber seinerseits im Lichte dieses Grundrechts und der damit eng verknüpften Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG gesehen werden. Das menschliche Leben ist die vitale Basis der Menschenwürde als tragendem Konstitutionsprinzip und oberstem Verfassungswert (vgl. BVerfGE 39, 1 <42>; 72, 105 <115>; 109, 279 <311>). Jeder Mensch besitzt als Person diese Würde, ohne Rücksicht auf seine Eigenschaften, seinen körperlichen oder geistigen Zustand, seine Leistungen und seinen sozialen Status (vgl. BVerfGE 87, 209 <228>; 96, 375 <399>). Sie kann keinem Menschen genommen werden. Verletzbar ist aber der Achtungsanspruch, der sich aus ihr ergibt (vgl. BVerfGE 87, 209 <228>). Das gilt unabhängig auch von der voraussichtlichen Dauer des individuellen menschlichen Lebens (vgl. BVerfGE 30, 173 <194> zum Anspruch des Menschen auf Achtung seiner Würde selbst nach dem Tod).
120

Dem Staat ist es im Hinblick auf dieses Verhältnis von Lebensrecht und Menschenwürde einerseits untersagt, durch eigene Maßnahmen unter Verstoß gegen das Verbot der Missachtung der menschlichen Würde in das Grundrecht auf Leben einzugreifen. Andererseits ist er auch gehalten, jedes menschliche Leben zu schützen. Diese Schutzpflicht gebietet es dem Staat und seinen Organen, sich schützend und fördernd vor das Leben jedes Einzelnen zu stellen; das heißt vor allem, es auch vor rechtswidrigen An- und Eingriffen von Seiten Dritter zu bewahren (vgl. BVerfGE 39, 1 <42>; 46, 160 <164>; 56, 54 <73>). Ihren Grund hat auch diese Schutzpflicht in Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG, der den Staat ausdrücklich zur Achtung und zum Schutz der Menschenwürde verpflichtet (vgl. BVerfGE 46, 160 <164>; 49, 89 <142>; 88, 203 <251>).
121

Was diese Verpflichtung für das staatliche Handeln konkret bedeutet, lässt sich nicht ein für allemal abschließend bestimmen (vgl. BVerfGE 45, 187 <229>; 96, 375 <399 f.>). Art. 1 Abs. 1 GG schützt den einzelnen Menschen nicht nur vor Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung, Ächtung und ähnlichen Handlungen durch Dritte oder durch den Staat selbst (vgl. BVerfGE 1, 97 <104>; 107, 275 <284>; 109, 279 <312>). Ausgehend von der Vorstellung des Grundgesetzgebers, dass es zum Wesen des Menschen gehört, in Freiheit sich selbst zu bestimmen und sich frei zu entfalten, und dass der Einzelne verlangen kann, in der Gemeinschaft grundsätzlich als gleichberechtigtes Glied mit Eigenwert anerkannt zu werden (vgl. BVerfGE 45, 187 <227 f.>), schließt es die Verpflichtung zur Achtung und zum Schutz der Menschenwürde vielmehr generell aus, den Menschen zum bloßen Objekt des Staates zu machen (vgl. BVerfGE 27, 1 <6>); 45, 187 <228>; 96, 375 <399>). Schlechthin verboten ist damit jede Behandlung des Menschen durch die öffentliche Gewalt, die dessen Subjektqualität, seinen Status als Rechtssubjekt, grundsätzlich in Frage stellt (vgl. BVerfGE 30, 1 <26>; 87, 209 <228>; 96, 375 <399>), indem sie die Achtung des Wertes vermissen lässt, der jedem Menschen um seiner selbst willen, kraft seines Personseins, zukommt (vgl. BVerfGE 30, 1 <26>; 109, 279 <312 f.>). Wann eine solche Behandlung vorliegt, ist im Einzelfall mit Blick auf die spezifische Situation zu konkretisieren, in der es zum Konfliktfall kommen kann (vgl. BVerfGE 30, 1 <25>; 109, 279 <311>).
122

bb) Nach diesen Maßstäben ist § 14 Abs. 3 LuftSiG auch mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG nicht vereinbar, soweit vom Abschuss eines Luftfahrzeugs Personen betroffen werden, die als dessen Besatzung und Passagiere auf die Herbeiführung des in § 14 Abs. 3 LuftSiG vorausgesetzten nichtkriegerischen Luftzwischenfalls keinen Einfluss genommen haben.
123

aaa) In der Situation, in der sich diese Personen in dem Augenblick befinden, in dem die Anordnung der unmittelbaren Einwirkung mit Waffengewalt auf das in den Luftzwischenfall verwickelte Luftfahrzeug gemäß § 14 Abs. 4 Satz 1 LuftSiG erfolgt, muss nach § 14 Abs. 3 LuftSiG davon auszugehen sein, dass das Luftfahrzeug gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden soll. Das Luftfahrzeug muss, wie es in der Gesetzesbegründung heißt, von denen, die es in ihre Gewalt gebracht haben, zur Angriffswaffe umfunktioniert worden sein (vgl. BT-Drucks 15/2361, S. 20 zu § 13 Abs. 1), es muss selbst von den Straftätern als Tatwaffe, nicht lediglich als Hilfsmittel zur Tatbegehung zielgerichtet gegen das Leben von Menschen verwandt werden (vgl. BTDrucks 15/2361, S. 21 zu § 14 Abs. 3), die sich in dem Bereich aufhalten, in dem das Luftfahrzeug zum Absturz gebracht werden soll. In dieser Extremsituation, die zudem durch die räumliche Enge eines im Flug befindlichen Luftfahrzeugs geprägt ist, sind Passagiere und Besatzung typischerweise in einer für sie ausweglosen Lage. Sie können ihre Lebensumstände nicht mehr unabhängig von anderen selbstbestimmt beeinflussen.
124

Dies macht sie zum Objekt nicht nur der Täter. Auch der Staat, der in einer solchen Situation zur Abwehrmaßnahme des § 14 Abs. 3 LuftSiG greift, behandelt sie als bloße Objekte seiner Rettungsaktion zum Schutze anderer. Die Ausweglosigkeit und Unentrinnbarkeit, welche die Lage der als Opfer betroffenen Flugzeuginsassen kennzeichnen, bestehen auch gegenüber denen, die den Abschuss des Luftfahrzeugs anordnen und durchführen. Flugzeugbesatzung und -passagiere können diesem Handeln des Staates auf Grund der von ihnen in keiner Weise beherrschbaren Gegebenheiten nicht ausweichen, sondern sind ihm wehr- und hilflos ausgeliefert mit der Folge, dass sie zusammen mit dem Luftfahrzeug gezielt abgeschossen und infolgedessen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit getötet werden. Eine solche Behandlung missachtet die Betroffenen als Subjekte mit Würde und unveräußerlichen Rechten. Sie werden dadurch, dass ihre Tötung als Mittel zur Rettung anderer benutzt wird, verdinglicht und zugleich entrechtlicht; indem über ihr Leben von Staats wegen einseitig verfügt wird, wird den als Opfern selbst schutzbedürftigen Flugzeuginsassen der Wert abgesprochen, der dem Menschen um seiner selbst willen zukommt.
125

bbb) Dies geschieht zudem unter Umständen, die nicht erwarten lassen, dass in dem Augenblick, in dem gemäß § 14 Abs. 4 Satz 1 LuftSiG über die Durchführung einer Einsatzmaßnahme nach § 14 Abs. 3 LuftSiG zu entscheiden ist, die tatsächliche Lage immer voll überblickt und richtig eingeschätzt werden kann. Auch ist nicht ausgeschlossen, dass Verhaltensabläufe eintreten, die den Einsatz der Maßnahme nicht mehr erforderlich sein lassen. Nach den Erkenntnissen, die der Senat auf Grund der im Verfahren abgegebenen schriftlichen Stellungnahmen und der Äußerungen in der mündlichen Verhandlung gewonnen hat, kann nicht davon ausgegangen werden, dass die tatsächlichen Voraussetzungen für die Anordnung und Durchführung einer solchen Maßnahme stets mit der dafür erforderlichen Gewissheit festgestellt werden können.
126

(1) Vor allem die Vereinigung Cockpit hat darauf hingewiesen, schon die Feststellung, dass ein erheblicher Luftzwischenfall im Sinne des § 13 Abs. 1 LuftSiG vorliegt und dieser die Gefahr eines besonders schweren Unglücksfalls begründet, sei je nach Sachlage von großen Unsicherheiten geprägt. Diese Feststellung könne nur selten mit Gewissheit getroffen werden. Neuralgischer Punkt bei der Lagebeurteilung sei, inwieweit die möglicherweise betroffene Flugzeugbesatzung den Versuch oder den Erfolg der Entführung eines Luftfahrzeugs den Entscheidungsträgern am Boden noch mitteilen könne. Gelinge das nicht, sei die Tatsachengrundlage von Anfang an mit dem Makel einer Fehlinterpretation behaftet.
127

Auch die Erkenntnisse, die durch Aufklärungs- und Überprüfungsmaßnahmen nach § 15 Abs. 1 LuftSiG gewonnen werden sollen, sind nach Auffassung der Vereinigung Cockpit selbst bei idealer Wetterlage allenfalls vage. Der Annäherung von Abfangjägern an ein auffällig gewordenes Luftfahrzeug seien im Hinblick auf die damit verbundenen Gefahren Grenzen gesetzt. Die Möglichkeit, die Situation und die Geschehnisse an Bord eines solchen Luftfahrzeugs zu erkennen, sei deshalb selbst bei - zudem oft nur schwer herstellbarem - Sichtkontakt eingeschränkt. Die auf den ermittelten Tatsachen beruhenden Einschätzungen hinsichtlich Motivation und Zielen der Entführer eines Luftfahrzeugs blieben unter diesen Umständen im Allgemeinen wohl bis zuletzt spekulativ. Die Gefahr bei der Anwendung des § 14 Abs. 3 LuftSiG liege infolgedessen darin, dass der Abschussbefehl auf ungesicherter Tatsachengrundlage zu früh erteilt werde, wenn der Einsatz von Waffengewalt im Rahmen des zur Verfügung stehenden, im Regelfall äußerst knappen Zeitfensters überhaupt noch rechtzeitig mit Aussicht auf Erfolg und ohne unverhältnismäßige Gefährdung unbeteiligter Dritter vorgenommen werden solle. Damit ein solcher Einsatz wirkungsvoll sei, müsse deshalb von vornherein in Kauf genommen werden, dass die Maßnahme möglicherweise gar nicht erforderlich sei. Es werde mit anderen Worten häufig wohl mit Übermaß reagiert werden müssen.
128

(2) Anhaltspunkte dafür, dass diese Einschätzung auf unrealistischen und daher unzutreffenden Annahmen beruhen könnte, sind im Verfahren nicht hervorgetreten. Im Gegenteil hat auch die Unabhängige Flugbegleiter Organisation UFO nachvollziehbar ausgeführt, dass die vom Bundesminister der Verteidigung oder seinem Vertreter nach § 14 Abs. 4 Satz 1 in Verbindung mit Abs. 3 LuftSiG zu treffende Entscheidung auf der Grundlage weitgehend ungesicherter Informationen gefällt werden müsse. Wegen der komplizierten und fehleranfälligen Kommunikationswege einerseits zwischen Kabinenpersonal und Cockpit an Bord eines in einen Luftzwischenfall involvierten Luftfahrzeugs und andererseits zwischen Cockpit und den Entscheidungsträgern am Boden sowie im Hinblick darauf, dass sich die Lage an Bord des Luftfahrzeugs innerhalb von Minuten, ja Sekunden ändern könne, sei es für diejenigen, die auf der Erde unter extremem Zeitdruck entscheiden müssten, praktisch unmöglich, verlässlich zu beurteilen, ob die Voraussetzungen des § 14 Abs. 3 LuftSiG vorliegen. Die Entscheidung könne deshalb im Regelfall nur auf Verdacht, nicht aber auf der Grundlage gesicherter Erkenntnisse getroffen werden.
129

Diese Bewertung erscheint dem Senat nicht zuletzt deshalb überzeugend, weil das komplizierte, mehrfach gestufte und auf eine Vielzahl von Entscheidungsträgern und Beteiligten angewiesene Verfahren, das nach den §§ 13 bis 15 LuftSiG durchlaufen sein muss, bis es zu einer Maßnahme nach § 14 Abs. 3 LuftSiG kommen kann, im Ernstfall einen nicht unerheblichen Zeitaufwand erfordern wird. Angesichts des verhältnismäßig kleinen Überfluggebiets Bundesrepublik Deutschland besteht deshalb nicht nur ein immenser zeitlicher Entscheidungsdruck, sondern damit auch die Gefahr vorschneller Entscheidungen.
130

ccc) Auch wenn sich im Bereich der Gefahrenabwehr Prognoseunsicherheiten vielfach nicht gänzlich vermeiden lassen, ist es unter der Geltung des Art. 1 Abs. 1 GG schlechterdings unvorstellbar, auf der Grundlage einer gesetzlichen Ermächtigung unschuldige Menschen, die sich wie die Besatzung und die Passagiere eines entführten Luftfahrzeugs in einer für sie hoffnungslosen Lage befinden, gegebenenfalls sogar unter Inkaufnahme solcher Unwägbarkeiten vorsätzlich zu töten. Dabei ist hier nicht zu entscheiden, wie ein gleichwohl vorgenommener Abschuss und eine auf ihn bezogene Anordnung strafrechtlich zu beurteilen wären (vgl. dazu und zu vergleichbaren Fallkonstellationen etwa OGHSt 1, 321 <331 ff., 335 ff.>; 2, 117 <120 ff.>; Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. I, 3. Aufl. 1997, S. 888 f.; Erb, in: Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 1, 2003, § 34 Rn. 117 ff.; Rudolphi, in: Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. I, Allgemeiner Teil, Vor § 19 Rn. 8 <Stand: April 2003>; Kühl, Strafgesetzbuch, 25. Aufl. 2004, Vor § 32 Rn. 31; Tröndle/Fischer, Strafgesetzbuch, 52. Aufl. 2004, Vor § 32 Rn. 15, § 34 Rn. 23; Hilgendorf, in: Blaschke/Förster/Lumpp/ Schmidt, Sicherheit statt Freiheit?, 2005, S. 107 <130>). Für die verfassungsrechtliche Beurteilung ist allein entscheidend, dass der Gesetzgeber nicht durch Schaffung einer gesetzlichen Eingriffsbefugnis zu Maßnahmen der in § 14 Abs. 3 LuftSiG geregelten Art gegenüber unbeteiligten, unschuldigen Menschen ermächtigen, solche Maßnahmen nicht auf diese Weise als rechtmäßig qualifizieren und damit erlauben darf. Sie sind als Streitkräfteeinsätze nichtkriegerischer Art mit dem Recht auf Leben und der Verpflichtung des Staates zur Achtung und zum Schutz der menschlichen Würde nicht zu vereinbaren.

131

(1) So kann - anders als gelegentlich argumentiert wird - nicht angenommen werden, dass derjenige, der als Besatzungsmitglied oder Passagier ein Luftfahrzeug besteigt, mutmaßlich in dessen Abschuss und damit in die eigene Tötung einwilligt, falls dieses in einen Luftzwischenfall im Sinne des § 13 Abs. 1 LuftSiG verwickelt wird, der eine Abwehrmaßnahme nach § 14 Abs. 3 LuftSiG zur Folge hat. Eine solche Annahme ist ohne jeden realistischen Hintergrund und nicht mehr als eine lebensfremde Fiktion.
132

(2) Auch die Einschätzung, diejenigen, die sich als Unbeteiligte an Bord eines Luftfahrzeugs aufhalten, das im Sinne des § 14 Abs. 3 LuftSiG gegen das Leben anderer Menschen eingesetzt werden soll, seien ohnehin dem Tode geweiht, vermag der mit einer Einsatzmaßnahme nach dieser Vorschrift im Regelfall verbundenen Tötung unschuldiger Menschen in einer für sie ausweglosen Lage nicht den Charakter eines Verstoßes gegen den Würdeanspruch dieser Menschen zu nehmen. Menschliches Leben und menschliche Würde genießen ohne Rücksicht auf die Dauer der physischen Existenz des einzelnen Menschen gleichen verfassungsrechtlichen Schutz (vgl. oben unter C I, II 2 b aa). Wer dies leugnet oder in Frage stellt, verwehrt denjenigen, die sich wie die Opfer einer Flugzeugentführung in einer für sie alternativlosen Notsituation befinden, gerade die Achtung, die ihnen um ihrer menschlichen Würde willen gebührt (vgl. oben unter C II 2 b aa, bb aaa).
133

Dazu kommen auch hier Ungewissheiten im Tatsächlichen. Die Unsicherheiten, die die Lagebeurteilung im Anwendungsbereich der §§ 13 bis 15 LuftSiG im Allgemeinen kennzeichnen (vgl. vorstehend unter C II 2 b bb bbb), beeinflussen notwendigerweise auch die Prognose darüber, wie lange Menschen, die sich an Bord eines zur Angriffswaffe umfunktionierten Luftfahrzeugs befinden, noch zu leben haben und ob noch die Chance einer Rettung besteht. Eine verlässliche Aussage darüber, dass das Leben dieser Menschen "ohnehin schon verloren" sei, wird deshalb im Regelfall nicht getroffen werden können.
134

(3) Eine andere Beurteilung rechtfertigt auch nicht die Annahme, wer an Bord eines Luftfahrzeugs in der Gewalt von Personen festgehalten werde, die das Luftfahrzeug im Sinne des § 14 Abs. 3 LuftSiG als Tatwaffe gegen das Leben anderer Menschen einsetzen wollen, sei selbst Teil dieser Waffe und müsse sich als solcher behandeln lassen. Diese Auffassung bringt geradezu unverhohlen zum Ausdruck, dass die Opfer eines solchen Vorgangs nicht mehr als Menschen wahrgenommen, sondern als Teil einer Sache gesehen und damit selbst verdinglicht werden. Mit dem Menschenbild des Grundgesetzes und der Vorstellung vom Menschen als einem Wesen, das darauf angelegt ist, in Freiheit sich selbst zu bestimmen (vgl. BVerfGE 45, 187 <227>), und das deshalb nicht zum reinen Objekt staatlichen Handelns gemacht werden darf, lässt sich dies nicht vereinbaren.
135

(4) Der Gedanke, der Einzelne sei im Interesse des Staatsganzen notfalls verpflichtet, sein Leben aufzuopfern, wenn es nur auf diese Weise möglich ist, das rechtlich verfasste Gemeinwesen vor Angriffen zu bewahren, die auf dessen Zusammenbruch und Zerstörung abzielen (so etwa Enders, in: Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, Art. 1 Rn. 93 <Stand: Juli 2005>), führt ebenfalls zu keinem anderen Ergebnis. Dabei braucht der Senat nicht zu entscheiden, ob und gegebenenfalls unter welchen Umständen dem Grundgesetz über die mit der Notstandsverfassung geschaffenen Schutzmechanismen hinaus eine solche solidarische Einstandspflicht entnommen werden kann. Denn im Anwendungsbereich des § 14 Abs. 3 LuftSiG geht es nicht um die Abwehr von Angriffen, die auf die Beseitigung des Gemeinwesens und die Vernichtung der staatlichen Rechts- und Freiheitsordnung gerichtet sind.
136

Die §§ 13 bis 15 LuftSiG dienen im Rahmen der Gefahrenabwehr der Verhinderung des Eintritts von besonders schweren Unglücksfällen im Sinne des Art. 35 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 GG. Derartige Unglücksfälle können ausweislich der Gesetzesbegründung politisch motiviert sein, aber auch von Kriminellen ohne politische Absichten oder von geistig verwirrten Einzeltätern ausgehen (vgl. BTDrucks 15/2361, S. 14). Auch wo sie im Einzelfall auf politische Motive zurückgehen, werden, wie die Einbindung der §§ 13 ff. LuftSiG in das System der Katastrophenbekämpfung nach Art. 35 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 GG zeigt, Vorgänge vorausgesetzt, die nicht darauf zielen, den Staat selbst und seinen Fortbestand in Frage zu stellen. Für die Annahme einer Einstandspflicht im dargelegten Sinne ist unter diesen Umständen kein Raum.
137

(5) Schließlich lässt sich § 14 Abs. 3 LuftSiG auch nicht mit der staatlichen Schutzpflicht zugunsten derjenigen rechtfertigen, gegen deren Leben das im Sinne von § 14 Abs. 3 LuftSiG als Tatwaffe missbrauchte Luftfahrzeug eingesetzt werden soll.
138

Dem Staat und seinen Organen kommt bei der Erfüllung derartiger Schutzpflichten ein weiter Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsbereich zu (vgl. BVerfGE 77, 170 <214>; 79, 174 <202>; 92, 26 <46>). Anders als die Grundrechte in ihrer Funktion als subjektive Abwehrrechte sind die sich aus dem objektiven Gehalt der Grundrechte ergebenden staatlichen Schutzpflichten grundsätzlich unbestimmt (vgl. BVerfGE 96, 56 <64>). Wie die staatlichen Organe solchen Schutzpflichten nachkommen, ist von ihnen prinzipiell in eigener Verantwortung zu entscheiden (vgl. BVerfGE 46, 160 <164>; 96, 56 <64>). Das gilt auch für die Pflicht zum Schutz des menschlichen Lebens. Zwar kann sich gerade mit Blick auf dieses Schutzgut in besonders gelagerten Fällen, wenn anders ein effektiver Lebensschutz nicht zu erreichen ist, die Möglichkeit der Auswahl der Mittel zur Erfüllung der Schutzpflicht auf die Wahl eines bestimmten Mittels verengen (vgl. BVerfGE 46, 160 <164 f.>). Die Wahl kann aber immer nur auf solche Mittel fallen, deren Einsatz mit der Verfassung in Einklang steht.
139

Daran fehlt es im Fall des § 14 Abs. 3 LuftSiG. Die Anordnung und Durchführung der unmittelbaren Einwirkung auf ein Luftfahrzeug mit Waffengewalt nach dieser Vorschrift lässt außer Betracht, dass auch die in dem Luftfahrzeug festgehaltenen Opfer eines Angriffs Anspruch auf den staatlichen Schutz ihres Lebens haben. Nicht nur, dass ihnen dieser Schutz seitens des Staates verwehrt wird, der Staat greift vielmehr selbst in das Leben dieser Schutzlosen ein. Damit missachtet jedes Vorgehen nach § 14 Abs. 3 LuftSiG, wie ausgeführt, die Subjektstellung dieser Menschen in einer mit Art. 1 Abs. 1 GG nicht zu vereinbarenden Weise und das daraus für den Staat sich ergebende Tötungsverbot. Daran ändert es nichts, dass dieses Vorgehen dazu dienen soll, das Leben anderer Menschen zu schützen und zu erhalten.
140

cc) § 14 Abs. 3 LuftSiG ist dagegen mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG insoweit vereinbar, als sich die unmittelbare Einwirkung mit Waffengewalt gegen ein unbemanntes Luftfahrzeug oder ausschließlich gegen Personen richtet, die das Luftfahrzeug als Tatwaffe gegen das Leben von Menschen auf der Erde einsetzen wollen.
141

aaa) Insoweit steht der Anordnung und Durchführung einer Einsatzmaßnahme nach § 14 Abs. 3 LuftSiG die Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG nicht entgegen. Das versteht sich bei Maßnahmen gegen unbemannte Luftfahrzeuge von selbst, gilt aber auch im anderen Fall. Wer, wie diejenigen, die ein Luftfahrzeug als Waffe zur Vernichtung menschlichen Lebens missbrauchen wollen, Rechtsgüter anderer rechtswidrig angreift, wird nicht als bloßes Objekt staatlichen Handelns in seiner Subjektqualität grundsätzlich in Frage gestellt (vgl. oben unter C II 2 b aa), wenn der Staat sich gegen den rechtswidrigen Angriff zur Wehr setzt und ihn in Erfüllung seiner Schutzpflicht gegenüber denen, deren Leben ausgelöscht werden soll, abzuwehren versucht. Es entspricht im Gegenteil gerade der Subjektstellung des Angreifers, wenn ihm die Folgen seines selbstbestimmten Verhaltens persönlich zugerechnet werden und er für das von ihm in Gang gesetzte Geschehen in Verantwortung genommen wird. Er wird daher in seinem Recht auf Achtung der auch ihm eigenen menschlichen Würde nicht beeinträchtigt.
142

Daran ändern auch die Unsicherheiten nichts, die sich bei der Prüfung ergeben können, ob die Voraussetzungen für die Anordnung und Durchführung einer Einsatzmaßnahme nach § 14 Abs. 3 LuftSiG tatsächlich vorliegen (vgl. oben unter C II 2 b bb bbb). Diese Unsicherheiten sind in Fällen der hier erörterten Art nicht mit denen vergleichbar, die im Regelfall anzunehmen sein werden, wenn sich an Bord des Luftfahrzeugs außer Straftätern auch Besatzungsmitglieder und Passagiere befinden. Wollen diejenigen, die das Luftfahrzeug in ihrer Gewalt haben, dieses nicht als Waffe benutzen, ist also der entsprechende Verdacht nicht begründet, können sie aus Anlass der nach § 15 Abs. 1 und § 14 Abs. 1 LuftSiG durchgeführten Vorfeldmaßnahmen, etwa auf Grund der Androhung von Waffengewalt oder eines Warnschusses, unschwer durch Kooperation, beispielsweise durch Abdrehen oder das Landen der Maschine, zu erkennen geben, dass von ihnen keine Gefahr ausgeht. Auch entfallen die spezifischen Schwierigkeiten, die sich hinsichtlich der Kommunikation zwischen möglicherweise von Straftätern bedrohtem Kabinenpersonal und Cockpit und zwischen diesem und den Entscheidungsträgern am Boden ergeben können. Es ist deshalb hier eher möglich, hinreichend verlässlich und auch rechtzeitig festzustellen, dass ein Luftfahrzeug als Waffe für einen gezielten Absturz missbraucht werden soll.
143

Gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass sich an Bord eines auffällig gewordenen Luftfahrzeugs Unbeteiligte aufhalten, beziehen sich noch verbleibende Ungewissheiten - etwa hinsichtlich der dem Luftzwischenfall zugrunde liegenden Motive - auf einen Geschehensablauf, der durch das Handeln derjenigen ausgelöst worden ist und abgewendet werden kann, gegen die sich die Abwehrmaßnahme nach § 14 Abs. 3 LuftSiG ausschließlich richtet. Damit verbundene Unwägbarkeiten sind daher dem Verantwortungsbereich der Straftäter zuzurechen.
144

bbb) Die Regelung des § 14 Abs. 3 LuftSiG wird, soweit sie nur gegenüber Personen an Bord eines Luftfahrzeugs angewandt wird, das diese als Tatwaffe gegen das Leben von Menschen einsetzen wollen, auch den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gerecht.
145

(1) Die Vorschrift dient dem Ziel, Leben von Menschen zu retten. Das ist im Hinblick auf den Höchstwert, den das menschliche Leben in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes einnimmt (vgl. oben unter C I), ein Regelungszweck von solchem Gewicht, dass er den schwerwiegenden Eingriff in das Grundrecht auf Leben der Täter an Bord des Luftfahrzeugs rechtfertigen kann.
146

(2) § 14 Abs. 3 LuftSiG ist zur Erreichung dieses Schutzzwecks nicht schlechthin ungeeignet, weil nicht ausgeschlossen werden kann, dass dieser im Einzelfall durch eine Maßnahme nach § 14 Abs. 3 LuftSiG gefördert wird (vgl. BVerfGE 30, 292 <316>; 90, 145 <172>; 110, 141 <164>). Ungeachtet der geschilderten Einschätzungs- und Prognoseunsicherheiten (vgl. oben unter C II 2 b bb bbb) sind Situationen vorstellbar, in denen verlässlich festgestellt werden kann, dass sich an Bord eines in einen Luftzwischenfall verwickelten Luftfahrzeugs nur daran beteiligte Straftäter befinden, und auch ausreichend sicher angenommen werden kann, dass bei einem Einsatz nach § 14 Abs. 3 LuftSiG nachteilige Folgen für das Leben von Menschen am Boden nicht eintreten werden. Ob eine solche Sachlage gegeben ist, hängt von der Lagebeurteilung im Einzelfall ab. Führt sie zu der sicheren Einschätzung, dass sich im Luftfahrzeug nur die Straftäter aufhalten, und zu der Prognose, dass durch den Abschuss des Luftfahrzeugs die Gefahr für die durch dieses am Boden bedrohten Menschen abgewendet werden kann, wird der Erfolg, der mit § 14 Abs. 3 LuftSiG erreicht werden soll, gefördert. Die Eignung dieser Vorschrift für den mit ihr verfolgten Zweck lässt sich deshalb nicht generell in Abrede stellen.
147

(3) Auch die Erforderlichkeit der Regelung zur Zielerreichung ist in einem solchen Fall gegeben, weil ein gleich wirksames, das Recht auf Leben der Straftäter nicht oder weniger beeinträchtigendes Mittel nicht ersichtlich ist (vgl. BVerfGE 30, 292 <316>; 90, 145 <172>; 110, 141 <164>).
148

Der Gesetzgeber hat vor allem in den §§ 5 bis 12 LuftSiG ein ganzes Bündel von Maßnahmen getroffen, die alle im Sinne des § 1 LuftSiG dazu bestimmt sind, dem Schutz vor Angriffen auf die Sicherheit des Luftverkehrs, insbesondere vor Flugzeugentführungen, Sabotageakten und terroristischen Anschlägen, zu dienen (im Einzelnen vgl. schon oben unter A I 2 b bb aaa [1]). Trotzdem hat er es für erforderlich gehalten, mit den §§ 13 bis 15 LuftSiG für den Fall, dass auf Grund eines erheblichen Luftzwischenfalls der Eintritt eines besonders schweren Unglücksfalls in der Bedeutung des Art. 35 Abs. 2 Satz 2 oder Abs. 3 GG zu befürchten ist, Regelungen mit speziellen Eingriffsbefugnissen und Schutzmaßnahmen zu erlassen, die bis zur Ermächtigung reichen, unter den Voraussetzungen des § 14 Abs. 3 LuftSiG als ultima ratio unmittelbar mit Waffengewalt auf ein Luftfahrzeug einzuwirken. Dem liegt die nicht widerlegbare Einschätzung zugrunde, dass auch die umfangreichen Vorkehrungen nach den §§ 5 bis 11 LuftSiG ebenso wie die Erweiterung der Aufgaben und Befugnisse der Luftfahrzeugführer durch § 12 LuftSiG der Erfahrung nach einen absolut sicheren Schutz vor einem Missbrauch von Luftfahrzeugen für kriminelle Zwecke nicht bieten können. Für andere denkbare Schutzmaßnahmen kann nichts anderes gelten.
149

(4) Die Ermächtigung zur unmittelbaren Einwirkung mit Waffengewalt auf ein Luftfahrzeug, in dem sich nur Menschen befinden, die dieses im Sinne des § 14 Abs. 3 LuftSiG missbrauchen wollen, ist schließlich auch verhältnismäßig im engeren Sinne. Der Abschuss eines solchen Luftfahrzeugs stellt nach dem Ergebnis der Gesamtabwägung zwischen der Schwere des damit verbundenen Grundrechtseingriffs und dem Gewicht der zu schützenden Rechtsgüter (vgl. dazu BVerfGE 90, 145 <173>; 104, 337 <349>; 110, 141 <165>) eine angemessene, den Betroffenen zumutbare Abwehrmaßnahme dar, wenn Gewissheit über die tatbestandlichen Voraussetzungen besteht.
150

(a) Der Grundrechtseingriff wiegt allerdings schwer, weil der Vollzug der Einsatzmaßnahme nach § 14 Abs. 3 LuftSiG mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zum Tod der Flugzeuginsassen führt. Doch sind es diese in der hier angenommenen Fallkonstellation selbst, die als Täter die Notwendigkeit des staatlichen Eingreifens herbeigeführt haben und dieses Eingreifen jederzeit dadurch wieder abwenden können, dass sie von der Verwirklichung ihres verbrecherischen Plans Abstand nehmen. Diejenigen, die das Luftfahrzeug in ihrer Gewalt haben, sind es, die maßgeblich den Geschehensablauf an Bord, aber auch am Boden bestimmen. Zu ihrer Tötung kann es nur kommen, wenn sicher erkennbar ist, dass sie das von ihnen beherrschte Luftfahrzeug zur Tötung von Menschen einsetzen werden, und wenn sie an diesem Vorhaben festhalten, obwohl ihnen die damit für sie selbst verbundene Lebensgefahr bewusst ist. Das mindert das Gewicht des gegen sie gerichteten Grundrechtseingriffs.
151

Auf der anderen Seite haben diejenigen, deren Leben durch die Eingriffsmaßnahme nach § 14 Abs. 3 LuftSiG in Erfüllung der staatlichen Schutzpflicht geschützt werden soll, im Zielbereich des beabsichtigten Flugzeugabsturzes im Regelfall nicht die Möglichkeit, den gegen sie geplanten Angriff abzuwehren, ihm insbesondere auszuweichen.
152

(b) Zu beachten ist allerdings auch, dass durch die Anwendung des § 14 Abs. 3 LuftSiG auf der Erde nicht nur hoch gefährliche Anlagen betroffen, sondern auch Menschen getötet werden können, die sich in Gebieten aufhalten, in denen aller Voraussicht nach Trümmer des unter Einwirkung von Waffengewalt abgeschossenen Luftfahrzeugs niedergehen werden. Auch zum Schutz des Lebens - und der Gesundheit - dieser Menschen ist der Staat von Verfassungs wegen verpflichtet. Das kann bei einer Entscheidung nach § 14 Abs. 4 Satz 1 LuftSiG nicht unberücksichtigt bleiben.
153

Dieser Aspekt berührt aber nicht den rechtlichen Bestand der in § 14 Abs. 3 LuftSiG getroffenen Regelung, sondern deren Anwendung im Einzelfall. Sie soll nach den im Verfahren abgegebenen Stellungnahmen ohnehin unterbleiben, wenn mit Sicherheit erwartet werden muss, dass am Boden über dicht besiedeltem Gebiet durch herabfallende Flugzeugteile Menschen zu Schaden kommen oder gar ihr Leben verlieren würden. Für die Frage, ob die Vorschrift den Anforderungen auch der verfassungsrechtlichen Angemessenheit genügt, reicht die Feststellung aus, dass Fallkonstellationen denkbar sind, in denen die unmittelbare Einwirkung auf ein nur mit Angreifern auf den Luftverkehr besetztes Luftfahrzeug die Gefahr für das Leben derer abwenden kann, gegen die das Luftfahrzeug als Tatwaffe eingesetzt werden soll, ohne dass durch den Abschuss gleichzeitig in das Leben anderer eingegriffen wird. Das ist, wie schon ausgeführt (vgl. oben unter C II 2 b cc bbb [2]), der Fall. § 14 Abs. 3 LuftSiG ist damit, soweit er die unmittelbare Einwirkung mit Waffengewalt auf ein unbemanntes oder nur mit Angreifern besetztes Luftfahrzeug erlaubt, auch verhältnismäßig im engeren Sinne.
154

ccc) Die Wesensgehaltssperre des Art. 19 Abs. 2 GG schließt eine solche Maßnahme gegenüber diesem Personenkreis ebenfalls nicht aus. Im Hinblick auf die außergewöhnliche Ausnahmesituation, von der § 14 Abs. 3 LuftSiG ausgeht, bleibt der Wesensgehalt des Grundrechts auf Leben im hier vorausgesetzten Fall durch den mit dieser Vorschrift verbundenen Grundrechtseingriff so lange unangetastet, wie gewichtige Schutzinteressen Dritter den Eingriff legitimieren und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt ist (vgl. BVerfGE 22, 180 <219 f.>; 109, 133 <156>). Beide Voraussetzungen sind nach den vorstehenden Ausführungen gegeben (vgl. unter C II 2 b cc bbb).
III.
155

Da es dem Bund für § 14 Abs. 3 LuftSiG schon an der Gesetzgebungskompetenz mangelt, hat die Vorschrift auch insoweit, als die unmittelbare Einwirkung auf ein Luftfahrzeug mit Waffengewalt materiellverfassungsrechtlich gerechtfertigt werden kann, keinen Bestand. Die Regelung ist in vollem Umfang verfassungswidrig und infolgedessen gemäß § 95 Abs. 3 Satz 1 BVerfGG nichtig. Für die bloße Feststellung einer Unvereinbarkeit der angegriffenen Regelung mit dem Grundgesetz ist unter den gegebenen Umständen kein Raum.
D.
156

Die Kostenentscheidung beruht auf § 34 a Abs. 2 BVerfGG.


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Grenzen des Begriffs der " Menschenwürde "

Beitragvon MARS » So 2. Jun 2013, 11:38

BVerfG Urteil v. 15.12.1970 - 2 BvF 1/69, 2 BvR 629/68 und 308/69

1. Wenn dem Betroffenen die Möglichkeit, sich gegen den Vollzugsakt zu wenden, verwehrt ist, weil er von dem Eingriff in seine Rechte nichts erfährt, muß ihm die Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen das Gesetz ebenso zustehen wie in den Fällen, in denen aus anderen Gründen eine Verfassungsbeschwerde gegen den Vollzugsakt nicht möglich ist.
2. Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG kann im Hinblick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nur so verstanden werden, daß der die nachträgliche Benachrichtigung des Überwachten fordert in den Fällen, in denen eine Gefährdung des Zweckes der Überwachungsmaßnahme und eine Gefährdung des Schutzes der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder des Bestandes oder der Sicherung des Bundes oder eines Landes ausgeschlossen werden kann.
3. Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG fordert in Rücksicht auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, daß das Gesetz zu Art. 10 GG die Zulässigkeit des das Eingriffs in das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis beschränken muß auf den Fall, daß konkrete Umstände den Verdacht eines verfassungsfeindlichen Verhaltens rechtfertigen und daß dem verfassungsfeindlichen Verhalten im konkreten Fall nach Erschöpfung anderer Möglichkeiten der Aufklärung nur durch den Eingriff in das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis beigekommen werden kann.
Das Verfassungsgebot der Beschränkung der Überwachungsmaßnahmen auf das unumgänglich Notwendige schließt nicht aus, daß die Überwachung auf Nachrichtenverbindungen einer dritten Person erstreckt wird, von denen anzunehmen ist, daß sie für Zwecke des Verdächtigen benutzt werden.
4. Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG verlangt, daß das Gesetz zu Art. 10 GG eine Nachprüfung vorsehen muß, die materiell und verfahrensmäßig der gerichtlichen Kontrolle gleichwertig ist, auch wenn der Betroffene keine Gelegenheit hat, in diesem "Ersatzverfahren" mitzuwirken.
5. Art. 79 Abs. 3 GG verbietet eine prinzipielle Preisgabe der dort genannten Grundsätze, hindert jedoch nicht, durch verfassungsänderndes Gesetz auch elementare Verfassungsgrundsätze systemimmanent zu modifizieren.
6. Die Behandlung des Menschen durch die öffentliche Hand, die das Gesetz vollzieht, muß, wenn sie die Menschenwürde berühren soll, Ausdruck der Verachtung des Wertes, der dem Menschen kraft seines Personseins ankommt, sein.
7. Das Prinzip der Gewaltenteilung erlaubt, daß Rechtsschutz gegenüber Maßnahmen der Exekutive ausnahmsweise nicht durch Gerichte, sondern durch vom Parlament bestellte oder gebildete unabhängige Institutionen innerhalb des Funktionsbereichs der Exekutive gewährt wird.
8. Auch eine Mehrheit des Parlaments kann ihre Rechte mißbrauchen. Eine Fraktion oder Koalition, die das in § 9 Abs. 1 G 10 vorgesehene Gremium einseitig besetzt und auf die einseitige Besetzung der in § 9 Abs. 3 G 10 vorgesehenen Kommission hinwirken würde, würde im Zweifel mißbräuchlich verfahren.

Urteil
des Zweiten Senats vom 15. Dezember 1970 auf die mündliche Verhandlung vom 7. Juli 1970
-- 2 BvF 1/69, 2 BvR 629/68 und 308/69 --
in dem Verfahren ... ...
Entscheidungsformel:
I. 1. § 1 Nr. 2, soweit er Artikel 10 des Grundgesetzes ergänzt, und § 1 Nr. 6 des Siebzehnten Gesetzes zur Ergänzung des Grundgesetzes vom 24. Juni 1968 (Bundesgesetzbl. I S. 709) - Artikel 10 Absatz 2 Satz 2 und Artikel 19 Absatz 4 Satz 3 des Grundgesetzes neuer Fassung - sind in der sich aus den Gründen ergebenden Auslegung mit Artikel 79 Absatz 3 des Grundgesetzes vereinbar.
2. Artikel 1 § 9 Absatz 5 des Gesetzes zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses vom 13. August 1968 (Bundesgesetzbl. I S. 949) ist mit dem Grundgesetz vereinbar.
II. 1. Artikel 1 § 5 Absatz 5 des Gesetzes zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses vom 13. August 1968 (Bundesgesetzbl. I S. 949) ist mit Artikel 10 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes insoweit nicht vereinbar und deshalb nichtig, als er die Unterrichtung des Betroffenen über Beschränkungsmaßnahmen auch ausschließt, wenn sie ohne Gefährdung des Zweckes der Beschränkung erfolgen kann.
2. Im übrigen werden die Verfassungsbeschwerden zurückgewiesen.

Gründe:

A. -- I.
1. Das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis war nach Art. 10 GG a.F. mit der Maßgabe unverletzlich, daß Beschränkungen nur auf Grund eines Gesetzes angeordnet werden durften.
1
Nach 1945 haben zunächst die Besatzungsmächte auf Grund des Besatzungsrechts und nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland die Drei Westmächte auf Grund des Besatzungsstatuts den Brief-, Post- und Fernmeldeverkehr überwacht. Auch nach der Herstellung der Souveränität der Bundesrepublik Deutschland am 5. Mai 1955 behielten sich die Drei Mächte die Ausübung dieses Rechtes vor. Allerdings erklärten sie, daß die Vorbehaltsrechte erlöschen sollten, "sobald die zuständigen deutschen Behörden entsprechende Vollmachten durch die deutsche Gesetzgebung erhalten haben" (Art. 5 Abs. 2 des Deutschlandvertrages vom 26. Mai 1952).
2
2. Mit dem Ziel, die Vorbehaltsrechte abzulösen, wurde Art. 10 GG in der Weise geändert, daß unter bestimmten Voraussetzungen Beschränkungen des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses auch ohne Bekanntgabe an den Betroffenen und unter Ausschluß des Rechtswegs vorgenommen werden dürfen.
3
§ 1 des Siebzehnten Gesetzes zur Ergänzung des Grundgesetzes vom 24. Juni 1968 (BGBl. I S. 709) lautet auszugsweise:
4

"Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai

5

1949 (Bundesgesetzbl. S. 1) wird wie folgt ergänzt:

6

...

7

2. Artikel 10 erhält folgende Fassung:

8

"Artikel 10

9

(1) Das Briefgeheimnis sowie das Post- und Fernmeldegeheimnis sind unverletzlich.

10

(2) Beschränkungen dürfen nur auf Grund eines Gesetzes angeordnet werden. Dient die Beschränkung dem Schutze der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder des Bestandes oder der Sicherung des Bundes oder eines Landes, so kann das Gesetz bestimmen, daß sie dem Betroffenen nicht mitgeteilt wird und daß an die Stelle des Rechtsweges die Nachprüfung durch von der Volksvertretung bestellte Organe und Hilfsorgane tritt."

11

...

12

6. Artikel 19 Abs. 4 wird durch folgenden Satz ergänzt:

13

"Art. 10 Abs. 2 Satz 2 bleibt unberührt."

14

..."

15
3. Im einzelnen regelt das Gesetz zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses (Gesetz zu Artikel 10 Grundgesetz) (G 10) vom 13. August 1968 (BGBl. I S. 949) die Eingriffsmöglichkeiten und das Verfahren.
16
a) Art. 1 § 1 G 10 lautet:
17

"(1) Zur Abwehr von drohenden Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung oder den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes einschließlich der Sicherheit der in der Bundesrepublik Deutschland stationierten Truppen der nichtdeutschen Vertragsstaaten des Nordatlantikvertrages oder der im Land Berlin anwesenden Truppen einer der Drei Mächte sind die Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder, das Amt für Sicherheit der Bundeswehr und der Bundesnachrichtendienst berechtigt, dem Brief-, Post- oder Fernmeldegeheimnis unterliegende Sendungen zu öffnen und einzusehen, sowie den Fernschreibverkehr mitzulesen, den Fernmeldeverkehr abzuhören und auf Tonträger aufzunehmen.

18

(2) Die Deutsche Bundespost hat der berechtigten Stelle auf Anordnung Auskunft über den Post- und Fernmeldeverkehr zu erteilen, Sendungen, die ihr zur Übermittlung auf dem Post- und Fernmeldeweg anvertraut sind, auszuhändigen, sowie das Abhören des Fernsprechverkehrs und das Mitlesen des Fernschreibverkehrs zu ermöglichen."

19
Nach Art. 1 § 2 G 10 dürfen Beschränkungen nach § 1 angeordnet werden, wenn "tatsächliche Anhaltspunkte für den Verdacht bestehen, daß jemand" Straftaten des Friedensverrats oder des Hochverrats, der Gefährdung des demokratischen Rechtsstaates, des Landesverrats und der Gefährdung der äußeren Sicherheit, Straftaten gegen die Landesverteidigung oder Straftaten gegen die Sicherheit der in der Bundesrepublik Deutschland stationierten Truppen der nichtdeutschen Vertragsstaaten des Nordatlantikvertrages oder der im Land Berlin anwesenden Truppen "plant, begeht oder begangen hat". Die Anordnung ist nur zulässig, wenn die Erforschung des Sachverhalts auf andere Weise aussichtslos oder wesentlich erschwert wäre. Art. 1 § 2 Abs. 2 Satz 2 G 10 bestimmt:
20

"Sie (die Anordnung) darf sich nur gegen den Verdächtigen oder gegen Personen richten, von denen auf Grund bestimmter Tatsachen anzunehmen ist, daß sie für den Verdächtigen bestimmte oder von ihm herrührende Mitteilungen entgegennehmen oder weitergeben oder daß der Verdächtige ihren Anschluß benutzt."

21
Nach Art. 1 § 4 G 10 dürfen Beschränkungen nach § 1 nur auf Antrag angeordnet werden. Antragsberechtigt sind im Rahmen ihres Geschäftsbereiches in den Fällen des § 2 die Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz, der Verfassungsschutzbehörden der Länder, des Amtes für Sicherheit der Bundeswehr und des Bundesnachrichtendienstes oder ihre Stellvertreter.
22
Zuständig für die Anordnung nach § 1 ist bei Anträgen der Verfassungsschutzbehörden der Länder die zuständige oberste Landesbehörde, im übrigen ein vom Bundeskanzler beauftragter Bundesminister. Die Anordnung ist auf höchstens drei Monate zu befristen. Verlängerungen um jeweils nicht mehr als drei weitere Monate sind auf Antrag zulässig, soweit die Voraussetzungen der Anordnung fortbestehen (Art. 1 § 5 Abs. 1 und 3 G 10).
23
Art. 1 § 5 Abs. 5 G 10 bestimmt:
24

"Über Beschränkungsmaßnahmen ist der Betroffene nicht zu unterrichten."

25
§§ 6, 7 und 8 des Art. 1 G 10 enthalten nähere Vorschriften über das Verfahren bei Durchführung der Beschränkungsmaßnahmen.
26
Art. 1 § 9 G 10 lautet:
27

"(1) Der nach § 5 Abs. 1 für die Anordnung von Beschränkungsmaßnahmen zuständige Bundesminister unterrichtet in Abständen von höchstens sechs Monaten ein Gremium, das aus fünf vom Bundestag bestimmten Abgeordneten besteht, über die Durchführung dieses Gesetzes.

28

(2) Der zuständige Bundesminister unterrichtet monatlich eine Kommission über die von ihm angeordneten Beschränkungsmaßnahmen. Die Kommission entscheidet von Amts wegen oder auf Grund von Beschwerden über die Zulässigkeit und Notwendigkeit von Beschränkungsmaßnahmen. Anordnungen, die die Kommission für unzulässig oder nicht notwendig erklärt, hat der zuständige Bundesminister unverzüglich aufzuheben.

29

(3) Die Kommission besteht aus dem Vorsitzenden, der die Befähigung zum Richteramt besitzen muß, und zwei Beisitzern. Die Mitglieder der Kommission sind in ihrer Amtsführung unabhängig und Weisungen nicht unterworfen. Sie werden von dem in Absatz 1 genannten Gremium nach Anhörung der Bundesregierung für die Dauer einer Wahlperiode des Bundestages bestellt. Die Kommission gibt sich eine Geschäftsordnung, die der Zustimmung des in Absatz 1 genannten Gremiums bedarf. Vor der Zustimmung ist die Bundesregierung zu hören.

30

(4) Durch den Landesgesetzgeber wird die parlamentarische Kontrolle der nach § 5 Abs. 1 für die Anordnung von Beschränkungsmaßnahmen zuständigen obersten Landesbehörden und die Überprüfung der von ihnen angeordneten Beschränkungsmaßnahmen geregelt.

31

(5) Im übrigen ist gegen die Anordnung von Beschränkungsmaßnahmen und ihren Vollzug der Rechtsweg nicht zulässig."

32
b) Art. 2 G 10 regelt durch Ergänzung der Strafprozeßordnung die Zulässigkeit der Überwachung und Aufnahme des Fernmeldeverkehrs auf Tonträger im Strafverfahren. Die Überwachung darf angeordnet werden, wenn bestimmte Tatsachen den Verdacht begründen, daß jemand als Täter oder Teilnehmer eine der in § 100 a Nr. 1 StPO n.F. genannten politischen Straftaten oder einen Mord, einen Totschlag, ein Münzverbrechen, einen Raub, eine räuberische Erpressung, einen Menschenraub, eine Verschleppung, eine erpresserische Kindesentführung, einen Mädchenhandel, ein gemeingefährliches Verbrechen im Sinne des § 138 des Strafgesetzbuches oder eine Erpressung begangen oder in Fällen, in denen der Versuch strafbar ist, zu begehen versucht oder durch eine mit Strafe bedrohte Handlung vorbereitet hat, und wenn die Erforschung des Sachverhalts oder die Ermittlung des Aufenthaltsortes des Beschuldigten auf andere Weise aussichtslos oder wesentlich erschwert wäre (§ 100 a StPO in der Fassung des Art. 2 Nr. 2 G 10).
33
§ 100 a StPO letzter Satz in der Fassung des Art. 2 Nr. 2 G 10 bestimmt:
34

"Die Anordnung darf sich nur gegen den Beschuldigten oder gegen Personen richten, von denen auf Grund bestimmter Tatsachen anzunehmen ist, daß sie für den Beschuldigten bestimmte oder von ihm herrührende Mitteilungen entgegennehmen oder weitergeben oder daß der Beschuldigte ihren Anschluß benutzt."

35
Die Überwachung und die Aufnahme des Fernmeldeverkehrs auf Tonträger dürfen nur durch den Richter angeordnet werden. Bei Gefahr im Verzug kann die Anordnung auch von der Staatsanwaltschaft getroffen werden. Die Anordnung der Staatsanwaltschaft tritt außer Kraft, wenn sie nicht binnen drei Tagen von dem Richter bestätigt worden ist (§ 100 b Abs. 1 StPO in der Fassung des Art. 2 Nr. 2 G 10).
36
§ 101 Abs. 1 StPO erhielt durch Art. 2 Nr. 3 G 10 die folgende Fassung:
37

"Von den getroffenen Maßregeln (§§ 99, 100, 100 a, 100 b) sind die Beteiligten zu benachrichtigen, sobald dies ohne Gefährdung des Untersuchungszwecks geschehen kann."

38
4. In den Bundesländern sind auf Grund des Art. 1 § 9 Abs. 4 G 10 ergänzende Gesetze erlassen worden.
39
Die Drei Westmächte haben sich am 27. Mai 1968 mit dem Erlöschen ihrer Vorbehaltsrechte einverstanden erklärt (BTDrucks. V/2942).
40
II.
1. Die Regierung des Landes Hessen, vertreten durch den Ministerpräsidenten, hat mit Schriftsatz von 29. September 1969 beantragt, das Bundesverfassungsgericht möge im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle feststellen:
41

"(1) § 1 Nr. 2 - soweit er durch die Ergänzung des Art. 10 des Grundgesetzes um Abs. 2 Satz 2 zweiten Halbsatz anstelle des Rechtswegs die Nachprüfung durch von der Volksvertretung bestellte Organe zuläßt - und § 1 Nr. 6 des Siebzehnten Gesetzes zur Ergänzung des Grundgesetzes vom 24. Juni 1968 (BGBl. I S. 709) verstoßen gegen Art. 79 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 1 und 20 des Grundgesetzes und sind nichtig.

42

(2) § 9 Abs. 5 des Gesetzes zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses (Gesetz zu Artikel 10 Grundgesetz) (G 10) vom 13. August 1968 (BGBl. I S. 949) verstößt gegen Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes und ist nichtig."

43
2. Zur Begründung trägt die Antragstellerin vor:
44
a) Die Würde des Menschen fordere, daß über sein Recht nicht kurzerhand von Obrigkeits wegen verfügt werde. In besonders starkem Maße werde in die Würde des Menschen eingegriffen, wenn eine Person Objekt behördlicher Maßnahmen werden könne, ohne daß vorher oder nachher ein Richter über die Zulässigkeit dieser Maßnahmen entscheide. Ein solcher Eingriff erhalte besonderes Gewicht, wenn er den Kernbereich der Privatsphäre des Bürgers berühre, zu deren Schutz das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis in den Rang eines Grundrechts erhoben worden sei. Normen, die derartige Eingriffe zuließen, verletzten Art. 1 Abs. 1 GG und könnten daher nach Art. 79 Abs. 3 GG auch nicht im Wege einer formellen Änderung der Verfassung rechtens werden.
45
b) Zu den durch Art. 79 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 20 GG für unantastbar erklärten Verfassungsgrundlagen der Bundesrepublik Deutschland gehöre das Rechtsstaatsprinzip. Für den Rechtsstaat des Grundgesetzes sei die Verbürgung möglichst lückenlosen Rechtsschutzes durch Art. 19 Abs. 4 GG von entscheidender Bedeutung. Das Prinzip lückenlosen Rechtsschutzes verlange aber gerade im Grundrechtsbereich strenge Beachtung. Durch die beanstandete Verfassungsänderung sei zum ersten Male mit dem Ausschluß des Rechtswegs für einen Teilbereich staatlichen Handelns das vom Grundgesetz geforderte Fortschreiten auf dem Weg zu einer immer wirksameren Verwirklichung des Rechtsstaates unterbrochen und bewußt ein erster Schritt zurück getan worden.
46
Die Ersetzung der richterlichen Kontrolle durch eine parlamentarische Überwachung könne den Verstoß gegen die Rechtsschutzgarantie nicht heilen, weil die parlamentarische Kontrolle der richterlichen Kontrolle nicht gleichzusetzen sei.
47
c) Die Ersetzung der richterlichen Kontrolle durch eine parlamentarische Überwachung verletze weiter den von Art. 20 GG verbürgten und von Art. 79 Abs. 3 GG für unantastbar erklärten Grundsatz der Gewaltenteilung. Die angegriffenen Normen wirkten im Grundsatz dem Ziel der Gewaltenteilung entgegen.
48
d) Der Ausschluß des Rechtswegs gegen Maßnahmen der Brief-, Post- und Fernmeldeüberwachung könne weder aus der Natur der Sache noch aus dem Zusammenhang mit der Ablösung der alliierten Vorbehaltsrechte gerechtfertigt werden. Der Einwand, der Eingriffstatbestand sei nicht justitiabel, überzeuge nicht. Durch geeignete Gerichtsorganisation könne sichergestellt werden, daß die zuständigen Spruchkörper die erforderliche Erfahrung auf diesem Gebiet sammelten. Den Gerichten würden auch bei ihrer Kontrolle keine schwierigeren Entscheidungen abverlangt als der Exekutive bei der Anordnung und der parlamentarischen Kommission bei der Überprüfung einer Überwachungsmaßnahme. Die gerichtliche Kontrolle könne auch nicht mit der Begründung abgelehnt werden, daß dann die notwendige Geheimhaltung des Verfahrens gefährdet sei. Die Rechtsprechung in Staatsschutzsachen zeige, daß es möglich sei, geordnete Gerichtsverfahren unter Wahrung der für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland notwendigen Geheimhaltung durchzuführen. Schließlich könne der Ausschluß des Rechtswegs nicht mit der Überlegung gerechtfertigt werden, daß nur um diesen Preis die angestrebte Ablösung der alliierten Vorbehaltsrechte zu erreichen gewesen wäre.
49
3. Zur Unterstützung ihrer Rechtsauffassung hat die Antragstellerin Gutachten der Professoren Dürig und Evers vorgelegt.
50
Im Gutachten Dürig ist zur Frage des Ausschlusses der Benachrichtigung insbesondere ausgeführt: Ein totaler Ausschluß der Benachrichtigung verletze den Rechtsstaatsgrundsatz in seinem Kern. Die vorhandene Regelung verfahre mit dem Bürger derart, daß er in das Verfahren überhaupt nicht einbezogen werde. Das sei ein geradezu typischer Fall dafür, daß der Mensch in seiner Würde getroffen werde, indem man ihn "zum Objekt" staatlichen Geschehens mache. Im übrigen dürfe die Regelung nicht isoliert betrachtet werden. Erst in der Zusammenschau von Benachrichtigungs- und Rechtswegausschluß werde klar, daß beide zusammen folgerichtig dem Zweck dienten, die Eingriffe in die Privatsphäre des Bürgers unter absoluter Geheimhaltung vollziehen zu können. Denknotwendig müsse also jeder, der gegen den Ausschluß des Rechtswegs angehe, als Prämisse des individuellen Rechtsschutzes zuvor den Ausschluß der Benachrichtigung bekämpfen.
51
III.
Eine Gruppe Mannheimer Richter und Rechtsanwälte (Beschwerdeführer zu 2) und ein Frankfurter Rechtsanwalt und Notar (Beschwerdeführer zu 3) haben unmittelbar gegen Bestimmungen des Siebzehnten Gesetzes zur Ergänzung des Grundgesetzes und des Gesetzes zu Art. 10 Grundgesetz Verfassungsbeschwerde erhoben.
52
1. Die am 1. November 1968 eingegangene Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführer zu 2) richtet sich gegen die Art. 10 Abs. 2 Satz 2, 19 Abs. 4 Satz 3 GG in der Fassung des Siebzehnten Gesetzes zur Ergänzung des Grundgesetzes und gegen die §§ 5 Abs. 5 und 9 Abs. 5 des Gesetzes zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses. Die Beschwerdeführer rügen die Verletzung der Art. 1 Abs. 1, 10 Abs. 1, 19 Abs. 4, 101 Abs. 1 Satz 2 und 103 Abs. 1 GG.
53
Zur Begründung ihrer Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen die Gesetze tragen sie vor:
54
a) Die angegriffenen Bestimmungen verletzten sie gegenwärtig und unmittelbar in ihren oben angeführten Grundrechten. Es sei ihnen nicht bekannt, ob gegen sie eine Maßnahme nach dem Gesetz zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses bereits angeordnet sei. Gemäß § 5 Abs. 5 G 10 erführen sie von einer derartigen Maßnahme weder vor noch während noch nach ihrer Durchführung etwas. Die Grundrechtsverletzung liege daher unmittelbar in der Inkraftsetzung der angefochtenen Bestimmungen.
55
b) Dadurch, daß mit der richterlich nicht nachprüfbaren Begründung, eine Beschränkungsmaßnahme diene dem Schutze der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder des Bestandes oder der Sicherung des Bundes oder eines Landes, jederzeit die Überwachung des Brief-, Post- und Fernmeldeverkehrs angeordnet und durchgeführt werden könne, werde das Grundrecht des Art. 10 Abs. 1 GG in seinem Wesensgehalt angetastet. Die vorgesehene Nachprüfung durch von der Volksvertretung bestellte Organe und Hilfsorgane sei nicht geeignet, willkürliche Eingriffe in das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis zu unterbinden. Der Ausschluß des Rechtswegs gegen Maßnahmen der Brief-, Post- und Fernmeldeüberwachung verstoße weiter gegen die Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG und damit gegen die gemäß Art. 79 Abs. 3 GG nicht zur Disposition des Verfassunggebers stehende, aus Art. 20 GG zu entnehmende Rechtsstaatsgarantie. Schließlich verletze der Ausschluß des Rechtswegs die Grundrechte der Beschwerdeführer auf Gewährung rechtlichen Gehörs und entziehe sie ihrem gesetzlichen Richter.
56
Weil die Ermächtigungsnorm des Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG verfassungswidrig sei, könne hierauf der Ausschluß der Mitteilung einer Beschränkungsmaßnahme an den Betroffenen nicht gestützt werden. Der Ausschluß der Benachrichtigung, wie ihn § 5 Abs. 5 G 10 vorsehe, verstoße aber auch gegen Art. 10 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 19 Abs. 2 GG: Werde eine Beschränkungsmaßnahme dem Betroffenen weder nach Art noch nach Umfang noch nach Dauer mitgeteilt, so entfalle die Möglichkeit der Nachprüfung, ob dieser Eingriff entsprechend Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG überhaupt dem Schutz der dort genannten Rechtsgüter diene und ob er nicht in einem Umfang vorgenommen werde, der das Grundrecht für den Betroffenen gänzlich beseitige. Der Ausschluß der Benachrichtigung des Betroffenen verletze schließlich Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG und Art. 103 Abs. 1 GG. Die Verfassungsgarantie lückenlosen Rechtsschutzes setze voraus, daß der Betroffene von den gegen ihn gerichteten Beschränkungsmaßnahmen Kenntnis erhalte, da er anders sein Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG nicht verwirklichen könne.
57
2. Mit seiner am 6. Juni 1969 eingegangenen Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer zu 3) gegen
58

(1) Art. 10 Abs. 2 Satz 2, Art. 19 Abs. 4 Satz 3 des Grundgesetzes in der Fassung des Siebzehnten Gesetzes zur Ergänzung des Grundgesetzes,

59

(2) § 2 Abs. 2 Satz 2, § 5 Abs. 5, § 9 Abs. 5 des Gesetzes zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses,

60

(3) § 100 a Satz 2 StPO,

61
soweit in diesen Vorschriften normiert wird
62

(1) die Ermächtigung zur Nichtmitteilung einer Beschränkung und zum Ausschluß des Rechtswegs,

63

(2) die Nichtmitteilung von Beschränkungsmaßnahmen und der Ausschluß des Rechtswegs,

64

(3) die allgemeine Zulässigkeit von Beschränkungsanordnungen gegenüber Personen, von denen auf Grund bestimmter Tatsachen anzunehmen ist, daß sie für den Verdächtigen oder Beschuldigten bestimmte oder von ihm herrührende Mitteilungen entgegennehmen oder weitergeben oder daß der Verdächtige oder Beschuldigte ihren Anschluß benutzt.

65
Der Beschwerdeführer rügt die Verletzung der Art. 1 Abs. 1, 12 Abs. 1, 19 Abs. 4, 101 Abs. 1 und 103 Abs. 1 GG. Er trägt vor:
66
a) Weil er ein bekannter Strafverteidiger sei, setzten sich Personen, denen Straftaten aus dem Bereich des alten § 100 e StGB (landesverräterischer Nachrichtendienst) oder der §§ 81 ff. StGB n.F. zur Last gelegt würden, mit ihm in Verbindung. Unter diesen Umständen könnten die zuständigen Dienststellen immer davon ausgehen, daß bestimmte Tatsachen für die Annahme vorlägen, er - der Beschwerdeführer - nehme für den Verdächtigen bestimmte oder von ihm herrührende Mitteilungen entgegen, gebe sie weiter oder lasse den Verdächtigen seinen Anschluß benutzen.
67
Die Gefahr, am Telefon und in der Korrespondenz kontrolliert zu werden, berühre ihn im übrigen auch als Mitglied seiner Anwaltssozietät und die Sozietät als solche. Der Bestand der Sozietät werde gefährdet.
68
b) Zu seinen Einwendungen gegen §§ 5 Abs. 5 und 9 Abs. 5 G 10 trägt der Beschwerdeführer zu 3) im wesentlichen dieselben Gründe wie die Beschwerdeführer zu 2) vor. Im übrigen macht er noch geltend:
69
§ 2 Satz 2 G 10 und § 100 a Satz 2 StPO in der Fassung des Gesetzes zu Art. 10 Grundgesetz verletzten seine Grundrechte aus Art. 12 Abs. 1 GG. Die angefochtenen Bestimmungen, welche eine Überwachung seines Telefonanschlusses und seiner Korrespondenz auch dann ermöglichten, wenn er nicht selbst Verdächtiger im Sinne des Art. 1 G 10 oder Beschuldigter im Sinne des § 100 a StPO sei, tangierten zwar nicht das Recht der freien Berufswahl, regelten aber in verfassungsrechtlich unzulässiger Weise die freie Ausübung des Anwaltsberufes.
70
IV.
1. a) Bundesregierung, Bundesrat und Bundestag haben beschlossen, zu dem Antrag der Hessischen Landesregierung im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle eine Stellungnahme nicht abzugeben.
71
b) Der Senat der Freien Hansestadt Bremen hat mitgeteilt, er schließe sich der Auffassung der Hessischen Landesregierung an.
72
2. Zu den Verfassungsbeschwerden hat der Bundesminister des Innern für die Bundesregierung noch in der 5. Legislaturperiode Stellung genommen. Er hält die Verfassungsbeschwerden für zulässig, sachlich aber nicht für begründet und macht geltend:
73
Die Überwachung des Brief-, Post- und Fernmeldeverkehrs zum Schutze der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder des Bestandes oder der Sicherung des Bundes oder eines Landes würde ihren Zweck von vornherein verfehlen, wenn sie den Betroffenen bekanntgegeben würde. Dies ergebe sich aus dem Wesen derartiger Überwachungsmaßnahmen außerhalb des Strafverfahrens. Beschränkungen dieser Art dienten lediglich der Sammlung von Nachrichten über verfassungsfeindliche Bestrebungen, ohne den Einzelnen direkt zu berühren. Die in Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG statuierte Nichtbenachrichtigung von Beschränkungsmaßnahmen stehe mit den Grundprinzipien des Art. 79 Abs. 3 GG in Einklang. Dasselbe gelte für den Ausschluß des Rechtswegs durch Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG.
74
Das Rechtsstaatsprinzip insbesondere fordere lediglich einen wirksamen Rechtsschutz, der aber nicht stets Gerichtsschutz sein müsse. Das in § 9 G 10 sehr differenziert geregelte Rechtsschutzverfahren erfülle diese Voraussetzungen und stehe einem Gerichtsverfahren kaum nach.
75
Der in Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG ermöglichte, verfassungsrechtlich bedenkenfreie Ausschluß des Rechtswegs sei aus der Natur der Sache auch notwendig.
76
§ 2 Abs. 2 Satz 2 G 10 und § 100 a Satz 2 StPO in der Fassung des Gesetzes zu Art. 10 Grundgesetz seien, selbst wenn man davon ausgehen wollte, daß diese Bestimmungen potentiell einen Eingriff in die berufliche Betätigung des Beschwerdeführers als Rechtsanwalt darstellten, durch vernünftige Erwägungen des Gemeinwohls gerechtfertigt. Die im Gesetz vorgesehene Zulassung von Beschränkungsmaßnahmen gegen nicht verdächtige und nicht beschuldigte Personen sei von der Sache her zwingend geboten.
77
V.
Der Senat hat den Antrag der Regierung des Landes Hessen und die Verfassungsbeschwerden der Beschwerdeführer zu 2) und 3) zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden.
78

B. -- I.
Gegen die Zulässigkeit des Normenkontrollverfahrens bestehen keine Bedenken.
79
Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG schränkt die Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG ein, indem er den Gesetzgeber ermächtigt, unter gewissen Voraussetzungen den Rechtsweg gegen Maßnahmen der öffentlichen Gewalt und ihre Bekanntgabe an den Betroffenen auszuschließen.
80
In der Sache besteht zwischen beiden Maßnahmen ein unlösbarer Zusammenhang. Der Rechtsweg ist praktisch bereits ausgeschlossen, wenn die Maßnahme, die nach dem Stand der modernen Technik so vorgenommen werden kann, daß der Betroffene davon nichts merkt, weder vorher noch nachher mitgeteilt wird. Ein Antrag, der sich gegen den Ausschluß des Rechtswegs richtet, richtet sich also notwendig auch gegen den Ausschluß der Benachrichtigung. Der Antrag der Hessischen Landesregierung kann deswegen, ohne daß der Wortlaut entscheidend ist, nur als gegen den gesamten Inhalt der Norm des Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG gerichtet angesehen werden; so sind auch die in der mündlichen Verhandlung abgegebenen Erklärungen aufzufassen, bei der insbesondere die Ausführungen des Gutachtens Dürig aufrechterhalten wurden. Es bedarf also keiner Untersuchung, ob Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG als einheitliche Norm, die nur als Ganzes beurteilt werden kann, anzusehen ist, mit der Wirkung, daß ein auf einen Teil derselben beschränkter Antrag unzulässig wäre.
81
II.
1. Die Verfassungsbeschwerden gegen das Gesetz zu Art. 10 Grundgesetz sind zulässig.
82
Voraussetzung einer Verfassungsbeschwerde gegen ein Gesetz ist die Behauptung, daß der Beschwerdeführer selbst, gegenwärtig und unmittelbar durch das Gesetz und nicht erst mit Hilfe eines Vollzugsaktes in einem Grundrecht verletzt sei (BVerfGE 1, 97 [101 ff.]; 20, 283 [290] mit weiteren Nachweisen). Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Die Beschwerdeführer werden nach ihrem Vortrag erst durch einen Akt der vollziehenden Gewalt in ihren Grundrechten verletzt. Die Möglichkeit, sich gegen den Vollzugsakt zu wenden, ist den Betroffenen jedoch verwehrt, weil sie von dem Eingriff in ihre Rechte nichts erfahren. In solchen Fällen muß den Betroffenen die Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen das Gesetz ebenso zustehen wie in den Fällen, in denen aus anderen Gründen eine Verfassungsbeschwerde gegen den Vollzugsakt nicht möglich ist (BVerfGE 6, 290 [295]).
83
2. Die Beschwerdeführer greifen auch die Änderung des Art. 10 GG unmittelbar an. Insofern fehlt es allerdings an der unmittelbaren Betroffenheit, da Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG zunächst einer Ausführung durch einfaches Gesetz bedarf. Die Gültigkeit der §§ 5 Abs. 5 und 9 Abs. 5 G 10 hängt indessen von der Zulässigkeit der Verfassungsänderung ab, die deshalb schon auf Grund der zulässigerweise gegen das Gesetz zu Art. 10 Grundgesetz erhobenen Verfassungsbeschwerde nachzuprüfen ist. Die gegen Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG geltend gemachten Einwendungen sind unter diesen Umständen nicht als selbständige Verfassungsbeschwerden, deren Zulässigkeit gesondert festzustellen wäre, sondern als Anregung zur inzidenten Nachprüfung der Zulässigkeit der Verfassungsänderung zu werten.
84

C. - I.
Die Entscheidung über die Vereinbarkeit des Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG, der durch das verfassungsändernde Gesetz eingefügt wurde, mit Art. 79 Abs. 3 GG setzt die Auslegung beider Vorschriften voraus.
85
1. Die Auslegung des Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG ergibt folgendes:
86
a) Das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis war von Anfang an im Grundgesetz nicht vorbehaltlos geschützt; vielmehr waren immer schon Beschränkungen zulässig - Beschränkungen, die in jedem Fall einer gesetzlichen Grundlage bedurften. Dieser ganz allgemeine Vorbehalt einer Einschränkung des Grundrechts hatte, was Voraussetzung und Umfang der Einschränkung anlangt, gewiß seine Grenzen; er deckte aber, was seinen Anwendungsbereich angeht, von Anfang an auch ein Gesetz, das Einschränkungen des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses zum Schutz vor Gefährdungen der freiheitlichen Verfassungsordnung oder des Bestandes des Staates vorsieht. Insofern bringt der neu eingefügte Satz 2 in Art. 10 Abs. 2 GG nichts Neues; er konkretisiert nur einen Anwendungsfall des Satzes 1, indem er umschreibt, welche Maßnahmen im Zusammenhang mit Beschränkungen des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses durch ein Gesetz für zulässig erklärt werden können, wenn der Zweck der Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder der Bestand oder die Sicherung des Bundes oder eines Landes ist.
87
Wo das Grundgesetz Einschränkungen von Grundrechten vorsieht, ist das stets geschehen, um ein anderes - individuelles oder überindividuelles -, im allgemeinen oder im konkreten Fall vorrangiges Rechtsgut wirksam schützen zu können. Auch unter diesem Gesichtspunkt steht die Regelung in Satz 2 a.a.O. in Einklang mit der Intention des Vorbehalts. Der Bestand der Bundesrepublik Deutschland und ihre freiheitliche Verfassungsordnung sind ein überragendes Rechtsgut, zu dessen wirksamem Schutz Grundrechte, soweit unbedingt erforderlich, eingeschränkt werden können.
88
Das Neue der durch die Verfassungsänderung eingefügten Vorschrift liegt also nicht eigentlich in der "Beschränkung" des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses - diese Beschränkung ist in der "Überwachung" des Brief-, Post- und Telegrafenverkehrs, im "Abhören" von Gesprächen und im Öffnen und Lesen von Briefen zu sehen -, sondern in der zusätzlichen Ermächtigung, dem Betroffenen jene Beschränkungen nicht mitzuteilen und an die Stelle des Rechtswegs die Nachprüfung durch von der Volksvertretung bestellte Organe und Hilfsorgane zu setzen. Der Zusammenhang zwischen diesen besonderen Maßnahmen und den genannten Beschränkungen (Abhören und Briefkontrolle) ist klar. Gegen die Verfassungsordnung und gegen die Sicherheit und den Bestand des Staates gerichtete Bestrebungen, Pläne und Maßnahmen gehen meist von Gruppen aus, die ihre Arbeit tarnen und im geheimen leisten, die wohlorganisiert sind und in besonderer Weise auf ungestört funktionierende Nachrichtenverbindungen angewiesen sind. Diesem "Apparat" gegenüber kann ein Verfassungsschutz nur wirksam arbeiten, wenn seine Überwachungsmaßnahmen grundsätzlich geheim und deshalb auch einer Erörterung innerhalb eines gerichtlichen Verfahrens entzogen bleiben. Selbst die nachträgliche Offenlegung einer Überwachungsmaßnahme und ihre nachträgliche Erörterung in einem gerichtlichen Verfahren kann für die verfassungsfeindlichen Kräfte Anhaltspunkte für die Arbeitsweise und das konkrete Beobachtungsfeld des Verfassungsschutzes und zur Identifizierung bisher unbekannt gewesener Angehöriger des Verfassungsschutzes liefern und dadurch dessen Wirksamkeit in hohem Maße beeinträchtigen. Die Befugnis, den Betroffenen von einer Abhörmaßnahme nicht in Kenntnis zu setzen und ihre Überprüfung an eine Stelle, die kein Gericht ist, zu verweisen, dient also der Effektivität des Verfassungsschutzes und macht eigentlich das Abhören und Brieföffnen erst sinnvoll. Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG gestattet also als Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses zu Zwecken des Verfassungs- und Staatsschutzes das heimliche, dem Betroffenen auch im nachhinein geheim bleibende und von einem Gericht nicht nachzuprüfende Abhören und Kontrollieren von Telefongesprächen und Funksprüchen, von Fernschreiben, Telegrammen und Briefen.
89
b) Eine Verfassungsvorschrift darf nicht allein aus ihrem Wortlaut heraus isoliert ausgelegt werden. Alle Verfassungsbestimmungen müssen vielmehr so ausgelegt werden, daß sie mit den elementaren Grundsätzen des Grundgesetzes und seiner Wertordnung vereinbar sind (BVerfGE 19, 206 [220]). Bei der Auslegung des Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG ist also der Kontext der Verfassung, sind insbesondere Grundentscheidungen des Grundgesetzes und allgemeine Verfassungsgrundsätze zu berücksichtigen. Im vorliegenden Zusammenhang ist von besonderer Bedeutung, daß die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland sich für die "streitbare Demokratie" entschieden hat. Sie nimmt einen Mißbrauch der Grundrechte zum Kampf gegen die freiheitliche Ordnung nicht hin (BVerfGE 28, 36 [48]). Verfassungsfeinde sollen nicht unter Berufung auf Freiheiten, die das Grundgesetz gewährt und unter ihrem Schutz die Verfassungsordnung oder den Bestand des Staates gefährden, beeinträchtigen oder zerstören dürfen (vgl. Art. 9 Abs. 2, Art. 18, Art. 21 GG). Für die Aufgabe des Verfassungsschutzes sieht das Grundgesetz ausdrücklich eine eigene Institution vor, das Verfassungsschutzamt (vgl. Art. 73 Ziff. 10, Art. 87 Abs. 1 GG). Es kann nicht der Sinn der Verfassung sein, zwar den verfassungsmäßigen obersten Organen im Staat eine Aufgabe zu stellen und für diesen Zweck ein besonderes Amt vorzusehen, aber den verfassungsmäßigen Organen und dem Amt die Mittel vorzuenthalten, die zur Erfüllung ihres Verfassungsauftrags nötig sind.
90
Nicht minder bedeutsam ist die Grundentscheidung des Grundgesetzes über die Grenzen, die den Grundrechten durch Rücksichten auf Gemeinwohl und zum Schutz überragender Rechtsgüter gezogen sind (vgl. z.B. Art. 2 Abs. 1 GG). "Das Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht das eines isolierten, souveränen Individuums; das Grundgesetz hat vielmehr die Spannung Individuum - Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden, ohne dabei deren Eigenwert anzutasten. Das ergibt sich insbesondere aus einer Gesamtsicht der Art. 1, 2, 12, 14, 15, 19 und 20 GG. Das heißt aber: der Einzelne muß sich diejenigen Schranken seiner Handlungsfreiheit gefallen lassen, die der Gesetzgeber zur Pflege und Förderung des sozialen Zusammenlebens in den Grenzen des bei dem gegebenen Sachverhalt allgemein Zumutbaren zieht, vorausgesetzt, daß dabei die Eigenständigkeit der Person gewahrt bleibt" (BVerfGE 4, 7 [15 f.]).
91
Aus einer dritten Grundentscheidung des Grundgesetzes - dem Rechtsstaatsprinzip - schließlich hat das Bundesverfassungsgericht den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit abgeleitet, der bei Beschränkungen von Grundrechtspositionen verlangt, daß nur das unbedingt Notwendige zum Schutz eines von der Verfassung anerkannten Rechtsgutes - hier der Bestand des Staates und seine Verfassungsordnung - im Gesetz vorgesehen und im Einzelfall angeordnet werden darf (vgl. BVerfGE 7, 377 [397 ff.]). Aus dem Rechtsstaatsprinzip folgt außerdem, wie noch darzulegen sein wird, daß jeder hoheitliche Eingriff in Freiheit oder Eigentum des Bürgers mindestens einer effektiven Rechtskontrolle unterliegen muß.
92
Aus diesem Sinnzusammenhang, in dem Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG steht, ergibt sich zunächst eine Bestätigung der Auslegung, die unter a) aus dem Wortlaut der Vorschrift selbst gewonnen worden ist. Insbesondere ergibt sich, daß die in der Vorschrift vorgesehene Nichtbenachrichtigung des Betroffenen und das Ersetzen des Gerichtsschutzes durch eine anderweitige Kontrolle nicht nur aus der "Natur der Sache" heraus - weil eben ohne diese Maßnahmen der Zweck der Einschränkung des Brief,- Post- und Fernmeldegeheimnisses nicht erreichbar wäre - zu rechtfertigen ist, sondern zusätzlich verfassungsrechtlich legitimiert ist durch die Grundentscheidung des Grundgesetzes für die streitbare Demokratie.
93
Im übrigen ist in Rücksicht auf den Verfassungsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten: Nach Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG "kann" das Gesetz bestimmen, daß die Beschränkung "dem Betroffenen nicht mitgeteilt wird und daß an die Stelle des Rechtsweges die Nachprüfung durch von der Volksvertretung bestellte Organe und Hilfsorgane tritt". Die Verfassungsvorschrift kann im Hinblick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nur so verstanden werden, daß sie nachträglich die Benachrichtigung zuläßt und sie fordert in den Fällen, in denen eine Gefährdung des Zweckes der Überwachungsmaßnahme und eine Gefährdung des Schutzes der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder des Bestandes oder der Sicherung des Bundes oder eines Landes ausgeschlossen werden kann. Die Vorschrift läßt übrigens auch Raum, es beim normalen Rechtsweg zu belassen oder statt der Nachprüfung durch von der Volksvertretung bestellte Organe ein besonderes gerichtliches Verfahren vorzusehen, falls dies ohne Gefährdung des Schutzes der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ode des Bestandes oder der Sicherung des Bundes oder eines Landes möglich sein sollte.
94
Davon abgesehen läßt die Formulierung: "Dient die Beschränkung dem Schutze der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder des Bestandes oder der Sicherung des Bundes oder eines Landes" die von dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geforderte Auslegung zu, daß das Gesetz die Zulässigkeit des Eingriffs in das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis beschränken muß auf den Fall, daß konkrete Umstände den Verdacht eines verfassungsfeindlichen Verhaltens rechtfertigen und daß dem verfassungsfeindlichen Verhalten im konkreten Fall nach Erschöpfung anderer Möglichkeiten der Aufklärung nur durch den Eingriff in das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis beigekommen werden kann. Damit ist auch die Zahl der Fälle eingeschränkt, in denen der Betroffene nicht benachrichtigt wird.
95
Aus dem Verfassungsgebot der Beschränkung der Überwachungsmaßnahmen auf das unumgänglich Notwendige folgt weiter, daß nach Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG nur Personen, die in den konkreten Verdacht der genannten Art geraten sind, überwacht werden dürfen; diese Überwachung wird freilich nicht deshalb unzulässig, weil infolge des Kommunikationscharakters von Post und Telefon bei der Überwachung des Verdächtigen notwendigerweise auch Personen, mit denen der Verdächtige in Verbindung steht, in diese Überwachung geraten. Das Verfassungsgebot der Beschränkung der Überwachungsmaßnahmen auf das unumgänglich Notwendige schließt auch nicht aus, daß die Überwachung auf Nachrichtenverbindungen einer dritten Person erstreckt wird, von denen anzunehmen ist, daß sie für Zwecke des Verdächtigen benutzt werden. In Rücksicht auf das genannte Verfassungsgebot ermächtigt Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG auch nur zu einer Überwachung, die auf nichts anderes gerichtet ist als auf die Erlangung der Kenntnis von verfassungsfeindlichen Vorgängen. Schließlich verbietet Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG in der durch jenes Verfassungsgebot geforderten Auslegung auch, daß die durch die Überwachung erlangte Kenntnis anderen (Verwaltungs-) Behörden für ihre Zwecke zugänglich gemacht wird, und gebietet, daß anfallendes Material, das nicht oder nicht mehr für die Zwecke des Schutzes der freiheitlichen demokratischen Ordnung bedeutsam ist, unverzüglich vernichtet wird.
96
Was schließlich den "Ausschluß des Rechtswegs" anlangt, so kommt im Lichte des Verfassungsprinzips der Rechtsstaatlichkeit bei der Auslegung des Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG dem Umstand besondere Bedeutung zu, daß die Nachprüfung durch von der Volksvertretung bestellte Organe und Hilfsorgane "an Stelle des Rechtsweges" treten soll. Das bedeutet, daß in Ausführung dieser Vorschrift das Gesetz eine Nachprüfung vorsehen muß, die materiell und verfahrensmäßig der gerichtlichen Kontrolle gleichwertig, insbesondere mindestens ebenso wirkungsvoll ist, auch wenn der Betroffene keine Gelegenheit hat, in diesem "Ersatzverfahren" mitzuwirken. Bei dieser Auslegung verlangt Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG, daß das zu seiner Ausführung ergehende Gesetz unter den von der Volksvertretung zu bestellenden Organen und Hilfsorganen ein Organ vorsehen muß, das in richterlicher Unabhängigkeit und für alle an der Vorbereitung, verwaltungsmäßigen Entscheidung und Durchführung der Überwachung Beteiligten verbindlich über die Zulässigkeit der Überwachungsmaßnahme und über die Frage, ob der Betroffene zu benachrichtigen ist, entscheidet und die Überwachungsmaßnahme untersagt, wenn es an den rechtlichen Voraussetzungen dazu fehlt. Dieses Organ kann innerhalb und außerhalb des Parlaments gebildet werden. Es muß jedoch über die notwendige Sach- und Rechtskunde verfügen; es muß weisungsfrei sein; seine Mitglieder müssen auf eine bestimmte Zeit fest berufen werden. Es muß kompetent sein, alle Organe, die mit der Vorbereitung, Entscheidung, Durchführung und Überwachung des Eingriffs in das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis befaßt sind, und alle Maßnahmen dieser Organe zu überwachen. Diese Kontrolle muß laufend ausgeübt werden können. Zu diesem Zweck müssen dem Kontrollorgan alle für die Entscheidung erheblichen Unterlagen des Falles zugänglich gemacht werden. Diese Kontrolle muß Rechtskontrolle sein. Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG läßt aber eine Regelung zu, nach der das Kontrollorgan aus Gründen der Opportunität auch in einem Fall, in dem die gesetzlichen Voraussetzungen für die Überwachung vorliegen, die Unterlassung oder Aufhebung der Überwachung fordern, also die Zahl der Überwachungsfälle weiter einschränken darf.
97
2. Die Auslegung des Art. 79 Abs. 3 GG ergibt folgendes:
98
a) Art. 79 Abs. 3 GG als Schranke für den verfassungsändernden Gesetzgeber hat den Sinn, zu verhindern, daß die geltende Verfassungsordnung in ihrer Substanz, in ihren Grundlagen auf dem formal-legalistischen Weg eines verfassungsändernden Gesetzes beseitigt und zur nachträglichen Legalisierung eines totalitären Regimes mißbraucht werden kann. Die Vorschrift verbietet also eine prinzipielle Preisgabe der dort genannten Grundsätze. Grundsätze werden "als Grundsätze" von vornherein nicht "berührt", wenn ihnen im allgemeinen Rechnung getragen wird und sie nur für eine Sonderlage entsprechend deren Eigenart aus evident sachgerechten Gründen modifiziert werden. Die Formel, jene Grundsätze dürfen "nicht berührt" werden, hat also keine striktere Bedeutung als die ihr verwandte Formel in Art. 19 Abs. 2 GG, wonach in keinem Fall ein Grundrecht "in seinem Wesensgehalt angetastet" werden darf.
99
b) Von Bedeutung ist für die Auslegung ferner, daß Art. 79 Abs. 3 GG, abgesehen von dem Grundsatz der Gliederung des Bundes in Länder und der grundsätzlichen Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung als unantastbar "die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze" nennt. Das ist etwas anderes, zum Teil mehr, zum Teil weniger als die Formulierung, Art. 79 Abs. 3 GG entziehe den Verfassungsgrundsatz der Achtung vor der Menschenwürde und das Rechtsstaatsprinzip jeder Verfassungsänderung. In Art. 1 GG sind mehr Grundsätze "niedergelegt" als nur der Grundsatz der Achtung vor der Menschenwürde. Auch in Art. 20 GG sind mehrere Grundsätze niedergelegt, nicht jedoch ist dort "niedergelegt" das "Rechtsstaatsprinzip", sondern nur ganz bestimmte Grundsätze des Rechtsstaatsprinzips: in Absatz 2 der Grundsatz der Gewaltenteilung und in Absatz 3 der Grundsatz der Bindung der Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung an Gesetz und Recht. Aus dem Rechtsstaatsprinzip lassen sich mehr als die in Art. 79 Abs. 3 GG in Bezug genommenen Rechtsgrundsätze des Art. 20 GG entwickeln und das Bundesverfassungsgericht hat solche Rechtsgrundsätze entwickelt (z.B.: das Verbot rückwirkender belastender Gesetze, das Gebot der Verhältnismäßigkeit, die Lösung des Spannungsverhältnisses von Rechtssicherheit und Gerechtigkeit im Einzelfall, das Prinzip des möglichst lückenlosen Rechtsschutzes). Die mit der Formulierung des Art. 79 Abs. 3 GG verbundene Einschränkung der Bindung des verfassungsändernden Gesetzgebers muß bei der Auslegung um so ernster genommen werden, als es sich um eine Ausnahmevorschrift handelt, die jedenfalls nicht dazu führen darf, daß der Gesetzgeber gehindert wird, durch verfassungsänderndes Gesetz auch elementare Verfassungsgrundsätze systemimmanent zu modifizieren. In dieser Sicht gehört der aus dem Rechtsstaatsprinzip ableitbare Grundsatz, daß dem Bürger ein möglichst umfassender Gerichtsschutz zur Verfügung stehen muß, nicht zu den in Art. 20 GG "niedergelegten Grundsätzen"; er ist in Art. 20 GG an keiner Stelle genannt. Art. 19 Abs. 4 GG, der eine Rechtsweggarantie in diesem Sinne enthält, ist also durch Art. 79 Abs. 3 GG einer Einschränkung und Modifizierung durch verfassungsänderndes Gesetz nicht entzogen.
100
c) Was den in Art. 1 GG genannten Grundsatz der Unantastbarkeit der Menschenwürde anlangt, der nach Art. 79 Abs. 3 GG durch eine Verfassungsänderung nicht berührt werden darf, so hängt alles von der Festlegung ab, unter welchen Umständen die Menschenwürde verletzt sein kann. Offenbar läßt sich das nicht generell sagen, sondern immer nur in Ansehung des konkreten Falles. Allgemeine Formeln wie die, der Mensch dürfe nicht zum bloßen Objekt der Staatsgewalt herabgewürdigt werden, können lediglich die Richtung andeuten, in der Fälle der Verletzung der Menschenwürde gefunden werden können. Der Mensch ist nicht selten bloßes Objekt nicht nur der Verhältnisse und der gesellschaftlichen Entwicklung, sondern auch des Rechts, insofern er ohne Rücksicht auf seine Interessen sich fügen muß. Eine Verletzung der Menschenwürde kann darin allein nicht gefunden werden. Hinzukommen muß, daß er einer Behandlung ausgesetzt wird, die seine Subjektqualität prinzipiell in Frage stellt, oder daß in der Behandlung im konkreten Fall eine willkürliche Mißachtung der Würde des Menschen liegt. Die Behandlung des Menschen durch die öffentliche Hand, die das Gesetz vollzieht, muß also, wenn sie die Menschenwürde berühren soll, Ausdruck der Verachtung des Wertes, der dem Menschen kraft seines Personseins zukommt, also in diesem Sinne eine "verächtliche Behandlung" sein.
101
II.
Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG in der Auslegung unter I 1 ist mit Art. 79 Abs. 3 GG in der Auslegung unter I 2 vereinbar.
102
1. Der Ausschluß der Benachrichtigung in dem Umfang, den Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG nach der oben gegebenen Auslegung zuläßt, ist nicht unvereinbar mit dem Gebot der Achtung der Menschenwürde, die nach Art. 79 Abs. 3 GG auch durch ein verfassungsänderndes Gesetz nicht antastbar ist. Denn Art. 79 Abs. 3 GG schützt, indem er Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG in Bezug nimmt, jedenfalls inhaltlich nicht mehr als Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG selbst. Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG wird aber unstreitig nicht durch jede Regelung und Anordnung verletzt, die die Freiheit des Bürgers einschränkt, dem Bürger Pflichten auferlegt oder den Bürger ungefragt einer ihm unbekannten und unbekannt bleibenden Maßnahme unterwirft. Das beginnt schon mit der gesetzlichen Meldepflicht des Arztes und bestimmter Behörden oder mit den polizeilichen Ermittlungen gegen bestimmte Personen, die sich nachträglich als ergebnislos oder ungerechtfertigt herausstellen, oder beim Abhören des privaten Funkverkehrs. Im vorliegenden Zusammenhang ist der Ausschluß der Benachrichtigung nicht Ausdruck einer Geringschätzung der menschlichen Person und ihrer Würde, sondern eine den Bürger treffende Last, die um des Schutzes des Bestandes seines Staates und der freiheitlichen demokratischen Ordnung willen von ihm gefordert wird. Der Gedanke, daß dieser Ausschluß der Benachrichtigung zu einem Mißbrauch in der Abhörpraxis führen könne, die mit Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG unvereinbar wäre, ist kein rechtliches Argument, das zur Unvereinbarkeit des Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG mit Art. 79 Abs. 3 GG führen kann. Die Möglichkeit des rechts- und verfassungswidrigen Mißbrauches macht die Regelung noch nicht verfassungswidrig; vielmehr ist bei der Auslegung und Würdigung einer Norm davon auszugehen, daß sie in einer freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie korrekt und fair angewendet wird.
103
2. Auch die Ersetzung des Rechtswegs durch eine anderweitige Rechtskontrolle verletzt im vorliegenden Fall nicht die Menschenwürde. Zwar verlangt die Rücksicht auf die Subjektqualität des Menschen normalerweise, daß er nicht nur Träger subjektiver Rechte ist, sondern auch zur Verteidigung und Durchsetzung seiner Rechte den Prozeßweg beschreiten und vor Gericht seine Sache vertreten kann, in diesem Sinne also Gerichtsschutz genießt. Es gibt aber seit je Ausnahmen von dieser Regel, die die Menschenwürde nicht kränken. Jedenfalls verletzt es die Menschenwürde nicht, wenn der Ausschluß des Gerichtsschutzes nicht durch eine Mißachtung oder Geringschätzung der menschlichen Person, sondern durch die Notwendigkeit der Geheimhaltung von Maßnahmen zum Schutze der demokratischen Ordnung und des Bestandes des Staates motiviert wird. Dagegen würde die Menschenwürde angetastet, wenn durch den Ausschluß des Rechtswegs der Betroffene der Willkür der Behörden ausgeliefert wäre. Dies gerade wird aber ausgeschlossen, wenn, wie dargelegt, von Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG eine zwar andersartige, aber gleichwertige Rechtskontrolle gefordert wird, die auch dem Schutz der Rechte des Betroffenen dienen soll.
104
3. Die Ersetzung des Rechtswegs durch eine andersartige Rechtskontrolle, wie sie Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG vorsieht, verletzt auch nicht das in Art. 79 Abs. 3 GG für unantastbar erklärte Prinzip der Gewaltenteilung) das Art. 20 Abs. 2 GG mit den Worten garantiert, daß die Staatsgewalt "durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt" wird. Denn dieses Prinzip verlangt nicht eine strikte Trennung der Gewalten, sondern läßt zu, daß ausnahmsweise Rechtsetzung durch Organe der Regierung und Verwaltung oder Regierung und Verwaltung durch Organe der Gesetzgebung ausgeübt werden können. Das Prinzip der Gewaltenteilung erlaubt auch, daß Rechtsschutz gegenüber Maßnahmen der Exekutive ausnahmsweise nicht durch Gerichte, sondern durch vom Parlament bestellte oder gebildete, unabhängige Institutionen innerhalb des Funktionsbereichs der Exekutive gewährt wird. Wesentlich ist, daß in diesem Fall noch die ratio der Gewaltenteilung, nämlich die wechselseitige Begrenzung und Kontrolle staatlicher Macht, erfüllt ist. Die Ersetzung der gerichtlichen Kontrolle durch eine unabhängige Institution im Felde der Exekutive darf zwar nicht einfach nach Gutdünken und Willkür vorgesehen werden, aber jedenfalls für einen Fall, in dem ein zwingender, sachlich einleuchtender Grund es erfordert, und dadurch nicht der der rechtsprechenden Gewalt vorbehaltene Kernbereich berührt wird.
105
4. Die Ersetzung des Rechtswegs durch eine unabhängige Rechtskontrolle anderer Art, wie sie Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG vorsieht, sowie der in Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG zugelassene beschränkte Ausschluß der Benachrichtigung widerstreiten schließlich nicht dem Rechtsstaatsprinzip, soweit es in Art. 79 Abs. 3 GG in Bezug genommen worden ist. In diesem Zusammenhang kommt allein der in Art. 20 Abs. 3 GG genannte Grundsatz in Betracht: Die vollziehende Gewalt ist an Gesetz und Recht gebunden. Dies gilt selbstverständlich mit derselben Strenge auch für die mit Verfassungsschutz betrauten Behörden; daran ändert sich nichts, wenn der Betroffene von den Überwachungsmaßnahmen nichts erfährt und zur Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Überwachungsmaßnahmen ein Gericht nicht anrufen kann. Dann aber kann eine Regelung, die unter bestimmten Voraussetzungen zuläßt, daß eine Überwachungsmaßnahme den Betroffenen nicht mitgeteilt wird und daß an die Stelle des Rechtswegs die Nachprüfung durch von der Volksvertretung bestellte Organe und Hilfsorgane tritt, den rechtsstaatlichen Grundsatz, daß alle Verwaltung an Gesetz und Recht gebunden ist, nicht berühren.
106
5. Unabhängig von den Überlegungen zu Nr. 1 bis 4 ergibt sich die Vereinbarkeit des Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG mit Art. 79 Abs. 3 GG schließlich aus dem allgemeinen Gesichtspunkt, daß es sich in Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG um systemimmanente Modifikationen von allgemeinen Verfassungsprinzipien handelt, die, wie oben dargelegt, nach Art. 79 Abs. 3 GG nicht unzulässig sind.
107

D.
1. Das Gesetz zu Art. 10 Grundgesetz regelt eine Materie, die der Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes unterliegt. Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes zum Erlaß des Art. 2 G 10, der durch Änderung der Strafprozeßordnung die Zulässigkeit von Maßnahmen zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses im Strafverfahren regelt, beruht auf Art. 74 Nr. 1 GG.
108
Die Zuständigkeit des Bundes zum Erlaß der in Art. 1 G 10 zusammengefaßten Bestimmungen über Beschränkungsmaßnahmen im außerstrafprozessualen Bereich ergibt sich aus Art. 73 Nr. 1, 7 und 10 sowie Art. 74 Nr. 1 GG.
109
Art. 1 § 2 G 10 dient der Abwehr verfassungsfeindlicher Bestrebungen im Vorfeld strafprozessualer Ermittlungen. Die zulässigen Beschränkungsmaßnahmen sind begrenzt auf die Fälle, in denen tatsächliche Anhaltspunkte für den Verdacht bestehen, daß bestimmte strafbare Handlungen geplant, begangen werden oder begangen worden sind. Die Beschränkungsmaßnahmen nach Art. 1 § 2 G 10 dienen also (wenigstens mittelbar) der Verhinderung, Aufklärung und Verfolgung von Straftaten. Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes ist daher insoweit unmittelbar aus Art. 74 Nr. 1 GG zu entnehmen.
110
2. Verfassungsrechtliche Bedenken gegen das Gesetz zu Art. 10 Grundgesetz als Ganzes oder gegen einzelne Vorschriften des Gesetzes, die in diesem Verfahren nicht ausdrücklich angegriffen sind, aber im Fall ihrer Nichtigkeit die Nichtigkeit der angegriffenen Vorschriften nach sich ziehen würden, sind nicht ersichtlich. Insbesondere sind §§ 1 und 2 G 10, soweit sie sich auf den Tatbestand der "Sicherheit der in der Bundesrepublik Deutschland stationierten Truppen der nichtdeutschen Vertragsstaaten des Nordatlantikvertrages oder der im Land Berlin anwesenden Truppen einer der Drei Mächte" beziehen, sowie § 3 von der Ermächtigung in Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG gedeckt. Unter den gegenwärtigen politischen und rechtlichen Bedingungen stellt es eine schwerwiegende Gefahr für den Bestand und die Sicherheit des Bundes oder eines Landes dar, wenn die Sicherheit der in der Bundesrepublik Deutschland stationierten verbündeten Truppen oder der im Land Berlin anwesenden Truppen der Drei Mächte auf dem Spiel steht .Deshalb ist auch eine Überwachungsmaßnahme zur Abwehr von drohenden Gefahren für die Sicherheit der genannten Truppen eine Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses, die "dem Schutze ... des Bestandes oder der Sicherung des Bundes oder eines Landes" dient.
111
3. Hinsichtlich der einzelnen Vorschriften des Gesetzes zu Art. 10 Grundgesetz, die im gegenwärtigen Verfahren angegriffen sind, gilt folgendes:
112
a) Art. 1 § 9 Abs. 5 G 10 ist mit dem Grundgesetz vereinbar.
113
Wie oben unter C I 1 dargelegt ist, verlangt Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG, daß das zu seiner Ausführung ergehende Gesetz ein Organ vorsehen muß, das in richterlicher Unabhängigkeit und für alle an der Vorbereitung, verwaltungsmäßigen Entscheidung und Durchführung der Überwachung Beteiligten verbindlich über die Zulässigkeit der Überwachungsmaßnahme und über die Frage, ob der Betroffene zu benachrichtigen ist, entscheidet und die Überwachungsmaßnahme untersagt, wenn es an den rechtlichen Voraussetzungen dazu fehlt. Dieses Organ muß über die notwendige Sach- und Rechtskunde verfügen; es muß weisungsfrei sein; seine Mitglieder müssen auf bestimmte Zeit fest berufen werden. Seine Kontrolle muß laufend ausgeübt werden können; alle erheblichen Unterlagen des Falles müssen dem von der Volksvertretung bestellten Organ zugänglich sein.
114
Die nach § 9 G 10 zu bestellende Kommission entspricht diesen Erfordernissen. Nach § 9 Abs. 3 G 10 sind die Mitglieder in ihrer Amtsführung unabhängig und Weisungen nicht unterworfen. Sie werden von dem nach § 9 Abs. 1 G 10 bestellten Abgeordnetengremium auf die Dauer einer Wahlperiode des Bundestages bestellt. Der Vorsitzende der Kommission muß die Befähigung zum Richteramt besitzen. Der zuständige Bundesminister ist verpflichtet, die Kommission monatlich über die von ihm angeordneten Beschränkungsmaßnahmen zu unterrichten. Die Kommission hat alsdann von Amts wegen, im übrigen aber auch auf Grund von Beschwerden über die Zulässigkeit und Notwendigkeit von Beschränkungsmaßnahmen zu entscheiden. Erklärt die Kommission Anordnungen für unzulässig oder nicht notwendig, so hat sie der zuständige Bundesminister unverzüglich aufzuheben.
115
Gegenüber den Bedenken, das Gremium gemäß § 9 Abs. 1 G 10 und die Kommission könnten unter Umständen von einer Mehrheit im Bundestag einseitig besetzt werden, genügt der Hinweis, daß auch eine Mehrheit ihre Rechte mißbrauchen kann. Eine Fraktion oder Koalition, die das genannte Gremium einseitig besetzen und auf die einseitige Besetzung der Kommission hinwirken würde, würde im Zweifel mißbräuchlich verfahren.
116
Unter diesen Umständen ist der im § 9 Abs. 5 G 10 vorgesehene Ausschluß des Rechtswegs gemäß Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG zulässig. Damit entfallen auch alle aus Art. 101 und Art. 103 GG hergeleiteten verfassungsrechtlichen Bedenken.
117
b) Wie ebenfalls unter C I 1 ausgeführt wurde, gebietet das Rechtsstaatsprinzip und damit Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG in der gebotenen Auslegung, daß Beschränkungsmaßnahmen dem Betroffenen bekanntgegeben werden, sobald die Interessenlage, die die Geheimhaltung rechtfertigt, nicht mehr andauert. Da § 5 Abs. 5 G 10 die Unterrichtung des Betroffenen über Beschränkungsmaßnahmen in jedem Fall ausschließt, ist er durch Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG in der oben dargelegten, verfassungsrechtlich gebotenen Auslegung teilweise nicht gedeckt und insoweit mit dem Grundgesetz unvereinbar. Diese Bestimmung war daher insoweit für nichtig zu erklären, als die Unterrichtung des Betroffenen über Beschränkungsmaßnahmen auch ausgeschlossen wird, wenn sie ohne Gefährdung des Zweckes der Beschränkung erfolgen kann.
118
c) Art. 1 § 2 Abs. 2 Satz 2 G 10 und § 100 a letzter Satz StPO in der Fassung des Art. 2 G 10, wonach Beschränkungsmaßnahmen auch gegenüber Personen zulässig sind, von denen auf Grund bestimmter Tatsachen anzunehmen ist, daß sie für den Verdächtigen oder Beschuldigten bestimmte oder von ihm herrührende Mitteilungen entgegennehmen oder weitergeben oder daß der Verdächtige oder Beschuldigte ihren Anschluß benutzt, sind mit dem Grundgesetz vereinbar.
119
Die zu prüfenden Bestimmungen berühren das Recht der freien Berufswahl nicht. Sie enthalten im Grunde nicht einmal eine Regelung auf der Stufe der Berufsausübung. Beide Bestimmungen richten sich nicht gegen den Beschwerdeführer gerade in seiner Eigenschaft als Rechtsanwalt. Sie betreffen ihn, wenn überhaupt, in gleicher Weise wie jeden anderen Bürger. Allerdings ist richtig, daß die Tätigkeit als Strafverteidiger in besonderem Maße geeignet ist, einen Rechtsanwalt in engen Kontakt mit Verdächtigen im Sinne des Art. 1 § 2 G 10 oder mit Beschuldigten im Sinne des § 100 a StPO zu bringen. Betätigt sich daher ein Rechtsanwalt, wie es der Beschwerdeführer zu 3) von sich behauptet, fast ausschließlich als Verteidiger in Staatsschutzstrafsachen und in Verfahren wegen Kapitalverbrechen, so ist nicht auszuschließen, daß sich die angefochtenen Bestimmungen auf die Berufsausübung auswirken. Dies führt aber nicht zur Verfassungswidrigkeit der Vorschriften.
120
Die Freiheit der Berufsausübung kann durch Gesetz im Sinne des Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG beschränkt werden, sofern vernünftige Erwägungen des Gemeinwohls es als zweckmäßig erscheinen lassen. In diesem Fall beschränkt sich der Grundrechtsschutz auf die Abwehr in sich verfassungswidriger, weil etwa übermäßig belastender und nicht zumutbarer Auflagen (BVerfGE 7, 377 [405 und Leitsatz 6 a]; seither ständige Rechtsprechung). Für die beanstandeten Regelungen sprechen vernünftige Gründe des Gemeinwohls: Die vom Gesetzgeber für notwendig erachteten Beschränkungsmaßnahmen auf dem Gebiet der Brief-, Post- und Fernmeldeüberwachung können nicht wirkungsvoll sein und drohen unterlaufen zu werden, wenn sich die Überwachung nicht auf Einrichtungen bestimmter Kontaktpersonen der Verdächtigen oder Beschuldigten erstrecken kann. Das liegt in der Natur der zu überwachenden Kommunikationsmittel. Die Besonderheit des Zwecks der Beschränkungsmaßnahmen verbietet es, zwischen einzelnen Gruppen von möglichen Kontaktpersonen zu unterscheiden. Unter diesen Umständen ist die Erstreckung der Überwachungsmaßnahmen auf Einrichtungen bestimmter Kontaktpersonen und möglicherweise auch auf Anwaltskanzleien für die Betroffenen nicht in einem Maß unzumutbar und belastend, daß sie angesichts ihrer zwingenden Notwendigkeit nicht hingenommen werden müßte.
121

E.
Diese Entscheidung ist mit 5 gegen 3 Stimmen ergangen.
122
Seuffert, Dr. Leibholz, Geller, Dr. v.Schlabrendorff, Dr. Rupp, Dr. Geiger, Dr. Kutscher, Dr. Rinck

Abweichende Meinung der Richter Geller, Dr. v.Schlabrendorff und Dr. Rupp zu dem Urteil des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Dezember 1970
-- 2 BvF 1/69, 2 BvR 629/68 und 308/69 --
Wir können dem Urteil vom 15. Dezember 1970 nicht zustimmen. Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG in der Fassung des Siebzehnten Ergänzungsgesetzes ist mit Art. 79 Abs. 3 GG nicht vereinbar und daher nichtig.
123
1. Das verfassungsändernde Gesetz kann bei der Prüfung seiner Verfassungsmäßigkeit nicht - wie im Urteil vom 15. Dezember 1970 - nach Grundsätzen ausgelegt werden, die für eine Auslegung von Verfassungsnormen gelten (BVerfGE 19, 206 [220]); denn es fragt sich ja gerade, ob Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG eine gültige Verfassungsnorm ist. Für diese Prüfung am Maßstab des Art. 79 Abs. 3 GG ist maßgebend, wie die verfassungsändernde Vorschrift nach Wortlaut, Sinnzusammenhang und Zweck verstanden werden muß. Es ergibt sich dabei, daß sie der im Urteil vorgenommenen "grundgesetzkonformen" Auslegung nicht zugänglich ist.
124
a) Nach Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG soll der einfache Gesetzgeber unter gewissen Voraussetzungen bestimmen können, daß Überwachungsmaßnahmen dem Betroffenen nicht mitgeteilt werden. Der Wortlaut ist eindeutig. Es heißt, ihn in sein Gegenteil verkehren, wenn man annehmen wollte, daß eine nachträgliche Mitteilung jedenfalls nicht ganz ausgeschlossen werden darf.
125
Die Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG dient dem individuellen Rechtsschutz. Sie gewährleistet, daß jeder durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten Verletzte ein Gericht anrufen kann. Das Wesentliche an dieser verfassungsrechtlichen Regelung liegt darin, daß der Rechtsschutz durch ein sachlich und persönlich unabhängiges, von Exekutive und Legislative getrenntes, also neutrales Organ gewährt wird, das bestimmten Kautelen (z.B. ordnungsmäßige Besetzung) unterliegt und selbstverständlich nur nach Anhörung des Betroffenen entscheiden kann. Wenn nun auf Grund der verfassungsändernden Bestimmung "an die Stelle des Rechtsweges die Nachprüfung durch von der Volksvertretung bestellte Organe und Hilfsorgane" tritt, so wird das eigentliche Rechtsschutzsystem ersetzt. Wenn die Bestimmung überhaupt einen Sinn haben soll, so muß sich dieses Ersatz-System von dem normalen "Rechtsweg" unterscheiden. Dies kann nur bedeuten, daß es nicht die Garantien der Unabhängigkeit und Neutralität zu haben und nicht unter dem Zwang eines bestimmten Verfahrens zu stehen braucht. Dieser Unterschied wird noch dadurch ins rechte Licht gerückt, daß Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG auch die Geheimhaltung der Überwachungsmaßnahme ermöglicht.
126
Im übrigen ist der verfassungsändernden Vorschrift auch keine greifbare Einschränkung des Kreises derjenigen, die überwacht werden dürfen, zu entnehmen. Die Beschränkung kann ganz allgemein angeordnet werden, wann immer es dem Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder des Bestandes oder der Sicherung des Bundes oder eines Landes dient. Es kann durchaus zweckmäßig erscheinen, den eigentlichen Gefahrenpunkt in der Weise einzukreisen, daß zunächst ein weiter Bereich unter Kontrolle gestellt wird.
127
Es ist daher ausgeschlossen, Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG restriktiv dahin zu interpretieren, daß er zwingend eine Regelung vorschreibt, nach der das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis nur in Fällen eines konkreten Verdachts beschränkt werden darf. Seinem Sinn nach schließt er auch eine ausgedehnte Beobachtungsaktion, bei der versuchsweise zahlreiche Stellen überwacht werden, nicht aus.
128
b) Die dem Urteil zugrunde liegende Auslegung ist auch nicht in Einklang zu bringen mit dem Zweck der Verfassungsänderung, der sich eindeutig aus der Entstehungsgeschichte ergibt.
129
Natürlich bestand Einigkeit darüber, daß die Überwachung dem Betroffenen nicht vorher bekanntgegeben werden kann; das würde die Maßnahme von vornherein sinnlos machen. Es ging um die Frage, ob dem Betroffenen die Überwachung überhaupt nicht oder wenigstens nach Beendigung mitgeteilt werden sollte. Hierzu bringt eine Äußerung des Vorsitzenden des Rechtsausschusses, Dr. Wilhelmi, in der 2. Lesung des Entwurfs im Bundestag die Vorstellung der parlamentarischen Mehrheit über den Zweck des Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG wie folgt zum Ausdruck:
130

"Es gibt zwei Gruppen. Die eine Gruppe sind die strafrechtlichen Fälle, die andere Gruppe sind eben die Fälle vorher; bei denen liegt noch keine strafbare Handlung, aber der Verdacht einer strafbaren Handlung oder jedenfalls einer Gefährdung der Bundesrepublik, vor. Dieses Vorstadium, diese Schwelle davor, ist natürlich das politisch Interessante und das politisch Wesentliche, und dazu brauchen wir die Ermächtigung in Art. 10. Das ist der politische Kern ... dieser Ausnahmebestimmung. Deshalb ist es nicht denkbar, diejenigen, die nun dieser Kontrolle unterworfen werden, nachträglich zu verständigen und ihnen ein ordentliches Gerichtsverfahren zu gestatten ..." (StenBer. über die 174. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 15. Mai 1968, S. 9320 C)

131
Auch der Berichterstatter des Rechtsausschusses, Dr. Lenz, präzisierte die Auffassung dahin, daß mit der strafprozessualen Lösung, die eine nachträgliche Mitteilung vorsieht, in den von Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG erfaßten Fällen "niemandem gedient" und daß eine solche Vorschrift nicht aufzunehmen sei (StenBer. über die 178. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 30. Mai 1968, S. 9609 B). Anträge der Opposition auf Übernahme der strafprozessualen Regelung wurden abgelehnt.
132
Wenn von der Möglichkeit, Eingriffe in das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis geheim zu halten, Gebrauch gemacht wird, so ist praktisch der Rechtsweg ausgeschlossen; der Betroffene kann ihn nicht beschreiten, weil er nicht weiß, was vorgeht. Dementsprechend war von Anfang an auch die Möglichkeit des Ausschlusses des Rechtsweges vorgesehen. Der Regierungsentwurf der 4. Wahlperiode wollte die Regelung davon abhängig machen, daß die Beschränkung durch einen Richter angeordnet oder bestätigt würde. Dieser Plan wurde indessen in dem letzten Regierungsentwurf fallen gelassen, einmal weil keinesfalls das rechtliche Gehör gewährt werden könnte und zum anderen, weil der Richter "im Hinblick auf die zwangsläufig ziemlich weite Formulierung der Zwecke, die eine nicht anfechtbare Überwachung der Betroffenen rechtfertigen sollten", zu einer Entscheidung genötigt würde, "die nahezu außerhalb seiner berufstypischen Funktion, Sachverhalte an rechtlichen Tatbestandsvoraussetzungen zu messen, gelegen haben würde" (amtliche Begründung zum Entwurf des Gesetzes zur Ergänzung des Grundgesetzes, BTDrucks. V/1879 S. 18). Bei den Beratungen dieses Entwurfs und des gleichzeitig eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu Art. 10 GG wurde alsdann immer wieder betont, daß an die Stelle des Rechtsweges die "parlamentarische Kontrolle", "der politische Weg der Kontrolle" treten müsse. In der 1. Lesung des Gesetzes zu Art. 10 Grundgesetz wies der damalige Bundesminister des Innern, Lücke, darauf hin, daß der für die Anordnung zuständige Bundesminister einer besonderen parlamentarischen Kontrolle unterliege und neben der periodischen Berichterstattung an das politische Gremium monatlich auch noch der von dem Gremium bestellten "dreiköpfigen parlamentarischen Kommission" berichten müsse. Der Abgeordnete Hirsch hielt es für richtig
133

"diese jetzt gewählte politische Lösung, nämlich die Kontrolle durch einen verantwortlichen Minister und durch die beiden vorgesehenen politischen Gremien, einer Prüfung durch den Richter vorzuziehen"; es handle sich um eine politische und nicht um eine richterliche Entscheidung." (StenBer. über die 117. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 29. Juni 1967 S. 5862 und 5882 D)

134
Später kam diese Auffassung dadurch zum Ausdruck, daß der Berichterstatter des Rechtsausschusses, Dr. Reischl, erklärte, der Ersatzrechtsweg müsse der "Weg zu einem politischen Organ" sein, "weil es sich um politische Fragen handelt" (a.a.O. S. 9322 B). Auch der Vorsitzende des Rechtsausschusses, Dr. Wilhelmi, erklärte, die Gerichte wären bei einer Nachprüfung von Überwachungsmaßnahmen völlig überfordert, da es sich um politische Fragen handle, die von Politikern entschieden werden müßten. Und dementsprechend war immer von der "Nachprüfung durch Organe und Hilfsorgane der Volksvertretung" die Rede (a.a.O. S. 9320 C f; Schriftlicher Bericht des Rechtsausschusses - BTDrucks. V/2873 S. 4).
135
c) Nach Wortlaut, Sinnzusammenhang und Zweck gestattet Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG mithin, das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis zu Zwecken des Verfassungs- und Staatsschutzes in einer Weise zu beschränken, die das heimliche, dem Betroffenen auch im nachhinein geheim bleibende und von einem Gericht nicht nachzuprüfende Abhören und Kontrollieren von Telefongesprächen, Fernschreiben, Telegrammen und Briefen ermöglicht. Der Kreis der Betroffenen ist unbegrenzt und nicht auf "Verdächtige" beschränkt. Der Charakter der der "parlamentarischen Kontrolle" dienenden Organe und Hilfsorgane bleibt völlig unbestimmt; sie können vom Gesetzgeber als politische Gremien oder auch als abhängige Verwaltungskörper ausgestaltet werden. Die Auslegung, die Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG im Urteil findet, gibt daher dem Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG einen anderen Sinn. Sie engt ihn ein und verändert seinen normativen Inhalt. Dies zu tun, ist aber ausschließlich Sache des Gesetzgebers (BVerfGE 8, 71 [78 f.]; 9, 83 [87]).
136
Daß das Gesetz zu Art. 10 Grundgesetz möglicherweise den weiten Spielraum der ermächtigenden Verfassungsnorm nicht ausgeschöpft hat, ist nicht von Belang. Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG zwingt nicht zu einer entsprechenden Regelung. Der Gesetzgeber kann es bei dem Zustand belassen, der der bisherigen Verfassungslage entspricht. Er kann von ihm auch in den verschiedensten Variationen abweichen. Für die Prüfung der Frage, ob die Verfassungsänderung nach Art. 79 Abs. 3 GG zulässig ist, ist Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG nur im ganzen Ausmaß der Möglichkeiten, die er dem einfachen Gesetzgeber einräumt, maßgebend.
137
2. In der zu 1) dargelegten Auslegung ist die Verfassungsänderung nach Art. 79 Abs. 3 GG unzulässig.
138
a) Art. 79 Abs. 3 GG erklärt bestimmte Grundsätze der Verfassung für unantastbar. Das Grundgesetz kennt also - anders als die Weimarer Reichsverfassung und die Verfassung des Kaiserreichs - Schranken der Verfassungsänderung. Eine solche gewichtige und in ihren Konsequenzen weittragende Ausnahmevorschrift darf sicherlich nicht extensiv ausgelegt werden. Aber es heißt ihre Bedeutung völlig verkennen, wenn man ihren Sinn vornehmlich darin sehen wollte, zu verhindern, daß der formallegalistische Weg eines verfassungsändernden Gesetzes zur nachträglichen Legalisierung eines totalitären Regimes mißbraucht wird. Es bedarf keiner besonderen Betonung, daß ein "Ermächtigungsgesetz" wie das von 1933 unzulässig wäre. Art. 79 Abs. 3 GG bedeutet mehr: Gewisse Grundentscheidungen des Grundgesetzgebers werden für die Dauer der Geltung des Grundgesetzes - ohne Vorwegnahme einer künftigen gesamtdeutschen Verfassung - für unverbrüchlich erklärt. Diese vor einer Änderung zu schützenden Grundentscheidungen sind nach Art. 79 Abs. 3 GG einmal die Entscheidung für das föderalistische Prinzip und zum anderen die in den Artikeln 1 und 20 GG sich manifestierende Entscheidung. Wie weit oder wie eng auch immer man den Bereich der in Art. 1 GG und Art. 20 GG niedergelegten Grundsätze ziehen mag, jedenfalls gehören diejenigen Grundsätze dazu, die dem Grundgesetz das ihm eigene Gepräge geben. Die beiden Normen sind die Eckpfeiler der grundgesetzlichen Ordnung.
139
b) Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gehört Art. 1 GG zu den "tragenden Konstitutionsprinzipien", die alle Bestimmungen des Grundgesetzes durchdringen. Das Grundgesetz sieht die freie menschliche Persönlichkeit und ihre Würde als höchsten Rechtswert an (BVerfGE 6, 32 [36]; 12, 45 [53]). Nun muß man sich bei der Beantwortung der Frage, was "Menschenwürde" bedeute, hüten, das pathetische Wort ausschließlich in seinem höchsten Sinn zu verstehen, etwa indem man davon ausgeht, daß die Menschenwürde nur dann verletzt ist, wenn "die Behandlung des Menschen durch die öffentliche Hand, die das Gesetz vollzieht", "Ausdruck der Verachtung des Wertes, der dem Menschen kraft seines Personseins zukommt, also in diesem Sinne eine 'verächtliche Behandlung'" ist. Tut man dies dennoch, so reduziert man Art. 79 Abs. 3 GG auf ein Verbot der Wiedereinführung z.B. der Folter, des Schandpfahls und der Methoden des Dritten Reichs. Eine solche Einschränkung wird indessen der Konzeption und dem Geist des Grundgesetzes nicht gerecht. Art. 79 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 1 GG hat einen wesentlich konkreteren Inhalt. Das Grundgesetz erkennt dadurch, daß es die freie menschliche Persönlichkeit auf die höchste Stufe der Wertordnung stellt, ihren Eigenwert, ihre Eigenständigkeit an. Alle Staatsgewalt hat den Menschen in seinem Eigenwert, seiner Eigenständigkeit zu achten und zu schützen. Er darf nicht "unpersönlich", nicht wie ein Gegenstand behandelt werden, auch wenn es nicht aus Mißachtung des Personenwertes, sondern in "guter Absicht" geschieht. Der Erste Senat dieses Gerichts hat dies dahin formuliert, es widerspreche der menschlichen Würde, den Menschen zum bloßen Objekt staatlichen Handelns zu machen und kurzerhand von Obrigkeits wegen über ihn zu verfügen (BVerfGE 27, 1 [6]; vgl. auch BVerfGE 5, 85 [204]; 7, 198 [205]; 9, 89 [95]). Damit wird keineswegs lediglich die Richtung angedeutet, in der Fälle der Verletzung der Menschenwürde gefunden werden können. Es ist ein in Art. 1 GG wurzelnder Grundsatz, der unmittelbar Maßstäbe setzt.
140
Die Frage, ob in Art. 20 GG, auf den sich Art. 79 Abs. 3 gleichfalls bezieht, das "Rechtsstaatsprinzip" als solches oder nur ganz bestimmte Grundsätze dieses Prinzips "niedergelegt" sind, bedarf keiner Erörterung; sie ist in dem hier. wesentlichen Punkt theoretischer Natur. Jedenfalls enthält Art. 20 GG ausdrücklich den Gesetzmäßigkeitsgrundsatz und den Grundsatz der Dreiteilung der Gewalten; beides sind rechtsstaatliche Prinzipien. Schon aus ihnen ergibt sich, daß die Verfassung in ihrer Wertordnung dem Menschen nicht nur einen bevorzugten Platz einräumt, sondern ihm auch Schutz gewährt. In der Tat wären die Freiheit und die verbürgten Rechte des Einzelnen ohne einen verfassungsrechtlich gesicherten wirksamen Rechtsschutz wesenlos. Der in Art. 20 Abs. 3 GG verankerte Grundsatz der Gesetzmäßigkeit bindet die Organe der Staatsgewalt an die verfassungsmäßige Ordnung, an Gesetz und Recht, und bietet damit einen objektiven Schutz. Dem Bürger muß es, wenn der Schutz wirksam sein soll, darüber hinaus aber auch möglich sein, sich selbst gegen den Eingriff der Staatsgewalt zu wehren und ihn auf seine Rechtmäßigkeit prüfen zu lassen. Dies wird durch das nach Art. 20 Abs. 2 GG von Legislative und Exekutive getrennte Organ der Rechtsprechung gewährleistet; der Gewaltenteilungsgrundsatz, dessen Sinn in der wechselseitigen Begrenzung und Kontrolle öffentlicher Macht liegt, kommt damit auch dem Einzelnen zugute. Schon Art. 20 Abs. 2 GG enthält infolgedessen das rechtsstaatliche Prinzip individuellen Rechtsschutzes, das in Art. 19 Abs. 4 GG a.F. konkretisiert ist.
141
Das Bundesverfassungsgericht hat wiederholt von "der rechtsstaatlichen Forderung nach möglichst lückenlosem gerichtlichen Schutz gegen die Verletzung der Rechtssphäre des einzelnen durch Eingriffe der öffentlichen Gewalt" gesprochen (z.B. BVerfGE 8, 274 [326]). Das kann aber nicht dahin verstanden werden, ein möglichst lückenloser Rechtsschutz brauche nicht gewährt zu werden, wenn dies - aus welchen Gründen auch immer - unmöglich erscheine. Daß der Rechtsschutz möglichst lückenlos sein soll, bedeutet nicht eine Relativierung, es ist vielmehr ein Postulat.
142
Auf Grund der vorstehenden Erwägungen kommen wir zu der folgenden Überzeugung: Zu "den in den Artikeln 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätzen" gehören jedenfalls einerseits der in Art. 1 GG wurzelnde Grundsatz, daß der Mensch nicht zum bloßen Objekt des Staates gemacht, daß über sein Recht nicht kurzerhand von Obrigkeits wegen verfügt werden darf, und andererseits das sich aus Art. 20 GG ergebende rechtsstaatliche Gebot möglichst lückenlosen individuellen Rechtsschutzes. Diese beiden Grundsätze enthalten die Grundentscheidung des Grundgesetzgebers, die wesentlich das Bild des Rechtsstaates, wie ihn das Grundgesetz versteht, bestimmen und der Verfassungsordnung ihr besonderes Gepräge geben. Eben diese konstituierenden Elemente sollen nach Art. 79 Abs. 3 GG unabänderlich sein.
143
c) Durch die Verfassungsänderung werden die in den Artikeln 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätze "berührt".
144
Nach Wortlaut und Sinn erfordert die Vorschrift des Art. 79 Abs. 3 GG nicht, daß die oder einer der Grundsätze vollständig aufgehoben oder "prinzipiell preisgegeben" werden. Das Wort "berührt" besagt weniger. Es genügt schon, wenn in einem Teilbereich der Freiheitssphäre des Einzelnen die sich aus Art. 1 und 20 GG ergebenden Grundsätze ganz oder zum Teil außer Acht gelassen werden. Nur dies scheint uns der Bedeutung, die Art. 79 Abs. 3 GG im System des Grundgesetzes hat, zu entsprechen. Die konstituierenden Elemente sollen "unberührt" bleiben. Sie sollen auch vor dem allmählichen Zerfallsprozeß geschützt werden, der sich entwickeln könnte, wenn den Grundsätzen nur "im allgemeinen Rechnung getragen" werden müßte. Es darf nicht unberücksichtigt bleiben, daß der Grundgesetzgeber in Art. 79 Abs. 3 GG eine andere, und zwar substantiell engere Formulierung als in Art. 19 Abs. 2 GG gewählt hat.
145
Der nach Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG mögliche heimliche Eingriff in die Privatsphäre des Bürgers unter Ausschluß des Rechtsweges trifft nicht nur Verfassungsfeinde und Agenten, sondern gleichfalls Unverdächtige und persönlich Unbeteiligte. Auch ihr Telefon kann abgehört, ihre Briefe können geöffnet werden, ohne daß sie jemals etwas davon erfahren und ohne daß sie imstande sind, sich zu rechtfertigen oder - was für die Betroffenen von äußerster Wichtigkeit sein kann - sich aus einer unerwünschten Verstrickung zu lösen. Mit dieser Behandlung aber wird über das Recht des Einzelnen auf Achtung des privaten Bereichs "kurzerhand von Obrigkeits wegen" verfügt, der Bürger zum Objekt staatlicher Gewalt gemacht. Dem kann nicht entgegengehalten werden, der Mensch sei nicht selten Objekt nicht nur der Verhältnisse und der gesellschaftlichen Entwicklung, sondern auch des Rechts, insofern er ohne Rücksicht auf seine Interessen sich fügen müsse. Daß der Bürger der Rechtsordnung unterworfen ist, bedarf keiner Hervorhebung; er wird damit aber keineswegs zum Objekt der Staatsgewalt, sondern bleibt lebendiges Glied der Rechtsgemeinschaft. Die praktischen Beispiele, die das Urteil erwähnt, besagen schon deshalb nichts, weil solche Maßnahmen entweder nicht hinter dem Rücken des Betroffenen vorgenommen werden (etwa die ärztliche Meldung eines Kranken, dem mitgeteilt wird, daß er an einer ansteckenden Krankheit leidet) oder die geschützte Privatsphäre nicht tangieren (etwa beim Abhören des privaten Funkverkehrs, der sozusagen in der Öffentlichkeit der Atmosphäre stattfindet). Vor allem aber kann sich der Bürger in all diesen Fällen, sobald in seinen privaten Bereich eingegriffen wird, zur Wehr setzen; der Rechtsweg steht ihm offen. Der besondere Charakter der nach Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG möglichen Regelung tritt im übrigen durch nichts deutlicher in Erscheinung als dadurch, daß eine Änderung des Grundgesetzes für erforderlich gehalten wurde.
146
Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG berührt aber auch die sich aus Art. 20 GG ergebende rechtsstaatliche Forderung nach individuellem Rechtsschutz. Daß der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung dieser Forderung noch nicht genügt, ist bereits oben dargelegt. Die in Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG vorgesehenen Organe erfüllen schon deshalb nicht die Voraussetzungen, die die Gewährung individuellen Rechtsschutzes erfordert, weil die Vorschrift nicht zwingend vorschreibt, daß die Organe unabhängig und frei von Weisungen sein müssen. Die Voraussetzungen wären aber selbst dann nicht gegeben, wenn man davon ausginge, daß es sich um "vom Parlament bestellte oder gebildete unabhängige Institutionen innerhalb des Funktionsbereichs der Exekutive" handle. Derartige Institutionen dienen - wie etwa herkömmlicherweise die aus gewählten Mitgliedern bestehenden sog. Beschlußausschüsse in der kommunalen Selbstverwaltung - der Selbstkontrolle der Verwaltung, gewähren jedoch keinen individuellen Rechtsschutz und werden übrigens allgemein als Verwaltungsorgane angesehen. Die Gewährung eines individuellen Rechtsschutzes ist im System der Gewaltenteilung eine Funktion der Rechtsprechung, da sie dem Schutz gegen Eingriffe der beiden anderen Gewalten dient. Die Rechtsschutzorgane gehören daher in den Funktionsbereich der Rechtsprechung. Ob sie dem traditionellen Gerichtstyp entsprechen müssen, mag dahinstehen. Jedenfalls ist wesentlich, daß sie auch die Garantien der Neutralität erfüllen, was eine Trennung von Legislative und Exekutive bedingt, und daß sie in einem geordneten Verfahren entscheiden. Dies bedeutet vor allem, daß der Betroffene an dem Verfahren beteiligt wird. Es sollte nicht mehr besonders betont werden müssen, daß ein Geheimverfahren, wie es in Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG zugelassen ist, also ein Verfahren, in dem der Betroffene nicht gehört wird und sich nicht verteidigen kann, keinen Rechtsschutz bietet.
147
3. In den parlamentarischen Verhandlungen und auch in den Äußerungen des Bundesministers des Innern zu den Verfassungsbeschwerden wurde die Verfassungsänderung zu Art. 10 GG mit folgender Erwägung gerechtfertigt: Sie müsse die Grundlage für eine Regelung schaffen, die erforderlich sei, um a) die Ablösung der Vorbehaltsrechte der Drei Westmächte herbeizuführen, b) den Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung und des Bestandes oder der Sicherung des Bundes oder eines Landes wirksam gewährleisten zu können.
148
a) In den parlamentarischen Beratungen über Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG ist von keiner Seite eindeutig behauptet worden, daß die Drei Westmächte die Aufhebung ihrer Vorbehaltsrechte ausdrücklich von dieser bestimmten Verfassungsänderung abhängig gemacht haben. Hierauf braucht jedoch nicht näher eingegangen zu werden. Denn selbst eine ausdrückliche und präzise Forderung der Drei Westmächte könnte die verfassungswidrige Grundgesetzänderung nicht rechtfertigen.
149
Das Bundesverfassungsgericht hat sich verschiedentlich über Fragen, die mit der Überleitung des Besatzungszustandes in den vollstaatlichen Status der Bundesrepublik zusammenhingen, ausgesprochen (z.B. BVerfGE 4, 157; 9, 63; 14, 1; 15, 337). Es hat dabei Regelungen hingenommen, die "näher an das Grundgesetz" heranführen oder nur eine zeitlich begrenzte und vorübergehende Abweichung unter der Voraussetzung einer Annäherung an den voll verfassungsmäßigen Zustand bedeuten. Es bedarf keiner weiteren Erläuterung, daß der Schritt vom verfassungsfremden Zustand der Postkontrolle durch Dienststellen fremder Mächte zu einer verfassungswidrigen Regelung "keinen Schritt näher an das Grundgesetz heranführt" und daß Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG kein Provisorium ist. Im übrigen hat das Bundesverfassungsgericht schon in der ersten Entscheidung (Band 4, 157 [169 f.]) betont, daß die Grenzen dort liegen, "wo unverzichtbare Grundprinzipien des Grundgesetzes klar verletzt würden, also etwa die in Art. 79 Abs. 3 oder 19 Abs. 2 GG bezeichneten Grundsätze". Wir haben dem nichts hinzuzufügen.
150
b) In dem Urteil wird auf die besondere Bedeutung der grundgesetzlichen Entscheidung für die "streitbare Demokratie" hingewiesen, die einen Mißbrauch der Grundrechte zum Kampf gegen die freiheitliche Ordnung und den Bestand des Staates nicht hinnimmt. Niemand wird in Zweifel ziehen, daß der Bestand der Bundesrepublik und ihrer freiheitlichen demokratischen Grundordnung überragende Rechtsgüter darstellen, die es zu schützen und zu verteidigen gilt und denen sich notfalls Freiheitsrechte des Einzelnen unterordnen müssen.
151
Im Falle eines kriegerischen Angriffs und des damit eintretenden - wenn auch möglicherweise länger dauernden, so doch einmal endenden - Ausnahmezustandes werden die Freiheitsrechte des Bürgers vorübergehend sehr weitgehend beschränkt werden müssen und dürfen. Anders liegen die Dinge jedoch, wenn es sich um die Maßnahmen handelt, die in der Normallage im "juristischen Alltag" (Dürig) zum Schutz der staatlichen Ordnung etwa in der Verbrechensbekämpfung oder in der Abwehr subversiver Tätigkeit von Agenten notwendig erscheinen. Hier sind der Einschränkung der Individualrechte Grenzen gesetzt. Denn die "streitbare Demokratie" verteidigt die bestehende rechtsstaatliche Verfassungsordnung, deren integraler Bestandteil die Grundrechte sind. Der Gesetzgeber, auch der verfassungsändernde, hat daher bei Regelung der Gefahrenabwehr - etwa im Bereich der Verbrechensbekämpfung oder der im Wesen nicht anders gearteten Tätigkeit der Geheimdienste - die Rechtsgüter gegeneinander abzuwägen unter Berücksichtigung des Wertes, den das Grundgesetz den Individualrechten beimißt. Die "Staatsraison" ist kein unbedingt vorrangiger Wert. Verkennt der Gesetzgeber die Schranken, so kehrt die "streitbare Demokratie" sich gegen sich selbst.
152
Die Schranken, die nicht durchbrochen werden können, sind dieselben wie in Art. 79 Abs. 3 GG. Der unabänderliche Bestand der Verfassungsordnung darf - abgesehen von dem Ausnahmefall des Notstandes - nicht berührt werden. Wie in den Artikeln 9 Abs. 2, 18 und 21 GG manifestiert sich in Art. 79 Abs. 3 GG die "streitbare Demokratie". Auch diese Vorschrift ist - worauf Dürig in seinem Gutachten mit Recht hinweist - eine Norm des "Verfassungsschutzes". Es ist ein Widerspruch in sich selbst, wenn man zum Schutz der Verfassung unveräußerliche Grundsätze der Verfassung preisgibt.
153
Der Spielraum des Gesetzgebers zur Regelung der Materie ist demzufolge insoweit begrenzt, als er den individuellen Rechtsschutz nicht ausschließen kann. Den besonderen Verhältnissen, unter denen sich angeblich die Tätigkeit der Geheimdienste abspielt, könnte durch besondere Vorkehrungen Rechnung getragen werden, etwa durch die Schaffung besonderer - von der Exekutive getrennter - Rechtsschutzorgane, also besonderer Gerichte, deren Verfahren trotz der unverzichtbaren Beteiligung des Betroffenen auf die Notwendigkeit der Geheimhaltung abzustellen wäre. Ob eine solche Regelung überhaupt eine Verfassungsänderung erfordert, kann dahingestellt bleiben.
154
Die Verfassungsänderung ist "im Hinblick auf die zwangsläufig ziemlich weite Formulierung der Zwecke, die eine nicht anfechtbare Überwachung der Betroffenen rechtfertigen sollten" (vgl. die zu 1 b zitierte Begründung des letzten Regierungsentwurfs), um so bedenklicher, als der darin verwirklichte Gedanke im Wege der Verfassungsänderung auch in andere Bereiche übertragen werden kann. So könnte in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG der einfache Gesetzgeber ermächtigt werden, in Abänderung des § 136 a StPO sog. "verschärfte" Vernehmungen zuzulassen, wenn dies dem Schutz der Verfassung oder des Bestandes des Staates dienlich wäre. So könnte Art. 13 GG dahin erweitert werden, daß unter bestimmten Voraussetzungen Haussuchungen ohne Zuziehung des Wohnungsinhabers und dritter Personen vorgenommen und dabei auch Geheimmikrofone unter Ausschluß des Rechtsweges angebracht werden dürften. Schließlich könnte man sogar daran denken, Art. 104 GG dahin einzuschränken, daß unter gewissen Voraussetzungen an die Stelle der richterlichen Anordnung und Kontrolle eine Kontrolle durch parlamentarische Gremien tritt. Die Gefahr einer solchen Entwicklung mag, in Anbetracht der Erfahrungen seit 1949, fernliegen. Man mag davon ausgehen, daß in einer freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie alle Normen "korrekt und fair" angewendet und die Geheimdienste entsprechend kontrolliert werden. Ob dies aber für alle Zukunft gesichert ist, und ob der mit der Verfassungsänderung vollzogene erste Schritt auf dem bequemen Weg der Lockerung der bestehenden Bindungen nicht Folgen nach sich zieht, vermag niemand vorauszusehen. Deshalb sind wir der Auffassung, daß die Sperrvorschrift des Art. 79 Abs. 3 GG - zwar nicht extensiv, aber - streng und unnachgiebig ausgelegt und angewandt werden sollte. Sie ist nicht zuletzt dazu bestimmt, schon den Anfängen zu wehren.
155
4. Angesichts der überragenden Bedeutung der vorstehend erörterten Frage sehen wir davon ab, noch auf das Gesetz zu Art. 10 Grundgesetz einzugehen. Den Ausführungen unter D 3 c des Urteils stimmen wir zu.
156
Geller, Dr. v.Schlabrendorff, Dr. Rupp
MARS
 
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Re: BVerfG-Urteile

Beitragvon Gedankenpollizei » Fr 6. Sep 2013, 20:42

BVerfG- Beschluss v. 26.08.2013 2 - BvR 371/12





Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde


des M...,

- Bevollmächtigte:
Rechtsanwälte Dr. Hiddemann,
Dr. Kleine-Cosack & Koll.,
Maria-Theresia-Straße 2, 79102 Freiburg -

gegen a) den Beschluss des Oberlandesgerichts Bamberg vom 9. Dezember 2011 - 1 Ws 337/11 -,
b) den Beschluss des Oberlandesgerichts Bamberg vom 26. August 2011 - 1 Ws 337/11 -,
c) den Beschluss des Landgerichts Bayreuth vom 9. Juni 2011 - StVK 551/09 -


hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch

den Richter Gerhardt,
die Richterin Hermanns
und den Richter Müller


am 26. August 2013 einstimmig beschlossen:


Der Beschluss des Landgerichts Bayreuth vom 9. Juni 2011 - StVK 559/11 - und der Beschluss des Oberlandesgerichts Bamberg vom 26. August 2011 - 1 Ws 337/11 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes.

Der Beschluss des Oberlandesgerichts Bamberg vom 26. August 2011 - 1 Ws 337/11 - wird aufgehoben. Damit ist der Beschluss des Oberlandesgerichts Bamberg vom 9. Dezember 2011 - 1 Ws 337/11 - gegenstandslos. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Oberlandesgericht Bamberg zurückverwiesen.

Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.

Gründe:
A.
1

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Anordnung der Fortdauer der Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus.
I.
2

1. a) Mit Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 8. August 2006 wurde der Beschwerdeführer von den Vorwürfen der gefährlichen Körperverletzung, der Freiheitsberaubung sowie der Sachbeschädigung freigesprochen. Zugleich wurde die Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB angeordnet.
3

Das Landgericht sah folgende Sachverhalte als erwiesen an:
4

aa) Am 12. August 2001 habe der Beschwerdeführer seine damalige Ehefrau in der gemeinsamen Wohnung grundlos mindestens 20 Mal mit den Fäusten auf den gesamten Körper geschlagen. Außerdem habe er sie derart kräftig in den Arm gebissen, dass von der blutenden Wunde eine sichtbare Narbe zurückgeblieben sei, und bis zur Bewusstlosigkeit gewürgt. Als sie wehrlos auf dem Boden gelegen habe, habe er ihr mindestens dreimal mit den Füßen, an denen er kein festes Schuhwerk, sondern Hausschuhe oder Mokassins getragen habe, gegen die untere Körperhälfte getreten.
5

bb) Nachdem die Ehefrau des Beschwerdeführers im Mai 2002 aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen gewesen sei, sei sie am 31. Mai 2002 in Begleitung einer Freundin, die vor der Haustür gewartet habe, zu der Wohnung zurückgekehrt, um einige persönliche Sachen zu holen. Der dort anwesende Beschwerdeführer habe sich sofort aggressiv verhalten, indem er sie auf ein Bett geworfen und dort festgehalten habe. Sodann habe er sie für etwa eineinhalb Stunden daran gehindert, die Wohnung wieder zu verlassen. Erst als die Freundin an der Haustür geklingelt habe, sei der Ehefrau des Beschwerdeführers die Flucht gelungen.
6

cc) In der Zeit vom 31. Dezember 2004 bis 1. Februar 2005 habe der Beschwerdeführer mehrere Kraftfahrzeuge verschiedener Personen beschädigt, die in irgendeiner Weise mit seiner damals bereits von ihm geschiedenen Ehefrau befreundet oder mit dem Scheidungs-, dem Straf- oder Vollstreckungsverfahren gegen den Beschwerdeführer befasst gewesen seien. Er habe Reifen zerstochen oder Scheiben zerkratzt. Hierbei habe er dafür gesorgt, dass die Geschädigten dadurch in gefährliche Situationen geraten seien, dass sie die Schäden an den Reifen aufgrund des langsamen Entweichens der Luft nicht sofort, sondern erst nach einiger Fahrtzeit bemerkt hätten.
7

Im Rahmen der Urteilsgründe führte das Landgericht Nürnberg-Fürth aus, der Beschwerdeführer habe zwar den objektiven Tatbestand der angeklagten Straftatbestände erfüllt. Es könne aber nicht ausgeschlossen werden, dass er zu den Tatzeitpunkten schuldunfähig im Sinne des § 20 StGB gewesen sei. Wie sich aus dem eingeholten Sachverständigengutachten ergebe, leide der Beschwerdeführer an einer paranoiden Wahnsymptomatik, die sein Denken und Handeln zunehmend bestimme. Auch in der Hauptverhandlung habe sich die wahnhafte Gedankenwelt des Beschwerdeführers vor allem in Bezug auf den „Schwarzgeldskandal“ der HypoVereinsbank bestätigt. Unabhängig davon, ob es Schwarzgeldverschiebungen gegeben habe, sei es wahnhaft, dass der Beschwerdeführer fast alle Personen, mit denen er zu tun habe, mit diesem Skandal in Verbindung bringe und alle erdenklichen Beschuldigungen gegen diese Personen äußere.
8

Da von dem Beschwerdeführer weitere rechtswidrige Taten zu erwarten seien, sei seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB geboten. Nicht nur die Taten zum Nachteil der geschiedenen Ehefrau des Beschwerdeführers stellten erhebliche rechtswidrige Taten dar, sondern auch die Sachbeschädigungen, da durch die Tatausführung eine konkrete Gefährdung des jeweiligen Fahrzeugnutzers hervorgerufen worden sei. Der Beschwerdeführer sei für die Allgemeinheit gefährlich, da er immer mehr Personen, die in keiner persönlichen Beziehung zu ihm stünden, in seine (Wahn-)Vorstellungen einbeziehe.
9

b) Nach vorangegangener vorläufiger Unterbringung gemäß § 126a StPO seit dem 27. Februar 2006 wurde die Unterbringung des Beschwerdeführers ab dem 13. Februar 2007 - zuletzt im Bezirkskrankenhaus Bayreuth - vollzogen.
10

2. Mit angegriffenem Beschluss vom 9. Juni 2011 ordnete das Landgericht Bayreuth die Fortdauer der Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus an, da nicht zu erwarten sei, dass dieser außerhalb des Maßregelvollzugs keine rechtswidrigen Taten mehr begehen werde. Den Antrag auf Einholung eines „Obergutachtens“ lehnte das Landgericht ab.
11

Der Sachverständige Prof. Dr. Pfäfflin komme im Rahmen des eingeholten externen Sachverständigengutachtens vom 12. Februar 2011 zu dem Ergebnis, dass die Einweisungsdiagnose einer wahnhaften Störung aktuell fortbestehe. Der Sachverständige Prof. Dr. Pfäfflin habe das Ergebnis seines Gutachtens im Rahmen einer mehrstündigen mündlichen Anhörung am 9. Mai 2011 überzeugend erläutert und ergänzt. Die Gedanken des Beschwerdeführers kreisten um einen „fernen Punkt von Unrecht“, das sich in der Welt ereigne. Dieser Gedanke stelle den Kristallationspunkt der wahnhaften Störung dar. Die Gedanken des Beschwerdeführers würden sich dahingehend ausweiten, dass er gefoltert werde, dass sich alles gegen ihn verschworen habe und er sich in vielfältiger Weise verfolgt fühle. Unter Berücksichtigung des Umstandes, dass die Anlasstaten losgelöst von der sonstigen Persönlichkeit des Beschwerdeführers begangen worden seien und dass andererseits eine therapeutische Aufarbeitung der Taten bislang nicht stattgefunden habe, halte der Sachverständige die Wahrscheinlichkeit künftiger - den Anlasstaten vergleichbarer - Taten, auch gegenüber bis dahin nicht beteiligten Personen, für sehr hoch. Dieser Einschätzung schließe sich die Strafvollstreckungskammer an.
12

Die behandelnde Klinik, das Bezirkskrankenhaus Bayreuth, habe sich in ihrer aktuellen Stellungnahme vom 20. April 2011 der Einschätzung des Sachverständigen angeschlossen und mitgeteilt, dass eine therapeutische Aufarbeitung nach wie vor nicht stattgefunden habe. Es sei nicht zu einer Veränderung des Krankheitsbildes bei dem Beschwerdeführer gekommen und es hätten auch keine Fortschritte in Richtung eines Einstiegs in eine adäquate psychiatrische Behandlung erzielt werden können.
13

Hinsichtlich der Diagnose einer wahnhaften Störung sei festzustellen, dass diese durchgehend in den Gutachten der Sachverständigen Dr. Leipziger (2005), Prof. Dr. Kröber (2008) und Prof. Dr. Pfäfflin (2011) wie auch durch das behandelnde Bezirkskrankenhaus Bayreuth gestellt worden sei. Die Gutachter seien dem Landgericht teilweise seit Jahren als kompetent, gewissenhaft und zuverlässig bekannt, so dass an deren Sachkunde keine Zweifel bestünden.
14

Ein durch den Beschwerdeführer über seinen Verteidiger vorgelegtes Privatgutachten des Gutachters Dr. Weinberger vom 29. April 2011 führe zu keiner anderen Bewertung der Sach- und Rechtslage. Das Gutachten lasse nahezu durchgängig die gebotene objektive Distanz zu Person und Schicksal des Beschwerdeführers vermissen. Es sei auch nicht geeignet, Zweifel an den Einschätzungen des Sachverständigen Prof. Dr. Pfäfflin zu wecken mit der Folge, dass es auch der Einholung eines „Obergutachtens“ nicht bedurft habe.
15

Der weitere Vollzug der Maßregel sei im Hinblick auf die Anlasstat der gefährlichen Körperverletzung (Würgen bis zur Bewusstlosigkeit) auch verhältnismäßig.
16

3. Die gegen diesen Beschluss gerichtete sofortige Beschwerde des Beschwerdeführers verwarf das Oberlandesgericht Bamberg mit ebenfalls angegriffenem Beschluss vom 26. August 2011 als unbegründet.
17

a) Das Landgericht Bayreuth habe zu Recht die Fortdauer der Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet, da zum jetzigen Zeitpunkt nicht davon ausgegangen werden könne, dass dieser bei einer Aussetzung der Unterbringung zur Bewährung keine rechtswidrigen Taten mehr begehen werde.
18

Der Sachverständige Prof. Dr. Pfäfflin stelle in seinem überzeugenden Gutachten ausführlich begründet dar, dass der Beschwerdeführer bei Fortbestehen der Einweisungsdiagnose einer wahnhaften Störung keinen Zugang zu seiner eigenen Aggressivität finde und daher gefährdet sei, erneut vergleichbar gefährliche Handlungen vorzunehmen.
19

Diesen Ausführungen schließe sich die ebenfalls überzeugende, ausführliche Stellungnahme des behandelnden Bezirkskrankenhauses vom 20. April 2011 an. Der Beschwerdeführer sehe sich nach wie vor als Opfer und halte an seinen „Verschwörungstheorien“ fest. Es gelinge nicht, mit dem Beschwerdeführer in einen konstruktiven Dialog über therapeutische Zielsetzungen des Aufenthalts zu treten. Er nehme nicht am therapeutischen Angebot teil und zeige sich in sozialen Kontakten kaum kompromissfähig und provozierend. Eine Deliktsaufarbeitung sei nicht möglich, da der Beschwerdeführer nach wie vor die Begehung der dem Ausgangsurteil zugrundeliegenden Straftaten bestreite. Einem medikamentösen Behandlungsversuch stehe der Beschwerdeführer, der sich psychisch für völlig gesund halte, rigoros ablehnend gegenüber.
20

Unter Berücksichtigung all dieser Umstände sei das Landgericht Bayreuth zutreffend zu dem Ergebnis gekommen, dass von dem Beschwerdeführer weitere, den Anlasstaten vergleichbare Taten zu erwarten seien, wobei die insofern bestehende Gefahr - entsprechend den Ausführungen des beauftragten Sachverständigen - als sehr hoch zu beurteilen sei.
21

b) Im Hinblick darauf, dass unter den Anlasstaten auch eine gefährliche Körperverletzung zum Nachteil der früheren Ehefrau des Beschwerdeführers zu finden sei, die mit erheblicher Aggressivität und Brutalität begangen worden sei, und ähnliche Taten erneut drohten, sei der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auch unter Berücksichtigung der bisherigen Dauer der Unterbringung weiter gewahrt. Insbesondere derartige Körperverletzungshandlungen seien Taten, die zu einer massiven Beeinträchtigung eines hochwertigen Rechtsgutes, nämlich der körperlichen Unversehrtheit, führten und gleichzeitig ein erhebliches Gefahrenpotential für das Leben des Tatopfers beinhalteten. Selbst wenn sich die Aggressivität des Beschwerdeführers nur gegen einzelne Personen richte und nur insofern Straftaten drohten, sei gleichwohl eine Gefährdung der Allgemeinheit anzunehmen, weil auch diese einzelnen Personen Teile der Allgemeinheit seien und in vollem Umfang geschützt werden müssten.
22

4. Die gegen diesen Beschluss gerichtete Anhörungsrüge des Beschwerdeführers wies das Oberlandesgericht Bamberg mit ebenfalls angegriffenem Beschluss vom 9. Dezember 2011 zurück. Eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör sei nicht erfolgt. Eine Auseinandersetzung mit dem Vorbringen des Beschwerdeführers habe stattgefunden. Soweit dieses im Rahmen des angegriffenen Beschlusses nicht in Bezug genommen worden sei, sei das Vorbringen nicht maßgebend für die Entscheidung gewesen.
23

5. Mit Beschluss vom 6. August 2013 hat das Oberlandesgericht Nürnberg die Wiederaufnahme des Strafverfahrens gegen den Beschwerdeführer angeordnet, da das die Verletzungen seiner Ehefrau ausweisende ärztliche Attest vom 3. Juni 2002 als „unechte Urkunde“ im Sinne des § 359 Nr. 1 StPO anzusehen sei. Daraufhin wurde der Beschwerdeführer aus dem Vollzug der Unterbringung entlassen.
II.
24

Der Beschwerdeführer sieht sich durch die angegriffenen Beschlüsse in seinen Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG und Art. 103 Abs. 1 GG verletzt.
25

1. Ein Verstoß gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG liege vor, da die Voraussetzungen für die Anordnung der Fortdauer der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nicht mehr vorlägen.
26

a) Der Beschwerdeführer leide nicht an einem Wahn, wie sich eindeutig aus dem durch den Beschwerdeführer vorgelegten Gutachten des Dr. Weinberger vom 29. April 2011 ergebe. Ein Wahn könne nicht angenommen werden, solange die Aussagen des Beschwerdeführers nicht auf deren Wahrheitsgehalt hin überprüft worden seien. Eine solche Überprüfung habe aber nicht stattgefunden.
27

b) Zudem könnten auch die Angaben des Sachverständigen Prof. Dr. Pfäfflin zu der Gefährlichkeitsprognose nicht die Anordnung der Fortdauer der Unterbringung rechtfertigen. Dieser habe in seinem schriftlichen Gutachten lediglich ausgeführt, dass die Begehung weiterer Straftaten entsprechend den Anlasstaten „möglich erscheine“. Erst im Anhörungstermin habe er diese Einschätzung abgeändert und ausgeführt, dass er die Wahrscheinlichkeit der Begehung vergleichbarer Taten für „sehr hoch“ halte. Dieser abrupte Wechsel der Einschätzung ohne substantiierte Begründung führe dazu, dass das Gutachten nicht als Grundlage der Fortdauerentscheidung herangezogen werden könne.
28

c) Schließlich liege ein Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vor. Das Oberlandesgericht Bamberg verkenne das Gebot der Verhältnismäßigkeit in mehrfacher Hinsicht. Der Beschwerdeführer habe bis zu seinem der Anlassverurteilung zugrundeliegenden Fehlverhalten ein tadelloses Leben geführt. Die Körperverletzungshandlung zum Nachteil seiner geschiedenen Ehefrau sei eine Beziehungstat gewesen, die sich im Jahr 2001 ereignet habe und damit bereits zwölf Jahre zurückliege. Mit einer Wiederholung sei nicht zu rechnen, zumal die Ehe zwischenzeitlich geschieden sei. Zudem könne mit Auflagen sichergestellt werden, dass der Beschwerdeführer sich seiner Exfrau nicht mehr annähere. Allein die Sachbeschädigungen rechtfertigten nicht die Anordnung der Fortdauer der Unterbringung, da diese in keinerlei Relation zu der Schwere des mit der weiteren Unterbringung verbundenen Eingriffs in die Freiheit des Beschwerdeführers stünden.
29

2. Darüber hinaus liege ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG vor, da eine zureichende Auseinandersetzung mit dem durch den Beschwerdeführer vorgelegten Gutachten des Dr. Weinberger vom 29. April 2011 sowie einem bereits älteren Gutachten aus dem Jahr 2007 nicht erfolgt sei. Zudem hätten sich weder das Landgericht Bayreuth noch das Oberlandesgericht Bamberg mit den Rügen des Beschwerdeführers im Hinblick auf das eingeholte Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. Pfäfflin hinreichend auseinandergesetzt.
III.
30

1. a) Das Bayerische Staatsministerium der Justiz und für Verbraucherschutz hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet. Weder das Landgericht Bayreuth noch das Oberlandesgericht Bamberg hätten im Rahmen der angegriffenen Beschlüsse Bedeutung und Tragweite des Freiheitsgrundrechts des Beschwerdeführers verkannt. Die Gerichte hätten - nach Einholung eines externen Sachverständigengutachtens - ausgeführt, dass derzeit die Wahrscheinlichkeit, dass es zu vergleichbaren Taten wie den Anlasstaten, insbesondere massiven Körperverletzungshandlungen, komme, sehr hoch sei. Es sei daher sowohl die Art der zu erwartenden Straftaten als auch der Grad der Wahrscheinlichkeit ihres erneuten Eintritts konkretisiert worden. Darüber hinaus hätten sich die Gerichte auch mit der gestellten Diagnose auseinandergesetzt und Ausführungen zur Verhältnismäßigkeit der weiteren Unterbringung getätigt. Das eingeholte externe Sachverständigengutachten entspreche den Anforderungen, die an derartige Gutachten zu stellen seien, und die Gerichte seien ihrer richterlichen Kontrollpflicht nachgekommen, indem sie die maßgeblichen Wertungen des Gutachtens aufgrund eigener Wertungen hinterfragt hätten. Obwohl die Unterbringung des Beschwerdeführers im Jahr 2011 bereits fünf Jahre angedauert habe, könne ein Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht festgestellt werden, da die weiterhin zu erwartenden gefährlichen Körperverletzungshandlungen zu einer massiven Beeinträchtigung eines hochwertigen Rechtsgutes, nämlich der körperlichen Unversehrtheit, führten und der Beschwerdeführer nach wie vor keinerlei Zugang zu seiner eigenen Aggressivität gefunden habe.
31

b) Der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof hält die Verfassungsbeschwerde für aussichtsreich. Die Begründung der Anordnung der Fortdauer der Unterbringung durch den angegriffenen Beschluss des Oberlandesgerichts Bamberg vom 26. August 2011 werde den sich aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG ergebenden verfassungsrechtlichen Darlegungs- und Begründungsanforderungen nicht gerecht.
32

Es fehle an einer hinreichenden Darlegung der vom Beschwerdeführer ausgehenden Gefahr. Das Oberlandesgericht Bamberg beschränke sich in der Begründung im Wesentlichen auf die bloße Mitteilung, dass vom Beschwerdeführer mit hoher Wahrscheinlichkeit weitere erhebliche Taten drohten. Weder die pauschal in Bezug genommene Stellungnahme des Bezirkskrankenhauses Bayreuth noch das Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. Pfäfflin seien jedoch für sich genommen oder in der Gesamtschau geeignet, die angenommene Gefahr der Begehung neuer erheblicher Straftaten zu qualifizieren oder zu quantifizieren. Aufgrund der unterschiedlichen Angaben des Sachverständigen in seinem schriftlichen Gutachten und in der mündlichen Anhörung hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit weiterer erheblicher Straftaten habe es einer detaillierten Auseinandersetzung mit dem Gutachten bedurft, die nicht erfolgt sei. Mit den in dem Gutachten erwähnten Anhaltspunkten, die gegen eine aktuelle erhebliche Gefährlichkeit des Beschwerdeführers sprächen, setze sich das Oberlandesgericht nicht auseinander. Schließlich fehle es auch an auf den konkreten Fall bezogenen Darlegungen, welche Art rechtswidriger Taten von dem Beschwerdeführer drohten, wie hoch das Maß der Gefährdung einzuschätzen sei (Häufigkeit, Rückfallfrequenz) und welches Gewicht den bedrohten Rechtsgütern zukomme.
33

Überdies genüge der Beschluss des Oberlandesgerichts nicht den Anforderungen an die Prüfung der Verhältnismäßigkeit. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz habe nähere Erörterungen zur bisherigen Dauer der Freiheitsentziehung und zum zunehmenden Gewicht des Freiheitsanspruchs des Beschwerdeführers ebenso nahegelegt wie Erwägungen dazu, ob der Schutz der Allgemeinheit durch weniger belastende Maßnahmen erreicht werden könne. Sämtliche Gesichtspunkte seien jedoch unerwähnt geblieben.
34

2. Dem Bundesverfassungsgericht haben die Akten 802 VRs 4743/03 der Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth vorgelegen.
B.
35

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt. Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung nach § 93c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2 BVerfGG sind erfüllt. Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen - insbesondere die sich aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ergebenden Anforderungen an die Anordnung der Fortdauer langandauernder Unterbringungen in einem psychiatrischen Krankenhaus - bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG; vgl. BVerfGE 70, 297) und die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist auch zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).
I.
36

Der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde steht nicht entgegen, dass der Beschwerdeführer aufgrund des Wiederaufnahmebeschlusses des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 6. August 2013 zwischenzeitlich aus dem Maßregelvollzug entlassen wurde. Denn die angegriffenen Entscheidungen waren Grundlage eines tiefgreifenden Eingriffs in das Grundrecht des Beschwerdeführers auf Freiheit der Person aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG (vgl. BVerfGE 128, 326 <389>). Der Beschwerdeführer hat daher ein fortbestehendes schutzwürdiges Interesse an einer nachträglichen verfassungsrechtlichen Überprüfung und gegebenenfalls einer hierauf bezogenen Feststellung der Verfassungswidrigkeit dieses Grundrechtseingriffs durch das Bundesverfassungsgericht (vgl. BVerfGE 9, 89 <92 ff.>; 32, 87 <92>; 53, 152 <157 f.>; 91, 125 <133>; 104, 220 <234 f.>).
II.
37

Die angegriffenen Beschlüsse des Landgerichts Bayreuth vom 9. Juni 2011 und des Oberlandesgerichts Bamberg vom 26. August 2011 verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG, weil sie den verfassungsrechtlichen Anforderungen, die sich aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz für die Anordnung der Fortdauer langandauernder Unterbringungen in einem psychiatrischen Krankenhaus ergeben, nicht genügen.
38

1. a) Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistet jedermann „die Freiheit der Person“ und nimmt einen hohen Rang unter den Grundrechten ein. Das kommt darin zum Ausdruck, dass Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG die Freiheit der Person als „unverletzlich“ bezeichnet, Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG ihre Beschränkung nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes zulässt und Art. 104 Abs. 2 bis 4 GG besondere Verfahrensgarantien für ihre Beschränkung statuiert (vgl. BVerfGE 35, 185 <190>; 109, 133 <157>; 128, 326 <372>).
39

Die Freiheit der Person darf nur aus besonders gewichtigen Gründen und unter strengen formellen Gewährleistungen eingeschränkt werden. Zu diesen wichtigen Gründen gehören in erster Linie solche des Strafrechts und des Strafverfahrensrechts. Eingriffe in die persönliche Freiheit auf diesem Gebiet dienen vor allem dem Schutz der Allgemeinheit (vgl. BVerfGE 22, 180 <219>; 45, 187 <223>; 58, 208 <224 f.>); zugleich haben die gesetzlichen Eingriffstatbestände freiheitsgewährleistende Funktion, da sie die Grenzen zulässiger Einschränkung der Freiheit der Person bestimmen. Das gilt auch für die Regelung der Unterbringung eines schuldunfähigen oder erheblich vermindert schuldfähigen Straftäters, von dem infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind, in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB (vgl. BVerfGE 70, 297 <307>).
40

b) Die freiheitssichernde Funktion des Art. 2 Abs. 2 GG hat auch verfahrensrechtliche Bedeutung. Unverzichtbare Voraussetzung eines rechtsstaatlichen Verfahrens ist, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen (vgl. BVerfGE 58, 208 <222>) und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie entspricht (vgl. BVerfGE 58, 208 <230>).
41

Erst eine hinreichende Tatsachengrundlage setzt den Richter in den Stand, darüber zu entscheiden, ob die Vollstreckung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus fortzusetzen, zur Bewährung auszusetzen (§ 67d Abs. 2 StGB) oder für erledigt zu erklären (§ 67d Abs. 6 StGB) ist. Nur auf dieser Grundlage kann er die von ihm geforderte Prognose künftiger Straffälligkeit stellen sowie die Verantwortbarkeit einer Erprobung des Untergebrachten in Freiheit und die Verhältnismäßigkeit einer weiteren Unterbringung prüfen.
42

Im Rahmen des „Gebotes der bestmöglichen Sachaufklärung“ besteht bei Prognoseentscheidungen, bei denen geistige und seelische Anomalien in Frage stehen, in der Regel die Pflicht, einen erfahrenen Sachverständigen hinzuzuziehen. Dies gilt in Sonderheit dort, wo die Gefährlichkeit eines in einem psychiatrischen Krankenhaus Untergebrachten zu beurteilen ist (vgl. BVerfGE 70, 297 <309>). Dabei hat der Strafvollstreckungsrichter die Aussagen oder Gutachten des Sachverständigen selbstständig zu beurteilen. Er darf die Prognoseentscheidung nicht dem Sachverständigen überlassen, sondern hat diese selbst zu treffen (vgl. BVerfGE 58, 208 <223>; 70, 297 <310>).
43

c) Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beherrscht Anordnung und Fortdauer der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus. Das Spannungsverhältnis zwischen dem Freiheitsanspruch des betroffenen Einzelnen und dem Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit vor zu erwartenden erheblichen Rechtsgutverletzungen verlangt nach gerechtem und vertretbarem Ausgleich. Dieser lässt sich für die Entscheidung über die Aussetzung der Maßregelvollstreckung nur dadurch bewirken, dass Sicherungsbelange und der Freiheitsanspruch des Untergebrachten als wechselseitiges Korrektiv gesehen und im Einzelfall gegeneinander abgewogen werden (vgl. BVerfGE 70, 297 <311>). Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist in die Prüfung der Aussetzungsreife der Maßregel nach § 67d Abs. 2 StGB einzubeziehen (integrative Betrachtung). Die darauf aufbauende Gesamtwürdigung hat die von dem Täter ausgehenden Gefahren zur Schwere des mit der Maßregel verbundenen Eingriffs ins Verhältnis zu setzen (vgl. BVerfGE 70, 297 <312 f.>).
44

Abzustellen ist auf die Gefahr solcher rechtswidriger Taten, die ihrer Art und ihrem Gewicht nach ausreichen, auch die Anordnung der Maßregel zu tragen; diese müssen mithin „erheblich“ im Sinne des § 63 StGB sein.
45

Die Beurteilung hat sich darauf zu erstrecken, ob und welche Art rechtswidriger Taten von dem Untergebrachten drohen, wie ausgeprägt das Maß der Gefährdung ist (Häufigkeit und Rückfallfrequenz) und welches Gewicht den bedrohten Rechtsgütern zukommt. Dabei ist die von dem Untergebrachten ausgehende Gefahr hinreichend zu konkretisieren; die Art und der Grad der Wahrscheinlichkeit zukünftiger rechtswidriger Taten sind zu bestimmen; deren bloße Möglichkeit vermag die weitere Maßregelvollstreckung nicht zu rechtfertigen. Bei allem ist auf die Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalles einzugehen. Zu erwägen sind das frühere Verhalten des Untergebrachten und von ihm bislang begangene Taten. Abzuheben ist aber auch auf die seit der Anordnung der Maßregel veränderten Umstände, die für die künftige Entwicklung bestimmend sind (vgl. BVerfGE 70, 297 <314 f.>; BVerfGK 16, 501 <506>).
46

Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebietet es zudem, die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB nur so lange zu vollstrecken, wie der Zweck der Maßregel dies unabweisbar erfordert und zu seiner Erreichung den Untergebrachten weniger belastende Maßnahmen nicht genügen. Bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit kann es daher auf die voraussichtlichen Wirkungen der im Falle der Aussetzung der Maßregelvollstreckung zur Bewährung kraft Gesetzes eintretenden Führungsaufsicht (§ 67d Abs. 2 Satz 3 StGB) und der damit verbindbaren weiteren Maßnahmen der Aufsicht und Hilfe (vgl. §§ 68a, 68b StGB), insbesondere also die Tätigkeit eines Bewährungshelfers und die Möglichkeit bestimmter Weisungen, ankommen (vgl. BVerfGE 70, 297 <313 f.>).
47

Da es sich bei der Gesamtwürdigung der für die Frage der Aussetzung (§ 67d Abs. 2 StGB) maßgeblichen Umstände um eine wertende Entscheidung unter Prognosegesichtspunkten handelt, kann das Bundesverfassungsgericht sie nicht in allen Einzelheiten, sondern nur daraufhin nachprüfen, ob eine Abwägung überhaupt stattgefunden hat und ob die dabei zugrundegelegten Bewertungsmaßstäbe der Verfassung entsprechen, insbesondere Inhalt und Tragweite des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nicht verkennen. Je länger die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus andauert, umso strenger sind die Voraussetzungen für die Verhältnismäßigkeit des Freiheitsentzuges. Der im Einzelfall unter Umständen nachhaltige Einfluss des gewichtiger werdenden Freiheitsanspruchs wird jedoch dort an Grenzen stoßen, wo es im Blick auf die Art der von dem Untergebrachten drohenden Taten, deren Bedeutung und deren Wahrscheinlichkeit vor dem staatlichen Schutzauftrag für die Rechtsgüter des Einzelnen und der Allgemeinheit unvertretbar erscheint, den Untergebrachten in die Freiheit zu entlassen (vgl. BVerfGE 70, 297 <315>).
48

d) Das zunehmende Gewicht des Freiheitsanspruchs bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung wirkt sich bei langdauernden Unterbringungen in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) auch auf die an die Begründung einer Entscheidung nach § 67d Abs. 2 StGB zu stellenden Anforderungen aus. In diesen Fällen engt sich der Bewertungsrahmen des Strafvollstreckungsrichters ein; mit dem immer stärker werdenden Freiheitseingriff wächst die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte. Dem lässt sich dadurch Rechnung tragen, dass der Richter seine Würdigung eingehender abfasst, sich also nicht etwa mit knappen, allgemeinen Wendungen begnügt, sondern seine Bewertung anhand der dargestellten einfachrechtlichen Kriterien substantiiert offenlegt. Erst dadurch wird es möglich, im Rahmen verfassungsgerichtlicher Kontrolle nachzuvollziehen, ob die von dem Täter ausgehende Gefahr seinen Freiheitsanspruch gleichsam aufzuwiegen vermag. Zu verlangen ist mithin vor allem die Konkretisierung der Wahrscheinlichkeit weiterer rechtswidriger Taten, die von dem Untergebrachten drohen, und deren Deliktstypus. Bleibt das Bemühen des Richters um Zuverlässigkeit der Prognose trotz Ausschöpfung der zu Gebote stehenden Erkenntnismittel mit großen Unsicherheiten behaftet, so hat auch dies Eingang in seine Bewertung zu finden (vgl. BVerfGE 70, 297 <315 f.>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 4. Oktober 2012 - 2 BvR 442/12 -, NStZ-RR 2013, S. 72).
49

Genügen die Gründe einer Entscheidung über die Fortdauer einer bereits außergewöhnlich lange währenden Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus diesen Maßstäben nicht, so führt dies dazu, dass die Freiheit der Person des Untergebrachten auf solcher Grundlage nicht rechtmäßig eingeschränkt werden kann; sein Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG ist verletzt, weil es an einer verfassungsrechtlich tragfähigen Grundlage für die Unterbringung fehlt (vgl. BVerfGE 70, 297 <316 f.>).
50

2. Mit diesen verfassungsrechtlichen Maßstäben sind die angegriffenen Beschlüsse des Landgerichts Bayreuth vom 9. Juni 2011 sowie des Oberlandesgerichts Bamberg vom 26. August 2011 nicht zu vereinbaren. Die in den Beschlüssen aufgeführten Gründe genügen nicht, um die Anordnung der Fortdauer der Unterbringung des Beschwerdeführers zu rechtfertigen. Es fehlt bereits an der im Rahmen des verfassungsrechtlich Gebotenen ausreichenden Konkretisierung der vom Beschwerdeführer ausgehenden Gefahr künftiger rechtswidriger Taten (a). Den Beschwerdeführer entlastende Umstände finden im Rahmen der notwendigen Prognoseentscheidung keine erkennbare Berücksichtigung (b). Daneben wird in den angegriffenen Beschlüssen nicht ausreichend dargelegt, dass die von dem Beschwerdeführer ausgehende Gefahr das angesichts der Dauer der Unterbringung zunehmende Gewicht seines Freiheitsanspruchs aufzuwiegen vermag (c). Schließlich fehlt auch eine Befassung mit der Frage, ob dem Sicherungsinteresse der Allgemeinheit nicht auch durch den Beschwerdeführer weniger belastende Maßnahmen Rechnung hätte getragen werden können (d).
51

a) Die angegriffenen Beschlüsse genügen den verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine nachvollziehbare Konkretisierung der vom Beschwerdeführer ausgehenden Gefahr nicht.
52

aa) Das Landgericht beschränkt sich im Rahmen der Gefahrenprognose auf den Hinweis, der Sachverständige habe im Termin zur mündlichen Anhörung - in Übereinstimmung mit den Vorgutachtern - ausgeführt, dass er im derzeitigen Stadium (d.h. ohne therapeutische Bearbeitung der Anlasstaten) die Wahrscheinlichkeit, dass es zu vergleichbaren Taten - auch gegenüber bis dahin nicht beteiligten Personen - kommen könnte, für sehr hoch halte. Daraus ergebe sich, dass im Falle der Entlassung die Begehung neuer rechtswidriger Taten zu erwarten sei.
53

Dem Erfordernis, die Art und den Grad der Wahrscheinlichkeit zukünftiger rechtswidriger Taten des Beschwerdeführers eigenständig zu bestimmen und nachvollziehbar darzulegen, ist damit nicht Rechnung getragen. Das Landgericht setzt sich nicht damit auseinander, dass die Darlegungen des Sachverständigen zur Wahrscheinlichkeit künftiger rechtswidriger Taten im schriftlichen Gutachten vom 12. Februar 2011 und in der mündlichen Anhörung vom 9. Mai 2011 voneinander abweichen. In seinem schriftlichen Gutachten legt der Sachverständige dar, dass sich die Wahrscheinlichkeit neuer Straftaten nicht sicher quantifizieren lasse. Da der Beschwerdeführer keinen Zugang zu seiner eigenen Aggressivität habe, sei er gefährdet, erneut vergleichbare Handlungen vorzunehmen. Es liege die Annahme nahe, dass der Beschwerdeführer „womöglich wieder den im Einweisungsurteil genannten Taten vergleichbare Taten begehen“ werde. Demgegenüber erklärte der Sachverständige in der mündlichen Anhörung, er habe im Gutachten „vielleicht eine etwas zu weiche Formulierung“ gewählt. Berücksichtige man, dass die Anlasstaten losgelöst von der sonstigen Persönlichkeit des Beschwerdeführers begangen worden seien und dass andererseits eine therapeutische Bearbeitung nicht stattgefunden habe, halte er die Wahrscheinlichkeit vergleichbarer Taten für sehr hoch.
54

Vor dem Hintergrund dieser unterschiedlichen Einschätzungen durfte das Landgericht sich nicht auf eine bloße Bezugnahme auf die Ausführungen des Sachverständigen in der mündlichen Anhörung vom 9. Mai 2011 beschränken. Es hätte vielmehr unter Berücksichtigung weiterer Hinweise des Sachverständigen und sonstiger Umstände des vorliegenden Falles (siehe sogleich unten b) und c) diese Einschätzungen gegeneinander abwägen und eine eigenständige Prognoseentscheidung treffen müssen. Im Rahmen einer solchen eigenständigen Bewertung hätte es darlegen müssen, welche Straftaten konkret von dem Beschwerdeführer zu erwarten sind, warum der Grad der Wahrscheinlichkeit derartiger Straftaten sehr hoch ist und auf welche Anknüpfungs- und Befundtatsachen sich diese Prognose gründet. Diesen zur Rechtfertigung des Eingriffs in das Freiheitsrecht des Beschwerdeführers verfassungsrechtlich gebotenen Begründungsnotwendigkeiten trägt der Beschluss des Landgerichts nicht Rechnung.
55

bb) Nichts anderes gilt im Ergebnis für den Beschluss des Oberlandesgerichts vom 26. August 2011. Dieser nimmt auf das schriftliche Sachverständigengutachten Bezug, aus dem sich gerade keine sehr hohe Wahrscheinlichkeit künftiger rechtswidriger Taten ergibt. Soweit das Oberlandesgericht ergänzend auf die Stellungnahme des Bezirkskrankenhauses Bayreuth, in dem der Beschwerdeführer untergebracht war, Bezug nimmt, rechtfertigt dies keine andere Einschätzung, da diese Stellungnahme sich im Wesentlichen auf das Vollzugsverhalten, das als uneinsichtig, kaum kompromissfähig, provozierend und therapieabweisend beschrieben wird, bezieht und daher für die Annahme einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit künftiger erheblicher rechtswidriger Taten des Beschwerdeführers nicht ausreicht. Auch das Oberlandesgericht legt nicht hinreichend dar, welche rechtswidrigen Taten von dem Beschwerdeführer mit welchem Grad an Wahrscheinlichkeit künftig zu erwarten sind und worauf sich diese Prognoseentscheidung neben der - insoweit unzureichenden - Bezugnahme auf das Sachverständigengutachten und die Stellungnahme des psychiatrischen Krankenhauses stützt.
56

b) Daneben bleiben im Rahmen der Gefährlichkeitsprognose zu berücksichtigende Umstände außer Betracht. So wird im Sachverständigengutachten ausgeführt, dass das Verhalten des Beschwerdeführers sich inzwischen deutlich unauffälliger und angepasster darstelle, als dies zur Zeit seiner ersten Unterbringung der Fall gewesen sei. Er äußere an keiner Stelle konkrete Rachegedanken oder
-absichten gegenüber seiner Frau oder anderen Personen, sondern stelle sein Bedürfnis nach Wahrheit und Gerechtigkeit als sein Hauptanliegen ins Zentrum seiner Ausführungen. Dies spreche dafür, dass die Jahre der Unterbringung nicht spurlos an ihm vorübergegangen seien. Gewährte Lockerungen seien ohne Beanstandungen verlaufen. Anhaltende wahnhafte Störungen könnten zwar, müssten aber nicht in (erneute) rechtswidrige gefährliche Handlungen münden. Empirisch abgesicherte Daten zu entsprechenden Rückfallhäufigkeiten lägen nicht vor. Zu diesen Umständen, die bei der Bestimmung des Risikos künftiger rechtswidriger Taten hätten berücksichtigt werden müssen, verhalten sich die angegriffenen Beschlüsse nicht.
57

c) Die Verhältnismäßigkeit der Fortdauer der Unterbringung des Beschwerdeführers wird sowohl vom Landgericht als auch vom Oberlandesgericht ausschließlich mit dem Hinweis auf die dem Beschwerdeführer zur Last gelegten Körperverletzungsdelikte begründet. Das Landgericht verweist darauf, der Beschwerdeführer habe einen anderen Menschen bis zur Bewusstlosigkeit gewürgt. Das Oberlandesgericht stellt darauf ab, dass sich unter den Anlasstaten auch Körperverletzungen zum Nachteil der früheren Ehefrau des Beschwerdeführers befänden, die mit erheblicher Aggressivität und Brutalität begangen worden seien. Die Gerichte setzen sich aber nicht damit auseinander, dass es sich bei den in Bezug genommenen Taten um Beziehungstaten handelt, die der Beschwerdeführer vor rund zehn Jahren begangen haben soll, als er noch verheiratet war und mit seiner Ehefrau zusammenlebte. Unerörtert bleibt, ob und gegebenenfalls wie sich die zwischenzeitliche Scheidung und langjährige Trennung des Beschwerdeführers von seiner früheren Ehefrau auf die von ihm ausgehende Gefahr ausgewirkt hat. Auch insoweit hätte es eigenständiger Darlegung bedurft, ob und in welchem Umfang aktuell die Gefahr besteht, dass der Beschwerdeführer im Sinne des § 63 StGB erhebliche Körperverletzungsdelikte zum Nachteil seiner früheren Ehefrau oder sonstiger Personen begehen werde. Damit fehlt es aber bereits an einer zureichenden Grundlage für die Abwägung zwischen den Sicherungsinteressen der Allgemeinheit und dem Freiheitsanspruch des Beschwerdeführers. Dass vorliegend die von dem Beschwerdeführer ausgehende Gefahr das aufgrund der Dauer der Unterbringung zunehmende Gewicht seines Freiheitsanspruchs aufzuwiegen vermag, kann den angegriffenen Beschlüssen nicht entnommen werden.
58

d) Schließlich verhalten sich die angegriffenen Beschlüsse auch nicht zu der Frage, ob im Falle einer Aussetzung des Maßregelvollzugs zur Bewährung den Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit durch Maßnahmen der kraft Gesetzes eintretenden Führungsaufsicht und der damit verbindbaren weiteren Maßnahmen der Aufsicht und Hilfe (§§ 68a, 68b StGB) hinreichend hätte Rechnung getragen werden können.
59

3. Ob auch in der Annahme des Fortbestehens einer relevanten psychischen Erkrankung des Beschwerdeführers und deren Auswirkungen auf etwaig zu erwartende Straftaten ein Verstoß gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG liegt, kann vor diesem Hintergrund ebenso dahinstehen wie die Beantwortung der Frage, ob die Gerichte den Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt haben. Mit den entsprechenden Rügen verfolgt der Beschwerdeführer kein weitergehendes Anfechtungsziel.
III.
60

1. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Bamberg vom 26. August 2011 ist daher aufzuheben. Die Sache ist an das Oberlandesgericht Bamberg zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG).
61

2. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.

Gerhardt Hermanns Müller
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Beitragvon MARS » Mi 26. Feb 2014, 11:06

BVerfG Beschluss - 2 BvR 2101/09 - 9. November 2010

BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

- 2 BvR 2101/09 -
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde


1. des Herrn Dr. S…,
2. der Frau S…

- Bevollmächtigte:

Rechtsanwalt Dr. Franz Bielefeld,
in Sozietät RP Richter & Partner,
Nymphenburger Straße 3b, 80335 München
- Bevollmächtigter zu Ziffer 1. -,
Rechtsanwalt Kai König,
c/o Nachmann Rechtsanwalts GmbH,
Theatinerstraße 15, 80333 München
- Bevollmächtigter zu Ziffer 2. -


gegen a) den Beschluss des Landgerichts Bochum vom 7. August 2009 - 2 Qs 2/09 -,
b) den Beschluss des Amtsgerichts Bochum vom 8. April 2009 - 64 Gs-35 js 220/07-1491/08 -,
c) den Beschluss des Amtsgerichts Bochum vom 10. April 2008 - 64 Gs 1491/08 -


hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch

die Richterin Osterloh
und die Richter Mellinghoff,
Gerhardt


gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 9. November 2010 einstimmig beschlossen:


Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Gründe:
1

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die Anordnung einer Wohnungsdurchsuchung in einem steuerstrafrechtlichen Ermittlungsverfahren. Die Beschwerdeführer wenden sich dagegen, dass der Anfangsverdacht auf Daten gestützt worden ist, die die Bundesrepublik Deutschland von einer Privatperson aus Liechtenstein erworben hat.
I.
2

Gegen die Beschwerdeführer wird wegen des Verdachts der Einkommensteuerhinterziehung in den Veranlagungszeiträumen 2002 bis 2006 ermittelt.
3

1. Das Amtsgericht Bochum ordnete mit Beschluss vom 10. April 2008 die Durchsuchung der Wohnung der Beschwerdeführer an. Im Rahmen der Ermittlungen gegen einen Liechtensteiner Treuhänder sei bekannt geworden, dass die Beschwerdeführer bei der L. AG in Liechtenstein am 17. Januar 2000 die K. Stiftung und am 14. Juni 2000 die T. S.A. gegründet hätten. Vermögensanlagen über diese Gesellschaften bei der L. AG in Liechtenstein seien den Beschwerdeführern zuzurechnen. Der Beschwerdeführer zu 1. habe zudem ein Konto bei der B. Bank in den Steuererklärungen nicht angegeben. Es seien Kapitalerträge aus den Vermögen der Stiftung und der S.A. in Höhe von etwa 2.000.000 DM nicht erklärt und dadurch voraussichtlich Steuern in den Jahren 2002 bis 2006 zwischen 16.390 € und 24.270 € verkürzt worden.
4

Bei der am 23. September 2008 vollzogenen Durchsuchung wurden ein Umschlag mit Unterlagen der L. AG sichergestellt und fünf Computerdateien ausgedruckt.
5

2. Die Beschwerdeführer legten gegen die Durchsuchungsanordnung Beschwerde ein und beantragten umfassende Akteneinsicht. Sie seien daran interessiert, die Daten einzusehen, die die Grundlage der Durchsuchungsanordnung bildeten.
6

Die Staatsanwaltschaft gewährte Akteneinsicht in die Ermittlungsakte und teilte den Beschwerdeführern mit, dass eine Akteneinsicht in alle Akten über die Gewinnung, den Weg und den Inhalt von Daten der L. AG nicht gewährt werden könne, weil darin Daten einer Vielzahl von Beschuldigten enthalten seien, die durch das Steuergeheimnis geschützt würden. Es könne jedoch mitgeteilt werden, dass es sich um Daten handele, die der Steuerfahndung im Wege der Amtshilfe durch den Bundesnachrichtendienst zur Verfügung gestellt worden seien.
7

Der Beschwerdeführer zu 1. beantragte daraufhin Einsicht in das Sicherstellungsverzeichnis bezüglich des Datenträgers und in Protokolle über die Vernehmung der Person, die die Daten geliefert habe. Auf diesen Antrag teilte die Staatsanwaltschaft mit, dass diese Unterlagen bei den Ermittlungsbehörden nicht vorhanden seien. Den Beschwerdeführern wurde Einsicht in die bei der Staatsanwaltschaft vorhandenen Ermittlungsakten gegeben.
8

3. a) Mit der Beschwerde machten die Beschwerdeführer geltend, die der Durchsuchung zugrundeliegenden Erkenntnisse seien unverwertbar. Die Erhebung der verfahrensgegenständlichen Daten verstoße gegen das Völkerrecht, weil die Bundesrepublik die Daten außerhalb des Europäischen Übereinkommens vom 20. April 1959 über die Rechtshilfe in Strafsachen und des Übereinkommens über Geldwäsche sowie Ermittlung, Beschlagnahme und Einziehung von Erträgen aus Straftaten vom 8. November 1990 erlangt habe. Die Verwendung der Daten verstoße auch gegen innerstaatliches Recht. Die Entgegennahme der Daten durch den Bundesnachrichtendienst sei rechtswidrig und strafbar gewesen. Der Bundesnachrichtendienst sei zur Entgegennahme der Daten nicht ermächtigt gewesen; die Weitergabe an die Staatsanwaltschaft verstoße darüber hinaus gegen das Trennungsgebot. Der Ankauf der Daten sei auch strafbar gewesen, denn hierdurch sei gegen § 17 Abs. 2 des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) verstoßen worden.
9

Aufgrund der zahlreichen Rechtsverstöße seien die von der L. AG erlangten Daten unverwertbar; die Aufnahme und Fortführung des Ermittlungsverfahrens sei bereits deshalb unzulässig, weil die L. AG-Daten die einzigen Erkenntnisquellen seien, auf die sich die Strafverfolgungsbehörden berufen könnten. Wenn sich ein Strafverfahren allein auf rechtswidrig erlangte Beweismittel stütze, werde gegen das in Art. 6 Abs. 1 EMRK garantierte Recht auf ein faires Verfahren verstoßen.
10

b) Die Staatsanwaltschaft beantragte, den Beschwerden nicht abzuhelfen.
11

Der Verwertung der von privaten Personen überlassenen Beweismittel könne ein ausländischer Staat nicht widersprechen; völkerrechtliche Verträge seien insoweit nicht berührt. Aus dem innerstaatlichen Recht lasse sich ebenfalls kein Beweisverwertungsverbot ableiten; insbesondere beruhe die Verschaffung des Datenträgers nicht auf rechtswidrigen Handlungen. Es existiere keine Norm, die den Erwerb von steuerlich und steuerstrafrechtlich relevantem Informationsmaterial gegen Entgelt verbiete. Die Zahlung von Geld für Informationen sei dem Strafverfahren auch nicht fremd (z.B. Auslobung und Belohnung für Zeugen und V-Leute). Die Beschaffung des Datenträgers verstoße auch nicht gegen § 17 UWG.
12

Selbst wenn von einer rechtswidrigen Beweiserhebung ausgegangen würde, ergäbe sich nach der nach herrschender Meinung relevanten Abwägungslehre kein Beweisverwertungsverbot. Insoweit bezieht sich die Staatsanwaltschaft auf den Beschluss des Landgerichts Bochum vom 22. April 2008 - 2 Qs 10/08 -, der eine Unverwertbarkeit der angekauften Daten selbst dann ablehnt, wenn zugunsten der Beschuldigten davon auszugehen wäre, dass deutsches Strafrecht über § 7 StGB anwendbar sei, der Ankauf sich als Begünstigung im Sinne des § 257 StGB und als Beihilfe zum Geheimnisverrat nach § 17 Abs. 2 Nr. 2 UWG darstelle und die Vortat den Tatbestand der Betriebsspionage nach § 17 Abs. 2 Nr. 1 UWG erfülle. Es gehe in der vorliegenden Konstellation nicht um ein zunächst rechtswidriges Verhalten staatlicher Ermittlungsbehörden, sondern um strafrechtlich relevantes Verhalten einer Privatperson. Die Regelungen der Strafprozessordnung über die Beweisgewinnung würden sich an die Strafverfolgungsorgane, nicht jedoch an Privatpersonen richten. Daraus folge, dass durch Private in rechtswidriger Art und Weise gewonnene Beweismittel grundsätzlich verwertbar seien.
13

Im Rahmen der erforderlichen Abwägung sei zu berücksichtigen, dass die Verwertung der durch die Daten eröffneten Erkenntnisse nicht den unantastbaren Bereich privater Lebensgestaltung, sondern den geschäftlichen Bereich berühre. Die eventuelle Straftat richte sich auch nicht primär gegen den Beschuldigten. Zudem diene die Verwertung der Kenntnisse der Aufklärung einer Straftat, deren Aufklärung im besonderen Allgemeininteresse liege.
14

4. a) Das Amtsgericht half den Beschwerden nicht ab. Ergänzend zur Stellungnahme der Staatsanwaltschaft stellte das Gericht darauf ab, dass weder ein direkter Verstoß gegen das Völkerrecht vorliege noch multi- oder bilaterale Völkerrechtsbestimmungen umgangen worden seien. Die Daten seien weder auf Ersuchen an den Staat Liechtenstein noch auf Ersuchen an eine dritte Person zur Verfügung gestellt worden. Die Daten seien in keinem Fall auf Geheiß des Bundesnachrichtendienstes oder der Strafverfolgungsbehörden hergestellt, beschafft oder in sonstiger Weise erfasst, sondern lediglich passiv entgegengenommen worden. Hierzu sei der Bundesnachrichtendienst befugt gewesen, weil die DVD über 9.600 Datensätze über internationale Geldflüsse enthalte und lediglich auch die Daten der Beschwerdeführer.
15

b) Das Landgericht Bochum verwarf die Beschwerden mit Beschluss vom 7. August 2009 als unbegründet. Der für die Durchsuchung erforderliche Tatverdacht dürfe auf die strittigen Daten gestützt werden. Es bestehe kein Beweisverwertungsverbot. Das gelte selbst dann, wenn dabei nach innerstaatlichem Recht rechtswidrig oder gar strafbar gehandelt worden sein sollte.
16

Es sei bereits zweifelhaft, ob - wie die Beschwerdeführer behaupteten - das Europäische Übereinkommen über Rechtshilfe und das Übereinkommen über Geldwäsche umgangen worden sei. Der „Datendiebstahl“ sei der Bundesrepublik Deutschland nicht zuzurechnen. Selbst wenn völkerrechtliche Übereinkommen umgangen worden sein sollten, sei dies unschädlich, weil sich aus der Verletzung eines völkerrechtlichen Vertrages, der keine persönlichen Rechte gewähre, kein Verwertungsverbot ergebe. Im Übrigen sei das möglicherweise völkerrechtswidrige Geschehen („Datendiebstahl“ und Ankauf der „gestohlenen“ Daten) abgeschlossen gewesen; durch die Benutzung der Daten in dem Ermittlungsverfahren gegen die Beschwerdeführer würden die Übereinkommen nicht erneut beeinträchtigt.
II.
17

Mit der Verfassungsbeschwerde rügen die Beschwerdeführer die Verletzung ihrer Rechte auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 25 GG), die Verletzung von Art. 13 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip und der Rechtsschutzgarantie und die Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG.
18

1. Die Beschwerdeführer seien in ihren Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 25 GG und dem Rechtsstaatsprinzip verletzt, weil die Daten als Grundlage für den Erlass eines Durchsuchungsbeschlusses verwendet worden seien. Die Nutzung der Daten aus Liechtenstein gegen dessen Widerspruch in einem Strafverfahren in Deutschland verstoße gegen das Völkerrecht und verletze zudem die Souveränität Liechtensteins, weil dessen territoriale Integrität nicht beachtet worden sei.
19

Die Bedeutung des Europäischen Rechtshilfeübereinkommens, der Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen über die Verantwortlichkeit der Staaten für völkerrechtswidrige Handlungen und der Regeln des Völkerrechts über die Souveränität von Staaten sei nicht hinreichend berücksichtigt worden. Die Daten seien mit Blick auf die Grundrechte der Beschwerdeführer unverwertbar. Jedenfalls hätten die Gerichte die Verstöße gegen das Völkerrecht bei der Prüfung des Beweisverwertungsverbotes in die Abwägung einstellen müssen.
20

2. Die angegriffenen Entscheidungen verletzten die Beschwerdeführer in ihren Grundrechten aus Art. 13 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip und der Rechtsschutzgarantie, weil die Anforderungen an die Übermittlung von Daten durch Nachrichtendienste an andere Behörden nicht eingehalten worden seien und weil die mehrfachen Rechtsverstöße zu einem Beweisverwertungsverbot der Daten führten.
21

a) Der Bundesnachrichtendienst habe die Daten unter Verstoß gegen strafrechtliche Normen erlangt, denn der Datendiebstahl sei in Liechtenstein strafbar. Daher habe die Erhebung der Daten von vornherein nicht im Einklang mit ausländischen Verfahrensvorschriften stehen können. Darüber hinaus gebe es keine Rechtsgrundlage für die Entgegennahme der Daten durch den Bundesnachrichtendienst. Dies gelte auch für die Weitergabe der Daten vom Bundesnachrichtendienst an die Staatsanwaltschaften. Es habe dafür weder eine Befugnis nach § 9 BNDG noch nach § 116 AO bestanden. Der Bundesnachrichtendienst habe auch keine Amtshilfe leisten dürfen, weil diese hier nach § 112 Abs. 2 AO ausgeschlossen gewesen sei.
22

Mit dem Ankauf der Daten hätten sich die deutschen Behörden nach § 17 Abs. 2 Nr. 2 UWG und wegen Begünstigung nach § 257 StGB strafbar gemacht. § 34 StGB scheide als Rechtfertigungsnorm aus. Für eine Begünstigung reiche die Hilfestellung beim Verkauf aus.
23

b) Für die Daten bestehe ein Verwertungsverbot. Die vorliegenden Verfahrensverstöße (Verstoß gegen das Völkerrecht und das Trennungsgebot, Beteiligung an der unbefugten Offenbarung von Geschäftsgeheimnissen) seien so schwerwiegend, dass das gesamte Ermittlungsverfahren dem Rechtsstaatsprinzip nicht mehr gerecht werden könne. Es gehe auch um rechtswidriges und strafbares Verhalten der Ermittlungsbehörden und nicht allein um strafrechtlich relevantes Verhalten einer Privatperson. Die großzügige Rechtsprechung zur rechtswidrigen Erlangung eines Beweismittels durch eine Privatperson könne daher nicht als Gewichtung der Verfahrensverstöße herangezogen werden.
24

Die Einschaltung des Bundesnachrichtendienstes sei allein deshalb erfolgt, um dessen besondere Möglichkeiten auszunutzen und das Geschehen weitestgehend einer gerichtlichen Kontrolle zu entziehen. Das Trennungsgebot diene dem Schutz des Einzelnen vor unkontrollierbaren staatlichen Eingriffen. Der schwerwiegende und bewusste Verfahrensverstoß könne nicht durch das Interesse der Allgemeinheit an der Gewährleistung einer funktionierenden Strafrechtspflege aufgewogen werden.
25

Im Übrigen wiederholen und vertiefen die Beschwerdeführer ihr Vorbringen aus dem fachgerichtlichen Verfahren.
26

3. Art. 103 Abs. 1 GG sei verletzt, weil den Beschwerdeführern nicht offengelegt worden sei, wie die Daten der L. AG zu den Strafverfolgungsbehörden gelangt seien und welche Rolle der Bundesnachrichtendienst beim Ankauf der Daten im Einzelnen gespielt habe. Die Staatsanwaltschaft habe das Akteneinsichtsgesuch zu Unrecht unter Hinweis auf das Steuergeheimnis nach § 30 AO verweigert. Mangels ausreichender Informationen und aufgrund von Widersprüchen zwischen Mitteilungen der Strafverfolgungsbehörden und Presseberichten sei es den Beschwerdeführern nicht möglich gewesen, den Sachverhalt vollständig zu würdigen und alle entlastenden Argumente vorzubringen. Es sei nicht ausgeschlossen, dass die Gerichte bei Vorbringen weiterer Argumente anders entschieden hätten.
III.
27

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen. Die Annahmevoraussetzungen des § 93a Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor. Der Verfassungsbeschwerde kommt grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung nicht zu (vgl. BVerfGE 90, 22 <24>; 96, 245 <248>). Die mit der Verfassungsbeschwerde aufgeworfenen Fragen sind hinreichend geklärt; sie lassen sich mit Hilfe der in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entwickelten Maßstäbe ohne weiteres entscheiden. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist auch nicht zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt, weil sie keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat. Die Verfassungsbeschwerde ist zum Teil unzulässig und im Übrigen unbegründet.
28

1. Die Beschwerdeführer haben den Rechtsweg nach § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG erschöpft. Gegen die angegriffene Entscheidung des Landgerichts ist ein weiteres Rechtsmittel nicht gegeben (vgl. § 310 Abs. 2 StPO). Die Beschwerdeführer können auch nicht auf die vorherige Erhebung einer Anhörungsrüge nach § 33a StPO verwiesen werden.
29

a) Wird mit der Verfassungsbeschwerde eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) geltend gemacht, so zählt eine Anhörungsrüge an das Fachgericht zum Rechtsweg, von dessen Erschöpfung die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde gemäß § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG im Regelfall abhängig ist (vgl. BVerfGE 42, 243 <245>; 74, 358 <380>; 122, 190 <198>). Das gilt jedoch nicht, wenn die Anhörungsrüge offensichtlich aussichtslos wäre (vgl. BVerfGK 7, 403 <407>). Auf einen offensichtlich aussichtslosen Rechtsbehelf kann ein Beschwerdeführer als Voraussetzung der Zulässigkeit seiner Verfassungsbeschwerde nicht verwiesen werden (vgl. BVerfGE 51, 386 <395 f.>; 52, 380 <387>; 78, 58 <68 f.>).
30

b) Im vorliegenden Fall wäre eine Anhörungsrüge offensichtlich aussichtslos, weil eine Gehörsverletzung nach dem Vortrag der Beschwerdeführer ersichtlich nicht in Betracht kommt.
31

Rechtliches Gehör sichert den Beteiligten ein Recht auf Information, Äußerung und Berücksichtigung mit der Folge, dass sie ihr Verhalten im Prozess selbstbestimmt und situationsspezifisch gestalten können. Art. 103 Abs. 1 GG steht in einem funktionalen Zusammenhang mit der Rechtsschutzgarantie des Grundgesetzes (vgl. BVerfGE 81, 123 <129>). Dem kommt besondere Bedeutung zu, wenn im strafprozessualen Ermittlungsverfahren Eingriffsmaßnahmen ohne vorherige Anhörung des Betroffenen gerichtlich angeordnet werden (§ 33 Abs. 4 StPO). Dann ist das rechtliche Gehör jedenfalls im Beschwerdeverfahren nachträglich zu gewähren (vgl. BVerfGK 3, 197 <204>; 7, 205 <211>; 12, 111 <115>). Eine dem Betroffenen nachteilige Gerichtsentscheidung darf jedenfalls in der Beschwerdeinstanz nur auf der Grundlage solcher Tatsachen und Beweismittel getroffen werden, über die dieser zuvor sachgerecht unterrichtet worden ist und zu denen er sich äußern konnte. §§ 33, 33a StPO beschränken die gebotene Anhörung nicht auf Tatsachen und Beweisergebnisse; vielmehr ist über den Wortlaut der Bestimmung im engeren Sinne hinaus jeder Aspekt des rechtlichen Gehörs davon erfasst (vgl. BVerfGE 42, 243 <250>). Zum Anspruch auf Gehör vor Gericht gehört demnach auch die Information über die entscheidungserheblichen Beweismittel. Eine gerichtliche Entscheidung darf nur auf Tatsachen und Beweismittel gestützt werden, die dem Beschuldigten durch Akteneinsicht der Verteidigung bekannt sind (vgl. BVerfGK 7, 205 <211>).
32

Die Beschwerdeführer haben sich in ihrer Verfassungsbeschwerde zwar auf eine Verletzung rechtlichen Gehörs nach Art. 103 Abs. 1 GG berufen. Sie beanstanden jedoch nicht, das Gericht habe Tatsachen verwertet, zu denen sie zuvor nicht gehört worden seien. Ein solcher Verstoß scheidet auch offensichtlich aus, denn die Beschwerdeführer haben umfassend Akteneinsicht in alle dem Beschwerdegericht vorliegenden Unterlagen erhalten und hatten die Möglichkeit, sich dazu zu äußern. Die Beschwerdeführer haben auch nicht behauptet, das Landgericht hätte Erkenntnisse verwertet, die ihnen zuvor nicht zugänglich gemacht worden seien.
33

Die Beschwerdeführer machen vielmehr geltend, das Gericht hätte weitere Informationen über die Umstände der Erlangung der Datenträger beschaffen und ihnen zur Verfügung stellen müssen, damit sie in der Lage seien, den Sachverhalt entsprechend zu würdigen. Damit rügen sie jedoch in der Sache nicht eine Verletzung rechtlichen Gehörs, sondern des effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG.
34

2. Soweit die Beschwerdeführer der Sache nach eine Verletzung des effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG rügen, weil die Fachgerichte hätten aufklären müssen, wie die Strafverfolgungsbehörden in den Besitz der Daten gelangt seien und welche Rolle der Bundesnachrichtendienst dabei gespielt habe, haben sie nicht dem in § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG zum Ausdruck kommenden Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde Genüge getan.
35

Dieser erfordert, dass ein Beschwerdeführer über das Gebot der Erschöpfung des Rechtswegs im engeren Sinne hinaus alle nach Lage der Sache zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten ergreift, um eine Korrektur der geltend gemachten Grundrechtsverletzung vor den vorrangig hierzu berufenen Fachgerichten zu erwirken oder eine Grundrechtsverletzung zu verhindern (stRspr, vgl. BVerfGE 77, 381 <401>; 81, 22 <27>).
36

Diesem Erfordernis sind die Beschwerdeführer im fachgerichtlichen Verfahren nicht nachgekommen. Dort haben sie weder ausdrücklich noch konkludent von den Strafverfolgungsbehörden verlangt, den Sachverhalt in Bezug auf die Beschaffung der Datenträger aufzuklären. Sie haben zwar im Rahmen ihres Akteneinsichtsgesuches dargelegt, dass es ihnen darum gehe, auf welchem Wege die Daten erlangt worden seien. Spätestens nach der Mitteilung der Staatsanwaltschaft, die von den Beschwerdeführern bezeichneten Unterlagen und Informationen (Sicherstellungsprotokoll des Datenträgers, Protokoll über die Zeugenvernehmung des Informanten) seien bei den Strafverfolgungsbehörden nicht vorhanden, hätten die Beschwerdeführer ihr Aufklärungsbegehren jedoch geltend machen können. Das haben sie indes nicht getan, sondern lediglich die Einsicht in die bei den Strafverfolgungsbehörden befindlichen Unterlagen begehrt.
37

Im Verfassungsbeschwerdeverfahren beanstanden die Beschwerdeführer erstmals ausdrücklich, die Strafverfolgungsbehörden hätten die Umstände des Datenankaufs und die Beteiligung des Bundesnachrichtendienstes daran aufklären müssen. Damit haben sie den Fachgerichten die Möglichkeit genommen, dazu Stellung zu nehmen oder die entsprechenden Ermittlungen anzustellen. Nach dem Grundsatz der materiellen Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde können die Beschwerdeführer daher mit dieser Rüge hier nicht gehört werden.
38

3. Im Übrigen hat die Verfassungsbeschwerde keine Aussicht auf Erfolg. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen die Beschwerdeführer nicht in ihrem Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung aus Art. 13 Abs. 1 GG.
39

Mit einer Durchsuchung wird schwerwiegend in die Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 Abs. 1 GG) eingegriffen. Notwendiger und grundsätzlich auch hinreichender Eingriffsanlass für eine solche Zwangsmaßnahme im Strafverfahren ist der Verdacht einer Straftat. Der Verdacht muss auf konkreten Tatsachen beruhen; vage Anhaltspunkte oder bloße Vermutungen reichen nicht aus (vgl. BVerfGE 44, 353 <381 f.>; 59, 95 <97 f.>).
40

Der für die Durchsuchung erforderliche Anfangsverdacht einer Steuerstraftat ist in den angegriffenen Entscheidungen ausreichend dargelegt worden. Es ist von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, dass die Fachgerichte den Verdacht, die Beschwerdeführer hätten Kapitaleinkünfte aus Vermögen Liechtensteiner Stiftungen gegenüber den deutschen Finanzbehörden nicht erklärt, auch auf die Erkenntnisse der Daten aus Liechtenstein gestützt haben.
41

a) aa) Der von den Beschwerdeführern in ihrer Verfassungsbeschwerde geschilderte Ablauf des Erwerbs der Daten von einem Informanten aus Liechtenstein stimmt nicht mit dem in den angegriffenen Beschlüssen festgestellten Sachverhalt überein. Da die Beschwerdeführer insoweit weder im fachgerichtlichen Verfahren substantiierte Einwendungen noch mit der Verfassungsbeschwerde durchgreifende Rügen erhoben haben, ist von den Feststellungen in den angegriffenen Entscheidungen auszugehen.
42

bb) Bei der Frage, ob die aus Liechtenstein stammenden Daten für die Annahme eines hinreichenden Tatverdachts für eine strafprozessuale Durchsuchung zugrunde gelegt werden dürfen, geht es nicht um die unmittelbare Geltung eines Beweisverwertungsverbotes, denn dieses betrifft grundsätzlich lediglich die unmittelbare Verwertung von rechtswidrig erlangten Beweismitteln im Strafverfahren zur Feststellung der Schuldfrage (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 53. Aufl. 2010, Einl. Rn. 55). Ob und inwieweit Tatsachen, die einem Beweisverwertungsverbot unterliegen, zur Begründung eines Anfangsverdachts einer Durchsuchung herangezogen werden dürfen, betrifft vielmehr die Vorauswirkung von Verwertungsverboten und gehört in den größeren Zusammenhang der Fernwirkung von Beweisverwertungsverboten (vgl. Beulke, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 152 Rn. 26 f.). Insoweit ist anerkannt, dass Verfahrensfehlern, die ein Verwertungsverbot für ein Beweismittel zur Folge haben, nicht ohne weiteres Fernwirkung für das gesamte Strafverfahren zukommt (vgl. auch BVerfGK 7, 61 <63>).
43

cc) Unabhängig davon besteht von Verfassungs wegen kein Rechtssatz des Inhalts, dass im Fall einer rechtsfehlerhaften Beweiserhebung die Verwertung der gewonnen Beweise stets unzulässig wäre (vgl. BVerfGK 9, 174 <196>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 27. April 2000 - 2 BvR 1990/96 -, NStZ 2000, S. 488; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 27. April 2000 - 2 BvR 75/94 -, NStZ 2000, S. 489; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 1. März 2000 - 2 BvR 2017/94, 2 BvR 2039/94 -, NStZ 2000, S. 489 <490>; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 30. Juni 2005 - 2 BvR 1502/04 -, NStZ 2006, S. 46; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 2. Juli 2009 - 2 BvR 2225/08 -, NJW 2009, S. 3225). Die Beurteilung der Frage, welche Folgen ein möglicher Verstoß gegen strafprozessuale Verfahrensvorschriften hat und ob hierzu insbesondere ein Beweisverwertungsverbot zählt, obliegt in erster Linie den zuständigen Fachgerichten (vgl. BVerfGK 4, 283 <285>; 9, 174 <196>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 28. Juli 2008 - 2 BvR 784/08 -, NJW 2008, S. 3053 <3054>).
44

Die Strafgerichte gehen in gefestigter, verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Rechtsprechung davon aus, dass dem Strafverfahrensrecht ein allgemein geltender Grundsatz, demzufolge jeder Verstoß gegen Beweiserhebungsvorschriften ein strafprozessuales Verwertungsverbot nach sich zieht, fremd ist, und dass die Frage jeweils nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach der Art des Verbots und dem Gewicht des Verstoßes unter Abwägung der widerstreitenden Interessen zu entscheiden ist (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 28. Juli 2008 - 2 BvR 784/08 -, NJW 2008, S. 3053; BGHSt 38, 214 <219 f.>; 44, 243 <249>; 51, 285 <289 f.>; vgl. auch Nack, in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 6. Aufl. 2008, vor § 94 Rn. 10). Auch wenn die Strafprozessordnung nicht auf Wahrheitserforschung „um jeden Preis“ gerichtet ist, schränkt die Annahme eines Verwertungsverbotes eines der wesentlichen Prinzipien des Strafverfahrensrechts ein, nämlich den Grundsatz, dass das Gericht die Wahrheit zu erforschen hat und dazu die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken hat, die von Bedeutung sind. Das Rechtsstaatsprinzip gestattet und verlangt die Berücksichtigung der Belange einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege, ohne die der Gerechtigkeit nicht zum Durchbruch verholfen werden kann (vgl. BVerfGE 33, 367 <383>; 46, 214 <222>; 122, 248 <272>). Der Rechtsstaat kann sich nur verwirklichen, wenn ausreichende Vorkehrungen dafür getroffen sind, dass Straftäter im Rahmen der geltenden Gesetze verfolgt, abgeurteilt und einer gerechten Bestrafung zugeführt werden (vgl. BVerfGE 33, 367 <383>; 46, 214 <222>; 122, 248 <272 f.>; stRspr). Daran gemessen bedeutet ein Beweisverwertungsverbot eine Ausnahme, die nur nach ausdrücklicher gesetzlicher Vorschrift oder aus übergeordneten wichtigen Gründen im Einzelfall anzuerkennen ist (vgl. BGHSt 40, 211 <217>; 44, 243 <249>; 51, 285 <290>). Die strafgerichtliche Rechtsprechung geht daher davon aus, dass insbesondere das Vorliegen eines besonders schwerwiegenden Fehlers ein Verwertungsverbot nach sich ziehen kann (vgl. BGHSt 51, 285 <292>; BGH, Beschluss vom 18. November 2003 - 1 StR 455/03 -, NStZ 2004, S. 449 <450>).
45

Die Unzulässigkeit oder Rechtswidrigkeit einer Beweiserhebung führt auch nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts nicht ohne weiteres zu einem Beweisverwertungsverbot (vgl. BVerfGK 9, 174 <196>; BVerfG, Beschlüsse der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 27. April 2000 - 2 BvR 1990/96 -, NStZ 2000, S. 488, und - 2 BvR 75/94 -, NStZ 2000, S. 489; vom 1. März 2000 - 2 BvR 2017/94, 2 BvR 2039/94 -, NStZ 2000, S. 489 <490>; vom 30. Juni 2005 - 2 BvR 1502/04 -, NStZ 2006, S. 46; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 2. Juli 2009 - 2 BvR 2225/08 -, NJW 2009, S. 3225). Dies gilt auch für Fälle einer fehlerhaften Durchsuchung (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 8. November 2001 - 2 BvR 2257/00 -, StV 2002, S. 113; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 2. Juli 2009 - 2 BvR 2225/08 -, NJW 2009, S. 3225 <3226>). Ein Beweisverwertungsverbot ist von Verfassungs wegen aber zumindest bei schwerwiegenden, bewussten oder willkürlichen Verfahrensverstößen, bei denen die grundrechtlichen Sicherungen planmäßig oder systematisch außer acht gelassen worden sind, geboten (vgl. BVerfGE 113, 29 <61>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 15. Juli 1998 - 2 BvR 446/98 -, NJW 1999, S. 273 <274>; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 16. März 2006 - 2 BvR 954/02 -, NJW 2006, S. 2684 <2686>). Ein absolutes Beweisverwertungsverbot unmittelbar aus den Grundrechten hat das Bundesverfassungsgericht nur in den Fällen anerkannt, in denen der absolute Kernbereich privater Lebensgestaltung berührt ist (vgl. BVerfGE 34, 238 <245 f.>; 80, 367 <374 f.>; 109, 279 <320>). Ob ein Sachverhalt zum unantastbaren Bereich privater Lebensgestaltung oder zu jenem Bereich des privaten Lebens, der unter bestimmten Voraussetzungen dem staatlichen Zugriff offen steht, zuzuordnen ist, lässt sich nicht abstrakt beschreiben, sondern kann befriedigend nur unter Berücksichtigung der Besonderheiten des einzelnen Falls beantwortet werden (vgl. BVerfGE 34, 238 <248>; 80, 367 <374>).
46

dd) Bei der Prüfung, ob die angegriffenen Entscheidungen die Grenzen richterlicher Rechtsfindung wahren, hat das Bundesverfassungsgericht die Auslegung einfachen Gesetzesrechts einschließlich der Wahl der hierbei anzuwendenden Methode nicht umfassend auf seine Richtigkeit zu untersuchen. Vielmehr beschränkt es auch im Bereich des Strafprozessrechts seine Kontrolle auf die Prüfung, ob das Fachgericht bei der Rechtsfindung die gesetzgeberische Grundentscheidung respektiert und von den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung in vertretbarer Weise Gebrauch gemacht hat (vgl. BVerfGE 82, 6 <13>; 96, 375 <394>; 122, 248 <258>).
47

Die Beurteilung der Frage, welche Folgen ein möglicher Verstoß gegen strafprozessuale Verfahrensvorschriften hat und ob hierzu insbesondere ein Verwertungsverbot zählt, obliegt in erster Linie den zuständigen Fachgerichten (vgl. BVerfGK 4, 283 <285>; 9, 174 <196>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 28. Juli 2008 - 2 BvR 784/08 -, NJW 2008, S. 3053 <3054>). Das Bundesverfassungsgericht prüft die von den Fachgerichten vorgenommene Abwägung zwischen dem durch den Verfahrensverstoß bewirkten Eingriff in die Rechtsstellung der Beschwerdeführer einerseits und den Strafverfolgungsinteressen des Staates anderseits daher nicht im einzelnen nach. Die Kompetenz des Bundesverfassungsgerichts beschränkt sich vielmehr auf die Kontrolle, ob die Fachgerichte in verfassungsrechtlich erheblicher Weise den Schutzbereich der verletzten Verfahrensnorm verkannt oder die weiteren Anforderungen für die Annahme eines Verwertungsverbotes hinsichtlich rechtswidrig gewonnener Beweise überspannt haben.
48

b) Ausgehend von diesen Maßstäben sind die angegriffenen Entscheidungen von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden.
49

aa) Es bedarf keiner abschließenden Entscheidung, ob und inwieweit Amtsträger bei der Beschaffung der Daten nach innerstaatlichem Recht rechtswidrig oder gar strafbar gehandelt haben. Die Gerichte haben für ihre Bewertung, ob die Daten einem für die Durchsuchung erforderlichen Anfangsverdacht nicht zugrunde gelegt werden dürfen, unterstellt, dass die Beschaffung der Daten nicht mit geltendem Recht übereinstimmt. Gleiches gilt für die Behauptung der Beschwerdeführer, dass die Beschaffung der Daten gegen völkerrechtliche Übereinkommen verstoßen habe. Auch insoweit unterstellen die angegriffenen Entscheidungen, dass diese Übereinkommen bei der Beschaffung umgangen worden sein könnten.
50

Die Beschwerdeführer wenden sich mit ihrer Verfassungsbeschwerde unter anderem gegen die einfachrechtliche Beurteilung des Verhaltens von Amtsträgern im Zusammenhang mit dem Erwerb der Daten aus Liechtenstein. Insoweit ist es nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, die Rechtslage im Einzelnen nachzuprüfen. Die Auslegung und Anwendung einfachen Rechts ist Sache der dafür allgemein zuständigen Gerichte und einer Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht entzogen, soweit bei der zu treffenden Entscheidung nicht Willkür vorliegt oder spezifisches Verfassungsrecht verletzt ist. Dies ist nicht schon dann der Fall, wenn eine Entscheidung, am einfachen Recht gemessen, möglicherweise fehlerhaft ist; der Fehler muss gerade in der Nichtbeachtung von Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten liegen oder die einfachrechtliche Beurteilung darf unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt mehr vertretbar sein (vgl. BVerfGE 18, 85 <92 f.>; 34, 369 <379>).
51

(1) Soweit die angegriffenen Entscheidungen darauf abstellen, dass sich die Beschwerdeführer nicht auf die von ihnen gerügten Völkerrechtsverstöße berufen können, greifen die Rügen der Beschwerdeführer in ihrer Verfassungsbeschwerde nicht durch. Die Beschwerdeführer kommen entgegen der Auffassung des Landgerichts in ihrer Auslegung der völkerrechtlichen Verträge zu dem Ergebnis, dass das Verhalten des Informanten, der die Daten an den Bundesnachrichtendienst übergeben hat, der Bundesrepublik Deutschland zugerechnet werden müsse. Alleine aus dieser abweichenden Auslegung der völkerrechtlichen Verträge durch die Beschwerdeführer ergibt sich aber noch nicht, dass die Auffassung des Landgerichts, die Voraussetzungen der Zurechnungsregelungen der hier streitigen völkerrechtlichen Übereinkommen lägen nicht vor, unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt vertretbar ist oder dass die Grundrechte der Beschwerdeführer nicht berücksichtigt wurden.
52

Auch die Wertung des Landgerichts, dass selbst bei einer etwaigen Umgehung der völkerrechtlichen Übereinkommen der möglicherweise vorliegende Rechtsverstoß abgeschlossen gewesen sei und die Nutzung der Daten für einen Anfangsverdacht keine erneute Beeinträchtigung der Übereinkommen bedeute, ist jedenfalls nicht willkürlich.
53

(2) Soweit die Beschwerdeführer rügen, dass die Beschaffung der Daten rechtswidrig oder gar strafbar gewesen ist, ergibt sich aus ihren Ausführungen ebenfalls nicht, dass die in den angegriffenen Entscheidungen vorgenommene Auslegung des Strafrechts unvertretbar ist oder Grundrechte der Beschwerdeführer nicht hinreichend berücksichtigt worden sind.
54

Das Landgericht hat die Frage, ob die Beschaffung der Daten rechtswidrig oder gar strafbar gewesen ist, nicht abschließend beurteilt, sondern für die Beurteilung der Frage, ob ein Beweisverwertungsverbot vorliegt, unterstellt, dass sich die Amtsträger nach innerstaatlichem Recht rechtswidrig verhalten oder sogar Straftatbestände verwirklicht hätten. Damit hat das Landgericht die von den Beschwerdeführern insoweit für sich in Anspruch genommenen Positionen bei der Prüfung des für eine Durchsuchung erforderlichen Anfangsverdachts hinreichend berücksichtigt.
55

Soweit die Beschwerdeführer sich im Übrigen mit der Rechtswidrigkeit und Strafbarkeit des Verhaltens bei dem Erwerb der Daten auseinandersetzen, stellen sie lediglich ihre eigene Rechtsauffassung derjenigen der Fachgerichte entgegen. Dies genügt jedoch nicht, um die Unvertretbarkeit der angegriffenen Entscheidungen zu belegen.
56

bb) Die Verfassungsbeschwerde zeigt auch keine Grundrechtsverletzung auf, soweit sie die in den angefochtenen Entscheidungen vorgenommene Abwägung zwischen den Belangen der Beschwerdeführer und dem Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung angreift, die zu dem Ergebnis führt, dass die erlangten Daten weiteren Ermittlungsmaßnahmen zugrunde gelegt werden dürfen. Das Vorbringen der Beschwerdeführer, die von ihnen gerügten Verfahrensverstöße wögen so schwer, dass das gesamte Ermittlungsverfahren dem Rechtsstaatsprinzip nicht mehr gerecht werden könne und daher die Daten nicht für die Begründung eines Anfangsverdachts herangezogen werden könnten, hat keinen Erfolg.
57

Zu Recht weist das Landgericht in dem in Bezug genommenen Beschluss vom 22. April 2008 darauf hin, dass die Verwendung der fraglichen Daten für die Annahme eines Anfangsverdachts nicht den absoluten Kernbereich privater Lebensgestaltung berührt. Es handelt sich vielmehr um Daten über geschäftliche Kontakte der Beschwerdeführer mit Kreditinstituten.
58

Bei der Beurteilung, ob der Verwendung der Daten für einen Anfangsverdacht schwerwiegende Rechtsverletzungen entgegenstehen, haben die Gerichte zugunsten der Beschwerdeführer unterstellt, dass nach innerstaatlichem Recht rechtswidrig oder gar strafbar gehandelt worden sei. Insoweit ist zu berücksichtigen, dass sich die Vorschriften der Strafprozessordnung zur Beweiserhebung und -verwertung nach Systematik, Wortlaut und Zweck ausschließlich an die staatlichen Strafverfolgungsorgane richten. Beweismittel, die von Privaten erlangt wurden, sind - selbst wenn dies in strafbewehrter Weise erfolgte - grundsätzlich verwertbar (h.M.; vgl. BGHSt 27, 355 <357>; 34, 39 <52>; Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 6. Aufl. 2008, Rn. 397 m.w.N.). Dies bedeutet, dass allein von dem Informanten begangene Straftaten bei der Beurteilung eines möglichen Verwertungsverbotes von vornherein nicht berücksichtigt werden müssen.
59

Ausgehend von der tatsächlichen und rechtlichen Beurteilung durch das Landgericht ergibt sich auch nicht aus dem von den Beschwerdeführern als verletzt angesehenen Trennungsgebot, dass die Daten für weitere Ermittlungsmaßnahmen nicht verwendet werden dürften. Amtsgericht und Landgericht sind davon ausgegangen, dass der Bundesnachrichtendienst die Daten im Wege der Amtshilfe lediglich entgegengenommen und weitergeleitet habe. Weder der Bundesnachrichtendienst noch die Strafverfolgungsbehörden hätten veranlasst, dass die Daten hergestellt, beschafft oder auf sonstige Weise erfasst worden seien. Der Informant habe sich vielmehr von sich aus an den Bundesnachrichtendienst gewandt. Die angegriffenen Entscheidungen haben diesen Sachverhalt dahingehend gewürdigt, dass eine Verletzung des Trennungsgebots von vornherein ausscheidet. Dieses Gebot besagt, dass Geheimdienste keine polizeilichen Zwangsbefugnisse besitzen dürfen, also etwa keine Vernehmungen, Durchsuchungen, Beschlagnahmen durchführen oder anderen Zwang ausüben dürfen. Sie dürfen mithin nicht zur gezielten Erlangung von Zufallsfunden für nicht-nachrichtendienstliche Zwecke eingesetzt werden (vgl. Roggan/Bergemann, NJW 2007, S. 876). Die Behauptung der Beschwerdeführer, der Bundesnachrichtendienst sei nur eingeschaltet worden, um dessen besondere Möglichkeiten auszunutzen, ist durch nichts belegt.
60

Soweit die angegriffenen Entscheidungen nach Abwägung der verschiedenen Interessen zu dem Ergebnis gelangen, dass die Daten aus Liechtenstein verwendet werden dürfen, um den Anfangsverdacht für die Durchsuchung zu begründen, ist dies nachvollziehbar und lässt eine verfassungsrechtlich relevante Fehlgewichtung nicht erkennen. Die von den Gerichten unterstellten Verfahrensverstöße und die Möglichkeit rechtswidrigen oder gar strafbaren Verhaltens beim Erwerb der Daten führen nicht zu einem absoluten Verwertungsverbot. Die Gerichte haben die verschiedenen rechtserheblichen Aspekte erkannt und in die Abwägung zwischen den Rechten der Beschwerdeführer, insbesondere dem Anspruch auf Einhaltung der Regeln für strafprozessuale Ermittlungsmaßnahmen, und dem konkreten Strafverfolgungsinteresse eingestellt. Soweit die Gerichte aufgrund ihrer Abwägung zu dem Ergebnis kommen, dass ein Verwertungsverbot für die gewonnenen Daten nicht besteht, wird der fachgerichtliche Wertungsrahmen nicht überschritten. Insbesondere ist nicht erkennbar, dass es sich bei den unterstellten Rechtsverletzungen um schwerwiegende, bewusste oder willkürliche Verfahrensverstöße handelt, bei denen die grundrechtlichen Sicherungen planmäßig oder systematisch außer acht gelassen worden sind. Schließlich ist auch zu berücksichtigen, dass es sich hier lediglich um die mittelbaren Wirkungen eines als verfahrensfehlerhaft unterstellten Erwerbs der Daten handelt.
61

4. Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG).
62

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Osterloh Mellinghoff Gerhardt

f Gerhardt
MARS
 
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Re: BVerfG-Urteile

Beitragvon MARS » Do 4. Sep 2014, 10:14

BVerfG Beschluss - 2 BvR 969/14 - vom 15. August 2014



BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

- 2 BvR 969/14 -
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde


des Herrn E …

- Bevollmächtigter:
Rechtsanwalt Christian Noll,
Meinekestraße 7, 10719 Berlin -

gegen a) den Beschluss des Landgerichts Hannover vom 1. April 2014 - 58 Qs 10/14 -,
b) den Beschluss des Amtsgerichts Hannover vom 21. Februar 2014 - 270 Gs 444/14 -,
c) den Beschluss des Amtsgerichts Hannover vom 21. Februar 2014 - 270 Gs 438/14 -,
d) den Beschluss des Amtsgerichts Hannover vom 17. Februar 2014 - 270 Gs 324/14 -,
e) den Beschluss des Amtsgerichts Hannover vom 11. Februar 2014 - 270 Gs 324/14 -,
f) den Beschluss des Amtsgerichts Hannover vom 10. Februar 2014 - 270 Gs 308/14 -,
und Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung


hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch

die Richter Huber,
Müller,
Maidowski


gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 15. August 2014 einstimmig beschlossen:


Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.

Gründe:
I.
1

1. Der Beschwerdeführer war Abgeordneter des Deutschen Bundestages. Gegen ihn wird ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des Besitzes kinderpornografischer Schriften geführt. Anlass der Ermittlungen sind Erkenntnisse aus einem Verfahren gegen die Verantwortlichen einer in Kanada ansässigen Internetplattform, über die weltweit Bild- und Videomaterial mit überwiegend oder vollständig unbekleideten vorpubertären Jungen, teilweise mit kinder- oder jugendpornografischem Inhalt, als Download oder über Zusendung physischer Datenträger vertrieben wurde. Mit Hilfe der Kundendatenbank dieser Internetplattform wurden dem Beschwerdeführer Bestellungen von 31 Produkten im Zeitraum von Oktober 2005 bis Juni 2010 zugeordnet, die das Bundeskriminalamt allerdings als strafrechtlich nicht relevant einstufte.
2

2. Am 6. Februar 2014 erklärte der Beschwerdeführer gegenüber einem Notar den Verzicht auf sein Bundestagsmandat. Die hierüber ausgefertigte Urkunde legte er am 7. Februar 2014 dem Präsidenten des Deutschen Bundestages vor und machte dies unter anderem auf seiner Homepage bekannt. Durch Schreiben vom 10. Februar 2014 bestätigte der Präsident des Deutschen Bundestages dem Beschwerdeführer dessen Verzicht auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag und teilte ihm schriftlich mit, dass er mit Ablauf des 6. Februar 2014 aus dem Deutschen Bundestag ausgeschieden sei.
3

3. Mit Beschluss vom 10. Februar 2014 ordnete das Amtsgericht die Durchsuchung der Wohnung, eines Nebenwohnsitzes sowie zweier Bürgerbüros des Beschwerdeführers an, da zu vermuten sei, dass die Durchsuchung zur Auffindung von näher bezeichneten Beweismitteln führen werde. Aufgrund der dem Beschwerdeführer zugeordneten kostenpflichtigen Film- und Fotosets mit Nacktaufnahmen von Minderjährigen sei auch bei Einordnung des Materials als strafrechtlich irrelevant ein Anfangsverdacht dafür gegeben, dass der Beschwerdeführer sich wegen des Besitzes kinderpornografischer Schriften strafbar gemacht habe. Die von ihm mutmaßlich bestellten Produkte zeigten zwar keine sexuellen Handlungen, wohl aber unbekleidete Kinder und Jugendliche einschließlich gezielter Darstellungen ihres Genitalbereiches. Dies spreche für eine pädophile Neigung des Beschwerdeführers und, aufgrund kriminalistischer Erfahrung aus einer Vielzahl gleich gelagerter Fälle, dafür, dass dieser auch strafrechtlich relevantes Material besitze. Zudem bedürfe es noch einer abschließenden Bewertung, ob nicht bereits einzelne Bilder des dem Beschwerdeführer zugeordneten Materials dem Begriff der Kinderpornografie unterfielen.
4

4. Mit Beschluss am 11. Februar 2014 ordnete das Amtsgericht die Durchsuchung eines weiteren vom Beschwerdeführer genutzten Büroraumes zur Auffindung von Beweismitteln an. Es begründete dies in gleicher Weise wie im Beschluss vom 10. Februar 2014 und führte weiter aus, die Kenntnis des Beschwerdeführers von den Ermittlungen lasse weitere Ermittlungsmaßnahmen weder überflüssig noch aussichtslos erscheinen. Denn es gelinge nur selten, die einmal auf dem Rechner abgelegten Dateien wirklich sicher zu löschen.
5

5. Mit drei weiteren und in ähnlicher Weise begründeten Beschlüssen vom 17. und 21. Februar 2014 ordnete das Amtsgericht die Durchsuchung der Abgeordnetenbüros des Beschwerdeführers und die Beschlagnahme seiner Bundestags-E-Mail-Postfächer, der unter seiner Bundestagskennung gespeicherten Daten sowie die Beschlagnahme zweier privater E-Mail-Postfächer an. Es sei zu vermuten, dass sich in den genannten Postfächern E-Mails befänden, die zum Tatnachweis erforderlich seien. Da eine mögliche Beeinträchtigung tatunabhängiger Personen als äußerst gering zu betrachten sei, sei die Anordnung auch verhältnismäßig.
6


6. In seiner Beschwerde gegen die Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschlüsse führte der Beschwerdeführer aus, der erforderliche Anfangsverdacht einer Straftat habe nicht bestanden. Von einem straflosen Vorverhalten könne nicht auf ein strafbares Handeln geschlossen werden. Die der Staatsanwaltschaft als Anknüpfungspunkt dienenden Bestellungen lägen bereits mehrere Jahre zurück. Die Ermittlungsmaßnahmen zielten letztlich auf Zufallsfunde. Sie seien schon deshalb unverhältnismäßig, weil er angeboten habe, den Ermittlungsbehörden sämtliche benötigten Beweismittel zur Verfügung zu stellen. Außerdem seien die Beschlüsse nicht ausreichend begrenzt und verstießen daher gegen das Übermaßverbot. Zudem habe der Prozessbevollmächtigte des Beschwerdeführers mit diesem per E-Mail kommuniziert, so dass auch Verteidigerpost beschlagnahmt worden sei.
7

7. Das Landgericht teilte dem Beschwerdeführer nach Eingang der Verfahrensakten der Staatsanwaltschaft mit, diese halte die Tatsachendarstellung sowie die rechtliche Bewertung in der Beschwerdeschrift für teilweise unzutreffend. Der Beschwerdeführer bat um Übersendung der Beschwerdeerwiderung vor einer zu treffenden Entscheidung.
8

In ihrer Beschwerdeerwiderung führte die Staatsanwaltschaft aus, ein zureichender Tatverdacht habe bereits unabhängig von der Frage vorgelegen, ob es sich bei den bestellten Filmen um strafbares Posing oder Darstellungen noch gerade unterhalb der Strafbarkeitsschwelle gehandelt habe. Zwar habe das Bundeskriminalamt die Ansicht vertreten, die dem Beschwerdeführer zugeordneten Produkte seien strafrechtlich nicht relevant; dies gelte jedoch nicht für die mit den Vorermittlungen befasste Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt und die Staatsanwaltschaft Hannover. Auch sei es nicht zu beanstanden, einen Anfangsverdacht auch auf kriminalistische Erfahrung zu stützen. Schließlich sei der E-Mail-Verkehr des Beschwerdeführers mit seinem Verteidiger nicht eingesehen worden; entsprechende Datenträger befänden sich nicht mehr im Besitz der Ermittlungsbehörden.
9

8. Ohne die Erwiderung der Staatsanwaltschaft dem Beschwerdeführer zugänglich zu machen, verwarf das Landgericht die Beschwerde mit Beschluss vom 1. April 2014. Es lägen zureichende tatsächliche Anhaltspunkte dafür vor, dass der Beschwerdeführer eine noch verfolgbare Straftat begangen habe. Zudem habe bei Erlass der Anordnungen aufgrund kriminalistischer Erfahrung die konkrete Aussicht bestanden, dass der Zweck der Durchsuchung erreicht werden könne.
10

Die Auswertung der Kundendatenbank des kanadischen Internetportals habe es ermöglicht, dem Beschwerdeführer Bestellungen über mehr als 1.000 US-Dollar zuzuordnen. Auf der Grundlage verfügbarer Auszüge aus diesem Material habe das Gericht eine eigene Bewertung der Vorwürfe vornehmen können. Das Datenmaterial enthalte Darstellungen von Jungen mutmaßlich unterhalb der Schutzaltersgrenze von 14 Jahren in vermeintlichen Alltagssituationen, teilweise werde der vollständig entblößte Genitalbereich abschnittsweise selbstzweckhaft und ohne erkennbaren Handlungskontext in den Vordergrund gerückt. Der sexualisierte Charakter werde durch akustische Untermalung wie Stöhnen des Kameramanns noch verstärkt. Das Bild- und Videomaterial ziele in einigen Fällen offenkundig auf die sexuelle Erregung des Betrachters ab. Der entgeltliche Erwerb durch den Beschuldigten lasse erwarten, dass er sich auch aus anderen Quellen des Internets kinderpornografisches Material verschafft habe, zumal die von dem Beschuldigten gewählte Internetplattform auch eindeutig kinderpornografisches Material vertrieben habe.
11

Soweit die Verteidigung darauf abstelle, dass die Bestellvorgänge geraume Zeit zurücklägen, stehe dies einer hinreichenden Auffindewahrscheinlichkeit nicht entgegen. Denn im Zusammenhang mit dem Besitz kinderpornografischer Schriften sei auch nach mehreren Jahren zu erwarten, dass entsprechendes Beweismaterial bei dem Beschuldigten fortdauernd vorhanden sei. Der Umstand des entgeltlichen Erwerbs spreche zusätzlich für einen perpetuierten Besitzwillen. Auch liege nach kriminalistischer Erfahrung regelmäßig die Annahme nahe, dass die erworbenen Medien für einen längeren Zeitraum zur Befriedigung des Geschlechtstriebes vorgehalten würden; die strafrechtliche Verjährung beginne erst mit Aufgabe des Besitzes.
12

Die Begründung der Durchsuchungsanordnungen entspreche den gesetzlichen und verfassungsrechtlichen Anforderungen. Das dem Beschwerdeführer zur Last gelegte strafbare Verhalten sei tatsächlich und rechtlich hinreichend bezeichnet, und die zu durchsuchenden Objekte und die zu beschlagnahmenden Gegenstände hinreichend bestimmt benannt. Damit sei der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt. Auch das Angebot des Beschwerdeführers zur Zusammenarbeit mit den Ermittlungsbehörden habe die Erforderlichkeit der Durchsuchungen nicht entfallen lassen. Vielmehr sei zu vermuten gewesen, dass der Beschwerdeführer neben dem über das kanadische Internetportal bestellten Material weiteres einschlägiges Datenmaterial besitze. Ob und wie auf ein Angebot zur Zusammenarbeit zu reagieren sei, unterliege dem Einschätzungsermessen der Strafverfolgungsbehörden und gegebenenfalls des Ermittlungsrichters. Die Anordnung der Durchsuchung habe in einem angemessenen Verhältnis zum Tatverdacht gestanden.
13

Angesichts des Tatverdachts und der Erkenntnis, dass der Beschwerdeführer bei seinen Bestellungen mehrere E-Mail-Adressen genutzt habe, seien auch die auf der Grundlage der §§ 94 ff. StPO angeordneten Sicherstellungen und Beschlagnahmen von E-Mails, die nach Beendigung des Übertragungsvorgangs auf dem Mailserver des Providers gespeichert seien, verhältnismäßig. Weniger eingriffsintensive Maßnahmen zur Sicherung beweiserheblicher E-Mails etwa durch Beschränkung der Beschlagnahme auf einen Teil des Datenbestandes seien nicht in Betracht gekommen, weil eine Eingrenzung der ermittlungsrelevanten E-Mails anhand bestimmter Sender- oder Empfängeradressen oder anhand von Suchbegriffen nicht in geeigneter Weise möglich erscheine. Dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz werde dadurch Rechnung getragen, dass zunächst nur eine vorläufige Sicherstellung des gesamten E-Mail-Bestandes erfolgt sei, an die sich sodann eine Durchsicht des sichergestellten Datenmaterials nach § 110 Abs. 1 bzw. Abs. 3 StPO zur Feststellung der Beweiserheblichkeit und -verwertbarkeit - auch unter Beachtung von § 148 StPO - anschließe. Erst im Anschluss an diese Verfahrensschritte werde die endgültige Entscheidung über den erforderlichen und zulässigen Umfang der Beschlagnahme getroffen.
14


Der Gewährung rechtlichen Gehörs zu der Beschwerdeerwiderung der Staatsanwaltschaft habe es nicht bedurft, weil mit dem Kammerbeschluss keine Tatsachen oder Erkenntnisse verwertet worden seien, zu denen der Beschwerdeführer noch nicht habe Stellung nehmen können.
15

9. Gegen den Beschluss des Landgerichts erhob der Beschwerdeführer Anhörungsrüge. Die Beschwerdeerwiderung der Staatsanwaltschaft sei ihm vorenthalten worden; er habe sie erst nachträglich von der Staatsanwaltschaft erhalten. Die darin enthaltenen Ausführungen der Staatsanwaltschaft beträfen den Kern des ergangenen Beschlusses. Insbesondere habe die Staatsanwaltschaft Untersuchungen im Zusammenhang mit der kriminalistischen Erfahrung eingeführt, zu denen die Verteidigung nicht habe Stellung nehmen können.
16

10. Das Landgericht wies die Anhörungsrüge zurück. § 33a StPO erfasse nicht jede, sondern nur eine entscheidungserhebliche Verletzung rechtlichen Gehörs. Eine solche liege nur vor, wenn sich die unterbliebene Anhörung auf das Ergebnis der Entscheidung ausgewirkt habe. Daran fehle es hier. Soweit der Beschwerdeführer auf in der Stellungnahme vorgetragene empirische Erkenntnisse abstelle, hätten diese weder in den Kammerbeschluss Eingang gefunden noch seien sie sonst für die Entscheidung maßgeblich gewesen.
17

11. Hiergegen erhob der Beschwerdeführer Gegenvorstellung. Zum einen habe das Amtsgericht den ersten der angegriffenen Durchsuchungsbeschlüsse zu einem Zeitpunkt erlassen, als er noch nicht aus dem Deutschen Bundestag ausgeschieden war, so dass eine Verletzung seiner Immunität vorliege. Zum anderen habe die Staatsanwaltschaft anhand des amtsgerichtlichen Beschlusses vom 17. Februar 2014 auf in den Räumen des Bundestages gespeicherte Telekommunikationsverkehrsdaten zugegriffen, obwohl eine gesetzliche Grundlage für einen solchen Zugriff nicht existiere. Das Bundesverfassungsgericht habe den Zugriff auf Telekommunikationsverkehrsdaten untersagt und die gesetzliche Grundlage (§ 100g Abs. 1 Satz 1 StPO) für nichtig erklärt.
18

12. Das Landgericht lehnte eine Abänderung seines Beschlusses ab. Die Immunität des Beschwerdeführers habe am 10. Februar 2014 nicht mehr bestanden, da der Präsident des Deutschen Bundestages festgestellt habe, dass dieser mit Ablauf des 6. Februar 2014 aus dem Bundestag ausgeschieden sei. Diese Feststellung sei konstitutiv. Eine hinreichende Ermächtigungsgrundlage für die Sicherstellung und Beschlagnahme von Telekommunikationsdaten sei ebenfalls gegeben.
II.
19

Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung seiner Immunität als Abgeordneter des Deutschen Bundestages (Art. 46 Abs. 2 GG). Sie habe bei Erlass und Vollzug der Durchsuchungs- und Beschlagnahmeanordnung am 10. Februar 2014 noch bestanden, da er erst mit Ablauf dieses Tages aus dem Deutschen Bundestag ausgeschieden sei.
20

Auch Art. 13 Abs. 1 GG sei durch die angegriffenen Beschlüsse verletzt, weil die Durchsuchungen auf einen Anfangsverdacht gestützt worden seien, der ausschließlich an strafloses Verhalten anknüpfe. Wer sich legal verhalte, dürfe strafprozessualen Maßnahmen aber nicht ausgesetzt werden.
21

Zudem stellten die Beschlagnahme seiner E-Mails sowie der Zugriff auf die Verkehrsdaten seines Kommunikationsverhaltens einen rechtswidrigen Eingriff in das Grundrecht aus Art. 10 Abs. 1 GG dar. Der Deutsche Bundestag habe seine dort beschlagnahmten Verkehrsdaten nicht speichern dürfen; die Beschlagnahme dieser Daten sei ohne Rechtsgrundlage erfolgt. Die in Frage kommende Rechtsgrundlage des § 100g Abs. 1 Satz 1 StPO sei vom Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zur Vorratsdatenspeicherung vom 2. März 2010 wegen Verstoßes gegen Art. 10 Abs. 1 GG für nichtig erklärt worden. Mangels Anordnung einer hinreichenden Begrenzung der Durchsuchung und Beschlagnahme verstoße die umfassende Beschlagnahme aller E-Mails zudem gegen das Übermaßverbot. Insbesondere sei sie rechtswidrig, da auch E-Mails des Beschwerdeführers mit seinem Prozessbevollmächtigten beschlagnahmt worden seien. Schließlich sei sein Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt worden.
III.
22

1. Der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof und das Niedersächsische Justizministerium haben im Verfahren Stellung genommen. Sie halten die Verfassungsbeschwerde für unbegründet.
23

2. Dem Bundesverfassungsgericht haben die Akten 3714 Js 9585/14 der Staatsanwaltschaft Hannover vorgelegen.
IV.
24

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen. Die Annahmevoraussetzungen des § 93a Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor. Die vom Beschwerdeführer zu Art. 46 Abs. 2, 13 Abs. 1 und 10 Abs. 1 GG aufgeworfenen Fragen verleihen der Verfassungsbeschwerde keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung (§ 93a Abs. 2 Buchst. a BVerfGG, vgl. BVerfGE 90, 22 <24>; 96, 245 <248>), weil sie für die Entscheidung entweder nicht erheblich sind oder sich mit Hilfe der in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entwickelten Maßstäbe ohne weiteres beantworten lassen. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist auch nicht zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchst. b BVerfGG). Die geltend gemachte Verletzung von Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten hat weder ein besonderes Gewicht noch betrifft sie den Beschwerdeführer in existenzieller Weise (vgl. BVerfGE 90, 22 <25 f.>), weil die zur Begründung der Verfassungsbeschwerde erhobenen Rügen keine hinreichende Aussicht auf Erfolg haben; sie sind teilweise unzulässig, im Übrigen unbegründet.
25

1. Soweit der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 46 Abs. 2 GG rügt, ist die Verfassungsbeschwerde unzulässig.
26

a) Der Beschwerdeführer ist allerdings grundsätzlich berechtigt, die von ihm behauptete Verletzung seiner Immunität als Abgeordneter des Deutschen Bundestages im Verfahren der Verfassungsbeschwerde geltend zu machen (Art. 46 Abs. 2 i.V.m. Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG). Zwar gewährleistet Art. 46 Abs. 2 GG weder ein Grundrecht noch ein grundrechtsgleiches Recht (§ 90 Abs. 1 BVerfGG) des einzelnen Parlamentsabgeordneten. Die Gewährleistung der parlamentarischen Immunität dient vielmehr in erster Linie der Funktionsfähigkeit des Parlaments. Sie ist deshalb für den einzelnen Abgeordneten auch nicht - etwa durch Verzicht unter Beibehaltung des Status als Abgeordneter - verfügbar (vgl. BVerfGE 104, 310 <325 ff.>). Der Abgeordnete kann allerdings aus Art. 46 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG gegenüber dem Parlament beanspruchen, dass dieses willkürfrei über eine beantragte Aufhebung der Immunität entscheidet (vgl. BVerfGE 104, 310 <331 ff.>). Art. 46 Abs. 2 GG enthält zudem ein Verfahrenshindernis, das die öffentliche Gewalt bei allen Maßnahmen, die sie gegen Abgeordnete des Deutschen Bundestages richtet, streng zu beachten hat; auf dieses Verfahrenshindernis kann sich auch der einzelne Abgeordnete berufen. Macht der Beschwerdeführer - wie vorliegend - nicht seine organschaftliche Stellung gegenüber dem Parlament als einem im Organstreitverfahren parteifähigen Verfassungsorgan geltend, sondern die Verletzung seiner Immunität als eines subjektiven öffentlichen Rechts gegenüber allen anderen Trägern öffentlicher Gewalt, ist die Klärung, ob dieses Recht verletzt wurde, im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde statthaft (vgl. BVerfGE 108, 251 <266> zu Art. 47 GG).
27



b) Zwar sind der Beschluss des Amtsgerichts vom 10. Februar 2014 und der angegriffene Beschluss des Landgerichts, soweit er diesen Durchsuchungsbeschluss bestätigt, unter Verletzung des Art. 46 Abs. 2 GG zustande gekommen (aa); der Berücksichtigung dieses Umstands im Verfassungsbeschwerdeverfahren steht indes der Grundsatz der materiellen Subsidiarität entgegen (bb).
28

aa) Art. 46 Abs. 2 GG gewährt den Abgeordneten des Deutschen Bundestages Schutz gegen jede Form einer strafgerichtlichen oder behördlichen Untersuchung mit dem Ziel der Strafverfolgung, wozu auch Durchsuchungen und Beschlagnahmen gehören (vgl. BVerfGE 104, 310 <334 ff.>). Ein Abgeordneter darf deshalb Strafverfolgungsmaßnahmen nur ausgesetzt werden, wenn hierfür - vom Sonderfall des Art. 46 Abs. 2 2. Halbsatz GG abgesehen - eine Genehmigung des Bundestages vorliegt; die Genehmigung muss nach ihrem Zweck vorab eingeholt werden. Ist - wie im vorliegenden Fall - eine derartige Genehmigung nicht beantragt oder erteilt, verhindert die parlamentarische Immunität eine Strafverfolgung jedenfalls so lange, bis der Abgeordnete seinen Status als Parlamentsmitglied verliert. Dies setzt nach § 1 AbgG in Verbindung mit §§ 46, 47 BWahlG voraus, dass ein Verlustgrund vorliegt und eine Entscheidung über den Verlust der Mitgliedschaft getroffen wird.
29

Gemäß § 46 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 BWahlG verliert ein Abgeordneter die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag unter anderem durch einen wirksamen Verzicht. Der Verzicht kann gemäß § 46 Abs. 3 Satz 1 BWahlG zur Niederschrift eines Notars erklärt werden. Die - nicht widerrufliche (§ 46 Abs. 3 Satz 3 BWahlG) - Verzichtserklärung ist dem Bundestagspräsidenten zuzuleiten, der unverzüglich und von Amts wegen eine Entscheidung über den Verlust der Mitgliedschaft des Abgeordneten zu treffen hat (§ 46 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. § 47 Abs. 3 Satz 2 BWahlG); dies hat in der Form einer schriftlichen Bestätigung der Verzichtserklärung zu geschehen (§ 47 Abs. 1 Nr. 4 BWahlG). Der Zeitpunkt, zu dem der Abgeordnete in einem solchen Falle aus dem Bundestag ausscheidet, wird durch § 47 Abs. 3 Satz 1 BWahlG bestimmt: Danach scheidet der Abgeordnete „mit der Entscheidung“ des Bundestagspräsidenten aus dem Deutschen Bundestag aus. Eine Befugnis des Bundestagspräsidenten, den Zeitpunkt des Ausscheidens abweichend festzusetzen, sieht das Gesetz aus Gründen der Rechtsklarheit und um jede Möglichkeit einer Einflussnahme auf die personelle Zusammensetzung des Parlaments auszuschalten, nicht vor.
30

Nach diesen Vorschriften war der Beschwerdeführer jedenfalls zu dem Zeitpunkt, in dem das Amtsgericht den mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Beschluss vom 10. Februar 2014 erlassen hat, noch Mitglied des Deutschen Bundestages. Er hat die Verzichtserklärung gegenüber einem Notar abgegeben, ohne einen von ihm gewünschten Zeitpunkt für die Beendigung des Mandats zu bestimmen. Diese am 6. Februar 2014 beurkundete Erklärung ist dem Präsidenten des Deutschen Bundestages am 7. Februar 2014 zugeleitet worden, der sie am 10. Februar 2014 schriftlich bestätigt hat. Damit ist der Beschwerdeführer nach dem Wortlaut des Gesetzes erst mit dem Wirksamwerden der Entscheidung vom 10. Februar 2014 aus dem Deutschen Bundestag ausgeschieden.
31

Der Umstand, dass der Beschwerdeführer in den sozialen Medien - ebenso wie sein Verteidiger schriftsätzlich - selbst ein früheres Datum genannt hat, und der Bundestagspräsident in seiner Erklärung vom 10. Februar 2014 als Zeitpunkt für die Mandatsbeendigung den Ablauf des 6. Februar 2014 festgestellt hat, vermag daran nichts zu ändern. Denn für die parlamentarische Arbeit ist es von ausschlaggebender Bedeutung, dass Klarheit darüber herrscht, wer dem Parlament angehört und wer nicht (mehr); dies wird insbesondere in einer Situation knapper Mehrheiten deutlich. Weder darf durch eine „Rückdatierung“ der Mandatsbeendigung die Frage nach der Wirksamkeit etwaiger Aktivitäten des Abgeordneten bis zu der in § 47 Abs. 1 Nr. 4 BWahlG vorgesehenen Bestätigung der Verzichtserklärung aufgeworfen werden, noch wäre es zulässig, den Verzichtswillen des Abgeordneten durch eine verzögerte Abgabe der Bestätigungserklärung oder durch die Feststellung eines in der Zukunft liegenden Datums für die Mandatsbeendigung zu umgehen. Der von Gesetzes wegen klar und einfach festzustellende maßgebliche Zeitpunkt für die Beendigung des Mandats soll so jeder Einflussnahme durch abweichende Erklärungen entzogen sein. Die unverzüglich abzugebende Bestätigung nach § 47 Abs. 1 Nr. 4 BWahlG ist demnach für das Wirksamwerden der Mandatsbeendigung einerseits unverzichtbar, sie darf den Zeitpunkt für die Wirksamkeit des Mandatsverzichts andererseits aber auch nicht abweichend von § 47 Abs. 3 Satz 1 BWahlG bestimmen.
32

Daraus folgt für den vorliegenden Fall, dass der Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschluss des Amtsgerichts vom 10. Februar 2014 unter Verletzung der an diesem Tag noch bestehenden Immunität des Beschwerdeführers erlassen worden ist und dass auch der Beschluss des Landgerichts vom 1. April 2014 Art. 46 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG insoweit verletzt, als er den Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschluss des Amtsgerichts nicht korrigiert hat. Die Fachgerichte waren verpflichtet, den Erlass einer Durchsuchungsanordnung gegen einen Beschuldigten, der jedenfalls unmittelbar vor dem Erlass der maßgeblichen Beschlüsse noch Abgeordneter des Deutschen Bundestages gewesen war, auch im Hinblick auf das Verfolgungshindernis der Immunität zu überprüfen. Angesichts des unmissverständlichen Wortlauts der maßgeblichen Vorschriften - insbesondere des § 47 Abs. 3 Satz 1 BWahlG - war offenkundig, dass weder Verlautbarungen des Beschuldigten auf seiner Homepage und seines Verteidigers in einem Schriftsatz noch eine vom Gesetz nicht vorgesehene Feststellung des Bundestagspräsidenten konstitutive Bedeutung für den Zeitpunkt der Mandatsbeendigung haben konnten. Dies hätten die zuständigen Gerichte prüfen und erkennen müssen.
33

bb) Der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde steht jedoch der Grundsatz der materiellen Subsidiarität entgegen. Nach diesem Grundsatz muss ein Beschwerdeführer das ihm Mögliche tun, damit eine Grundrechtsverletzung im fachgerichtlichen Instanzenzug unterbleibt oder beseitigt wird. Er muss insbesondere alle nach Lage der Sache zur Verfügung stehenden Möglichkeiten ergreifen, um die geltend gemachte Grundrechtsverletzung in dem unmittelbar mit ihr zusammenhängenden sachnächsten Verfahren zu verhindern oder zu beseitigen (vgl. BVerfGE 107, 395 <414>; 112, 50 <60>; 129, 78 <92>; stRspr).
34

Dies hat der Beschwerdeführer nicht getan. Er hat sich weder im fachgerichtlichen Rechtsweg auf das Verfahrenshindernis der Immunität berufen noch den Fachgerichten die Tatsachen vorgetragen, aus denen sich die Verletzung von Art. 46 Abs. 2 GG ergibt.
35

Der rechtzeitigen Geltendmachung dieses Verfahrenshindernisses steht nicht entgegen, dass die Verwaltung des Deutschen Bundestages den Beschwerdeführer erst am 8. Mai 2014 über das sich aus dem Gesetz ergebende Datum seines Ausscheidens aus dem Deutschen Bundestag informiert hat. Denn auch der Beschwerdeführer beziehungsweise sein Verteidiger hätte die Fehlerhaftigkeit der Annahme eines Ausscheidens am 6. Februar 2014 ohne weiteres erkennen können und deshalb im fachgerichtlichen Verfahren rügen müssen. Dass sich der Präsident des Deutschen Bundestages diesen Fehler zunächst zu eigen gemacht hat, enthebt den Beschwerdeführer nicht der Notwendigkeit einer eigenständigen Prüfung. Das gilt auch in Ansehung des Umstands, dass es sich insoweit offenbar um eine fest etablierte Praxis gehandelt hat.
36



2. Soweit der Beschwerdeführer die Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschlüsse des Amtsgerichts in der Gestalt der Beschwerdeentscheidung des Landgerichts (vgl. BVerfGK 5, 84 <88>) als Verletzung seines Rechts aus Art. 13 Abs. 1 GG rügt, ist die Verfassungsbeschwerde unbegründet. Der Beschwerdeführer legt seiner Begründung nicht die Feststellungen und Wertungen der Fachgerichte zugrunde; die von ihm als verfassungsrechtlich grundsätzlich bedeutsam aufgeworfene Frage ist daher nicht entscheidungserheblich.
37

a) Mit der Garantie der Unverletzlichkeit der Wohnung durch Art. 13 Abs. 1 GG erfährt die räumliche Lebenssphäre des Einzelnen einen besonderen grundrechtlichen Schutz, in den mit einer Durchsuchung schwerwiegend eingegriffen wird (vgl. BVerfGE 42, 212 <219 f.>; 96, 27 <40>; 103, 142 <150 f.>). Zur Rechtfertigung eines Eingriffs in die Unverletzlichkeit der Wohnung zum Zwecke der Strafverfolgung ist daher der Verdacht erforderlich, dass eine Straftat begangen wurde.
38

Dieser Anfangsverdacht muss auf konkreten Tatsachen beruhen; vage Anhaltspunkte und bloße Vermutungen reichen nicht aus (vgl. BVerfGE 44, 353 <371 f.>; 115, 166 <197 f.>). Ein Verstoß gegen diese Anforderungen liegt vor, wenn sich sachlich zureichende plausible Gründe für eine Durchsuchung nicht finden lassen (vgl. BVerfGE 59, 95 <97>). In der Rechtsprechung ist andererseits auch geklärt, dass ein Anfangsverdacht für die Begehung einer Straftat durch ein an sich legales Verhalten begründet werden kann, wenn weitere Anhaltspunkte hinzutreten (vgl. BVerfGK 5, 84 <90>; 8, 332 <336>; auch BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 23. März 1994 - 2 BvR 396/94 -, NJW 1994, S. 2079).
39

b) Soweit der Beschwerdeführer meint, die angegriffenen Beschlüsse gingen - weil derartige weitere Anhaltspunkte vorliegend nicht gegeben seien - von der Prämisse aus, dass ein Anfangsverdacht auch an ein ausschließlich legales Verhalten des Beschuldigten ohne das Hinzutreten weiterer Anhaltspunkte anknüpfen könne, führt dies nicht zur Annahme der Verfassungsbeschwerde. Denn eine derartige Prämisse haben die Fachgerichte ihren Beschlüssen nicht zugrunde gelegt.
40

Nach seinen verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden Ausführungen hat das Landgericht den Anfangsverdacht im vorliegenden Fall darauf gestützt, dass es das dem Beschwerdeführer unstreitig zuzuordnende Material entweder bereits für strafrechtlich relevant gehalten oder es jedenfalls in einen von tatsächlichen Wertungen abhängigen Grenzbereich zwischen strafrechtlich relevantem und irrelevantem Material eingeordnet hat. Damit ist es gerade nicht - wie der Beschwerdeführer meint -, davon ausgegangen, er habe sich ausschließlich legal verhalten und es lägen aussagekräftige Gesichtspunkte für einen hinreichenden Anfangsverdacht nicht vor. Vielmehr hat das Landgericht das dem Beschwerdeführer zugeordnete Material als Darstellung „vermeintlicher“ - also nicht tatsächlich vorliegender - Alltagssituationen mit selbstzweckhaften Fokussierungen auf Geschlechtsteile ohne einen erkennbaren Handlungskontext beschrieben und den sexualisierten Charakter der Darstellungen betont. Es ist dabei zu dem Schluss gelangt, dass zu erwarten sei, der Beschwerdeführer werde sich „auch“ aus anderen Quellen kinderpornografisches Material verschaffen. Damit hat es die ausgewerteten Darstellungen als strafrechtlich relevant oder zumindest als Material eingestuft, dessen strafrechtliche Relevanz allein von schwierigen tatsächlichen Wertungen - Alter der Kinder, Einschätzung der dargestellten Handlungsabläufe und Posen als noch natürliche oder als für Kinder schon unnatürliche - abhängt. Ohne die Reichweite des durch Art. 13 GG gewährleisteten Schutzes zu verkennen, ist das Gericht zudem von dem kriminalistischen Erfahrungssatz ausgegangen, dass die Grenze zur strafbaren Kinderpornografie bei dem Bezug solcher als strafrechtlich relevant einschätzbarer Medien über das Internet - jedenfalls bei Anbietern, die auch eindeutig strafbares Material liefern - nicht zielsicher eingehalten werden kann und regelmäßig auch überschritten wird.
41

c) Die Einschätzung des Landgerichts, dass die angeordneten Durchsuchungen verhältnismäßig waren, ist plausibel und nachvollziehbar. Insbesondere ist nicht zu beanstanden, dass das Landgericht das Kooperationsangebot des Beschwerdeführers, alle gewünschten Gegenstände freiwillig herauszugeben, nicht als milderes, aber ebenso geeignetes Mittel zum Auffinden von Beweismitteln wie die angeordnete Durchsuchung eingestuft hat. Gleiches gilt für die Wertung, dass die kriminalistische Erfahrung sowohl die Annahme eines perpetuierten Besitzwillens bei entgeltlichem Erwerb kinderpornografischen Materials als auch die forensische Möglichkeit der Wiederherstellung gelöschter elektronischer Daten rechtfertige. Schließlich bestehen keine Bedenken hinsichtlich der Bestimmtheit der angegriffenen Beschlüsse. Art und vorgestellter Inhalt der Beweismittel, nach denen gesucht werden sollten, sind so genau bezeichnet, wie es nach Lage der Dinge geschehen konnte und für eine angemessene rechtsstaatliche Begrenzung der Durchsuchung (vgl. BVerfGE 20, 162 <224>; BVerfGK 14, 90 <94>) erforderlich war. Insbesondere in Bezug auf die elektronischen Speichermedien ist nicht ersichtlich, dass diese genauer hätten beschrieben werden können.
42

3. Auch die Rüge, der Beschwerdeführer werde durch die Beschlagnahme seiner E-Mails und der Verkehrsdaten seiner Internetkommunikation in seinem Grundrecht aus Art. 10 Abs. 1 GG verletzt, erweist sich als unbegründet.
43



a) Die auf die Sicherstellung und Beschlagnahme von E-Mails auf dem Mailserver der Provider gerichteten Durchsuchungsanordnungen sind, gemessen an der Gewährleistung des Fernmeldegeheimnisses durch Art. 10 Abs. 1 GG, nicht zu beanstanden.
44

Die Beschlüsse beruhen auf §§ 94 ff. StPO und damit auf einer Rechtsgrundlage, die den verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine gesetzliche Ermächtigung für derartige Eingriffe in das Fernmeldegeheimnis genügen (vgl. BVerfGE 124, 43 <58 ff.>). Dem Schutz des Fernmeldegeheimnisses muss allerdings bereits in der Durchsuchungsanordnung, soweit die konkreten Umstände dies ohne Gefährdung des Untersuchungszwecks erlauben, durch Vorgaben zur Beschränkung des Beweismaterials auf den tatsächlich erforderlichen Umfang Rechnung getragen werden, etwa durch die zeitliche Eingrenzung oder die Beschränkung auf bestimmte Kommunikationsinhalte (vgl. BVerfGE 124, 43 <67>). Diesen sich aus dem Verbot unverhältnismäßiger Eingriffe ergebenden Anforderungen kann bei der Sicherstellung und Beschlagnahme von auf dem Mailserver des Providers gespeicherten E-Mails in vielfältiger Weise Rechnung getragen werden. Ist eine sorgfältige Sichtung und Trennung der E-Mails nach ihrer Verfahrensrelevanz am Zugriffsort nicht möglich oder erlaubt die - auch technische - Erfassbarkeit des Datenbestands eine unverzügliche Zuordnung nicht, muss die vorläufige Sicherstellung größerer Teile oder gar des gesamten E-Mail-Bestands erwogen werden, an die sich eine Durchsicht gemäß § 110 StPO zur Feststellung der potenziellen Beweiserheblichkeit und -verwertbarkeit der E-Mails anschließt (vgl. BVerfGE 124, 43 <67 f.>).
45

Die Feststellung des Landgerichts, dass weniger eingriffsintensive Maßnahmen zur Sicherung beweiserheblicher E-Mails unter Vermeidung für das Verfahren bedeutungsloser Informationen - etwa eine Beschränkung der Beschlagnahme auf einen Teil des Datenbestands - nicht in Betracht gekommen sei, da eine Eingrenzung anhand von Sender- oder Empfängerangaben oder Suchbegriffen nicht ausreichend geeignet erschien, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Diese Einschätzung ist angesichts des Verdachts über das Internet bezogener kinderpornografischer Schriften nachvollziehbar. Es ist bereits nicht ersichtlich und auch von dem Beschwerdeführer nicht vorgetragen, anhand welcher Kriterien eine Eingrenzung der Sicherstellung hätte erfolgen können. Ebenso wenig ist die Entscheidung für ein zweistufiges Verfahren - vorläufige Sicherstellung und Durchsicht nach § 110 Abs. 1, Abs. 3 StPO unter Beachtung des Beschlagnahmeverbots der Verteidigerpost gemäß § 148 StPO und endgültige Beschlagnahme nur der verfahrensrelevanten E-Mails - zu beanstanden, da dieses geeignet ist, die Verhältnismäßigkeit des Grundrechtseingriffs zu wahren. Dass auf diese Weise auch die zwischen dem Beschwerdeführer und seinem Verteidiger per E-Mail geführte Korrespondenz einer Durchsicht unterzogen wird, ist noch nicht als unverhältnismäßig anzusehen, da andernfalls jedes E-Mail-Konto auf einfache Weise dem Zugriff der Ermittlungsbehörden vollständig entzogen werden könnte.
46

b) Verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist auch die Beschlagnahmeanordnung hinsichtlich der Verkehrsdaten im Zusammenhang mit der Internetkommunikation des Beschwerdeführers, die ebenfalls von dem Schutz des Art. 10 Abs. 1 GG erfasst ist (vgl. BVerfGE 100, 313 <395 ff.>). Sie beruhen auf § 100g Abs. 3 StPO in Verbindung mit §§ 94 ff. und §§ 102 ff. StPO (vgl. BVerfGE 113, 29 <50 ff.>; 115, 166 <191>) und wahren die aus der erhöhten Schutzwürdigkeit von Verkehrsdaten abzuleitenden Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit des Grundrechtseingriffs, die für Verkehrsdaten als Ziel einer Durchsuchung ebenso wie für die Beschlagnahme von E-Mails zu gelten haben (vgl. BVerfGE 115, 166 <198 f.>).
47

Das Landgericht hat erkannt, dass es sich bei E-Mails und Verkehrsdaten um unterschiedliche Kategorien von Daten handelt und ist im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung von nicht zu beanstandenden Wertungen ausgegangen. Dass es in den Entscheidungsgründen nicht durchweg zwischen E-Mails und Verkehrsdaten unterschieden hat, ist im Hinblick auf die parallelen Anforderungen hinsichtlich dieser beiden Kategorien nicht zu beanstanden.
48

4. Eine Annahme der Verfassungsbeschwerde kommt schließlich auch im Hinblick auf die Rüge nicht in Betracht, der Anspruch des Beschwerdeführers auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) sei verletzt worden.
49

a) Allerdings hat das Landgericht das Recht des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör verletzt, indem es die Beschwerde zurückwies, ohne dem Beschwerdeführer zuvor die Möglichkeit einer Stellungnahme zur Beschwerdeerwiderung der Staatsanwaltschaft einzuräumen. Der grundrechtliche Anspruch auf rechtliches Gehör dient nicht nur der Gewährleistung sachrichtiger Entscheidungen, sondern auch der Wahrung der Subjektstellung der Beteiligten im gerichtlichen Verfahren (vgl. BVerfGE 107, 395 <409>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 21. März 2011 - 2 BvR 301/11 -, juris; EGMR, Ziegler v. Switzerland, Urteil vom 21. Februar 2002, Nr. 33499/96, § 38; Steck-Risch et al. v. Liechtenstein, Urteil vom 19. Mai 2005, Nr. 63151/00, § 57). Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet die Gerichte daher, Verfahrensbeteiligten Gelegenheit zu geben, sich zu Stellungnahmen der anderen Verfahrensbeteiligten in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht zu äußern und durch einen sachlich fundierten Vortrag die Willensbildung des Gerichts zu beeinflussen (vgl. BVerfGE 22, 114 <119>; 49, 212 <215>; 89, 28 <35>; 101, 106 <129>). Das Grundrecht aus Art. 103 Abs. 1 GG vermittelt einen umfassenden Anspruch, über den gesamten Prozessstoff kommentarlos und ohne Einschränkungen unterrichtet zu werden. Dies gilt unabhängig davon, ob eine Äußerung im konkreten Fall Einfluss auf das Entscheidungsergebnis gewinnen kann oder nicht.
50

b) Der Gehörsverstoß des Landgerichts ist jedoch durch die Entscheidung über die Anhörungsrüge geheilt worden. Aus den Gründen des Beschlusses vom 13. Mai 2014 ergibt sich, dass das Gericht den Vortrag des Beschwerdeführers zu den ihm zunächst vorenthaltenen Ausführungen der Staatsanwaltschaft nachträglich zur Kenntnis genommen und erwogen hat. Insbesondere hat es die Ausführungen des Beschwerdeführers zu den empirischen Grundlagen der vom Landgericht herangezogenen kriminalistischen Erfahrungssätze zur Begründung einer hinreichenden Auffindewahrscheinlichkeit als für die angegriffene Entscheidung aus Rechtsgründen unerheblich eingestuft, sich auf dieser Grundlage eine abschließende Meinung gebildet und an seiner Rechtsansicht festgehalten.
51

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Huber Müller Maidowski
MARS
 
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Mikrozensus verfassungswidrig ?

Beitragvon MARS » Mo 12. Jan 2015, 13:27

BVerfG - Beschluß v. 16. Juli 1969 - 1 BvL 19/63 -

BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

Beschluß

des Ersten Senats vom 16. Juli 1969
-- 1 BvL 19/63 --

in dem Verfahren wegen verfassungsrechtlicher Prüfung des §2 Nr. 3 des Gesetzes über die Durchführung einer Repräsentativstatistik der Bevölkerung und des Erwerbslebens (Mikrozensus) vom 16. März 1957 - BGBl. I S. 213 - in der Fassung des Gesetzes vom 5. Dezember 1960 - BGBl. I S. 873 - Aussetzung und Vorlagebeschluß des Amtsgerichts Fürstenfeldbruck vom 30. Oktober 1963 - Gs. 168/63 -.

Entscheidungsformel:

§ 1 und § 2 Nummer 3 des Gesetzes über die Durchführung einer Repräsentativstatistik der Bevölkerung und des Erwerbslebens (Mikrozensus) vom 16. März 1957 (Bundesgesetzbl. I S. 213) in der Fassung des Gesetzes vom 5. Dezember 1960 (Bundesgesetzbl. I S. 873) waren mit dem Grundgesetz vereinbar, soweit bestimmt wurde, daß für die in § 1 des Gesetzes angeordnete Statistik auf repräsentativer Grundlage die Tatbestände Urlaubs- und Erholungsreisen erfaßt werden.

Gründe:

A.

Das Gesetz über die Durchführung einer Repräsentativstatistik der Bevölkerung und des Erwerbslebens (Mikrozensus) vom 16. März 1957 (BGBl. I S. 213) - Mikrozensusgesetz - bestimmte in der für das vorliegende Verfahren maßgebenden Fassung des Gesetzes vom 5. Dezember 1960 (BGBl. I S. 873) u.a. folgendes:


§ 1



Im Geltungsbereich dieses Gesetzes wird in den Jahren 1956 bis einschließlich 1962 eine Statistik der Bevölkerung und des Erwerbslebens auf repräsentativer Grundlage (Mikrozensus) vierteljährlich als Bundesstatistik durchgeführt, und zwar einmal jährlich mit einem Auswahlsatz von 1 vom Hundert und dreimal jährlich mit einem Auswahlsatz von 0,1 vom Hundert der Bevölkerung.



§ 2



Für diese Statistik werden folgende Tatbestände erfaßt:



1. Anzahl und Namen der zur Haushaltung gehörenden Personen, deren Geschlecht, Alter, Stellung zum Haushaltsvorstand, Familienstand, Kinderzahl, Staatsangehörigkeit, Vertriebenen (Flüchtlings-)eigenschaft, Wohnsitz und Wohnsitzveränderungen, Körperbehinderung und ihre Ursachen, landwirtschaftliche Nutzfläche der Haushaltung;



2. Beteiligung oder Nichtbeteiligung am Erwerbs- und Berufsleben, insbesondere Beschäftigung und Arbeitslosigkeit, Beruf, Arbeitsstätte, beschäftigte Arbeitskräfte, Arbeitszeit und Versicherungsschutz;



3. Urlaubs- und Erholungsreisen, Einkommenslage, bei erwerbstätigen Müttern Betreuung der Kinder. Diese Tatbestände werden während der Geltungsdauer dieses Gesetzes nur einmal erhoben.


Die Bestimmung des § 2 Nr. 3 ist durch Art. 1 Abs. 2 Nr. 2 des Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Durchführung einer Repräsentativstatistik der Bevölkerung und des Erwerbslebens (Mikrozensus) vom 5. Dezember 1960 (BGBl. I S. 873) eingefügt worden.

Auf diese Befragung fand das Gesetz über die Statistik für Bundeszwecke vom 3. September 1953 (BGBl. I S. 1314) - StatG - Anwendung. Danach bestand eine Verpflichtung zur Beantwortung der angeordneten Fragen (§ 10 Abs. 1 StatG). Wer dieser Pflicht vorsätzlich oder fahrlässig nicht nachkam, beging eine Ordnungswidrigkeit, die mit einer Geldbuße bis zu zehntausend Deutsche Mark geahndet werden konnte (§ 14 StatG).


B. -- I.

1. Die Betroffene des Ausgangsverfahrens wohnt in einem Gebiet, das nach einem statistisch-mathematischen Verfahren ermittelt worden ist und dessen sämtliche Bewohner nach dem Mikrozensusgesetz zu befragen sind. Sie weigerte sich, die Beauftragten des Bayerischen Statistischen Landesamtes zu empfangen und alle 60 Fragen zu beantworten, die in einem weißen Fragebogen und in einem gelben Ergänzungsfragebogen niedergelegt waren. Auf Antrag des Bayerischen Statistischen Landesamtes setzte darauf das Landratsamt Fürstenfeldbruck durch Bußgeldbescheid gegen sie eine Geldbuße von 100 DM gemäß § 14 StatG fest. Die Betroffene beantragte gerichtliche Entscheidung. Durch Beschluß vom 30. Oktober 1963 - Gs 168/63 - hat das Amtsgericht Fürstenfeldbruck die Sache ausgesetzt und dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung darüber vorgelegt, ob Art. 1 Abs. 2 Nr. 2 des Änderungsgesetzes vom 5. Dezember 1960 mit dem Grundgesetz vereinbar ist.

2. Zur Begründung der Vorlage hat das Amtsgericht ausgeführt: Die Bestimmung des Art. 1 Abs. 2 Nr. 2 des Änderungsgesetzes vom 5. Dezember 1960 widerspreche Art. 1 und Art. 2 GG insoweit, als die Auskunftspersonen zu Angaben über Urlaubs- und Erholungsreisen verpflichtet seien. Die Beantwortung der in Ziffer 48 des weißen Fragebogens und Ziffer 1 bis 6 des gelben Ergänzungsfragebogens enthaltenen Fragen über die Urlaubs- und Erholungsreisen sei Pflicht. Derartige Fragen über das Unternehmen einer Urlaubsreise, ihre Dauer und ihr Ziel mit genauer Angabe des Ortes und des Beförderungsmittels verletzten die Intimsphäre der Befragten. Im anhängigen Bußgeldverfahren sei es für die Festsetzung der Höhe der Geldbuße von Bedeutung, ob eine Verpflichtung zur Beantwortung aller Punkte der beiden Fragebogen bestanden habe oder nicht.

3. Die von der Betroffenen des Ausgangsverfahrens zu dem Tatbestand "Urlaubs- und Erholungsreisen" zu beantwortenden Fragen lauteten:


Wer hat eine Urlaubs- und Erholungsreise von 5 und mehrBVerfGE 27, 1 (3) BVerfGE 27, 1 (4)Tagen, auch wenn in Verbindung mit einer Geschäftsreise, unternommen,



a) in der Zeit vom 1. 10. 1961 bis zum 30. 9. 1962 und/oder



b) vor dem 1. 10. 1961?



Welche Haushaltsmitglieder haben an einer Reise teilgenommen?



Welcher Art war die Reise? (Einzel-[Privat-]reise, Einzelpauschalreise, Gesellschaftsreise, Verschickung)



Wann wurde die Reise begonnen und wie lange hat sie gedauert?



Wo wurde überwiegend Aufenthalt (im Inland oder Ausland) genommen? (Inland: Angabe des Aufenthaltsorts; Ausland: Angabe des bereisten Staates)



Welches Verkehrsmittel wurde auf der Hin- und Rückreise vorwiegend benutzt?



Welche Unterkunftsart wurde vorwiegend in Anspruch genommen?



(Beherbergungsbetrieb, Privatquartier gegen Entgelt, Unterkunft ohne Entgelt (Verwandte, Bekannte), Kuranstalt und Sanatorium, Ferien- und Erholungsheim, Kinderheim, Camping- und Zeltplatz, Jugendherberge).


II.

Der Bundesminister des Innern hält die zur Prüfung gestellte Regelung für verfassungsgemäß.

Eine Befragung verletze allenfalls dann die durch Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 GG geschützte Intimsphäre, wenn ihr Umfang über das durch einen legitimen Befragungszweck gedeckte Maß hinausgehe oder ihr Ergebnis für andere als statistische Zwecke verwendet werde. Überwiege das staatliche Interesse das des Einzelnen an der Störungsfreiheit seines Bereiches, so werde insbesondere das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit nicht verletzt.

An der Befragung über die Urlaubs- und Erholungsreisen bestehe ein besonderes öffentliches Interesse. Demgegenüber sei der mit der Erhebungsaktion verbundene Eingriff in die Intimsphäre des Betroffenen minimal.BVerfGE 27, 1 (4)


C. - I.

Die Vorlage ist zulässig.

1. Das Amtsgericht hat die Entscheidungserheblichkeit ausreichend dargelegt. Dem Zusammenhang des Vorlagebeschlusses läßt sich entnehmen, daß das Gericht bei Verfassungswidrigkeit der zur Prüfung gestellten Norm eine niedrigere Geldbuße festsetzen will als bei ihrer Verfassungsmäßigkeit.

2. Der durch Art. 1 Abs. 2 Nr. 2 des Gesetzes vom 5. Dezember 1960 eingefügte § 2 Nr. 3 des Mikrozensusgesetzes läßt sich in dem Tatbestand "Urlaubs- und Erholungsreisen" sowohl nach Inhalt als auch in seinem rechtlichen Gehalt nur in Verbindung mit § 1 des Mikrozensusgesetzes erfassen, der zu diesem Befragungstatbestand die Erhebungsart eines Mikrozensus (Repräsentativbefragung) festlegte. Das bedeutet, daß auch diese Vorschrift auf ihre Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz insoweit überprüft werden muß, als wegen dieses engen Zusammenhanges die Frage nach der Gültigkeit des § 2 Nr. 3 des Gesetzes nicht ohne Berücksichtigung der Erhebungsart beantwortet werden kann (vgl. BVerfGE 3, 208 [211]; 15, 80 [101]). Das Amtsgericht hat in seinem Vorlagebeschluß die Bestimmung des § 1 des Mikrozensusgesetzes nicht ausdrücklich herangezogen. Das hindert das Bundesverfassungsgericht jedoch nicht daran, auch diese Vorschrift in dem bezeichneten Umfang als zur Prüfung vorgelegt anzusehen (BVerfGE 12, 151 [163]) und die in der Vorlage gestellte Rechtsfrage genauer dahin zu bestimmen, daß § 1 und § 2 Nr. 3 des Mikrozensusgesetzes auf ihre Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz zu prüfen sind, soweit bestimmt wurde, daß für die in § 1 des Gesetzes angeordnete Statistik auf repräsentativer Grundlage die Tatbestände "Urlaubs- und Erholungsreisen" erfaßt werden.

II.

Die angeordnete Repräsentativbefragung zu dem Tatbestand "Urlaubs- und Erholungsreisen" verstieß weder gegen Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG noch gegen andere Bestimmungen des Grundgesetzes.BVerfGE 27, 1 (5)

BVerfGE 27, 1 (6)1. a) Nach Art. 1 Abs. 1 GG ist die Würde des Menschen unantastbar und muß von aller staatlichen Gewalt geachtet und geschützt werden.

In der Wertordnung des Grundgesetzes ist die Menschenwürde der oberste Wert (BVerfGE 6, 32 [41]). Wie alle Bestimmungen des Grundgesetzes beherrscht dieses Bekenntnis zu der Würde des Menschen auch den Art. 2 Abs. 1 GG. Der Staat darf durch keine Maßnahme, auch nicht durch ein Gesetz, die Würde des Menschen verletzen oder sonst über die in Art. 2 Abs. 1 GG gezogenen Schranken hinaus die Freiheit der Person in ihrem Wesensgehalt antasten. Damit gewährt das Grundgesetz dem einzelnen Bürger einen unantastbaren Bereich privater Lebensgestaltung, der der Einwirkung der öffentlichen Gewalt entzogen ist (BVerfGE 6, 32 [41], 389 [433]).

b) Im Lichte dieses Menschenbildes kommt dem Menschen in der Gemeinschaft ein sozialer Wert- und Achtungsanspruch zu. Es widerspricht der menschlichen Würde, den Menschen zum bloßen Objekt im Staat zu machen (vgl. BVerfGE 5, 85 [204]; 7, 198 [205]). Mit der Menschenwürde wäre es nicht zu vereinbaren, wenn der Staat das Recht für sich in Anspruch nehmen könnte, den Menschen zwangsweise in seiner ganzen Persönlichkeit zu registrieren und zu katalogisieren, sei es auch in der Anonymität einer statistischen Erhebung, und ihn damit wie eine Sache zu behandeln, die einer Bestandsaufnahme in jeder Beziehung zugänglich ist.

Ein solches Eindringen in den Persönlichkeitsbereich durch eine umfassende Einsichtnahme in die persönlichen Verhältnisse seiner Bürger ist dem Staat auch deshalb versagt, weil dem Einzelnen um der freien und selbstverantwortlichen Entfaltung seiner Persönlichkeit willen ein "Innenraum" verbleiben muß, in dem er "sich selbst besitzt" und "in den er sich zurückziehen kann, zu dem die Umwelt keinen Zutritt hat, in dem man in Ruhe gelassen wird und ein Recht auf Einsamkeit genießt" (Wintrich, Die Problematik der Grundrechte, 1957, S. 15 f.; vgl. auch Dürig in Maunz-Dürig, GG 2. Aufl., Rdnr. 37 zu Art. 1). In diesen BeBVerfGE 27, 1 (6)BVerfGE 27, 1 (7)reich kann der Staat unter Umständen bereits durch eine - wenn auch bewertungsneutrale - Einsichtnahme eingreifen, die die freie Entfaltung der Persönlichkeit durch den psychischen Druck öffentlicher Anteilnahme zu hemmen vermag.

c) Nicht jede statistische Erhebung über Persönlichkeits- und Lebensdaten verletzt jedoch die menschliche Persönlichkeit in ihrer Würde oder berührt ihr Selbstbestimmungsrecht im innersten Lebensbereich. Als gemeinschaftsbezogener und gemeinschaftsgebundener Bürger (vgl. BVerfGE 4, 7 [15, 16]; 7, 198 [205]; 24, 119 [144]) muß jedermann die Notwendigkeit statistischer Erhebungen über seine Person in gewissem Umfang, wie z.B. bei einer Volkszählung, als Vorbedingung für die Planmäßigkeit staatlichen Handelns hinnehmen.

Eine statistische Befragung zur Person kann deshalb dort als entwürdigend und als Bedrohung des Selbstbestimmungsrechtes empfunden werden, wo sie den Bereich menschlichen Eigenlebens erfaßt, der von Natur aus Geheimnischarakter hat, und damit auch diesen inneren Bezirk zu statistisch erschließbarem und erschließungsbedürftigem Material erklärt. Insoweit gibt es auch für den Staat der modernen Industriegesellschaft Sperren vor der verwaltungstechnischen "Entpersönlichung". Wo dagegen die statistische Erhebung nur an das Verhalten des Menschen in der Außenwelt anknüpft, wird die menschliche Persönlichkeit von ihr in aller Regel noch nicht in ihrem unantastbaren Bereich privater Lebensgestaltung "erfaßt". Das gilt jedenfalls dann, wenn diese Angaben durch die Anonymität ihrer Auswertung den Persönlichkeitsbezug verlieren. Voraussetzung ist dabei, daß die Anonymität hinreichend gesichert ist. Im vorliegenden Fall wird sie durch das Verbot zur Veröffentlichung von Einzelangaben (§ 12 Abs. 4 StatG) sowie dadurch gewährleistet, daß der Auskunftsberechtigte unter Strafandrohung zur Geheimhaltung der Angaben verpflichtet ist (§§ 12 Abs. 1 Satz 1, 13 StatG), daß für ihn die gesetzlichen Beistands- und Anzeigepflichten gegenüber den Finanzämtern nicht gelten (§ 12 Abs. 1 Satz 2 StatG) und daß die zuständigen Behörden und Stellen auch ihrer vorgesetzten DienstBVerfGE 27, 1 (7)BVerfGE 27, 1 (8)stelle keine Einzelangaben auf dem Dienstweg weiterleiten dürfen, wenn sie hierzu nicht gesetzlich ausdrücklich ermächtigt worden sind (§ 12 Abs. 2 StatG).

d) Danach verstieß die Befragung über Urlaubs- und Erholungsreisen nicht gegen Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 GG.

Diese Befragung betraf zwar einen Bereich privaten Lebens. Sie zwang den Befragten jedoch weder zu einer Offenlegung seiner Intimsphäre noch gewährte sie dem Staat Einsicht in einzelne Beziehungen, die der Außenwelt nicht zugänglich sind und deshalb von Natur aus "Geheimnischarakter" haben. Sämtliche Angaben über Ziel und Dauer der Reisen, Unterkunftsart und die benutzten Verkehrsmittel ließen sich, wenn auch unter erheblich größeren Schwierigkeiten, auch ohne eine Befragung ermitteln. Sie gehörten damit nicht jenem innersten (Intim-)Bereich an, in den der Staat auch nicht durch eine Befragung zu statistischen Zwecken ohne Verletzung der Menschenwürde und des Selbstbestimmungsrechts des Einzelnen eingreifen könnte.

2. Auch im Blick auf das Rechtsstaatsprinzip bestehen gegen die angeordnete Befragung keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Insbesondere wurde weder das Erfordernis der Normenklarheit (vgl. BVerfGE 20, 150 [158 f.]; 21, 245 [261]) noch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (vgl. BVerfGE 17, 306 [313]; 19, 342 [348 f.]) verletzt.

a) § 2 Nr. 3 des Gesetzes ließ in seinem Tatbestand "Urlaubs- und Erholungsreisen" nicht die verfassungsrechtlich erforderliche Normenklarheit vermissen. In der Tatbestandsumschreibung und ihrem Zusammenhang mit den anderen Tatbeständen, die nach dem Gesetz von der statistischen Erhebung zu erfassen waren, ist hinreichend deutlich der Wille des Gesetzgebers zum Ausdruck gekommen, daß möglichst vollständige Angaben in ihrem vorgezeichneten Sozialbezug gefordert werden sollten. Die sich hieraus ergebende Fragestellung ließ sich damit aus den gesetzlichen Normen sowohl für den Bürger als auch für die mit der Durchführung befaßten Länderverwaltungen erkennen.

b) Nach der amtlichen Begründung sollten die Unterlagen überBVerfGE 27, 1 (8) BVerfGE 27, 1 (9)den Urlaubs- und Erholungsreiseverkehr Aufschluß über die wirtschaftliche und soziologische Bedeutung solcher Reisen und über die verwendeten Verkehrsmittel geben. Außerdem sollten dadurch Anhaltspunkte gewonnen werden, um die Daten der Zahlungsbilanz für den Reiseverkehr zu prüfen (BTDrucks. III/1925 Anlage 1 zu B). Bei der zunehmenden Bedeutung des Tourismus ist der Staat zur Erfüllung seiner währungs-, wirtschafts-, sozial- und verkehrspolitischen Aufgaben auf Erkenntnisse über die dadurch ausgelöste Konsumverlagerung, die strukturelle Veränderung im Beherbergungswesen, die Unterschiede der Reisefrequenz im Staatsgebiet und im grenzüberschreitenden Verkehr angewiesen. Die Befragung zu dem Tatbestand "Urlaubs- und Erholungsreisen" stand im Dienst dieser Aufgaben und war jedenfalls kein eindeutig untaugliches Mittel, um diese Aufschlüsse zu erlangen.

Bei Berücksichtigung des Umstandes, daß bereits die Verweigerung der Angaben durch wenige Befragte das Ergebnis der Repräsentativumfrage in Frage stellen konnte, belastete es schließlich den Einzelnen nicht übermäßig, daß ihm das Gesetz in Verbindung mit § 10 Abs. 1, § 14 StatG eine Verpflichtung zur Beantwortung der Fragen unter Sanktionsandrohung auferlegte. Es war auch nicht zu befürchten, daß die Angaben zu fremden Zwecken mißbraucht wurden, da die Anonymität ihrer Auswertung durch § 12 Abs. 1, 2 und 4, § 13 StatG hinreichend gewährleistet wurde.

3. Schließlich bestehen auch keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die in § 1 des Gesetzes angeordnete Erhebungsart einer Repräsentativumfrage mit einem Auswahlsatz von 1 v.H. der Gesamtbevölkerung der Bundesrepublik Deutschland.

Eine Repräsentativumfrage zu statistischen Zwecken, bei der nur der durch ein "Zufallsverfahren" bestimmte Personenkreis von der Verpflichtung zur Auskunft betroffen wird, verstößt insbesondere nicht gegen den Gleichheitssatz. Dem Gesetzgeber ist durch den Gleichheitssatz eine ungleiche Behandlung der Bürger nur dort untersagt, wo sich unter Beachtung der Forderung derBVerfGE 27, 1 (9) BVerfGE 27, 1 (10)Gerechtigkeit ein vernünftiger, sich aus der Natur der Sache ergebender oder sonstwie sachlich einleuchtender Grund für die gesetzliche Differenzierung nicht finden läßt, die Regelung also als willkürlich bezeichnet werden muß (so u.a. BVerfGE 1, 264 [276]; 18, 121 [124]). Deshalb steht dem Gesetzgeber auch bei der Bestimmung des Personenkreises, für den die gesetzliche Regelung Anwendung finden soll, ein weiter Gestaltungsbereich zur Verfügung (vgl. BVerfGE 9, 20 [32]; 11, 245 [253]; 17, 1 [33]; 23, 12 [28]).

Diese Grenzen wurden durch § 1 des Mikrozensusgesetzes nicht überschritten. Die verschiedene, vom Zufall abhängende Belastung der Bürger durch die statistische Stichprobenerhebung ergibt sich aus der Eigenart einer solchen Repräsentativumfrage. Auch kann sich die Entscheidung des Gesetzgebers für diese Repräsentativumfrage anstelle einer Befragung der Gesamtbevölkerung auf sachlich einleuchtende Gründe stützen. Im Verhältnis zu einer Gesamtbefragung ermöglicht die Repräsentativumfrage eine kostensparende, kurzfristige Unterrichtung des Staates unter Belastung nur eines kleinen Teils der Bevölkerung durch die Befragung.

Dr. Müller, Dr. Stein, Dr. Haager, Rupp-v.Brünneck, Dr. Böhmer, Dr. Brox, Dr. Zeidler
MARS
 
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was sind "offensichtlich unzulässige" Ablehnungsgesuche ?

Beitragvon MARS » Di 29. Mär 2016, 22:54



BVerfG - Beschluß v. 11.März 2013



BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

- 1 BvR 2853/11 -

Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde



der P... GmbH,
vertreten durch den Geschäftsführer …



- Bevollmächtigte:

SKW Schwarz Rechtsanwälte,
Steinstraße 1/Kö, 40212 Düsseldorf -


gegen a) den Beschluss des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 27. September 2011 - 4 A 186/10 -,
b) das Urteil des Verwaltungsgerichts Leipzig vom 20. August 2009 - 5 K 1216/06 -,
c) den Beschluss des Verwaltungsgerichts Leipzig (zweiter Befangenheitsantrag) vom 20. August 2009 - 5 K 1216/06 -,
d) den Beschluss des Verwaltungsgerichts Leipzig (erster Befangenheitsantrag) vom 20. August 2009 - 5 K 1216/06 -



hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch

den Vizepräsidenten Kirchhof,
den Richter Eichberger
und die Richterin Britz



am 11. März 2013 einstimmig beschlossen:



Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Leipzig vom 20. August 2009 - 5 K 1216/06 - (erster Befangenheitsantrag), der Beschluss des Verwaltungsgerichts Leipzig vom 20. August 2009 - 5 K 1216/06 - (zweiter Befangenheitsantrag) und das Urteil des Verwaltungsgerichts Leipzig vom 20. August 2009 - 5 K 1216/06 - verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem grundrechtsgleichen Recht aus Artikel 101 Absatz 1 Satz 2 des Grundgesetzes.

Die Entscheidungen werden aufgehoben und die Sache wird an das Verwaltungsgericht Leipzig zurückverwiesen.

Damit wird der Beschluss des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 27. September 2011 – 4 A 186/10 - gegenstandslos.
Der Freistaat Sachsen hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 8.000 € (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.


Gründe:

1

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Verwerfung von Befangenheitsanträgen unter Mitwirkung der abgelehnten Kammervorsitzenden in einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren.
I.

2

1. Die Rechtsvorgängerin der Beschwerdeführerin war Klägerin in einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren. Im Rahmen der mündlichen Verhandlung vernahm die mit drei Berufsrichtern und zwei ehrenamtlichen Richtern besetzte Kammer des Verwaltungsgerichts einen Zeugen unter anderem zu der Verwaltungspraxis der Behörde, die den angegriffenen Bescheid erlassen hatte. Dabei weigerte sich der Zeuge, bestimmte Einzelheiten zu anderen Fällen mitzuteilen.

3

a) Im Verlauf der Beweisaufnahme lehnte der Prozessbevollmächtigte der Rechtsvorgängerin der Beschwerdeführerin die Kammervorsitzende mit folgender Begründung wegen Besorgnis der Befangenheit ab:

4

„(…)

5

Der Zeuge (…) hat sich auf ‚nicht näher darzulegende Umstände‘ im Rahmen seiner Zeugenaussage berufen. Als der Prozessbevollmächtigte der Klägerin insoweit nachfragte, erklärte die abgelehnte Richterin, es könnten insoweit datenschutzrechtliche Gründe maßgebend sein. Obwohl der Prozessbevollmächtigte der Klägerin den Zeugen insoweit nochmals befragte, hielt die abgelehnte Richterin nicht zur vollständigen Aussage an. Die abgelehnte Richterin meinte sogar, der Zeuge sollte weiter befragt werden.

6

(…)

7

Die Klägerin behält sich weiteren Sachvortrag nach Vorlage des Sitzungsprotokolls vor und auch dann, wenn die dienstliche Äußerung vorliegt.“

8

Daraufhin wurde die mündliche Verhandlung unterbrochen. Nach Wiedereintritt in die mündliche Verhandlung verkündete die Kammer den folgenden in unveränderter Besetzung getroffenen und mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Beschluss:

9

„Der von dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin gestellte Beweisantrag wird als unzulässig zurückgewiesen.

10

Er geht zum einen von Tatsachen aus, die so nicht stattgefunden haben. Der Zeuge (…) hat sich nicht verweigert Umstände offenzulegen, sondern Einzelfälle darzulegen. Im Übrigen ist offensichtlich ein Hinweis darauf, dass die einzelfallbezogene Darlegung anderer Fälle als des vorliegenden Falles datenschutzrechtlichen Bedenken begegnen könnte, nicht zu beanstanden. Schließlich ist es auch offensichtlich korrekt, wenn die Vorsitzende den Prozessbevollmächtigten der Klägerin bittet, konkrete Fragen zu stellen, damit der Zeuge auch konkret antworten kann, ggf. dann bezogen auf die konkrete Verwaltungspraxis zum vorliegenden Fall.

11

Dieser Beschluss ergeht in der Besetzung wie bisher verhandelt worden ist. Dies ist zulässig, weil der Beweisantrag als unzulässig abgewiesen wird.

12

(...)“

13

b) Daraufhin stellte die Rechtsvorgängerin der Beschwerdeführerin, vertreten durch ihren Prozessbevollmächtigten, einen weiteren Antrag, mit dem sie nunmehr sämtliche an der zuvor erwähnten Entscheidung beteiligten Richter der Kammer wegen Besorgnis der Befangenheit ablehnte. Sie begründete dies unter anderem wie folgt:

14

„Die Begründung des Befangenheitsgesuchs ergibt sich aus der Begründung des - soeben - abgelehnten Befangenheitsgesuchs (…). Der vorgenannte Antrag ist als solcher zulässig. Niemand kann in eigener Sache entscheiden. Jedenfalls durfte Frau (…) an dem vorgenannten Beschluss nicht mitwirken. Rechtliches Gehör wurde trotz Vorbehalts nicht gewährt.

15

(…)“

16

Nach erneuter Unterbrechung der mündlichen Verhandlung verkündete die Kammer daraufhin den weiteren in unveränderter Besetzung getroffenen und mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Beschluss folgenden Inhalts:

17

„Der zweite Befangenheitsantrag des Prozessbevollmächtigten der Klägerin wird als unzulässig zurückgewiesen.

18

Der Befangenheitsantrag ist dann rechtsmissbräuchlich, wenn er ausschließlich auf einer abweichenden rechtlichen Bewertung der Klägerseite gegenüber der Bewertung der Kammer beruht. Offensichtlich unbegründete Befangenheitsanträge können von der Kammer als solcher insgesamt abgelehnt werden, d.h. auch von dem Richter, der als befangen abgelehnt worden ist. Die Einschätzung des Beweisantrags als zulässig oder unzulässig ist eine Rechtsfrage, auf die allein ein Befangenheitsantrag nicht gestützt werden kann.

19

(…)“

20

2. Aufgrund der mündlichen Verhandlung erließ die Kammer in unveränderter Besetzung das mit der Verfassungsbeschwerde angegriffene Urteil, mit dem die Klage abgewiesen wurde.

21

3. Den Antrag auf Zulassung der Berufung lehnte das Oberverwaltungsgericht mit angegriffenem Beschluss vom 27. September 2011 ab. Im Hinblick auf den von der Beschwerdeführerin wegen der Behandlung ihrer Ablehnungsgesuche geltend gemachten Verfahrensmangel stand es zwar auf dem Standpunkt, dass die willkürliche Ablehnung eines Befangenheitsgesuchs einen Berufungszulassungsgrund darstellen könne. Es sah die Voraussetzungen hierfür jedoch nicht als gegeben an.
II.

22

Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin allein eine Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG wegen der aus ihrer Sicht zu Unrecht in unveränderter Kammerbesetzung erfolgten Zurückweisung der Befangenheitsanträge als unzulässig.

23

Mit dem ersten Befangenheitsantrag seien offensichtlich keine Umstände oder Handlungen, die nach der Prozessordnung vorgeschrieben seien oder sich aus der Stellung des Richters ergäben, beanstandet worden. Mit datenschutzrechtlichen Gründen lasse sich ein Zeugnisverweigerungsrecht nicht begründen. Halte die abgelehnte Richterin den Zeugen nicht zur Aussage an, sondern lege diesem sogar noch nahe, von der Aussage abzusehen, sei eine solche Vorgehensweise geeignet, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit der Richterin zu rechtfertigen.

24

Jedenfalls - und dies sei vorliegend allein entscheidend - sei ein solcher erster Befangenheitsantrag nicht offensichtlich rechtsmissbräuchlich und damit unzulässig. Das habe auch die Kammer unter Mitwirkung der abgelehnten Richter in ihrem ersten zurückweisenden Beschluss nicht darzulegen vermocht. Eine Begründung dafür, weshalb der Befangenheitsantrag als ausnahmsweise unzulässig zu qualifizieren sein sollte, gebe die Kammer nicht an. Soweit sich die Kammer mit der Begründung des Befangenheitsantrags auseinandersetze, handele es sich hierbei um Ausführungen, die - wenn überhaupt - im Rahmen der Begründetheit des Befangenheitsantrags zu berücksichtigen gewesen wären. Die Tatsache, dass die Kammer unter Mitwirkung der abgelehnten Richterin meine, nicht ohne Stellungnahme zur Unbegründetheit auszukommen, zeige gerade, dass sie den Befangenheitsantrag nicht für aussichtslos und damit rechtsmissbräuchlich gehalten habe.

25

Noch weniger sei der zweite Befangenheitsantrag offensichtlich rechtsmissbräuchlich und unzulässig. Dass der erste Befangenheitsantrag rechtsmissbräuchlich und damit unzulässig gewesen sei, vermöge die Kammer erneut nicht zu begründen. Sie führe sogar ausdrücklich aus, dass die Einschätzung eines Befangenheitsantrags als zulässig oder unzulässig eine Rechtsfrage darstelle. Dann könne hierüber aber erst Recht nicht von der Kammer selbst entschieden werden.
III.

26

Das Staatsministerium der Justiz und für Europa des Freistaats Sachsen sowie der Beklagte des Ausgangsverfahrens hatten Gelegenheit zur Stellungnahme. Die Akten des Ausgangsverfahrens haben dem Bundesverfassungsgericht vorgelegen.
IV.

27

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde gemäß § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Entscheidung an und gibt ihr zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte der Beschwerdeführerin gemäß § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG statt.

28

1. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhoben.

29

a) Das gilt auch, obwohl die Beschwerdeführerin zunächst einen - im Ergebnis erfolglosen - Antrag auf Zulassung der Berufung beim Oberverwaltungsgericht gestellt hat. Ausweislich der Begründung der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts war der Zulassungsantrag der Beschwerdeführerin soweit er sich auf die Behandlung der Befangenheitsgesuche stützte, nicht von vornherein aussichtslos. Das Oberverwaltungsgericht hat lediglich, im Ergebnis zu Unrecht, das Vorliegen einer Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG durch das Verwaltungsgericht verneint.

30

b) Die Beschwerdeführerin ist auch beschwerdebefugt. Zwar war sie selbst zunächst nicht am Ausgangsrechtsstreit beteiligt. Sie ist jedoch im Laufe des Berufungszulassungsverfahrens aufgrund Verschmelzung im Wege der Aufnahme (vgl. § 2 Nr. 1 UmwG) Gesamtrechtsnachfolgerin der ursprünglichen Klägerin geworden.

31

Zur Durchsetzung vermögenswerter Rechte und für sonstige Rügen, die der Rechtsnachfolger im eigenen Interesse geltend machen kann, können Rechtsnachfolger Verfassungsbeschwerdeverfahren fortführen oder erheben (vgl.
BVerfGE 3, 162 <164>; 17, 86 <90 f.>; 23, 288 <300>; 26, 327 <332>; 69, 188 <201>; 94, 12 <30>; 109, 279 <304>), nicht jedoch zur Durchsetzung des Schutzes der Menschenwürde und höchstpersönlicher Rechte (vgl. BVerfGE 109, 279 <304>).

32

Jedenfalls im Berufungszulassungsverfahren war die Beschwerdeführerin selbst Partei des Rechtsstreits und damit ohne weiteres beschwerdebefugt. Aber auch soweit Verfassungsverstöße gegenüber ihrer Rechtsvorgängerin, begangen in der ersten Instanz, im Raum stehen, ist die Beschwerdebefugnis gegeben. Die Rechtskraft der fachgerichtlichen Entscheidung erstreckt sich auch insoweit auf die Beschwerdeführerin (vgl. § 121 Nr. 1 VwGO). Aufgrund ihrer daraus resultierenden Bindung an die Entscheidung, die mit für sie nachteiligen (finanziellen) Folgen verbunden ist, ist sie hierdurch auch als Rechtsnachfolgerin beschwert. Es geht demnach nicht um speziell ihrer Rechtsvorgängerin zustehende höchstpersönliche Rechte, die eine Beschwerdebefugnis der Beschwerdeführerin entfallen lassen könnten.

33

2. Die angegriffenen Entscheidungen des Verwaltungsgerichts verletzen das grundrechtsgleiche Recht der Beschwerdeführerin auf den gesetzlichen Richter aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.

34

a) aa) Die Beteiligten eines gerichtlichen Verfahrens haben nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG Anspruch auf den gesetzlichen Richter, der sich aus dem Gerichtsverfassungsgesetz, den Prozessordnungen sowie den Geschäftsverteilungs- und Besetzungsregelungen des Gerichts ergibt. Darüber hinaus wird ihnen durch die Verfassung gewährleistet, dass sie nicht vor einem Richter stehen, dem es an der gebotenen Neutralität fehlt. Die Frage, ob Befangenheitsgründe gegen die Mitwirkung eines Richters sprechen, berührt die prozessuale Rechtsstellung der Verfahrensbeteiligten (vgl. BVerfGE 89, 28 <36>).

35

Eine „Entziehung“ des gesetzlichen Richters durch die Rechtsprechung, der die Anwendung der Zuständigkeitsregeln und die Handhabung des Ablehnungsrechts im Einzelfall obliegt, kann allerdings nicht in jeder fehlerhaften Rechtsanwendung gesehen werden; andernfalls müsste jede fehlerhafte Handhabung des einfachen Rechts zugleich als Verfassungsverstoß gelten (vgl. BVerfGE 82, 286 <299>). Die Grenzen zum Verfassungsverstoß sind aber jedenfalls dann überschritten, wenn die Auslegung einer Zuständigkeitsnorm oder ihre Handhabung im Einzelfall willkürlich oder offensichtlich unhaltbar sind oder wenn die richterliche Entscheidung Bedeutung und Tragweite der Verfassungsgarantie des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG grundlegend verkennt (vgl. BVerfGE 82, 286 <299>). Ob die Entscheidung eines Gerichts auf Willkür, also auf einem Fall grober Missachtung oder grober Fehlanwendung des Gesetzesrechts (vgl. BVerfGE 29, 45 <49>; 82, 159 <197>; 87, 282 <286>) beruht oder ob sie darauf hindeutet, dass ein Gericht Bedeutung und Tragweite der Verfassungsgarantie des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG grundlegend verkennt, kann nur angesichts der jeweiligen Umstände des Einzelfalls beurteilt werden (vgl. BVerfGK 5, 269 <280>).

36

Bei der Anwendung der Vorschriften über die Ausschließung und Ablehnung von Richtern ist zu beachten, dass diese Normen dem durch Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verbürgten Ziel dienen, auch im Einzelfall die Neutralität und Distanz der zur Entscheidung berufenen Richter zu sichern. Für den Zivilprozess und damit über § 54 Abs. 1 VwGO auch für den Verwaltungsprozess enthalten die §§ 44 ff. ZPO Regelungen über das Verfahren zur Behandlung des Ablehnungsgesuchs und bestimmen, dass das Gericht, dem der Abgelehnte angehört, ohne dessen Mitwirkung zur Entscheidung auf der Grundlage einer dienstlichen Äußerung des abgelehnten Richters berufen ist. Durch diese Zuständigkeitsregelung wird dem Umstand Rechnung getragen, dass die Annahme nahe liegt, es werde an der inneren Unbefangenheit und Unparteilichkeit eines Richters fehlen, wenn er über die vorgetragenen Gründe für seine angebliche Befangenheit selbst entscheiden muss (vgl. BVerfGK 7, 325 <337> für den Strafprozess; BVerfGK 11, 434 <442> für den Zivilprozess und BVerfGK 13, 72 <77 f.> für den Verwaltungsprozess).

37

bb) In Rechtsprechung und Literatur ist allerdings auch für den Bereich des Verwaltungsprozesses anerkannt, dass der abgelehnte Richter ein Ablehnungsgesuch selbst ablehnen kann, ohne dass es der Durchführung des Verfahrens nach § 54 Abs. 1 VwGO in Verbindung mit §§ 44 f. ZPO bedarf, wenn das Gesuch als rechtsmissbräuchlich zu qualifizieren ist, etwa wenn pauschal alle Richter eines Gerichts abgelehnt werden, das Gesuch nur mit solchen Umständen begründet wird, die eine Befangenheit unter keinem denkbaren Gesichtspunkt rechtfertigen können, oder wenn gegen den Richter unqualifizierbare Angriffe wegen seiner angeblich rechtsstaatswidrigen Rechtsfindung erhoben werden (vgl. BVerfGK 13, 72 <78> m.w.N. zu Rspr. und Lit.).

38

Ähnlich wie der Gesetzgeber im Strafprozessrecht, in welchem § 26a StPO ein vereinfachtes Ablehnungsverfahren für unzulässige Ablehnungsgesuche unter Mitwirkung des abgelehnten Richters zur Verfügung stellt, während das Regelverfahren nach § 27 StPO die Entscheidung ohne Mitwirkung des abgelehnten Richters garantiert, trägt die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung mit der differenzierenden Zuständigkeitsregelung in den Fällen der Richterablehnung einerseits dem Gewährleistungsgehalt des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG angemessen Rechnung: Ein Richter, dessen Unparteilichkeit mit jedenfalls nicht von vorneherein untauglicher Begründung in Zweifel gezogen worden ist, kann und soll nicht an der Entscheidung gegen das gegen ihn selbst gerichtete Ablehnungsgesuch mitwirken, das sein eigenes richterliches Verhalten und die - ohnehin nicht einfach zu beantwortende - Frage zum Gegenstand hat, ob das beanstandete Verhalten für eine verständige Partei Anlass sein kann, an der persönlichen Unvoreingenommenheit des Richters zu zweifeln. Andererseits soll aus Gründen der Vereinfachung und Beschleunigung des Verfahrens der abgelehnte Richter in den klaren Fällen eines unzulässigen oder missbräuchlich angebrachten Ablehnungsgesuchs an der weiteren Mitwirkung nicht gehindert sein und ein aufwendiges und zeitraubendes Ablehnungsverfahren verhindert werden (vgl. BVerfGK 5, 269 <280 f.>; 7, 325 <338>).

39

Im Verwaltungs- und Zivilprozessrecht gilt ebenso wie im Strafprozessrecht, dass bei strenger Beachtung der Voraussetzungen des gänzlich untauglichen oder rechtsmissbräuchlichen Ablehnungsgesuchs eine Entscheidung des abgelehnten Richters selbst mit der Verfassungsgarantie des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht in Konflikt gerät, weil die Prüfung keine Beurteilung des eigenen Verhaltens des abgelehnten Richters voraussetzt und deshalb keine Entscheidung in eigener Sache ist (vgl. BVerfGK 5, 269 <281 f.>; 11, 434 <442>; 13, 72 <79>). Ein vereinfachtes Ablehnungsverfahren soll indes nur echte Formalentscheidungen ermöglichen
oder einen offensichtlichen Missbrauch des Ablehnungsrechts verhindern, was eine enge Auslegung der Voraussetzungen gebietet (vgl. BVerfGK 5, 269 <282>; 11, 434 <442>; 13, 72 <79>). Völlige Ungeeignetheit ist anzunehmen, wenn für eine Verwerfung als unzulässig jedes Eingehen auf den Gegenstand des Verfahrens selbst entbehrlich ist. Hierfür werden regelmäßig nur solche Gesuche in Betracht kommen, die Handlungen des Richters beanstanden, welche nach der Prozessordnung vorgeschrieben sind oder sich ohne weiteres aus der Stellung des Richters ergeben. Unzulässig ist ein Ablehnungsgesuch daher, wenn der Ablehnende die bloße Tatsache beanstandet, ein Richter habe an einer Vor- oder Zwischenentscheidung mitgewirkt. Unzulässig ist das Gesuch auch, wenn sich der Richter an den von der Prozessordnung vorgeschriebenen Verfahrensgang hält, der Ablehnende aber eine Änderung begehrt. Grundsätzlich wird also eine Verwerfung als unzulässig nur dann in Betracht kommen, wenn das Ablehnungsgesuch für sich allein - ohne jede weitere Aktenkenntnis - offenkundig eine Ablehnung nicht zu begründen vermag. Ist hingegen ein - wenn auch nur geringfügiges - Eingehen auf den Verfahrensgegenstand erforderlich, scheidet die Ablehnung als unzulässig aus. Eine gleichwohl erfolgende Ablehnung durch den abgelehnten Richter selbst ist dann willkürlich. Über eine bloß formale Prüfung hinaus darf sich der abgelehnte Richter nicht durch Mitwirkung an einer näheren inhaltlichen Prüfung der Ablehnungsgründe zum Richter in eigener Sache machen (vgl. BVerfGK 7, 325 <340>; 11, 434 <442>; 13, 72 <79 f.>).

40

b) Bei Anlegung dieser Maßstäbe erweist sich die Verwerfung des ersten Befangenheitsgesuchs durch das Verwaltungsgericht - was die Zurückweisung des „Beweisantrags“ als unzulässig offensichtlich meint - unter Mitwirkung der abgelehnten Kammervorsitzenden als objektiv willkürlich. Damit liegt ein Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG vor.

41

Das folgt jedenfalls daraus, dass es sich vorliegend gerade nicht um eine bloße Formalentscheidung handelt. Die Kammer einschließlich der abgelehnten Richterin setzt sich vielmehr im Sinne einer Begründetheitsprüfung mit dem Vorbringen im Ablehnungsgesuch auseinander.

42

Anlass der Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit war die Verhandlungsführung der abgelehnten Kammervorsitzenden bei Vernehmung des Zeugen. Dabei ging es nicht bloß um formale Fragen wie zum Beispiel den Umstand, dass ihr als Kammervorsitzender die Leitung der mündlichen Verhandlung und damit auch die Vernehmung des Zeugen oblag (vgl. § 173 VwGO in Verbindung mit § 136 ZPO). Die aus Sicht der Rechtsvorgängerin der Beschwerdeführerin zentrale Frage war, ob die wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnte Kammervorsitzende den Zeugen hinreichend zu einer vollständigen Aussage veranlasst hatte. Das zielt auf den Inhalt ihrer Verhandlungsführung. Die Beantwortung dieser Frage erforderte folglich eine Bewertung des Verhaltens der abgelehnten Richterin unter Berücksichtigung des von der Prozessordnung gesteckten Rahmens. Eine Entscheidung hierüber war ihr demnach verwehrt.

43

c) Der Beschluss über den zweiten Befangenheitsantrag erfolgte ebenfalls unter Verstoß gegen das grundrechtsgleiche Recht der Rechtsvorgängerin der Beschwerdeführerin aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.

44

Bei der Prüfung, ob ein Ablehnungsgesuch als unzulässig verworfen werden kann, ist das Gericht in besonderem Maße verpflichtet, das Ablehnungsgesuch seinem Inhalt nach vollständig zu erfassen und gegebenenfalls wohlwollend auszulegen, da das Gericht andernfalls leicht dem Vorwurf ausgesetzt sein kann, tatsächlich im Gewande der Zulässigkeitsprüfung in eine Begründetheitsprüfung einzutreten, und sich zu Unrecht zum Richter in eigener Sache zu machen. Überschreitet das Gericht bei dieser Prüfung die ihm gezogenen Grenzen, so kann dies seinerseits die Besorgnis der Befangenheit begründen (vgl. BVerfGK 5, 269 <283>; 11, 434 <444>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 20. Juli 2007 - 1 BvR 2228/06 -, NJW 2007, S. 3771 <3773>).

45

Obwohl der Vorwurf der Selbstentscheidung durch den vorangegangenen Beschluss über das Ablehnungsgesuch gegen die Kammervorsitzende Gegenstand des zweiten Befangenheitsantrags war, hat die Kammer in unveränderter Besetzung den daraufhin ergangenen Beschluss erlassen, ohne dass die Voraussetzungen hierfür vorgelegen hätten. Der formelhaft begründete Beschluss zieht zur Rechtfertigung der Zurückweisung des Ablehnungsgesuchs das Kriterium der Rechtsmissbräuchlichkeit heran und versucht dies mit dem Verweis auf die offensichtliche Unbegründetheit des Befangenheitsantrags zu untermauern. Abgesehen davon, dass an keiner Stelle erläutert wird, weshalb - abweichend von der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfGK 5, 269 <282>) - auch bei offensichtlicher Unbegründetheit eines Ablehnungsgesuchs das vereinfachte Ablehnungsverfahren mit Selbstentscheidung des abgelehnten Richters angewendet werden können soll, lag ein Fall offensichtlicher Unbegründetheit des Befangenheitsantrags hier nicht vor. Das folgt schon aus dem einfachen Umstand, dass die festgestellte Überschreitung der durch Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gezogenen Grenzen bei Bescheidung des ersten Befangenheitsantrags nach der zitierten bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts grundsätzlich geeignet ist, die Besorgnis der Befangenheit auszulösen. Das Ablehnungsgesuch erforderte letztendlich eine Entscheidung darüber, ob sich die abgelehnten Richter durch die Behandlung des ersten Befangenheitsantrags soweit von Recht und Gesetz entfernt hatten, dass die Besorgnis ihrer Befangenheit bestand. Damit waren sie gezwungen, über ihr vorangegangenes eigenes Verhalten bei der Beschlussfassung über das erste Ablehnungsgesuch zu entscheiden und sich dadurch zu Richtern in eigener Sache zu machen.

46

d) Der durch die fehlerhafte Behandlung der Ablehnungsgesuche verursachte Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG erfasst auch das angegriffene Urteil des Verwaltungsgerichts.

47

Die Zurückweisung eines Ablehnungsgesuchs ist zwar nach § 146 Abs. 2 VwGO unanfechtbar. Die abgelehnte Kammervorsitzende und die weiteren mit dem zweiten Ablehnungsgesuch abgelehnten Richter unterlagen daher formal nicht mehr dem Gebot des § 54 Abs. 1 VwGO in Verbindung mit § 47 Abs. 1 ZPO, der bis zur Erledigung des jeweiligen Ablehnungsgesuchs die Befugnisse des abgelehnten Richters auf die Vornahme unaufschiebbarer Handlungen beschränkt. Auch steht bislang nicht fest, dass tatsächlich die Besorgnis der Befangenheit bei einer der abgelehnten Gerichtspersonen vorgelegen hätte.

48

In der Konsequenz der in Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verbürgten Garantie, nicht vor einem Richter stehen zu müssen, dem es an der gebotenen Neutralität mangelt (vgl. BVerfGE 89, 28 <36>), liegt es jedoch auch, nicht vor einem Richter stehen zu müssen, über dessen Ablehnung unter Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG entschieden worden ist (vgl. BVerfGK 13, 72 <75 ff.>).

49

Die hinter dem Ablehnungsgesuch stehende Partei kann so lange nicht davon ausgehen, dass sie unabhängigen Richtern gegenübersteht, bis diese Frage von dem zuständigen Gericht ohne Beteiligung der möglicherweise befangenen Richter geklärt ist. Sie muss im Falle einer nach den dargelegten Kriterien unzulässigen Selbstentscheidung befürchten, dass die Entscheidung über ihr Ablehnungsgesuch maßgeblich von Richtern beeinflusst ist, die der Sache nicht mit der notwendigen Distanz und Neutralität gegenüberstehen und dass sich diese Voreingenommenheit auch in der anschließend zu treffenden Sachentscheidung fortsetzt. Aus den genannten Gründen ist immer dann, wenn ein Fall unzulässiger Selbstentscheidung vorliegt, davon auszugehen, dass auch die dem Ablehnungsgesuch folgende Sachentscheidungen mit dem Makel des Verstoßes gegen den gesetzlichen Richter behaftet ist.

50

3. Die Entscheidungen des Verwaltungsgerichts sind aufzuheben und die Sache gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen, da nicht auszuschließen ist, dass sie auf dem festgestellten Verfassungsverstoß beruhen. Ob die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts ebenfalls gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verstößt, kann offen bleiben. Die Entscheidung wird durch die Aufhebung des verwaltungsgerichtlichen Urteils gegenstandslos.
V.

51

Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
VI.

52

Der Gegenstandswert für das Verfassungsbeschwerdeverfahren ist nach § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG (vgl. BVerfGE 79, 365 <366 ff.>) auf 8.000 € festzusetzen. Es ist nicht erkennbar, dass die Beschwerdeführerin ein über diesen Betrag hinausgehendes Interesse hat.


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Volkszählungsurteil 1983

Beitragvon MARS » So 10. Apr 2016, 22:02


Volkszählungsurteil
Urteil vom 15. Dezember 1983




BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

-- 1 BvR 209, 269, 362, 420, 440, 484/83 --


1. § 2 Nummer 1 bis 7 sowie §§ 3 bis 5 des Gesetzes über eine Volks-, Berufs-, Wohnungs- und Arbeitsstättenzählung (Volkszählungsgesetz 1983) vom 25 März 1982 (Bundesgesetzbl. I S. 369) sind mit dem Grundgesetz vereinbar; jedoch hat der Gesetzgeber nach Maßgabe der Gründe für ergänzende Regelungen der Organisation und des Verfahrens der Volkszählung Sorge zu tragen.

2. § 9 Absatz 1 bis 3 des Volkszählungsgesetzes 1983 ist mit Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes unvereinbar und nichtig.

3. Die Beschwerdeführer werden durch das Volkszählungsgesetz 1983 in dem aus Nummer 1 und 2 ersichtlichen Umfang in ihren Grundrechten aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes verletzt.

Im übrigen werden die Verfassungsbeschwerden zurückgewiesen.

4. Die Bundesrepublik Deutschland hat den Beschwerdeführern die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe

A.

Die Verfassungsbeschwerden richten sich unmittelbar gegen das Gesetz über eine Volkszählung, Berufszählung, Wohnungszählung und Arbeitsstättenzählung (Volkszählungsgesetz 1983) vom 25. März 1982 (BGBl. I S. 369) - VZG 1983 -.

Die durch dieses Gesetz angeordnete Datenerhebung hat Beunruhigung auch in solchen Teilen der Bevölkerung ausgelöst, die als loyale Staatsbürger das Recht und die Pflicht des Staates respektieren, die für rationales und planvolles staatliches Handeln erforderlichen Informationen zu beschaffen. Dies mag teilweise daraus zu erklären sein, daß weithin Unkenntnis über Umfang und Verwendungszwecke der Befragung bestand und daß die Notwendigkeit zur verläßlichen Aufklärung der Auskunftspflichtigen nicht rechtzeitig erkannt worden ist, obwohl sich das allgemeine Bewußtsein durch die Entwicklung der automatisierten Datenverarbeitung seit den Mikrozensus-Erhebungen in den Jahren 1956 bis 1962 (vgl. BVerfGE 27, 1) erheblich verändert hatte. Die Möglichkeiten der modernen Datenverarbeitung sind weithin nur noch für Fachleute durchschaubar und können beim Staatsbürger die Furcht vor einer unkontrollierbaren Persönlichkeitserfassung selbst dann auslösen, wenn der Gesetzgeber lediglich solche Angaben verlangt, die erforderlich und zumutbar sind. Zur Beunruhigung mag nicht zuletzt beigetragen haben, daß auch Sachkundige die Überzeugung vertraten, das Volkszählungsgesetz 1983 genüge trotz einstimmiger Verabschiedung in den gesetzgebenden Körperschaften schon in den Vorschriften über die Erhebung der Daten und vor allem in den Bestimmungen über deren Verwertung nicht hinreichend den verfassungsrechtlichen Anforderungen. Da zu diesen nur eine lückenhafte verfassungsgerichtliche Rechtsprechung bestand, nötigen die zahlreichen Verfassungsbeschwerden gegen das Volkszählungsgesetz 1983 das Bundesverfassungsgericht, die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Datenschutzes umfassender zu prüfen. Der Erlaß der einstweiligen Anordnung vom 13. April 1983 (EuGRZ 1983, S. 171 = BVerfGE 64, 67) hat die Voraussetzungen für eine solche Prüfung geschaffen.

I.

1. Das Volkszählungsgesetz 1983 regelt in den §§ 1 bis 8 Programm und Durchführung der Erhebung; § 9 enthält besondere Regelungen über die Verwendung und Übermittlung der erhobenen Daten. Die wesentlichen Vorschriften lauten:

§ 1

(1) Nach dem Stand vom 27. April 1983 werden eine Volkszählung und Berufszählung mit gebäudestatistischen und wohnungsstatistischen Fragen sowie eine Zählung der nichtlandwirtschaftlichen Arbeitsstätten und Unternehmen (Arbeitsstättenzählung) durchgeführt.

(2) bis (3) ...

§ 2

Die Volkszählung und Berufszählung erfaßt:

1. Vornamen und Familiennamen, Anschrift, Telefonanschluß, Geschlecht, Geburtstag, Familienstand, rechtliche Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu einer Religionsgesellschaft, Staatsangehörigkeit;

2. Nutzung der Wohnung als alleinige Wohnung, Hauptwohnung oder Nebenwohnung (§ 12 Abs. 2 des Melderechtsrahmengesetzes);

3. Quelle des überwiegenden Lebensunterhaltes;

4. Beteiligung am Erwerbsleben, Eigenschaft als Hausfrau, Schüler, Student;

5. erlernten Beruf und Dauer der praktischen Berufsausbildung, höchsten Schulabschluß an allgemeinbildenden Schulen, höchsten Abschluß an einer berufsbildenden Schule oder Hochschule sowie Hauptfachrichtung des letzten Abschlusses;

6. bei Erwerbstätigen sowie Schülern und Studenten Namen und Anschrift der Arbeitsstätte oder Ausbildungsstätte, hauptsächlich benutztes Verkehrsmittel und Zeitaufwand für den Weg zur Arbeitsstätte oder Ausbildungsstätte;

7. bei Erwerbstätigen Geschäftszweig des Betriebes, Stellung im Beruf, ausgeübte Tätigkeit, Arbeitszeit, landwirtschaftliche und nichtlandwirtschaftliche Nebentätigkeit;

8. im Anstaltsbereich die Eigenschaft als Insasse oder die Zugehörigkeit zum Personal oder zum Kreis der Angehörigen des Personals.

§ 3

(1) Die gebäudestatistischen Fragen erfassen bei Gebäuden mit Wohnraum und bei ständig bewohnten Unterkünften Anschrift, Art und Baujahr sowie den Eigentümer oder an seiner Stelle den Nießbrauchberechtigten oder denjenigen, der Anspruch auf Übereignung oder auf Einräumung oder Übertragung eines Erbbaurechts oder Nießbrauchs hat.

(2) Die wohnungsstatistischen Fragen erfassen:

1. Art, Größe, Ausstattung und Verwendungszweck, Art der Beheizung und der Heizenergie sowie Bezugsjahr der Wohnung, Wohnverhältnis, Förderung der Wohnung mit Mitteln des sozialen Wohnungsbaus sowie Zahl und Nutzung der Räume;

2. bei vermieteten Wohnungen außerdem die Höhe der monatlichen Miete;

3. bei leerstehenden Wohnungen außerdem die Dauer des Leerstehens.

§ 4

Die Arbeitsstättenzählung erfaßt:

1. bei allen nichtlandwirtschaftlichen Arbeitsstätten und Unternehmen

a) Namen, Bezeichnung, Anschrift, Telefonanschluß und Zahl der Sprechstellen, Art der Niederlassung, Art der ausgeübten Tätigkeit oder Art des Aufgabengebietes der Arbeitsstätte und des Unternehmens, Eröffnungsjahr, Angaben über Neuerrichtung oder Standortverlagerung, Träger der Arbeitsstätte bei Anstalten, Einrichtungen von Behörden oder der Sozialversicherung sowie von Kirchen, Verbänden oder sonstigen Organisationen,

b) Zahl der tätigen Personen nach Geschlecht, Stellung im Betrieb, Zahl der Teilzeitbeschäftigten sowie Zahl der ausländischen Arbeitnehmer nach Geschlecht,

c) Summe der Bruttolöhne und Bruttogehälter des vorhergehenden Kalenderjahres;

2. bei Hauptniederlassungen und einzigen Niederlassungen außerdem

a) Eintragung des Unternehmens in die Handwerksrolle,

b) Rechtsform des Unternehmens;

3. bei Hauptniederlassungen zusätzlich zu den Angaben nach den Nummern 1 und 2 für jede Zweigniederlassung

a) Namen, Bezeichnung, Anschrift, Art der ausgeübten Tätigkeit oder des Aufgabengebietes,

b) Zahl der tätigen Personen,

c) Summe der Bruttolöhne und Bruttogehälter des vorhergehenden Kalenderjahres.

§ 5

(1) Auskunftspflichtig sind

1. bei der Volkszählung und Berufszählung: alle Volljährigen oder einen eigenen Haushalt führenden minderjährigen Personen, auch für minderjährige oder behinderte Haushaltsmitglieder; für Personen in Gemeinschaftsunterkünften, Anstalten und ähnlichen Einrichtungen, auch die Leiter dieser Einrichtungen, soweit Umstände, die in der Person des Auskunftspflichtigen liegen, dies erforderlich machen;

2. bei den gebäudestatistischen Fragen: die in § 3 Abs. 1 genannten Personen, deren Vertreter oder Gebäudeverwalter; 3. bei den wohnungsstatistischen Fragen: die Wohnungsinhaber oder deren Vertreter sowie die nach den Nummern 1 und 2 Auskunftspflichtigen;

4. bei der Arbeitsstättenzählung: die Inhaber oder Leiter der Arbeitsstätten und Unternehmen.

(2) Widerspruch und Anfechtungsklage gegen die Aufforderung zur Auskunftserteilung haben keine aufschiebende Wirkung.

§ 6

(1) Zur Durchführung des Volkszählungsgesetzes 1983 können ehrenamtliche Zähler bestellt werden.

(2) Zur Übernahme der ehrenamtlichen Zählertätigkeit ist jeder Deutsche vom vollendeten 18. bis zum vollendeten 65. Lebensjahr verpflichtet. Befreit ist, wem eine solche Tätigkeit aus gesundheitlichen oder anderen wichtigen Gründen nicht zugemutet werden kann.

(3) Die Zähler sind berechtigt und verpflichtet, Eintragungen selbst vorzunehmen, soweit dies zur Erfüllung des Zwecks der Zählung erforderlich ist und die Auskunftspflichtigen einverstanden sind.

§ 7

(1) Bund, Länder, Gemeinden Gemeindeverbände und sonstige Körperschaften des öffentlichen Rechts sind verpflichtet, ihre Bediensteten auf Anforderung der Erhebungsstellen für die Zählertätigkeit zur Verfügung zu stellen.

(2) Lebenswichtige Tätigkeiten öffentlicher Dienste dürfen durch diese Verpflichtung nicht unterbrochen werden.

§ 9

(1) Angaben der Volkszählung nach § 2 Nr. 1 und 2 können mit den Melderegistern verglichen und zu deren Berichtigung verwendet werden. Aus diesen Angaben gewonnene Erkenntnisse dürfen nicht zu Maßnahmen gegen den einzelnen Auskunftspflichtigen verwendet werden.

(2) Einzelangaben ohne Namen über die nach den §§ 2 bis 4 erfaßten Tatbestände dürfen nach § 11 Abs. 3 des Bundesstatistikgesetzes vom 14. März 1980 (BGBl. I S. 289) von den Statistischen Ämtern des Bundes und der Länder an die fachlich zuständigen obersten Bundesbehörden und Landesbehörden übermittelt werden, soweit sie zur rechtmäßigen Erfüllung der in ihrer Zuständigkeit liegenden Aufgaben erforderlich sind. Mit Ausnahme des Merkmals rechtliche Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu einer Religionsgesellschaft in § 2 Nr. 1 sowie der nach § 4 Nr. 1 Buchstabe c und § 4 Nr. 3 Buchstabe c erfaßten Tatbestände gilt Satz 1 auch für die Übermittlung an die von den fachlich zuständigen obersten Bundesbehörden und Landesbehörden bestimmten Behörden, sonstigen öffentlichen und nichtöffentlichen Stellen, soweit die Übermittlung zur Durchführung der von den fachlich zuständigen obersten Bundesbehörden und Landesbehörden übertragenen Aufgaben erforderlich ist. Absatz 1 Satz 2 gilt entsprechend.

(3) Für Zwecke der Regionalplanung, des Vermessungswesens, der gemeindlichen Planung und des Umweltschutzes dürfen den Gemeinden und Gemeindeverbänden die erforderlichen Einzelangaben ohne Namen über die nach den §§ 2 bis 4 mit Ausnahme des Merkmals rechtliche Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu einer Religionsgesellschaft in § 2 Nr. 1 sowie der nach § 4 Nr. 1 Buchstabe c und § 4 Nr. 3 Buchstabe c erfaßten Tatbestände der Auskunftspflichtigen ihres Zuständigkeitsbereiches von den Statistischen Ämtern der Länder übermittelt werden. Für eigene statistische Aufbereitungen können den Gemeinden und Gemeindeverbänden Einzelangaben über die nach den §§ 2 bis 4 erfaßten Tatbestände von den Statistischen Landesämtern zur Verfügung gestellt werden. Absatz 1 Satz 2 gilt entsprechend.

(4) Für wissenschaftliche Zwecke dürfen die erforderlichen Einzelangaben ohne Namen und Anschrift über die nach den §§ 2 bis 4 mit Ausnahme des Merkmals rechtliche Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu einer Religionsgesellschaft in § 2 Nr. 1 sowie der nach § 4 Nr. 1 Buchstabe c und § 4 Nr. 3 Buchstabe c erfaßten Tatbestände von den Statistischen Ämtern des Bundes und der Länder an Amtsträger und für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichtete übermittelt werden.

(5) Die nach den Absätzen 2 bis 4 übermittelten Einzelangaben dürfen von den Empfängern nur für die Zwecke verwendet werden, für die sie übermittelt wurden.

(6) Einzelangaben in statistischen Ergebnissen über die nach § 2 Nr. 1 erfaßten Angaben zur rechtlichen Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu einer Religionsgesellschaft, gegliedert nach Altersgruppen und Geschlecht, über die nach § 4 Nr. 1 Buchstabe b erfaßten Tatbestände, gegliedert nach Art der ausgeübten Tätigkeit der Arbeitsstätten und Unternehmen, sowie über die nach § 4 Nr. 3 Buchstabe b erfaßten Tatbestände dürfen von den Statistischen Ämtern des Bundes und der Länder veröffentlicht werden.

(7) § 11 des Bundesstatistikgesetzes gilt auch für Personen, die bei Stellen beschäftigt sind, denen Einzelangaben zugeleitet werden.

(8) Die Statistischen Landesämter leiten dem Statistischen Bundesamt auf Anforderung Einzelangaben für Zusatzaufbereitungen für Bundeszwecke zu, wenn und soweit sie diese nicht selbst durchführen."

Für eine statistische Erhebung nach Art der vorgesehenen Volkszählung gilt außerdem das Gesetz über die Statistik für Bundeszwecke (Bundesstatistikgesetz - BStatG) vom 14. März 1980 (BGBl. I S. 289). Von Bedeutung sind insbesondere § 10 über die Auskunftspflicht und § 11 über die Geheimhaltung:

§ 10

(1) Alle natürlichen und alle juristischen Personen des Privatrechts sowie Personenhandelsgesellschaften und Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts, Behörden und sonstige öffentliche Stellen des Bundes, der Länder, Gemeinden und Gemeindeverbände sowie deren Aufsicht unterstehenden Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts sind zur Beantwortung der ordnungsgemäß angeordneten Fragen verpflichtet, soweit nicht die Antwort ausdrücklich freigestellt ist.

(2) Die Verpflichtung der Befragten, Auskunft zu erteilen, besteht gegenüber den mit der Durchführung der Bundesstatistiken amtlich betrauten Stellen und Personen.

(3) Die Antwort ist wahrheitsgemäß, vollständig, fristgerecht sowie kostenfrei und portofrei zu erteilen.

(4) Sind Erhebungsvordrucke zur Ausfüllung durch den Befragten vorgesehen, so sind die Antworten auf diesen Erhebungsvordrucken zu erteilen. Die Richtigkeit der Angaben ist durch Unterschrift zu bestätigen, soweit es im Erhebungsvordruck vorgesehen ist.

§ 11

(1) Einzelangaben über persönliche und sachliche Verhältnisse, die für eine Bundesstatistik gemacht werden, sind, soweit durch Rechtsvorschrift nichts anderes bestimmt ist, von den Amtsträgern und für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichteten, die mit der Durchführung von Bundesstatistiken betraut sind, geheimzuhalten, es sei denn, daß der Betroffene im Einzelfall in die Übermittlung oder Veröffentlichung der von ihm gemachten Einzelangaben ausdrücklich einwilligt. Die §§ 93, 97, 105 Abs. 1, § 111 Abs. 5 in Verbindung mit § 105 Abs. 1 sowie § 116 Abs. 1 der Abgabenordnung vom 16. März 1976 (BGBl. I S. 613), zuletzt geändert durch Zweites Kapitel Artikel 1 des Gesetzes vom 26. November 1979 (BGBl. I S. 1953), gelten nicht für Personen und Stellen, soweit sie mit der Durchführung von Bundesstatistiken und Landesstatistiken betraut sind.

(2) Die Übermittlung von Einzelangaben zwischen den mit der Durchführung einer Bundesstatistik betrauten Personen und Stellen ist zulässig, soweit dies zur Erstellung der Bundesstatistik erforderlich ist.

(3) Das Statistische Bundesamt, die Statistischen Landesämter und die sonstigen erhebenden Stellen und Behörden sind berechtigt und verpflichtet, den fachlich zuständigen obersten Bundesbehörden und Landesbehörden, den von ihnen bestimmten Stellen sowie sonstigen Amtsträgern und für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichteten auf Verlangen statistische Einzelangaben zu übermitteln, wenn und soweit diese Übermittlung unter Angabe des Empfängerkreises und der Art des Verwendungszweckes in der die Statistik anordnenden Rechtsvorschrift zugelassen und in den Erhebungsvordrucken bekanntgegeben ist. In dieser Rechtsvorschrift und den Erhebungsvordrucken ist auch anzugeben, ob die Übermittlung mit oder ohne Nennung von Namen oder von Namen und Anschrift zugelassen ist. Aus den Angaben gewonnene Erkenntnisse dürfen nicht zu Maßnahmen gegen den Betroffenen verwendet werden.

(4) Die Geheimhaltungspflicht nach Absatz 1 gilt auch für die Personen, denen nach Absatz 3 Einzelangaben zugeleitet werden.

(5) Einzelangaben, die so anonymisiert werden, daß sie Auskunftspflichtigen oder Betroffenen nicht mehr zuzuordnen sind, dürfen vom Statistischen Bundesamt und von den Statistischen Landesämtern übermittelt werden.

(6) Eine Zusammenfassung von Angaben mehrerer Auskunftspflichtiger ist keine Einzelangabe im Sinne dieses Gesetzes.

(7) Die zur Identifizierung der Auskunftspflichtigen sowie sonstiger Betroffener dienenden Daten, insbesondere Namen und Anschriften, sind zu löschen, wenn ihre Kenntnis für die Erfüllung der Aufgaben auf dem Gebiet der Statistik für Bundeszwecke nicht mehr erforderlich ist. Namen und Anschriften der Auskunftspflichtigen sollen von den übrigen Angaben getrennt und unter besonderem Verschluß gehalten werden.

Sofern nicht speziellere Vorschriften eingreifen, gelten im übrigen das Gesetz zum Schutz vor Mißbrauch personenbezogener Daten bei der Datenverarbeitung (Bundesdatenschutzgesetz - BDSG) vom 27. Januar 1977 (BGBl. I S. 201), zuletzt geändert durch Art II § 36 des Sozialgesetzbuchs (SGB) - Verwaltungsverfahren - vom 18. August 1980 (BGBl. I S. 1469), und die Datenschutzgesetze der Länder. Wesentlich sind die §§ 5 und 13 BDSG.

§ 5

Datengeheimnis

(1) Den im Rahmen des § 1 Abs. 2 oder im Auftrag der dort genannten Personen oder Stellen bei der Datenverarbeitung beschäftigten Personen ist untersagt, geschützte personenbezogene Daten unbefugt zu einem anderen als dem zur jeweiligen rechtmäßigen Aufgabenerfüllung gehörenden Zweck zu verarbeiten, bekanntzugeben, zugänglich zu machen oder sonst zu nutzen.

(2) Diese Personen sind bei der Aufnahme ihrer Tätigkeit nach Maßgabe von Absatz 1 zu verpflichten. Ihre Pflichten bestehen auch nach Beendigung ihrer Tätigkeit fort.

§ 13

Auskunft an den Betroffenen

(1) Dem Betroffenen ist auf Antrag Auskunft über die zu seiner Person gespeicherten Daten zu erteilen. In dem Antrag soll die Art der personenbezogenen Daten, über die Auskunft erteilt werden soll, näher bezeichnet werden. Die speichernde Stelle bestimmt das Verfahren, insbesondere die Form der Auskunftserteilung nach pflichtgemäßem Ermessen.

(2) ...

(3) Die Auskunftserteilung unterbleibt, soweit

1. die Auskunft die rechtmäßige Erfüllung der in der Zuständigkeit der speichernden Stelle liegenden Aufgaben gefährden würde,

2. die Auskunft die öffentliche Sicherheit oder Ordnung gefährden oder sonst dem Wohle des Bundes oder eines Landes Nachteile bereiten würde,

3. die personenbezogenen Daten oder die Tatsache ihrer Speicherung nach einer Rechtsvorschrift oder ihrem Wesen nach, namentlich wegen der überwiegenden berechtigten Interessen einer dritten Person, geheimgehalten werden müssen,

4. ...

(4) ...

2. Nachdem der Entwurf eines Volkszählungsgesetzes in der 8. Legislaturperiode am Streit um die Kosten gescheitert war, brachte die Bundesregierung Anfang 1981 den im wesentlichen unveränderten Entwurf eines Volkszählungsgesetzes erneut ein. In der Begründung war unter anderem ausgeführt (BTDrucks 9/451, S. 7 ff.):

Volks-, Berufs- und Arbeitsstättenzählungen bildeten ein Kernstück der statistischen Bestandsaufnahme. Angaben über den neuesten Stand der Bevölkerung, ihre räumliche Verteilung und ihre Zusammensetzung nach demographischen und sozialen Merkmalen sowie über ihre wirtschaftliche Betätigung seien unentbehrliche Grundlagen für gesellschaftspolitische und wirtschaftspolitische Entscheidungen des Bundes, der Länder und Gemeinden. In verschiedenen Rechtsvorschriften werde auf Zählungsergebnisse Bezug genommen. Auch die Parteien, die Tarifpartner, die Wirtschaftsverbände und Berufsverbände, die Wissenschaft und sonstige wichtige Gruppen des öffentlichen Lebens seien auf die Zählungsergebnisse angewiesen. Diese seien ferner Ausgangspunkt für die Fortschreibung der laufenden Entwicklung und Auswahlgrundlage für gesetzlich angeordnete Erhebungen auf Stichprobenbasis. Die Ergebnisse der letzten Zählung vom 27. Mai 1970 seien überholt. Bund, Länder und Gemeinden, aber auch zahlreiche soziale und wirtschaftliche Organisationen sähen ihre Arbeiten in den kommenden Jahren wesentlich beeinträchtigt und befürchteten Fehlplanungen und Fehlinvestitionen. Die zur Aktualisierung zu erhebenden Daten seien zur Entlastung der Auskunftspflichtigen und zur Minimierung der Kosten auf das unbedingt Notwendige beschränkt.

Mit der Volkszählung und Berufszählung werde ein vielfältiges Strukturbild der Bevölkerung in tiefer regionaler Gliederung gewonnen. Ihre Ergebnisse seien Unterlage für zahlreiche Verwaltungszwecke. Allein die Einwohnerzahl sei zum Beispiel für die Stimmen der Länder im Bundesrat, für die Abgrenzung der Bundestagswahlkreise, für den Finanzausgleich, für die Größe der Gemeindeparlamente und vieles andere mehr von Bedeutung. Für das Land Bayern seien hundert Rechtsvorschriften gezählt worden, die auf die Bevölkerungszahl Bezug nähmen. Durch einen Vergleich der Angaben über die Wohnungsanschriften mit den Melderegistern könne erreicht werden, daß die im Rahmen der Volkszählung ermittelten und anschließend auf der Basis der Zählung fortgeschriebenen Einwohnerzahlen mit dem Inhalt der Melderegister weitgehend identisch seien.

Die gebäudestatistischen Fragen würden in erster Linie für im ganzen Bundesgebiet interessierende regionale und städtebauliche Auswertungszwecke und als Basis für die gesetzlich angeordnete Fortschreibung der Gebäude benötigt. Die wohnungsstatistischen Fragen bezweckten, Umfang und Struktur des Wohnungsbestandes regional tiefgegliedert zu erfassen. Sie sollten wesentliche Hinweise für die richtige Einschätzung des Wohnungsbestandes liefern, wie zum Beispiel Belegung der Wohnungen, Angaben über leerstehende Wohnungen und Mietenbelastung. Die Daten seien zugleich die Basis für die gesetzlich angeordnete Fortschreibung des Wohnungsbestandes.

Die Arbeitsstättenzählung erstrecke sich als Rahmenzählung auf alle Wirtschaftsbereiche mit Ausnahme der Landwirtschaft. Sie liefere in fachlicher und regionaler Gliederung einen Überblick über Zahl und Größe der Arbeitsstätten und Unternehmen und über deren Rechtsform. Ihre Ergebnisse seien insbesondere für die Raumordnung, die Landesplanung und Regionalplanung, die Strukturpolitik, die Arbeitsmarktpolitik und die Verkehrspolitik eine wertvolle Informationsbasis.

§ 9 des Regierungsentwurfs sah in Absatz 1 einen Melderegisterabgleich lediglich für Vornamen und Familiennamen, Geburtstag, Familienstand und Anschrift vor. Die Weitergabe von Daten an die Gemeinden und Gemeindeverbände nach Absatz 3 war an die Bedingung geknüpft, daß durch Satzung die Voraussetzungen geschaffen seien und erhalten blieben, die eine ausschließliche statistische Nutzung der Daten sicherstellten.

Der vom Bundesrat vorgeschlagenen erweiterten Fassung des § 9 Abs. 1 VZG 1983 stimmte die Bundesregierung zu (BTDrucks 9/451, S. 14f): Danach sollten lediglich Telefonanschluß, rechtliche Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu einer Religionsgesellschaft und Staatsangehörigkeit vom Melderegisterabgleich ausgeschlossen sein.

Die kommunalen Spitzenverbände hatten vorgeschlagen, das Erfordernis einer Datenschutzsatzung in § 9 Abs. 3 des Entwurfs zu streichen. Dagegen wurde in den Ausschußberatungen eingewandt, die sensiblen Daten, wegen derer das Satzungserfordernis für notwendig gehalten werde, würden trotz des verringerten Fragenprogramms auch weiterhin erhoben. In einzelnen Gemeinden seien keine für die Bearbeitung von Statistiken zuständigen Stellen benannt, so daß eine Nutzung der Daten ausschließlich für statistische Zwecke nicht sichergestellt sei. Das Statistikgeheimnis müsse so weit wie möglich gewahrt und alles vermieden werden, was Zweifel an seiner Einhaltung hervorrufen könnte. Es sei notwendig, daß das Vertrauen der Bevölkerung, die in diesen Fragen außerordentlich sensibilisiert sei, geschützt werde. Auch die Kommunalverwaltungen müßten ein Interesse daran haben, daß keinerlei Verdacht in bezug auf Mißbrauchsmöglichkeiten aufkommen könne.

Die damaligen Koalitionsfraktionen sind dieser Auffassung gefolgt und haben mehrheitlich beschlossen, dem Deutschen Bundestag die Annahme des § 9 Abs. 3 in der Fassung des Regierungsentwurfs (also mit dem Erfordernis einer Datenschutzsatzung) zu empfehlen. In der Gesamtabstimmung hat auch die Fraktion der CDU/CSU zugestimmt (BTDrucks 9/1068, S. 17). Diesem Beratungsergebnis des Innenausschusses folgte auch der Deutsche Bundestag bei der zweiten und dritten Beratung des Volkszählungsgesetzes 1983.

Der Bundesrat verlangte einmal die Einführung des § 5 Abs. 2 VZG 1983, demzufolge Widerspruch und Anfechtungsklage gegen die Aufforderung zur Auskunftserteilung keine aufschiebende Wirkung haben. Zur Begründung wurde ausgeführt, der mit der Volkszählung verbundene Kostenaufwand sei nur gerechtfertigt, wenn in möglichst kurzer Zeit vollständige Ergebnisse vorlägen. Dieses Ziel sei gefährdet, wenn Rechtsbehelfe aufschiebende Wirkung hätten. Die Voraussetzungen der Anordnung einer sofortigen Vollziehung könnten jeweils im Einzelfall nicht hinreichend dargetan werden. Diese Unsicherheit sei dadurch auszuräumen, daß im Gesetz selbst die aufschiebende Wirkung der Rechtsbehelfe ausgeschlossen werde.

Ferner hielt es der Bundesrat für erforderlich, sämtliche Angaben nach § 2 Nr. 1 und 2 VZG 1983 in den Melderegisterabgleich einzubeziehen. Zur Begründung wurde ausgeführt, die Kirchen hielten eine Überprüfung der statistischen Zahlen über die Zugehörigkeit zu einer Religionsgesellschaft für dringend notwendig. Es bestünden Abweichungen zwischen den Zahlen der amtlichen Statistik, den Melderegistern und den Zahlen, die die Kirchen selbst ermittelt hätten. Eine Bereinigung setze den Melderegisterabgleich voraus. Um möglichst zutreffende Ergebnisse über den Ausländeranteil zu erhalten, solle der Melderegisterabgleich auch für das Merkmal der Staatsangehörigkeit ermöglicht werden. Da der Telefonanschluß nicht im Melderegister eingetragen werde, sei ein Abgleich gegenstandslos. Dieses Merkmal müsse daher nicht ausdrücklich ausgenommen werden. Für die Richtigkeit des Melderegisters und die Richtigkeit und Vollständigkeit des Volkszählungsergebnisses hätten die in § 2 Nr. 1 und 2 VZG 1983 aufgeführten Merkmale mit Ausnahme des Telefonanschlusses nahezu gleiche Bedeutung, so daß sie beim Abgleich auch gleichbehandelt werden sollten.

Weiter schlug der Bundesrat die später Gesetz gewordene umfassende Formulierung des § 9 Abs. 3 Satz 2 VZG 1983 vor. Das Satzungserfordernis und die Einschränkung hinsichtlich der zu übermittelnden Einzelangaben seien zu streichen. Zur Begründung wurde ausgeführt, die Gemeinden seien auch ohne eine Satzung gehalten, die Vorschriften der Geheimhaltung statistischer Daten zu beachten und dies durch organisatorische Maßnahmen sicherzustellen. Der Gesetzestext besage auch eindeutig, daß die Einzelangaben nur für statistische Zwecke verwendet werden dürften. Das Informationsbedürfnis der Gemeinden beziehe sich auf alle in den §§ 2 bis 4 VZG 1983 genannten Merkmale, so daß keine Unterschiede hinsichtlich der Übermittlung an die Gemeinden gemacht werden sollten.

Der Vermittlungsausschuß machte sich diese Auffassung des Bundesrates zu eigen (BTDrucks 9/1350).

Der Vorschlag des Vermittlungsausschusses wurde vom Bundestag einstimmig gebilligt; der Bundesrat stimmte dem Gesetz durch einstimmigen Beschluß zu.

II.

Die Beschwerdeführer rügen die Verletzung ihrer Grundrechte aus Art 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art 1 Abs. 1, Art 4 Abs. 1, Art 5 Abs. 1, Art 13, Art 19 Abs. 4 GG sowie einen Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip (Art 20 Abs. 3 GG). Sie tragen im wesentlichen folgendes vor:

Aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Art 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art 1 Abs. 1 GG folge für eine Volkszählung das Gebot der Anonymität. Dies habe auch das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 16. Juli 1969 zur Verfassungsmäßigkeit einer Repräsentativstatistik (BVerfGE 27, 1 - Mikrozensus) festgestellt und beim damaligen Mikrozensus als gegeben vorausgesetzt. Das Anonymitätsgebot des Grundgesetzes erfordere, daß kein Zusammenhang zwischen erhobenen Daten und individualisierbaren Personen oder Personengruppen hergestellt werden könne. Ein wirksam anonymisiertes und in seiner Verfügbarkeit strikt begrenztes Datum könne auf die Einzelperson keinerlei Rückwirkung haben. Sei die Anonymität dagegen nicht oder nicht voll gewährleistet, so mache eine Befragung Daten über individuelle Personen und Personengruppen für beliebige fremdbestimmte Zwecke verfügbar. Dadurch könne die Einzelperson der freien Selbstbestimmung beraubt und zum Gegenstand fremder Willensausübung und Kontrolle werden. Bei der Volkszählung würden die Daten nicht anonymisiert, sondern blieben in allen Fällen personenbezogen. Dies gelte auch dort, wo der Name entfalle. Nach dem gesicherten Stand der Forschung könnten scheinbar undurchbrechbare Anonymisierungen heute mit einfachen mathematischen Verfahren repersonalisiert werden. Besonders leicht sei die Reidentifizierung mit Hilfe der Haushaltskennummern sowie der Zählerlisten, die für die Durchführung der Volkszählung ohne gesetzliche Grundlage vorgesehen seien.

Seit der Mikrozensus-Entscheidung hätten sich die technischen Voraussetzungen der Datenerhebung und Datenverarbeitung grundlegend verändert. Die Statistischen Landesämter hätten sich zu Landesdatenzentralen entwickelt, zahlreiche Sonderverwaltungen hätten eigene Datenbanken mit eigenen Personenkennzeichen eingeführt; auf Gemeindeebene entwickelten sich die Melderegister zunehmend zu einer umfassenden Einwohnerdatenbank, deren Daten im Prinzip für jede staatliche Stelle abrufbar seien. Dies habe zur Folge, daß die Volkszählungsdaten auf den gleichen Rechnern mit denselben Programmen durch dieselben Personen verarbeitet würden, wie die Daten für andere staatliche Funktionen. Deshalb reichten die herkömmlichen Sicherungen für einen wirksamen Datenschutz nicht aus. Es sei möglich, einen riesigen Datenbestand für eine beliebige Vielzahl von abrufenden Stellen ständig verfügbar zu halten. Außerdem verfügten die unbestimmt vielen möglichen Empfänger der Volkszählungsdaten in der Regel über eigene Datenbanken. Diese lieferten Zusatzwissen, das mit den Volkszählungsdaten verknüpft werden könne. Dadurch werde die Schwelle der Reidentifikation weiter herabgesetzt. Aufgrund dieser gewandelten technologischen Bedingungen sei die Erstellung eines umfassenden und detaillierten Bildes der jeweiligen Person - ein Persönlichkeitsprofil - möglich, und zwar auch im Intimbereich; der Bürger werde zum "gläsernen Menschen". Die fehlende Anonymität bedeute nicht nur einen verfassungsrechtlichen Mangel der zu erwartenden Zählpraxis und Auswertungspraxis, sondern stelle einen Mangel des Volkszählungsgesetzes 1983 selbst dar.

Das Gesetz gerate durch sein Schweigen zu bestimmten wichtigen Fragen seiner Anwendung in Konflikt mit dem vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Wesentlichkeitsgebot. Erhebungszweck und Erhebungsprogramm müßten im Gesetz geregelt werden. Das Volkszählungsgesetz regele den Zählvorgang selbst aber nur mit einem unwesentlichen Satz und lasse damit die Form der grundrechtsbeeinträchtigenden Maßnahmen offen. Darüber hinaus sei es verfassungsrechtlich geboten, daß der Bürger von der Verarbeitung, insbesondere der Weitergabe seiner Daten, informiert werde; denn sonst sei das Statistikgeheimnis durch den als Antragsdelikt ausgestalteten Straftatbestand des § 203 StGB nicht ausreichend geschützt.

Die vorgesehene Erhebung sei in dieser Form nicht erforderlich und verstoße daher gegen das Übermaßverbot. Aufgrund der Fortschritte der empirischen Sozialforschung und neuerer statistischer Methoden seien Zwangserhebungen nach Art und Umfang des Volkszählungsgesetzes 1983 methodisch überholt. Gezielte freiwillige Erhebungen könnten mit wesentlich geringerem Aufwand und erheblich geringerer Eingriffstiefe bessere Ergebnisse liefern. Außerdem habe die Befragung ohne weiteres weniger einschneidend ausgestaltet werden können, zumal heute das Erhebungsinstrumentarium der "anonymen Datenerhebung" entwickelt sei, welches zu weitaus geringeren Eingriffen in die Privatsphäre führe. Auch die namensbezogene Weitergabe der Daten an Gemeinden, welche insbesondere bei kleineren Gemeinden unkontrollierbare Nebenfolgen nach sich ziehe, sei allenfalls aus der früher beschränkten Möglichkeit der Statistikämter zur Datenverarbeitung erklärbar. Damals hätten die Gemeinden selbst statistische Auswertungen vornehmen müssen. Die Notwendigkeit hierfür sei jedoch heute entfallen.

Verfassungsrechtliche Bedenken bestehen nach Auffassung der Beschwerdeführer vor allem gegen die Vorschriften des § 9 VZG 1983. Der Melderegisterabgleich nach Absatz 1 sei bereits deshalb verfassungswidrig, weil es an der Gesetzgebungskompetenz des Bundes fehle. Unter den Bedingungen einer sich weiterentwickelnden Datenverarbeitungstechnologie komme der verfassungsrechtlichen Kompetenzverteilung eine neue Funktion zu. Es lasse sich aus ihr das verfassungsrechtliche Gebot der Dezentralisierung von bestimmten Datenspeicherungen ableiten, welches selbst schon ein Element von Datenschutz sei. § 9 Abs. 1 VZG 1983 verknüpfe in verfassungswidriger Weise Statistik und Verwaltungsvollzug. Der Zähler, der unvermeidlich Einblick in sämtliche erhobenen Daten der Befragten gewinne, befinde sich in einer Doppelrolle: Er sei zugleich "Kundschafter der örtlichen Meldebehörde und Vollzieher der Bundesstatistik". Bei einer rein melderechtlichen Befragung sei eine Anonymisierung der Daten nicht nötig, und bei einer rein statistischen Befragung brauchten die persönlichen Daten gar nicht erst erhoben zu werden. Der Versuch des Gesetzgebers, in einer gemischten, sowohl anonymen als auch individuellen Erhebung beiden Zwecken gerecht zu werden, gefährde die für Zwecke der Statistik gebotene Anonymität. Der klaren funktionellen Trennung von Statistik und Meldewesen komme in einer veränderten technischen Umwelt, die den Sicherheitsbehörden einen direkten Zugriff auf den gesamten Datenbestand eröffne, eine erhöhte verfassungsrechtliche Bedeutung zu. Die gesetzlich vorgesehene Auskunftspflicht führe in Verbindung mit dem Melderegisterabgleich zum Gebot der Selbstbezichtigung und verstoße deshalb gegen das Rechtsstaatsprinzip. Das Nachteilsverbot in § 9 Abs. 1 Satz 2 VZG 1983 biete dagegen keinen ausreichenden Schutz; es stehe zudem in Widerspruch zum Legalitätsprinzip.

Die Übermittlungsregelungen des § 9 Abs. 2 bis 4 VZG 1983 verstießen gegen das verfassungsrechtliche Bestimmtheitsgebot. Sowohl der Personenkreis, dem Daten übermittelt werden dürften, als auch die Ziele, für welche die übermittelten Daten verwendet werden dürften, seien unbestimmt geregelt. Die lediglich funktionelle Umschreibung des Empfängerkreises führe dazu, daß dieser für den Bürger aus dem Gesetz selbst nicht ersichtlich sei. Der Verwendungszweck für die nach § 9 Abs. 2 und 3 VZG 1983 übermittelten Daten sei so unbestimmt geregelt, daß er juristisch nicht abschließend faßbar sei. Auch die "wissenschaftlichen Zwecke" des § 9 Abs. 4 VZG 1983 seien nur auf den ersten Blick klar. Angesichts des herrschenden weiten Wissenschaftsbegriffs könnten Daten auch an die wissenschaftlichen Stäbe der Arbeitsverwaltung und Sozialverwaltung, des Bundeskriminalamts und der Verfassungsschutzbehörden übermittelt werden. Der Befragte kenne weder die über die statistischen Zwecke hinausgehenden Zwecke der Erhebung noch den Umfang der gesetzlich zugelassenen Übermittlung von Daten; er könne ferner nicht die zahlreichen möglichen Empfänger der Daten bestimmen. Deshalb sei auch das Nachteilsverbot für die Datenweitergabe in § 9 Abs. 2 Satz 3 und Abs. 3 Satz 3 VZG 1983 unklar. Da die Menge der möglichen Verwendungszwecke offen sei, könnten praktisch alle Angaben allein oder in Verknüpfung zu Nachteilen führen. Für den Befragten sei dies nicht vorauszusehen.

Die Frage nach der Zugehörigkeit zu einer Religionsgesellschaft verstoße wegen der Vermischung von Statistik und Verwaltungsvollzug gegen das Grundrecht aus Art 4 Abs. 1 GG. Auch die durch Art 5 Abs. 1 GG gewährleistete Meinungsfreiheit sei verletzt. Zu ihr gehöre auch die Freiheit, bestimmte Tatsachen nicht mitzuteilen. § 3 VZG 1983 verstoße gegen Art 13 GG. Es mache keinen Unterschied, ob die Wohnung von Staatsorganen betreten oder der Wohnungsinhaber zur Selbstoffenbarung gezwungen werde.

Schließlich sei die Rechtsschutzgarantie des Art 19 Abs. 4 GG verletzt. Die Vorschrift des § 5 Abs. 2 VZG 1983 ermögliche eine Erfassung und Speicherung von Daten, ehe es in erster Instanz überhaupt zur Verhandlung gekommen sei. Außerdem sei wegen der Unbestimmtheit des Empfängerkreises und der möglichen Verwendungszwecke der ermittelten Daten dem Bürger jeglicher Überblick darüber vorenthalten, wer wo über welche seiner Daten in welcher Weise und zu welchem Zweck verfüge. Einmal weitergegebene Daten seien in komplex verbundenen und zunehmend "vernetzten" Systemen unterwegs, so daß sie nicht mehr zurückgehalten werden könnten. Auch deshalb laufe die Rechtsschutzgarantie leer.

III.

Das Bundesverfassungsgericht hat an die Beteiligten und die Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder Fragen gerichtet, die im wesentlichen folgende Punkte betrafen: Klärung der Zwecke des Volkszählungsgesetzes 1983 und ihrer Erkennbarkeit aus dem Gesetz; verfassungsrechtliche Bedeutung des Grundsatzes der Zweckbindung der Daten; Zulässigkeit der Weitergabe statistischer Daten für den Verwaltungsvollzug; Notwendigkeit einer näheren Regelung des Vollzugs des Volkszählungsgesetzes 1983 durch den Gesetzgeber; Vereinbarkeit der Volkszählung als Totalerhebung mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit; Möglichkeiten milderer Vollzugsmittel bei einer Totalerhebung; Wert der Volkszählung für die öffentliche Hand, wenn Datenübermittlungen nach § 9 VZG 1983 aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht erlaubt sein sollten.

Zu den Verfassungsbeschwerden und den vom Bundesverfassungsgericht gestellten Fragen haben sich für die Bundesregierung der Bundesminister des Innern, ferner die Regierung des Landes Baden-Württemberg, die Bayerische Staatsregierung, der Senat der Freien und Hansestadt Hamburg, die Niedersächsische Landesregierung, die Landesregierung des Landes Nordrhein-Westfalen, die Landesregierung Rheinland-Pfalz und die Landesregierung Schleswig-Holstein geäußert. Außerdem haben der Bundesbeauftragte für den Datenschutz, die Landesbeauftragte für den Datenschutz Baden-Württemberg, der Bayerische Landesbeauftragte für den Datenschutz, der Berliner Datenschutzbeauftragte, der Landesbeauftragte für den Datenschutz der Freien Hansestadt Bremen, der Hamburgische Datenschutzbeauftragte, der Hessische Datenschutzbeauftragte, der Landesbeauftragte für den Datenschutz Nordrhein-Westfalen und die Datenschutzkommission Rheinland-Pfalz Stellung genommen.

1. Die Bundesregierung und die genannten Landesregierungen, mit Ausnahme des Senats der Freien und Hansestadt Hamburg, halten das Volkszählungsgesetz 1983 für mit dem Grundgesetz vereinbar und die Verfassungsbeschwerden für unbegründet.

Die Auskunftspflichten nach dem Volkszählungsgesetz 1983, die Durchführung der Zählung und die Verarbeitung und Verwendung der erhobenen Daten seien durch den statistischen Gesetzeszweck bestimmt. Mit der statistischen Erhebung seien einige Datenverwendungen für andere Zwecke als solche der Volkszählung verbunden (§ 9 VZG 1983).

Die Ergebnisse der Statistik als einer der vielseitigsten Informationsquellen seien unverzichtbar für die Beobachtung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Situation und ihre Entwicklung sowie für die Vorbereitung und Kontrolle von Entscheidungen, Maßnahmen und Planungsvorhaben. Das Programm der amtlichen Statistik habe laufend erweitert und den aktuellen Bedürfnissen angepaßt werden müssen. Dabei sei Wert auf ein in sich geschlossenes, vielseitig verwendbares und gut koordiniertes statistisches Gesamtbild von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft gelegt worden. Von Anfang an habe die Bundesstatistik auch Zahlen in tiefer regionaler Gliederung geliefert, an denen unter anderem die Länder ein starkes Interesse hätten. Der eigene Bedarf des Bundes an regionalisierten Ergebnissen habe zugenommen, unter anderem für die regionale Strukturpolitik im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe "Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" (Art 91a Abs. 1 Nr. 2 GG), für die Raumordnungspolitik, regionale Arbeitsmarktpolitik, Sozialpolitik, Bildungspolitik und Verkehrspolitik. Bei Statistikgesetzen mit komplexer Aufgabenstellung sei es ausgeschlossen, alle Erhebungszwecke oder gar die Erhebungsprogramme im Gesetz oder in der Gesetzesbegründung darzustellen. Dies gelte auch für das angegriffene Volkszählungsgesetz 1983. Dieses sei sorgfältig und kritisch unter Beteiligung der Datenschutzbeauftragten beraten worden. Es bleibe im Umfang des Fragenkatalogs hinter dem Volkszählungsgesetz 1970 zurück und umfasse keine Fragen, die den unantastbaren Bereich privater Lebensgestaltung berührten.

Vorschriften über den Melderegisterabgleich und Übermittlungsregelungen habe es auch im Volkszählungsgesetz 1970 gegeben. § 9 VZG 1983 fülle den durch § 11 BStatG vorgegebenen Rahmen im einzelnen aus. Danach sei die Übermittlung von Daten nur für "statistisch-planerische" Zwecke zugelassen, eine Verwendung für Vollzugszwecke dagegen ausdrücklich untersagt. Die bereichsspezifischen Datenschutzregelungen des Bundesstatistikgesetzes und des Volkszählungsgesetzes 1983 gingen erheblich über die Regelungen des Bundesdatenschutzgesetzes hinaus und verdeutlichten die große Sensibilität des Gesetzgebers für die besondere Schutzbedürftigkeit von Einzelangaben, die für Zwecke der Volkszählung mitgeteilt werden. Die Einhaltung der einschlägigen Vorschriften sei auch sichergestellt, insbesondere durch die Kontrollen des Bundesbeauftragten für den Datenschutz und des Bundesministers des Innern als Aufsichtsbehörde des Statistischen Bundesamtes. Auch habe sich die Effektivität der Sicherungseinrichtungen und Kontrolleinrichtungen der in den Statistischen Ämtern benutzten elektronischen Datenverarbeitungsanlagen gegenüber der Zeit der Mikrozensus-Entscheidung entscheidend erhöht.

Verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab sei das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art 1 Abs. 1 GG. Eine Verletzung oder Gefährdung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts sei nicht gegeben. Der gemeinschaftsgebundenen und gemeinschaftsbezogenen Persönlichkeit sei ein Sozialbezug immanent, der es ausschließe, schlechterdings von einer grundsätzlich umfassenden Selbstbestimmung des Einzelnen über die Darstellung der eigenen Person auszugehen. Dem Staat sei es nicht von vornherein untersagt, sich Zugang zu personenbezogenen Daten zu verschaffen und ihre Verwertung zu regeln. Der Gesetzgeber könne das Interesse des Einzelnen, für sich oder anonym zu bleiben, gegen das Informationsinteresse der Allgemeinheit abwägen. Bei der Abwägung sei zu berücksichtigen, daß Volkszählungen eine Vorbedingung für die Planmäßigkeit staatlichen Handelns seien. Der Staat sei als Sozialstaat nach Art 20 Abs. 1 und Art 28 Abs. 1 Satz 1 GG zur Daseinsvorsorge verpflichtet. Das Informationsinteresse von Regierung und Parlament sei deshalb verfassungsrechtlich legitimiert, weil anders an der Lebenswirklichkeit orientierte Gesetzgebung nicht möglich sei. Entsprechendes gelte für Maßnahmen der Datenverarbeitung. Die sozialstaatliche Legitimation rechtfertige aber selbstverständlich nicht jedes Mittel. Vielmehr setze eine statistische Erhebung voraus, daß die Anonymität hinreichend gesichert sei. Das Bundesverfassungsgericht habe keine absolute, gleichsam mathematische Anonymität für verfassungsrechtlich geboten gehalten (BVerfGE 27, 1 [7]). Die in der genannten Entscheidung für ausreichend angesehenen Vorkehrungen seien nach wie vor geltendes Recht und würden durch vielfältige weitere Sicherungen rechtlicher und technischer Art verstärkt. Damit unterscheide sich die für die Datenverarbeitung der Statistischen Ämter zu fordernde Anonymität auch von dem Anonymitätsbegriff des § 11 Abs. 5 BStatG. Diese Vorschrift setze für die Übermittlung von Einzelangaben voraus, daß sie Auskunftspflichtigen nicht mehr zugeordnet werden könnten. Diese hohe Anonymitätsschwelle habe lediglich insofern Bedeutung, als die Statistischen Ämter unter diesen Voraussetzungen Einzelangaben beliebigen Adressaten übermitteln dürften.

Das Volkszählungsgesetz 1983 entspreche auch dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Dem Gesetzgeber komme bei der Beurteilung komplexer Sachverhalte ein Beurteilungsspielraum und Einschätzungsspielraum und damit eine Entscheidungsprärogative zu. Ähnlich wie für die Voraussetzungen des Gleichheitssatzes sei auch für die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes dem Gesetzgeber bei der Festlegung der Prioritäten und bei der Auswahl der Mittel ein entsprechender Freiraum zuzubilligen. Nur durch richterliche Zurückhaltung könne der Gefahr begegnet werden, jeden letztlich politischen Streit über Sinn und Unsinn eines Gesetzes verfassungsgerichtlich zu führen. Das Bundesverfassungsgericht habe mehrfach die Frage nach der Zwecktauglichkeit einer gesetzlichen Regelung mit großer Zurückhaltung danach beurteilt, ob der Gesetzgeber aus seiner Sicht davon ausgehen durfte, daß die Maßnahmen zur Erreichung des Zieles geeignet waren. Auch hinsichtlich der Erforderlichkeit habe das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber einen weiten Ermessungsbereich zugestanden. Diese Rechtsprechung trage der Tatsache Rechnung, daß jeder Prognose ein gewisses Maß an Unsicherheit anhafte, das um so größer werde, je weiterreichend und komplexer die Zusammenhänge seien. Wesentlich sei, daß der Gesetzgeber die ihm zugänglichen Erkenntnisquellen ausgeschöpft habe, wie dies für das Volkszählungsgesetz 1983 geschehen sei.

Bei der Abwägung sei auch zu berücksichtigen, daß das Volkszählungsgesetz 1983 zwar in die Privatsphäre jedes einzelnen Einwohners eingreife, daß der Eingriff aber von geringer Intensität sei, weil die Erhebung keine den Intimbereich betreffenden Daten erfasse und die Fragen auch in ihrer Kumulierung keine wesentliche Beeinträchtigung der Persönlichkeitssphäre ergäben. Die Gefahr einer Herstellung von Persönlichkeitsprofilen sei nicht vorhanden, da die vorgesehenen Tabellenprogramme dies ausschlössen und zudem kein Datenverbund mit Stellen außerhalb der Statistischen Ämter bestehe; gegen eine mißbräuchliche Verwendung der Daten seien wirksame Vorkehrungen getroffen. Das Gesetz trage auch den mit dem technischen Fortschritt der automatischen Datenverarbeitung gesteigerten Möglichkeiten der Datenverknüpfung und dem verstärkten Problembewußtsein der Bürger Rechnung. Das sei geschehen durch die Reduzierung des Fragenumfangs gegenüber früheren Zählungen, durch Verzicht auf die die Intimsphäre berührende Fragen, durch umfassende Regelungen des Datenschutzes im Volkszählungsgesetz 1983 selbst wie auch in den Datenschutzgesetzen des Bundes und der Länder, ferner durch andere institutionelle Vorkehrungen gegen einen Mißbrauch der Daten. Auch sei den mit Statistik und Datenverarbeitung betrauten Stellen nicht von vornherein ein gesetzwidriges Handeln zu unterstellen. Vielmehr sei davon auszugehen, daß die datenschutzrechtlichen Regelungen und das gesetzlich gewährleistete Statistikgeheimnis beachtet würden. Gesetzliche Reglementierung und Vorkehrungen gegen Mißbrauch seien nicht schon für das Erheben der Daten geboten, sondern erst für das Speichern und die weitere Verwendung.

Der Gesichtspunkt der Akzeptanz könne im Rahmen der Prüfung des Verhältnismäßigkeitsprinzips zu berücksichtigen sein. Der Gesetzgeber sei in einer repräsentativen Demokratie zwar gehalten, beim Bürger um Verständnis zu werben. Dies könne Aufklärung, Erläuterung, aber auch Auseinandersetzung mit Stimmungen, Gefühlen, ja Ängsten erfordern, die im Einzelfall in ernst zu nehmenden Kreisen der Bevölkerung vorhanden sein önnten. Der Ort dafür sei nicht zuletzt das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren, das, verbunden mit vielfältigen Möglichkeiten der Einflußnahme durch Bürger, Gruppen und Verbände, eine "Entscheidungssuche vor den Augen der Öffentlichkeit" gewährleiste und damit für das Vertrauen des Bürgers notwendige Transparenz schaffe. Nehme aber der Bürger die ihm damit eröffneten Möglichkeiten nicht wahr oder bleibe er mit seinen Vorstellungen, Meinungen und Auffassungen in der Minderheit, könne die Gültigkeit des vom demokratisch legitimierten Gesetzgeber ordnungsgemäß und unter Beachtung materieller verfassungsrechtlicher Kriterien beschlossenen Gesetzes nicht davon abhängig sein, daß es allgemein und von jedermann akzeptiert werde.

Ein Verzicht auf die Volkszählung sei nur möglich, wenn entsprechende Daten aus anderen Dateien gewonnen werden könnten, zum Beispiel aus dem Melderegister, den Dateien der Krankenversicherung und Rentenversicherung, der Arbeitsverwaltung, der Katasterämter und der Grundsteuerämter. Diese Dateien wiesen jedoch erhebliche Fehler auf. Für die Arbeitsstättenzählung gebe es derzeit überhaupt kein Äquivalent in anderen Dateien und Registern. Im übrigen müßten die gesetzlichen und rechtlichen Schranken des Datenschutzes, wie zum Beispiel das Steuergeheimnis, beachtet werden. Eine Nutzung von Daten aus verschiedenen Registern und Dateien würde zudem die Einführung eines einheitlichen Personenkennzeichens voraussetzen. Dies allerdings wäre ein entscheidender Schritt, den einzelnen Bürger in seiner ganzen Persönlichkeit zu registrieren und zu katalogisieren. Aus der Sicht des Datenschutzes und des mit ihm beabsichtigten Persönlichkeitsschutzes sei es deshalb unabweisbar, daß Volkszählungen und andere Statistiken unabhängig von vorhandenen Verwaltungsunterlagen selbständig durchgeführt würden und nicht auf der Verknüpfung von Verwaltungsdateien basierten.

Zum Mittel der Stichprobe meint die Bundesregierung, daß es für den einzelnen Bürger letztlich unerheblich sei, ob er im Rahmen einer Stichprobe oder einer Gesamterhebung befragt werde. Selbst wenn man die Stichprobe trotzdem als milderes Mittel ansehe, sei sie kein Äquivalent zur Volkszählung, weil sie nur ungenaue Ergebnisse liefere. Zahlreiche Gesetze stellten aber nicht auf ungefähre, sondern auf genaue Einwohnerzahlen ab. Auch Stichprobenbefragungen nach Art der empirischen Sozialforschung könnten die Volkszählung nicht ersetzen, weil amtliche Statistik und empirische Sozialforschung unterschiedliche Aufgabenstellungen hätten, die auch die statistischen Methoden beeinflußten. Für die amtliche Statistik seien in vielen Fällen tiefgegliederte Angaben erforderlich, die nur eine Totalerhebung liefern könne. Deshalb sei auch eine auf freiwilliger Basis beruhende Volkszählung keine realistische Alternative. Die bei der Volkszählung geforderte Genauigkeit des Nachweises zuverlässiger Basisinformationen sei nach den praktischen Erfahrungen mit der Teilnehmerquote bei freiwilligen Erhebungen nicht zu erreichen. Auch eine Kombination von Vollerhebung und Stichproben setze voraus, daß eine geeignete und zuverlässige Auswahlgrundlage verfügbar sei. Dies sei bei der Volkszählung 1970 der Fall gewesen; damals habe die Gebäudezählung und Wohnungszählung 1968 als Auswahlgrundlage zur Verfügung gestanden. Für die Volkszählung 1983 seien derartige Voraussetzungen nicht vorhanden. Im übrigen ergebe sich auch im Falle einer Kombination von Vollerhebung und Stichprobe keine spürbare Erleichterung für den Bürger.

Dem Grundgesetz lasse sich kein absoluter Grundsatz entnehmen, daß zulässigerweise für einen bestimmten Verwaltungszweck erhobene Daten ein für allemal an dieses Verwendungsziel gebunden seien und deshalb schlechterdings nicht in den Dienst anderer Verwendungszwecke gestellt werden dürften. Dies gelte auch für statistische Daten. Statistik sei stets Registrierung ohne Beeinflussung der zu registrierenden Verhältnisse. Sie diene nicht notwendig bestimmten Einzelzwecken, sondern dem Gesamtzweck, die für künftiges Planen und Handeln benötigten Informationen zu verschaffen. Dies sei eingeschränkt aus gesetzlichen Gründen des Datenschutzes und aus verfassungsrechtlichen Gründen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Der Staat benötige hinsichtlich der Datenverwendung eine gewisse Flexibilität. Würde ihm diese durch starre Zweckbestimmungen genommen, könne er nicht auf neue, häufig nicht vorhersehbare Fragestellungen reagieren. Die Übermittlung von Daten, die der Staat rechtmäßig gewonnen habe, sei unter dem Blickwinkel der Verfassung nicht stets und in allen Bereichen an den ursprünglichen Verwendungszusammenhang gebunden. Art 35 Abs. 1 GG könne grundsätzlich die formelle Grundlage auch für die Weitergabe personenbezogener Daten für einen anderen Verwendungszweck bieten. Auch das Bundesverfassungsgericht habe die Verpflichtung zur Amtshilfe und Rechtshilfe als ausreichende formelle Grundlage anerkannt und zur Begrenzung nur auf das Verhältnismäßigkeitsgebot abgehoben (BVerfGE 27, 344 [352]). Ob darüber hinaus die Weitergabe einer ausdrücklichen Rechtsgrundlage bedürfe, könne dahinstehen; denn allgemeine Regelungen wie § 10 Abs. 1 Satz 1 BDSG in Verbindung mit § 5 Abs. 2 Satz 2 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG) reichten als solche jedenfalls aus. Der Grundsatz der Zweckbindung sei von den Vertretern der Zweckbindungslehre überbewertet worden. Meinungsumfragen zufolge empfänden gerade Empfänger staatlicher Hilfen wiederkehrende Datenerhebungen als Belästigung und gäben dem verwaltungsinternen Datenaustausch den Vorzug. Dieser könne im Sinne des Übermaßverbots das mildere Mittel im Vergleich zur nochmaligen unmittelbaren Informationserhebung darstellen. Deshalb habe auch der Gesetzgeber des Bundesdatenschutzgesetzes und der Landesdatenschutzgesetze jeweils auf ein generelles Zweckentfremdungsverbot verzichtet und sei statt dessen den durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gewiesenen Weg gegangen. Nur für Daten, die einem besonderen Berufsgeheimnis oder Amtsgeheimnis unterlägen, habe das Prinzip der Zweckbindung Vorrang (§ 10 Abs. 1 Satz 2 BDSG), ferner in einzelgesetzlich geregelten Sonderfällen (zum Beispiel §§ 3, 18 Abs. 2 und 3 des Melderechtsrahmengesetzes - MRRG -).

Für die Übermittlung statistischer Daten habe der Gesetzgeber Vorkehrungen getroffen, die über die Anforderungen des allgemeinen Datenschutzrechts erheblich hinausgingen. In den detaillierten Regelungen des § 11 BStatG werde deutlich, daß sich der Gesetzgeber der besonderen Schutzbedürftigkeit der durch statistische Erhebungen gewonnenen Daten bewußt sei. Sie trügen den verfassungsrechtlichen Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in zweifacher Hinsicht Rechnung. Einmal würden bereits im Bundesstatistikgesetz selbst abschließende Festlegungen getroffen, die sicherstellten, daß Datenübermittlungen auf das unabweisbar Notwendige beschränkt blieben. Zum anderen würden für den Erlaß der einzelnen Statistikgesetze Rahmenvorgaben gesetzt, die darauf ausgerichtet seien, in diesen Gesetzen je nach Gegenstand und Besonderheit der einzelnen statistischen Erhebung die Belange der Auskunftspflichtigen und die Interessen der Allgemeinheit miteinander abzustimmen und zum Ausgleich zu bringen. Für die geplante Volkszählung sei das im Volkszählungsgesetz 1983 geschehen. Es schränke nicht nur die Möglichkeiten der Datenweitergabe, wie sie nach den allgemeinen Vorschriften des Datenschutzrechts bestünden, erheblich ein, sondern verfeinere dabei zugleich das Geflecht an Sicherungen, die das Bundesstatistikgesetz zum Schutz statistischer Daten enthalte.

§ 9 Abs. 1 VZG 1983 nenne ausdrücklich den Zweck der Weitergabe (Berichtigung der Melderegister). Die Vorschrift bezeichne weiter enumerativ diejenigen Daten, die den Meldebehörden zugänglich gemacht werden dürften. Sie gebe nur solche Angaben aus statistischen Erhebungen für eine Korrektur der Melderegister frei, die dort nach den einschlägigen Vorschriften der Meldegesetze gespeichert werden dürften. Wäre ein solcher Melderegisterabgleich nicht zulässig, so müßten im übrigen verstärkt umfangreiche, eigenständige, kostenaufwendige, den Bürger zusätzlich belastende Erhebungen zur Überprüfung und Berichtigung der Melderegister durchgeführt werden. Durch § 12 Abs. 2 MRRG und die entsprechenden Regelungen der Landesmeldegesetze sei der Begriff der Hauptwohnung neu definiert worden. Er sei eine wesentliche Voraussetzung für die Zuverlässigkeit der Fortschreibung der Bevölkerungszahlen. Die Verzahnung der Bevölkerungsfortschreibung mit den Melderegistern folge aus dem Gesetz über die Statistik der Bevölkerungsbewegung und die Fortschreibung des Bevölkerungsstandes in der Fassung vom 14. März 1980 (BGBl. I S. 308); die in § 4 dieses Gesetzes angeordnete Wanderungsstatistik werde auf der Grundlage der meldebehördlichen Anmeldungen, Abmeldungen und Ummeldungen erstellt. Ohne die Registerberichtigung würde die schon bisher bestehende Diskrepanz zwischen Bevölkerungsfortschreibung und Melderegister noch verschärft. Die Meldebehörden müßten bei jedem Einwohner prüfen, ob er mehrere Wohnungen innehabe, um die Hauptwohnung bestimmen zu können. Bei dieser Sachlage und Rechtslage sei die Weitergabe der in § 9 Abs. 1 VZG 1983 genannten Angaben keine die Privatsphäre des Einzelnen verletzende Zweckentfremdung.

Entsprechendes gelte für die Übermittlungsregelungen des § 9 Abs. 2 bis 4 VZG 1983, soweit darin überhaupt eine Herauslösung der Daten aus dem ursprünglichen Verwendungszusammenhang gesehen werden könne. Diese Regelungen machten entweder die Datenweitergabe von der Rechtmäßigkeit der Aufgabenerfüllung der obersten Bundesbehörden und Landesbehörden abhängig (§ 9 Abs. 2 VZG 1983) oder gäben jeweils die Verwendungszwecke an, für die allein die statistisch erhobenen Daten zur Verfügung gestellt werden dürften (§ 9 Abs. 3 und 4 VZG 1983). Im übrigen würden auch hier, je nach Empfänger und Übermittlungsanlaß, bestimmte Daten von vornherein von der Weitergabe ausgeschlossen. Die Abstufungen, die dabei vorgenommen worden seien, zeigten in besonderer Weise, wie sehr sich der Gesetzgeber dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verpflichtet gesehen habe. § 9 Abs. 2 VZG 1983 sei nach eingehenden Beratungen, an denen auch die Datenschutzbeauftragten von Bund und Ländern teilgenommen hätten, zustandegekommen. Die Vorschrift schränke die Datenübermittlung gegenüber dem früher geltenden Verfahren und gegenüber dem allgemeinen Datenschutzrecht wesentlich ein und sichere sie gegen Mißbrauch. Auf die Übermittlung von Einzelangaben ohne Namen sei zum Beispiel die Deutsche Bundespost bei Einführung neuer Techniken und der Gestaltung künftiger Netze angewiesen. Von besonderer Bedeutung sei die Datenübermittlung nach § 9 Abs. 2 VZG 1983 für aktuelle und komplexe Auswertungen auf den Gebieten der Raumordnung und der Baupolitik und Wohnungsbaupolitik des Bundesministers für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau. Die Nutzung der Volkszählungsdaten durch Wissenschaft und Forschung (§ 9 Abs. 4 VZG 1983) sei vom Innenausschuß des Deutschen Bundestages im Interesse des Datenschutzes entgegen der Auffassung der Datenschutzbeauftragten stärker eingegrenzt worden. Eine Übermittlung sei nur an den Empfängerkreis im Sinne des § 11 Abs. 3 BStatG, das heißt an Amtsträger und für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichtete, zugelassen.

An der Verfassungsmäßigkeit des § 9 VZG 1983 ändere sich auch nichts dadurch, daß die Daten, soweit sie für Zwecke des Verwaltungsvollzugs dienstbar gemacht werden sollten, unter bußgeldbewehrter Auskunftsverpflichtung erhoben werden sollten. Allerdings berühre ein Zwang zur Selbstbezichtigung die Würde des Menschen; jedoch seien Auskunftspflichten, die der Gesetzgeber nach Abwägung mit den Belangen der Betroffenen zur Erfüllung eines berechtigten staatlichen Informationsbedürfnisses anordne, als Teil der verfassungsmäßigen Ordnung im Sinne des Art 2 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich unbedenklich. Verfassungswidrig wäre ein Zwang, durch eigene Aussagen die Voraussetzungen für eine strafgerichtliche Verfolgung oder eine entsprechende Sanktion liefern zu müssen. Diesem Gesichtspunkt trage § 9 VZG 1983 Rechnung. Beim Melderegisterabgleich nach § 9 Abs. 1 VZG 1983 gehe es nicht um Daten, durch die strafbare Handlungen offenbart werden könnten. Für melderechtliche Verstöße gelte das strikte Nachteilsverbot des § 9 Abs. 1 Satz 2 VZG 1983. Um strafbare Handlungen zu offenbaren, müßten noch zusätzliche Fakten hinzukommen. Auch im Anwendungsbereich von § 9 Abs. 2 bis 4 VZG 1983 sei eine Verwendung der Daten nur für "statistisch-planerische" und wissenschaftliche Zwecke vorgesehen. Eine Nutzung für Vollzugsmaßnahmen sei nicht gestattet (§ 9 Abs. 2 Satz 3 und Abs. 3 Satz 3 VZG 1983). Hinzu komme die Geheimhaltungspflicht nach § 11 Abs. 1 in Verbindung mit § 11 Abs. 4 BStatG und § 9 Abs. 7 VZG 1983. Auch bei der Datenübermittlung führe daher kein rechtlich zulässiger Weg zu einer möglichen Aufdeckung strafbarer Handlungen oder anderer Rechtsverstöße. Das Grundrecht des Art 2 Abs. 1 GG gebiete im übrigen keinen lückenlosen Schutz gegen Selbstbezichtigung. Handele es sich um Auskünfte zur Erfüllung eines berechtigten Informationsbedürfnisses, so sei der Gesetzgeber befugt, die Belange der verschiedenen Beteiligten gegeneinander abzuwägen. Er könne hierbei berücksichtigen, daß der Staat auf die Angaben der Bürger im Interesse der Allgemeinheit angewiesen sei. Da der Melderegisterabgleich auf die wenigen Angaben in § 2 Nr 1 und 2 VZG 1983 beschränkt sei und § 9 Abs. 1 Satz 2 VZG 1983 ein Nachteilsverbot vorsehe, sei die uneingeschränkte Auskunftspflicht des § 5 Abs. 1 VZG 1983 in Verbindung mit § 10 BStatG verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Sollte jedoch bei den wenigen Tatbeständen, bei denen schon die unmittelbar aus den Angaben nach § 2 Nr 1 und 2 VZG 1983 gewonnenen Erkenntnisse ausreichten, um strafrechtliche Sanktionen auszulösen, das Bundesverfassungsgericht ein Verwertungsverbot für verfassungsrechtlich erforderlich halten, so könnte § 9 VZG 1983 in diesem Sinne verfassungskonform ausgelegt werden.

Die Anforderungen des Vorbehalts des Gesetzes in der Ausprägung der durch das Bundesverfassungsgericht entwickelten Wesentlichkeitstheorie seien erfüllt. Soweit es gesetzlicher Regelungen bedürfe, seien sie im Volkszählungsgesetz 1983 oder in den bei seiner Durchführung anzuwendenden Gesetzen, dem Bundesstatistikgesetz, dem Bundesdatenschutzgesetz und subsidiär im Verwaltungsverfahrensgesetz des Bundes enthalten. Darüber hinaus notwendige Regelungen könnten durch Verwaltungsvorschriften getroffen werden. Zurückhaltung des Gesetzgebers liege gerade auch im Interesse des durch die Normenflut bedrängten Bürgers. Soweit den Bund - neben der grundsätzlichen Zuständigkeit der Länder für Verwaltungsverfahrensregelungen zur Durchführung von Bundesgesetzen - überhaupt eine Verpflichtung zum Erlaß derartiger Regelungen treffe, habe er dieser Genüge getan. Im übrigen sei es grundsätzlich Sache des Gesetzgebers, im Rahmen seiner politischen Gestaltungsfreiheit zu entscheiden, was als wesentlich anzusehen sei.

Es gebe kein milderes Vollzugsmittel für eine Totalerhebung. Die Volkszählung setze voraus, daß sämtliche Auskunftspflichtigen befragt und ihre Antworten auf Plausibilität und Vollständigkeit überprüft würden. Der Plausibilitätskontrolle komme erhebliche Bedeutung zu. Bei der letzten Volkszählung im Jahre 1970 seien beispielsweise allein in Stuttgart etwa 100.000 Rückfragen notwendig gewesen. Eine vollständige und richtige Erhebung setze eine Begehung des Gemeindegebietes durch Zähler voraus. Ein Postversand der Fragebogen erreiche nicht alle Auskunftspflichtigen, weil dann auf Adressen in vorhandenen Registern zurückgegriffen werden müsse, die in aller Regel fehlerhaft seien. Auch sei der vollständige Rücklauf der Erhebungsbogen nicht sicherzustellen. Es könne allerdings daran gedacht werden, den Zähler die Fragebogen lediglich austeilen und eine Adressatenliste anlegen zu lassen. Die Bürger hätten dann die Bogen bei der Zählungsdienststelle vorzulegen. Eine solche Regelung habe das Volkszählungsgesetz 1980 der Republik Österreich vorgesehen. Auch dieses Verfahren sei nicht ohne Zähler und Zählungsdienststellen ausgekommen. Wegen Verzögerungen bei der Abgabe der Fragebogen habe häufig die Zeitnähe zum Zählungsstichtag gefehlt. Der von Hamburg gewählte Weg des sogenannten Mantelbogens sei ebenfalls kein milderes Vollzugsmittel. Auch bei diesem Verfahren habe der Zähler Einblick in die Daten des Auskunftspflichtigen. Der Vorteil liege lediglich in der formellen Trennung des Namens und der Anschrift von den übrigen Angaben. Dies führe aber im Ergebnis zu keiner größeren Datensicherung zugunsten des Bürgers.

2. Demgegenüber hat der Senat der Freien und Hansestadt Hamburg verfassungsrechtliche Bedenken gegen das Volkszählungsgesetz 1983 geäußert: Eine allgemeine verfassungsrechtliche Problematik des Volkszählungsgesetzes 1983 ergebe sich daraus, daß zweifelhaft sei, ob und inwieweit die Anonymität der dem Bürger abverlangten Auskünfte garantiert sei. Auch wenn die einzelnen Fragen nicht in den unantastbaren Bereich privater Lebensgestaltung eindrängen, stelle sich das grundlegende Problem, ob die Angaben durch die Anonymität ihrer Auswertung den Persönlichkeitsbezug verlören und diese Anonymität hinreichend gesichert sei. Möglichkeiten unmittelbarer und mittelbarer Identifizierung hätten in der Bevölkerung und im juristischen Schrifttum erhebliche Bedenken hervorgerufen. Die Anonymitätsgarantie für statistische Erhebungen sei nicht nur ein rechtsstaatliches Gebot, sondern zugleich eine unabdingbare Voraussetzung für den Erfolg einer auf die vertrauensvolle Mitwirkung der Bevölkerung angewiesenen Befragung.

Der Melderegisterabgleich nach § 9 Abs. 1 VZG 1983 sei problematisch, weil dabei die Verbindung von melderegisterlichen und statistischen Zwecken vorgesehen sei. Der Regelungsgehalt des Nachteilsverbots in § 9 Abs. 1 Satz 2 VZG 1983 sei zweifelhaft.

3. Der Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die genannten Datenschutzbeauftragten der Länder haben unterschiedliche verfassungsrechtliche Bedenken gegen das Volkszählungsgesetz 1983 geäußert. Einige sind der Auffassung, daß dem durch eine verfassungskonforme Auslegung und einen verfassungskonformen restriktiven Gesetzesvollzug Rechnung getragen werden kann. Andere halten die angegriffene Regelung für verfassungswidrig.

IV.

In der mündlichen Verhandlung haben sich die Beschwerdeführer geäußert.

Für die Bundesregierung haben der Bundesminister des Innern Dr Zimmermann, Prof Dr Badura und der Vizepräsident des Statistischen Bundesamts Dr Hamer Stellung genommen; auf Antrag der Bundesregierung wurde außerdem Prof Dr Seegmüller gehört. Für die Bayerische Staatsregierung haben sich der Staatsminister des Innern Dr Hillermeier und Ministerialdirigent Dr Giehl geäußert, für den Senat der Freien und Hansestadt Hamburg Frau Senatorin Leithäuser, für die Niedersächsische Landesregierung der Minister des Innern Dr Möcklinghoff, für die Landesregierung des Landes Nordrhein-Westfalen Leitender Ministerialrat Dr Rombach, für die Landesregierung Rheinland-Pfalz Staatssekretär Prof Dr Rudolf und für die Landesregierung Schleswig-Holstein der Minister des Innern Claussen. Ferner haben Stellung genommen der Bundesbeauftragte für den Datenschutz Dr Baumann, die Landesbeauftragte für den Datenschutz Baden-Württemberg Frau Dr Leuze, der Bayerische Landesbeauftragte für Datenschutz Dr Stollreither, der Landesbeauftragte für den Datenschutz der Freien Hansestadt Bremen Büllesbach, der Hamburgische Datenschutzbeauftragte Schapper, der Hessische Datenschutzbeauftragte Prof Dr Simitis, der Landesbeauftragte für den Datenschutz Nordrhein-Westfalen Dr Weyer und für die Datenschutzkommission Rheinland-Pfalz deren geschäftsführendes Mitglied, Direktor beim Landtag Becker.

B:

Die Verfassungsbeschwerden sind im wesentlichen zulässig.

Eine für alle geltende Norm kann ein einzelner Staatsbürger nach ständiger Rechtsprechung nur dann direkt mit der Verfassungsbeschwerde angreifen, wenn er durch diese Bestimmung selbst, gegenwärtig und unmittelbar in seinen Grundrechten betroffen ist (BVerfGE 40, 141 [156]; 43, 291 [385]; 50, 290 [319]; 58, 81 [104]; 59, 1 [17f.]; 60, 360 [370]).

I.

Die Beschwerdeführer sind nicht alle von sämtlichen Vorschriften des Gesetzes selbst betroffen.

Die Frage nach der Eigenschaft als Anstaltsinsasse nach § 2 Nr 8 VZG 1983 betrifft keinen der Beschwerdeführer, da sie weder Insassen einer Anstalt noch als Anstaltsleiter auskunftspflichtig sind (§ 5 Abs. 1 Nr 1 VZG 1983). In soweit sind alle Verfassungsbeschwerden unzulässig.

Hinsichtlich der gebäudestatistischen Fragen nach § 3 Abs. 1 VZG 1983 sind nur Gebäudeeigentümer und ihnen gleichgestellte Personen auskunftspflichtig (§ 5 Abs. 1 Nr 2 VZG 1983). Davon ist nach den Beschwerdevorbringen allein der Beschwerdeführer zu a) als Eigentümer einer Eigentumswohnung betroffen. Für die Arbeitsstättenzählung nach § 4 VZG 1983 sind nur die Inhaber oder Leiter der Arbeitsstätten und Unternehmen auskunftspflichtig (§ 5 Abs. 1 Nr 4 VZG 1983). Diese Regelung betrifft nur die beschwerdeführenden Rechtsanwältinnen zu b) und die beschwerdeführenden Rechtsanwälte zu e 1) bis e 4), e 7) und e 9). Die übrigen Verfassungsbeschwerden sind unzulässig, soweit sie sich gegen § 3 Abs. 1 und § 4 VZG 1983 richten.

II.

Soweit die Beschwerdeführer durch das Volkszählungsgesetz 1983 selbst betroffen sind, besteht auch eine unmittelbare und gegenwärtige Betroffenheit.

Allerdings fehlt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die unmittelbare Betroffenheit, wenn die Durchführung der angegriffenen Vorschrift einen besonderen Vollziehungsakt der Verwaltung erfordert. Denn in der Regel greift erst dieser Vollziehungsakt in die Rechtssphäre des Bürgers ein; der gegen diesen Eingriff gegebene Rechtsweg ermöglicht auch die Nachprüfung der Verfassungsmäßigkeit des angewandten Gesetzes (BVerfGE 58, 81 [104]; vgl BVerfGE 59, 1 [17]; 60, 360 [369 f.]).

Zur Durchführung des Volkszählungsgesetzes 1983 bedurfte es der Aufforderung zur Auskunftserteilung; erst hierdurch konnte die Rechtssphäre der Beschwerdeführer betroffen werden (vgl § 5 Abs. 2 VZG 1983). Gegen diesen Vollzugsakt wäre der Rechtsweg vor den Verwaltungsgerichten eröffnet gewesen. Dies steht jedoch der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerden nicht entgegen.

In besonders gelagerten Fällen hat das Bundesverfassungsgericht die Zulässigkeit einer unmittelbar gegen das Gesetz gerichteten Verfassungsbeschwerde ausnahmsweise vor Erlaß des Vollziehungsaktes bejaht, wenn das Gesetz die Normadressaten bereits gegenwärtig zu später nicht mehr korrigierbaren Entscheidungen zwingt oder schon jetzt zu Dispositionen veranlaßt, die sie nach dem späteren Gesetzesvollzug nicht mehr nachholen können (BVerfGE 60, 360 [372] m. w. N.). Auch die unmittelbar gegen das Volkszählungsgesetz 1983 gerichteten Verfassungsbeschwerden sind ausnahmsweise bereits vor Erlaß des Vollziehungsaktes zulässig.

Dieses Gesetz war gegenüber allen Bürgers innerhalb eines sehr kurzen Zeitraumes zu vollziehen. Die Erhebungsbogen sollten vom 18. April 1983 an ausgeteilt und bis Anfang Mai 1983 wieder eingesammelt werden. Zur Erlangung vorläufigen Rechtsschutzes vor den Verwaltungsgerichten hätte daher nur ein Zeitraum von etwa zwei Wochen zur Verfügung gestanden. In dieser knapp bemessenen Zeitspanne hätten sich die Gerichte der Problematik nicht so annehmen können, daß eine für das Bundesverfassungsgericht wesentliche Vorklärung hätte erwartet werden können. Gleichwohl wäre gegen ablehnende Entscheidungen im Verfahren nach § 80 Abs. 5, § 123, § 146 Abs. 1 VwGO die Verfassungsbeschwerde zulässig gewesen (vgl BVerfGE 51, 130 [138 ff.]; 53, 30 [49, 52]; 173 [190]). Jedenfalls wäre, nachdem die Aufforderung zur Auskunftserteilung auf dem Verwaltungsrechtsweg angefochten war, eine verfassungsgerichtliche Entscheidung vor Erschöpfung des Rechtswegs nach § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG in Betracht gekommen (vgl BVerfGE 59, 1 [19 f.]). Das Bundesverfassungsgericht hätte sich dann jedoch mit zahlreichen, möglicherweise einander widersprechenden verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen auseinandersetzen müssen. Es hätte außerdem dadurch Rechtsunsicherheit drohen können, daß einige Gerichte den Betroffenen vorläufigen Rechtsschutz gewährt hätten, andere dagegen nicht. Unter diesen Umständen wäre das Subsidiaritätsprinzip, welches den Bürger grundsätzlich zunächst an die Fachgerichte verweist, geradezu in sein Gegenteil verkehrt worden: Es hätte nicht mehr dazu gedient, das Bundesverfassungsgericht zu entlasten und ihm die Fallanschauung der Fachgerichte zu vermitteln, sondern es einem sachlich und zeitlich besonders hohen Entscheidungsdruck ausgesetzt. Bei dieser Sachlage konnten die Beschwerdeführer das Gesetz mit der Verfassungsbeschwerde ausnahmsweise unmittelbar angreifen.

C.

Die Verfassungsbeschwerden sind - soweit zulässig - teilweise begründet.

I.

Soweit den Beschwerdeführern durch § 5 Abs. 1 VZG 1983 unmittelbar eine Auskunftspflicht zu bestimmten, in den §§ 2 bis 4 VZG 1983 im einzelnen aufgeführten Sachverhalten auferlegt wird, werden sie dadurch nicht in ihren Grundrechten aus Art 4, 5 und 13 GG verletzt.

1. Die Verpflichtung zu wahrheitsgemäßen Angaben (§ 5 Abs. 1 Nr 1 VZG 1983 in Verbindung mit § 10 Abs. 3 BStatG) über die rechtliche Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu einer Religionsgesellschaft (§ 2 Nr 1 VZG 1983) verstößt nicht gegen das Grundrecht der Beschwerdeführer auf Bekenntnisfreiheit (Art 4 Abs. 1 GG). Zur Bekenntnisfreiheit gehört nicht nur das Recht, seine religiöse Überzeugung zu bekennen, sondern auch zu schweigen, wie dies durch Art 140 GG in Verbindung mit Art 136 Abs. 3 der Weimarer Reichsverfassung (WRV) besonders anerkannt ist. Diese negative Bekenntnisfreiheit wird aber durch den Vorbehalt des Art 136 Abs. 3 Satz 2 WRV eingeschränkt, der es den Behörden gestattet, nach der Zugehörigkeit zu einer Religionsgesellschaft zu fragen, wenn davon Rechte und Pflichten abhängen oder eine gesetzlich angeordnete statistische Erhebung dies erfordert. Eine solche zulässige Ausnahme liegt hier vor, da es sich um eine gesetzlich angeordnete statistische Erhebung für Bundeszwecke (Art 73 Nr 11 GG) handelt.

Für die Beurteilung der Bundeskompetenz ist entscheidend, ob die Erhebung der Erfüllung einer Bundesaufgabe dient. Diese Voraussetzung ist nach der Begründung des Gesetzentwurfs gegeben, weil die Ergebnisse der Erhebung über die Religionszugehörigkeit wichtige Informationen für das Verhalten von Bund und Ländern darstellen (vgl BTDrucks 9/451, S. 9). Ferner ist die Staatspraxis zu berücksichtigen, der bei der Ermittlung des Umfanges einer Kompetenznorm wesentliche Bedeutung zukommt (vgl BVerfGE 41, 205 [220]). Danach kann in den Programmen für Bundesstatistiken auch statistischen Anforderungen der Länder Rechnung getragen werden, weil sich Gesetzeszuständigkeiten, Verwaltungszuständigkeiten und Planungszuständigkeiten von Bund und Ländern vielfältig überschneiden. Nach der bisherigen Staatspraxis wurden bei Volkszählungen nicht nur unter der Geltung der Weimarer Reichsverfassung, sondern auch des Grundgesetzes Angaben über die Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu einer Religionsgesellschaft verlangt. So waren entsprechende Fragen bereits nach § 5 Satz 1 in Verbindung mit Anlage 1 Abschnitt I des Volkszählungsgesetzes vom 27. Juli 1950 (BGBl. I S. 335), nach § 3 Nr 1 Buchst a in Verbindung mit § 6 Nr 1 des Volkszählungsgesetzes vom 13. April 1961 (BGBl. I S. 437) und nach § 2 Nr. 1 in Verbindung mit § 5 Nr 1 des Volkszählungsgesetzes vom 14. April 1969 (BGBl. I S. 292) vorgesehen. Bei dieser Sachlage war der Bund befugt, die Erhebung der Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu einer Religionsgesellschaft gesetzlich anzuordnen.

2. Durch die Vorschriften des Volkszählungsgesetzes 1983 wird auch nicht gegen das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung (Art 13 Abs. 1 GG) verstoßen.

Dieses Grundrecht ist nicht - wie einige Beschwerdeführer meinen - deshalb verletzt, weil sie nach § 3 Abs. 2 in Verbindung mit § 5 Abs. 1 Nr 3 VZG 1983 gezwungen sind, ihre privaten Wohnverhältnisse offenzulegen. Wohnung im Sinne des Art 13 GG ist allein die räumliche Privatsphäre (BVerfGE 32, 54 [72]). Das Grundrecht normiert für die öffentliche Gewalt ein grundsätzliches Verbot des Eindringens in die Wohnung oder des Verweilens darin gegen den Willen des Wohnungsinhabers. Dazu gehören etwa der Einbau von Abhörgeräten und ihre Benutzung in der Wohnung, nicht aber Erhebung und die Einholung von Auskünften, die ohne Eindringen oder Verweilen in der Wohnung vorgenommen werden können. Sie werden von Art 13 GG nicht erfaßt. Die nach § 4 Abs. 2 in Verbindung mit § 5 Abs. 1 Nr 3 VZG 1983 vorgeschriebene Auskunftspflicht über wohnungsstatistische Fragen ist mit einem zwangsweisen Eindringen oder Verweilen in der Wohnung der Auskunftspflichtigen nicht verbunden.

3. Die Verpflichtung zur Auskunft zu bestimmten, in den §§ 2 bis 4 VZG 1983 im einzelnen aufgeführten Sachverhalten verstößt auch nicht gegen das Grundrecht auf Meinungsäußerungsfreiheit (Art 5 Abs. 1 Satz 1 GG).

Der Auffassung, die durch Art 5 Abs. 1 GG gewährleistete Freiheit, seine Meinung nicht zu äußern (negative Meinungsäußerungsfreiheit), schütze auch gegenüber der Ermittlung, Speicherung und Weitergabe von Tatsachen, so daß der grundrechtliche Schutz vor Informationseingriffen ausschließlich durch Art 5 Abs. 1 Satz 1 GG gewährleistet werde, kann nicht gefolgt werden. Ein solcher Schutz würde von vornherein bei Informationseingriffen durch Datenerhebungen versagen, die bei Dritten oder durch heimliche Beobachtungen (Observationen) vorgenommen werden. An einer Meinungsäußerung fehlt es aber auch, wenn der Betroffene selbst Angaben zu einer statistischen Erhebung macht.

Konstitutiv für die Bestimmung dessen, was als Äußerung einer "Meinung" vom Schutz des Grundrechts umfaßt wird, ist das Element der Stellungnahme, des Dafürhaltens, des Meinens im Rahmen einer geistigen Auseinandersetzung; auf den Wert, die Richtigkeit, die Vernünftigkeit der Äußerung kommt es nicht an. Die Mitteilung einer Tatsache ist im strengen Sinne keine Äußerung einer "Meinung", weil ihr jedes Element fehlt. Durch das Grundrecht der Meinungsäußerungsfreiheit geschützt ist sie nur, soweit sie Voraussetzung der Bildung von Meinungen ist, welche Art 5 Abs. 1 GG in seiner Gesamtheit gewährleistet (BVerfGE 61, 1 [8 f.]). Demgegenüber sind Angaben im Rahmen statistischer Erhebungen wie denen des Volkszählungsgesetzes 1983 reine Tatsachenmitteilungen, die mit Meinungsbildung nichts zu tun haben.

II.

Prüfungsmaßstab ist in erster Linie das durch Art 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art 1 Abs. 1 GG geschützte allgemeine Persönlichkeitsrecht.

1. a) Im Mittelpunkt der grundgesetzlichen Ordnung stehen Wert und Würde der Person, die in freier Selbstbestimmung als Glied einer freien Gesellschaft wirkt. Ihrem Schutz dient - neben speziellen Freiheitsverbürgungen - das in Art 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art 1 Abs. 1 GG gewährleistete allgemeine Persönlichkeitsrecht, das gerade auch im Blick auf moderne Entwicklungen und die mit ihnen verbundenen neuen Gefährdungen der menschlichen Persönlichkeit Bedeutung gewinnen kann (vgl BVerfGE 54, 148 [153]). Die bisherigen Konkretisierungen durch die Rechtsprechung umschreiben den Inhalt des Persönlichkeitsrechts nicht abschließend. Es umfaßt - wie bereits in der Entscheidung BVerfGE 54, 148 [155] unter Fortführung früherer Entscheidungen (BVerfGE 27, 1 [6] - Mikrozensus; 27, 344 [350 f.] - Scheidungsakten; 32, 373 [379] - Arztkartei; 35, 202 [220] - Lebach; 44, 353 [372 f.] - Suchtkrankenberatungsstelle) angedeutet worden ist - auch die aus dem Gedanken der Selbstbestimmung folgende Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden (vgl ferner BVerfGE 56, 37 [41 ff.] - Selbstbezichtigung; 63, 131 [142 f.] - Gegendarstellung).

Diese Befugnis bedarf unter den heutigen und künftigen Bedingungen der automatischen Datenverarbeitung in besonderem Maße des Schutzes. Sie ist vor allem deshalb gefährdet, weil bei Entscheidungsprozessen nicht mehr wie früher auf manuell zusammengetragene Karteien und Akten zurückgegriffen werden muß, vielmehr heute mit Hilfe der automatischen Datenverarbeitung Einzelangaben über persönliche oder sachliche Verhältnisse einer bestimmten oder bestimmbaren Person (personenbezogene Daten (vgl § 2 Abs. 1 BDSG)) technisch gesehen unbegrenzt speicherbar und jederzeit ohne Rücksicht auf Entfernungen in Sekundenschnelle abrufbar sind. Sie können darüber hinaus - vor allem beim Aufbau integrierter Informationssysteme - mit anderen Datensammlungen zu einem teilweise oder weitgehend vollständigen Persönlichkeitsbild zusammengefügt werden, ohne daß der Betroffene dessen Richtigkeit und Verwendung zureichend kontrollieren kann. Damit haben sich in einer bisher unbekannten Weise die Möglichkeiten einer Einsichtnahme und Einflußnahme erweitert, welche auf das Verhalten des Einzelnen schon durch den psychischen Druck öffentlicher Anteilnahme einzuwirken vermögen.

Individuelle Selbstbestimmung setzt aber - auch unter den Bedingungen moderner Informationsverarbeitungstechnologien - voraus, daß dem Einzelnen Entscheidungsfreiheit über vorzunehmende oder zu unterlassende Handlungen einschließlich der Möglichkeit gegeben ist, sich auch entsprechend dieser Entscheidung tatsächlich zu verhalten. Wer nicht mit hinreichender Sicherheit überschauen kann, welche ihn betreffende Informationen in bestimmten Bereichen seiner sozialen Umwelt bekannt sind, und wer das Wissen möglicher Kommunikationspartner nicht einigermaßen abzuschätzen vermag, kann in seiner Freiheit wesentlich gehemmt werden, aus eigener Selbstbestimmung zu planen oder zu entscheiden. Mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung wären eine Gesellschaftsordnung und eine diese ermöglichende Rechtsordnung nicht vereinbar, in der Bürger nicht mehr wissen können, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über sie weiß. Wer unsicher ist, ob abweichende Verhaltensweisen jederzeit notiert und als Information dauerhaft gespeichert, verwendet oder weitergegeben werden, wird versuchen, nicht durch solche Verhaltensweisen aufzufallen. Wer damit rechnet, daß etwa die Teilnahme an einer Versammlung oder einer Bürgerinitiative behördlich registriert wird und daß ihm dadurch Risiken entstehen können, wird möglicherweise auf eine Ausübung seiner entsprechenden Grundrechte (Art 8, 9 GG) verzichten. Dies würde nicht nur die individuellen Entfaltungschancen des Einzelnen beeinträchtigen, sondern auch das Gemeinwohl, weil Selbstbestimmung eine elementare Funktionsbedingung eines auf Handlungsfähigkeit und Mitwirkungsfähigkeit seiner Bürger begründeten freiheitlichen demokratischen Gemeinwesens ist.

Hieraus folgt: Freie Entfaltung der Persönlichkeit setzt unter den modernen Bedingungen der Datenverarbeitung den Schutz des Einzelnen gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe seiner persönlichen Daten voraus. Dieser Schutz ist daher von dem Grundrecht des Art 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art 1 Abs. 1 GG umfaßt. Das Grundrecht gewährleistet insoweit die Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen.

b) Dieses Recht auf "informationelle Selbstbestimmung" ist nicht schrankenlos gewährleistet. Der Einzelne hat nicht ein Recht im Sinne einer absoluten, uneinschränkbaren Herrschaft über "seine" Daten; er ist vielmehr eine sich innerhalb der sozialen Gemeinschaft entfaltende, auf Kommunikation angewiesene Persönlichkeit. Information, auch soweit sie personenbezogen ist, stellt ein Abbild sozialer Realität dar, das nicht ausschließlich dem Betroffenen allein zugeordnet werden kann. Das Grundgesetz hat, wie in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mehrfach hervorgehoben ist, die Spannung Individuum - Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden (BVerfGE 4, 7 [15]; 8, 274 [329]; 27, 1 [7]; 27, 344 [351 f.]; 33, 303 [334]; 50, 290 [353]; 56, 37 [49]). Grundsätzlich muß daher der Einzelne Einschränkungen seines Rechts auf informationelle Selbstbestimmung im überwiegenden Allgemeininteresse hinnehmen.

Diese Beschränkungen bedürfen nach Art 2 Abs. 1 GG - wie in § 6 Abs. 1 des Bundesstatistikgesetzes auch zutreffend anerkannt worden ist - einer (verfassungsmäßigen) gesetzlichen Grundlage, aus der sich die Voraussetzungen und der Umfang der Beschränkungen klar und für den Bürger erkennbar ergeben und die damit dem rechtsstaatlichen Gebot der Normenklarheit entspricht (BVerfGE 45, 400 [420] m. w. N.). Bei seinen Regelungen hat der Gesetzgeber ferner den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Dieser mit Verfassungsrang ausgestattete Grundsatz folgt bereits aus dem Wesen der Grundrechte selbst, die als Ausdruck des allgemeinen Freiheitsanspruchs des Bürgers gegenüber dem Staat von der öffentlichen Gewalt jeweils nur soweit beschränkt werden dürfen, als es zum Schutz öffentlicher Interessen unerläßlich ist (BVerfGE 19, 342 [348]; st Rspr). Angesichts der bereits dargelegten Gefährdungen durch die Nutzung der automatischen Datenverarbeitung hat der Gesetzgeber mehr als früher auch organisatorische und verfahrensrechtliche Vorkehrungen zu treffen, welche der Gefahr einer Verletzung des Persönlichkeitsrechts entgegenwirken (vgl BVerfGE 53, 30 [65]; 63, 131 [143]).

2. Die Verfassungsbeschwerden geben keinen Anlaß zur erschöpfenden Erörterung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung. Zu entscheiden ist nur über die Tragweite dieses Rechts für Eingriffe, durch welche der Staat die Angabe personenbezogener Daten vom Bürger verlangt. Dabei kann nicht allein auf die Art der Angaben abgestellt werden. Entscheidend sind ihre Nutzbarkeit und Verwendungsmöglichkeit. Diese hängen einerseits von dem Zweck, dem die Erhebung dient, und andererseits von den der Informationstechnologie eigenen Verarbeitungsmöglichkeiten und Verknüpfungsmöglichkeiten ab. Dadurch kann ein für sich gesehen belangloses Datum einen neuen Stellenwert bekommen; insoweit gibt es unter den Bedingungen der automatischen Datenverarbeitung kein "belangloses" Datum mehr.

Wieweit Informationen sensibel sind, kann hiernach nicht allein davon abhängen, ob sie intime Vorgänge betreffen. Vielmehr bedarf es zur Feststellung der persönlichkeitsrechtlichen Bedeutung eines Datums der Kenntnis seines Verwendungszusammenhangs: Erst wenn Klarheit darüber besteht, zu welchem Zweck Angaben verlangt werden und welche Verknüpfungsmöglichkeiten und Verwendungsmöglichkeiten bestehen, läßt sich die Frage einer zulässigen Beschränkung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung beantworten. Dabei ist zu unterscheiden zwischen personenbezogenen Daten, die in individualisierter, nicht anonymisierter Form erhoben und verarbeitet werden (dazu unter a), und solchen, die für statistische Zwecke bestimmt sind (dazu unter b).

a) Schon bislang ist anerkannt, daß die zwangsweise Erhebung personenbezogener Daten nicht unbeschränkt statthaft ist, namentlich dann, wenn solche Daten für den Verwaltungsvollzug (etwa bei der Besteuerung oder der Gewährung von Sozialleistungen) verwendet werden sollen. Insoweit hat der Gesetzgeber bereits verschiedenartige Maßnahmen zum Schutz der Betroffenen vorgesehen, die in die verfassungsrechtlich gebotene Richtung weisen (vgl beispielsweise die Regelungen in den Datenschutzgesetzen des Bundes und der Länder; §§ 30, 31 der Abgabenordnung - AO -; § 35 des Ersten Buches des Sozialgesetzbuches - SGB I - in Verbindung mit §§ 67 bis 86 SGB X). Wieweit das Recht auf informationelle Selbstbestimmung und im Zusammenhang damit der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sowie die Pflicht zu verfahrensrechtlichen Vorkehrungen den Gesetzgeber zu diesen Regelungen von Verfassungs wegen zwingen, hängt von Art, Umfang und denkbaren Verwendungen der erhobenen Daten sowie der Gefahr ihres Mißbrauchs ab (vgl BVerfGE 49, 89 [142]; 53, 30 [61]). Ein überwiegendes Allgemeininteresse wird regelmäßig überhaupt nur an Daten mit Sozialbezug bestehen unter Ausschluß unzumutbarer intimer Angaben und von Selbstbezichtigungen. Nach dem bisherigen Erkenntnisstand und Erfahrungsstand erscheinen vor allem folgende Maßnahmen bedeutsam:

Ein Zwang zur Angabe personenbezogener Daten setzt voraus, daß der Gesetzgeber den Verwendungszweck bereichsspezifisch und präzise bestimmt und daß die Angaben für diesen Zweck geeignet und erforderlich sind. Damit wäre die Sammlung nicht anonymisierter Daten auf Vorrat zu unbestimmten oder noch nicht bestimmbaren Zwecken nicht zu vereinbaren. Auch werden sich alle Stellen, die zur Erfüllung ihrer Aufgaben personenbezogene Daten sammeln, auf das zum Erreichen des angegebenen Zieles erforderliche Minimum beschränken müssen.

Die Verwendung der Daten ist auf den gesetzlich bestimmten Zweck begrenzt. Schon angesichts der Gefahren der automatischen Datenverarbeitung ist ein - amtshilfefester - Schutz gegen Zweckentfremdung durch Weitergabeverbote und Verwertungsverbote erforderlich. Als weitere verfahrensrechtliche Schutzvorkehrungen sind Aufklärungspflichten, Auskunftspflichten und Löschungspflichten wesentlich.

Wegen der für den Bürger bestehenden Undurchsichtigkeit der Speicherung und Verwendung von Daten unter den Bedingungen der automatischen Datenverarbeitung und auch im Interesse eines vorgezogenen Rechtsschutzes durch rechtzeitige Vorkehrungen ist die Beteiligung unabhängiger Datenschutzbeauftragter von erheblicher Bedeutung für einen effektiven Schutz des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung.

b) Die Erhebung und Verarbeitung von Daten für statistische Zwecke weisen Besonderheiten auf, die bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung nicht außer acht bleiben können.

aa) Die Statistik hat erhebliche Bedeutung für eine staatliche Politik, die den Prinzipien und Richtlinien des Grundgesetzes verpflichtet ist. Wenn die ökonomische und soziale Entwicklung nicht als unabänderliches Schicksal hingenommen, sondern als permanente Aufgabe verstanden werden soll, bedarf es einer umfassenden, kontinuierlichen sowie laufend aktualisierten Information über die wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Zusammenhänge. Erst die Kenntnis der relevanten Daten und die Möglichkeit, die durch sie vermittelten Informationen mit Hilfe der Chancen, die eine automatische Datenverarbeitung bietet, für die Statistik zu nutzen, schafft die für eine am Sozialstaatsprinzip orientierte staatliche Politik unentbehrliche Handlungsgrundlage (vgl BVerfGE 27, 1 [9]).

Bei der Datenerhebung für statistische Zwecke kann eine enge und konkrete Zweckbindung der Daten nicht verlangt werden. es gehört zum Wesen der Statistik, daß die Daten nach ihrer statistischen Aufbereitung für die verschiedensten, nicht von vornherein bestimmbaren Aufgaben verwendet werden sollen; demgemäß besteht auch ein Bedürfnis nach Vorratsspeicherung. Das Gebot einer konkreten Zweckumschreibung und das strikte Verbot der Sammlung personenbezogener Daten auf Vorrat kann nur für Datenerhebungen zu nichtstatistischen Zwecken gelten, nicht jedoch bei einer Volkszählung, die eine gesicherte Datenbasis für weitere statistische Untersuchungen ebenso wie für den politischen Planungsprozeß durch eine verläßliche Feststellung der Zahl und der Sozialstruktur der Bevölkerung vermitteln soll. Die Volkszählung muß Mehrzweckerhebung und Mehrzweckverarbeitung, also Datensammlung und Datenspeicherung auf Vorrat sein, wenn der Staat den Entwicklungen der industriellen Gesellschaft nicht unvorbereitet begegnen soll. Auch wären Weitergabeverbote und Verwertungsverbote für statistisch aufbereitete Daten zweckwidrig.

bb) Ist die Vielfalt der Verwendungsmöglichkeiten und Verknüpfungsmöglichkeiten damit bei der Statistik von der Natur der Sache her nicht im voraus bestimmbar, müssen der Informationserhebung und Informationsverarbeitung innerhalb des Informationssystems zum Ausgleich entsprechende Schranken gegenüberstehen. Es müssen klar definierte Verarbeitungsvoraussetzungen geschaffen werden, die sicherstellen, daß der Einzelne unter den Bedingungen einer automatischen Erhebung und Verarbeitung der seine Person betreffenden Angaben nicht zum bloßen Informationsobjekt wird. Beides, die mangelnde Anbindung an einen bestimmten, jederzeit erkennbaren und nachvollziehbaren Zweck sowie die multifunktionale Verwendung der Daten, verstärkt die Tendenzen, welche durch die Datenschutzgesetze aufgefangen und eingeschränkt werden sollen, die das verfassungsrechtlich gewährleistete Recht auf informationelle Selbstbestimmung konkretisieren. Gerade weil es von vornherein an zweckorientierten Schranken fehlt, die den Datensatz eingrenzen, bringen Volkszählungen tendenziell die schon im Mikrozensus-Beschluß (BVerfGE 27, 1 [6]) hervorgehobene Gefahr einer persönlichkeitsfeindlichen Registrierung und Katalogisierung des Einzelnen mit sich. Deshalb sind an die Datenerhebung und Datenverarbeitung für statistische Zwecke besondere Anforderungen zum Schutz des Persönlichkeitsrechts der auskunftspflichtigen Bürger zu stellen.

Unbeschadet des multifunktionalen Charakters der Datenerhebung und Datenverarbeitung zu statistischen Zwecken ist Voraussetzung, daß diese allein als Hilfe zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben erfolgen. Es kann auch hier nicht jede Angabe verlangt werden. Selbst bei der Erhebung von Einzelangaben, die für statistische Zwecke gebraucht werden, muß der Gesetzgeber schon bei der Anordnung der Auskunftspflicht prüfen, ob sie insbesondere für den Betroffenen die Gefahr der sozialen Abstempelung (etwa als Drogensüchtiger, Vorbestrafter, Geisteskranker, Asozialer) hervorrufen können und ob das Ziel der Erhebung nicht auch durch eine anonymisierte Ermittlung erreicht werden kann. Dies dürfte beispielsweise bei dem in § 2 Nr 8 VZG 1983 geregelten Erhebungstatbestand der Fall sein, wonach die Volkszählung und Berufszählung im Anstaltsbereich die Eigenschaft als Insasse oder die Zugehörigkeit zum Personal oder zum Kreis der Angehörigen des Personals erfaßt. Diese Erhebung soll Anhaltspunkte über die Belegung der Anstalten liefern (BTDrucks 9/451, S. 9). Ein solches Ziel ist - abgesehen von der Gefahr sozialer Etikettierung - auch ohne Personenbezug zu erreichen. Es genügt, daß der Leiter der Anstalt verpflichtet wird, zum Stichtag der Volkszählung die zahlenmäßige Belegung nach den in § 2 Nr 8 VZG 1983 aufgeführten Merkmalen ohne jeden Bezug auf die einzelne Person mitzuteilen. Eine personenbezogene Erhebung des Tatbestandes des § 2 Nr 8 VZG 1983 wäre deshalb von vornherein ein Verstoß gegen das durch Art 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art 1 Abs. 1 GG geschützte Persönlichkeitsrecht.

Zur Sicherung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung bedarf es ferner besonderer Vorkehrungen für Durchführung und Organisation der Datenerhebung und Datenverarbeitung, da die Informationen während der Phase der Erhebung - und zum Teil auch während der Speicherung - noch individualisierbar sind; zugleich sind Löschungsregelungen für solche Angaben erforderlich, die als Hilfsangaben (Identifikationsmerkmale) verlangt wurden und die eine Deanonymisierung leicht ermöglichen würden, wie Name, Anschrift, Kennummer und Zählerliste (vgl auch § 11 Abs. 7 Satz 1 BStatG). Von besonderer Bedeutung für statistische Erhebungen sind wirksame Abschottungsregelungen nach außen. Für den Schutz des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung ist - und zwar auch schon für das Erhebungsverfahren - die strikte Geheimhaltung der zu statistischen Zwecken erhobenen Einzelangaben unverzichtbar, solange ein Personenbezug noch besteht oder herstellbar ist (Statistikgeheimnis); das gleiche gilt für das Gebot einer möglichst frühzeitigen (faktischen) Anonymisierung, verbunden mit Vorkehrungen gegen eine Deanonymisierung.

Erst die vom Recht auf informationelle Selbstbestimmung geforderte und gesetzlich abzusichernde Abschottung der Statistik durch Anonymisierung der Daten und deren Geheimhaltung, soweit sie zeitlich begrenzt noch einen Personenbezug aufweisen, öffnet den Zugang der staatlichen Organe zu den für die Planungsaufgaben erforderlichen Informationen. Nur unter dieser Voraussetzung kann und darf vom Bürger erwartet werden, die von ihm zwangsweise verlangten Auskünfte zu erteilen. Dürften personenbezogene Daten, die zu statistischen Zwecken erhoben wurden, gegen den Willen oder ohne Kenntnis des Betroffenen weitergeleitet werden, so würde das nicht nur das verfassungsrechtlich gesicherte Recht auf informationelle Selbstbestimmung unzulässig einschränken, sondern auch die vom Grundgesetz selbst in Art 73 Nr 11 vorgesehene und damit schutzwürdige amtliche Statistik gefährden. Für die Funktionsfähigkeit der amtlichen Statistik ist ein möglichst hoher Grad an Genauigkeit und Wahrheitsgehalt der erhobenen Daten notwendig. Dieses Ziel kann nur erreicht werden, wenn bei dem auskunftspflichtigen Bürger das notwendige Vertrauen in die Abschottung seiner für statistische Zwecke erhobenen Daten geschaffen wird, ohne welche seine Bereitschaft, wahrheitsgemäße Angaben zu machen, nicht herzustellen ist (so bereits zutreffend die Begründung der Bundesregierung zum Entwurf des Volkszählungsgesetzes 1950; vgl BTDrucks I/982, S. 20 zu § 10). Eine Staatspraxis, die sich nicht um die Bildung eines solchen Vertrauens durch Offenlegung des Datenverarbeitungsprozesses und strikte Abschottung bemühte, würde auf längere Sicht zu schwindender Kooperationsbereitschaft führen, weil Mißtrauen entstünde. Da staatlicher Zwang nur begrenzt wirksam werden kann, wird ein die Interessen der Bürger überspielendes staatliches Handeln allenfalls kurzfristig vorteilhaft erscheinen; auf Dauer gesehen wird es zu einer Verringerung des Umfangs und der Genauigkeit der Informationen führen (BTDrucks I/982, a.a.O.). Läßt sich die hochindustrialisierte Gesellschaften kennzeichnende ständige Zunahme an Komplexität der Umwelt nur mit Hilfe einer zuverlässigen Statistik aufschlüsseln und für gezielte staatliche Maßnahmen aufbereiten, so läuft die Gefährdung der amtlichen Statistik darauf hinaus, eine wichtige Voraussetzung sozialstaatlicher Politik in Frage zu stellen. Kann damit nur durch eine Abschottung der Statistik die Staatsaufgabe "Planung" gewährleistet werden, ist das Prinzip der Geheimhaltung und möglichst frühzeitigen Anonymisierung der Daten nicht nur zum Schutz des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung des Einzelnen vom Grundgesetz gefordert, sondern auch für die Statistik selbst konstitutiv.

cc) Wird den erörterten Anforderungen in wirksamer Weise Rechnung getragen, ist die Erhebung von Daten zu ausschließlich statistischen Zwecken nach dem derzeitigen Erkenntnisstand und Erfahrungsstand verfassungsrechtlich unbedenklich. Es ist nicht erkennbar, daß das Persönlichkeitsrecht der Bürger beeinträchtigt werden könnte, wenn die erhobenen Daten nach ihrer Anonymisierung oder statistischen Aufbereitung (vgl § 11 Abs. 5 und 6 BStatG) von Statistischen Ämtern anderen staatlichen Organen oder sonstigen Stellen zur Verfügung gestellt werden.

Besondere Probleme wirft eine etwaige Übermittlung (Weitergabe) der weder anonymisierten noch statistisch aufbereiteten, also noch personenbezogenen Daten auf. Erhebungen zu statistischen Zwecken umfassen auch individualisierte Angaben über den einzelnen Bürger, die für die statistischen Zwecke nicht erforderlich sind und die - davon muß der befragte Bürger ausgehen können - lediglich als Hilfsmittel für das Erhebungsverfahren dienen. Alle diese Angaben dürfen zwar kraft ausdrücklicher gesetzlicher Ermächtigung weitergeleitet werden, soweit und sofern dies zur statistischen Aufbereitung durch andere Behörden geschieht und dabei die zum Schutz des Persönlichkeitsrechts gebotenen Vorkehrungen, insbesondere das Statistikgeheimnis und das Gebot der frühzeitigen Anonymisierung, ebenso durch Organisation und Verfahren zuverlässig sichergestellt sind wie bei den Statistischen Ämtern des Bundes und der Länder. Eine Weitergabe der für statistische Zwecke erhobenen, nicht anonymisierten oder statistisch aufbereiteten Daten für Zwecke des Verwaltungsvollzugs kann hingegen in unzulässiger Weise in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung eingreifen (vgl ferner unten C IV 1).

III.

Den dargelegten verfassungsrechtlichen Anforderungen genügt das Erhebungsprogramm des Volkszählungsgesetzes 1980 im wesentlichen. Gegenstand der Nachprüfung sind insoweit die §§ 2 bis 4 in Verbindung mit § 5 Abs. 1 des Gesetzes mit Ausnahme der Frage nach der Eigenschaft als Anstaltsinsasse oder der Zugehörigkeit zum Anstaltspersonal (§ 2 Nr 8 in Verbindung mit § 5 Abs. 1 Nr 1 Halbsatz 2). Diese Vorschriften sind mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht aus Art 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art 1 Abs. 1 GG mit der Maßgabe vereinbar, daß der Gesetzgeber ergänzend für bisher fehlende grundrechtssichernde Organisationsregelungen und Verfahrensregelungen sorgt und damit die an eine Totalerhebung nach Art der Volkszählung 1983 zu stellenden verfassungsrechtlichen Anforderungen gewährleistet.

1. Das Volkszählungsgesetz 1983 verpflichtet in § 5 die Beschwerdeführer unter Androhung einer Geldbuße (§ 14 in Verbindung mit § 10 BStatG) zur Auskunft über die in § 2 Nr 1 bis 7, §§ 3, 4 VZG 1983 genannten Erhebungstatbestände. Dadurch greift es in das durch Art 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art 1 Abs. 1 GG gewährleistete Persönlichkeitsrecht ein. Die erhobenen Daten sollen auch für künftige, zur Zeit der Erhebung noch nicht vorhersehbare Aufgaben nutzbar sein. Diesen Informationseingriff hat der Auskunftspflichtige hinzunehmen. Er erfolgt im überwiegenden Interesse der Allgemeinheit und genügt den Geboten der Normenklarheit und der Verhältnismäßigkeit.

a) Das Erhebungsprogramm des Volkszählungsgesetzes 1983 führt nicht zu einer mit der Würde des Menschen unvereinbaren gänzlichen oder teilweisen Registrierung und Katalogisierung der Persönlichkeit.

Volkszählungen, Wohnungszählungen, Berufszählungen und Arbeitsstättenzählungen sollen nach der Begründung des Regierungsentwurfs (BTDrucks. 9/451, S. 7ff) Angaben über den neuesten Stand der Bevölkerung, ihre räumliche Verteilung und ihre Zusammensetzung nach demographischen und sozialen Merkmalen sowie über ihre wirtschaftliche Betätigung, also im Ergebnis lediglich entpersönlichte Aussagen liefern.

Das Erhebungsprogramm vermag zwar einzelne Lebensbereiche, zum Beispiel den Wohnbereich des Bürgers, jedoch nicht dessen Persönlichkeit abzubilden. Etwas anderes würde nur gelten, soweit eine unbeschränkte Verknüpfung der erhobenen Daten mit den bei den Verwaltungsbehörden vorhandenen, zum Teil sehr sensitiven Datenbeständen oder gar die Erschließung eines derartigen Datenverbundes durch ein einheitliches Personenkennzeichen oder sonstiges Ordnungsmerkmal möglich wäre; denn eine umfassende Registrierung und Katalogisierung der Persönlichkeit durch die Zusammenführung einzelner Lebensdaten und Personaldaten zur Erstellung von Persönlichkeitsprofilen der Bürger ist auch in der Anonymität statistischer Erhebungen unzulässig (BVerfGE 27, 1 [6]). Derartigen Datenverbindungen - Totalabbildern - steht schon § 11 BStatG entgegen, der sogar die Übermittlung von nicht anonymisierten Einzelangaben zwischen den mit der Durchführung einer Bundesstatistik betrauten Personen und Stellen nur erlaubt, soweit dies zur Erstellung der Bundesstatistik erforderlich ist (§ 11 Abs. 2 BStatG).

Die Zusammenführung von im Rahmen der Volkszählung 1983 erhobenen Daten oder deren Verbindung mit bei den Statistischen Ämtern bereits vorhandenen Informationen ermöglicht es auch nicht, Teilabbilder der Persönlichkeit anzufertigen, die mit der Würde des Menschen nicht vereinbar sind. Einmal muß sich die Verarbeitung und Verwendung der Daten innerhalb des mit der Bezeichnung als Volkszählung, Berufszählung, Wohnungszählung und Arbeitsstättenzählung gekennzeichneten und gesetzlich festgelegten Zweckes der Befragung bewegen; zum anderen gilt der die amtliche Statistik generell verpflichtende Grundsatz, daß die Aufbereitung der Individualdaten immer zu einer "strukturierten" - anonymen - Form führen muß, so daß im Ergebnis die Erstellung von "Bildern" mit Persönlichkeitsbezug auch in der Form von Teilabbildern unzulässig ist.

b) Das Erhebungsprogramm des Volkszählungsgesetzes 1983 genügt auch dem Gebot der Normenklarheit.

Hinreichend bestimmt ist ein Gesetz, wenn sein Zweck aus dem Gesetzestext in Verbindung mit den Materialien deutlich wird (BVerfGE 27, 1 [8]); dabei reicht es aus, wenn sich der Gesetzeszweck aus dem Zusammenhang ergibt, in dem der Text des Gesetzes zu dem zu regelnden Lebensbereich steht (vgl BVerfGE 62, 169 [183f]). Diesen Anforderungen genügt die Beschreibung der zu erhebenden Merkmale im Volkszählungsgesetz 1983; der Bürger kann erkennen, über welche Grundtatbestände der Sozialstruktur er befragt werden soll. Die Hauptzwecke lassen sich aus der Art der Erhebung - einer Volkszählung, Berufszählung, Wohnungszählung und Arbeitsstättenzählung -, dem Erhebungsprogramm und den Gesetzesmaterialien hinreichend deutlich entnehmen. Nicht erforderlich ist, daß der Gesetzgeber zu jeder einzelnen gesetzlichen Verpflichtung auch den konkreten Zweck im Gesetz selbst erläutert. Dies gilt namentlich mit Rücksicht auf die Besonderheiten der Erhebung von Daten für statistische Zwecke, zumal bei einer Volkszählung; hier ist eine Auflistung der einzelnen Zwecke aufgrund ihrer multifunktionalen Zielsetzung unmöglich.

c) Das Erhebungsprogramm des Volkszählungsgesetzes 1983 entspricht, soweit es Prüfungsgegenstand ist, auch dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Danach muß eine Maßnahme zur Erreichung des angestrebten Zweckes geeignet und erforderlich sein; der mit ihr verbundene Eingriff darf seiner Intensität nach nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache und den vom Bürger hinzunehmenden Einbußen stehen (vgl BVerfGE 27, 344 [352 f.]; st. Rspr).

Das Volkszählungsgesetz 1983 soll dem Staat die für künftiges Planen und Handeln benötigten Informationen verschaffen. Als Vorbedingung für die Planmäßigkeit staatlichen Handelns (vgl BVerfGE 27, 1 [7]) dient die Volkszählung 1983 einem einleuchtenden, zur Erfüllung legitimer Staatsaufgaben angestrebten Zweck.

Mit dem eingesetzten Mittel der Volkszählung als Totalerhebung [Vollerhebung) und dem Fragenkatalog des § 2 Nr 1 bis 7 und der §§ 3, 4 VZG 1983 ist die Bundesrepublik Deutschland ihrer Verpflichtung aufgrund der Richtlinien des Rates der Europäischen Gemeinschaften vom 22. November 1973 zur Synchronisierung der allgemeinen Volkszählungen - 73/403/EWG - (ABlEG Nr L 347 vom 17.12.1973, S. 50) nachgekommen. Erhebungsmethode und Erhebungsprogramm sind geeignet und erforderlich, um den angestrebten Zweck zu erreichen, und für die Auskunftspflichtigen zumutbar.

aa) Es ist derzeit nicht zu beanstanden, wenn der Gesetzgeber davon ausgegangen ist, daß Erhebungen aufgrund von Stichproben auf ausnahmslos freiwilliger Basis oder eine Kombination von Vollprobenerhebung und Stichprobenerhebung die Volkszählung als Totalerhebung nicht zu ersetzen vermögen. Diese Alternativen zu einer Totalerhebung sind noch mit zu großen Fehlerquellen behaftet. Außerdem setzen sie verläßliche Daten über die Gesamtbevölkerung voraus, die zur Zeit nur periodische Volkszählungen liefern können.

Diese Würdigung beruht auf dem gegenwärtigen Erkenntnisstand und Erfahrungsstand. Vor künftigen Entscheidungen für eine Erhebung wird sich der Gesetzgeber erneut mit dem dann erreichten Stand der Methodendiskussion auseinandersetzen müssen, um festzustellen, ob und in welchem Umfang die herkömmlichen Methoden der Informationserhebung und Informationsverarbeitung beibehalten werden können. Die Methoden der amtlichen Statistik und der Sozialforschung entwickeln sich stetig weiter. Diese Entwicklung darf der Gesetzgeber nicht unberücksichtigt lassen. Er muß ungewissen Auswirkungen eines Gesetzes dadurch Rechnung tragen, daß er die ihm zugänglichen Erkenntnisquellen ausschöpft, um die Auswirkungen so zuverlässig wie möglich abschätzen zu können (BVerfGE 50, 290 [334]); bei einer sich später zeigenden Fehlprognose ist er zur Korrektur verpflichtet (vgl. BVerfGE, a.a.O. [335]). Der Gesetzgeber kann aufgrund veränderter Umstände zur Nachbesserung einer ursprünglich verfassungsgemäßen Regelung gehalten sein (vgl BVerfGE 56, 54 [78f] mwN). Ebenso muß er bei der Anordnung einer statistischen Erhebung anhand des erreichbaren Materials prüfen, ob eine Totalerhebung trotz einer inzwischen fortgeschrittenen Entwicklung der statistischen und sozialwissenschaftlichen Methoden noch verhältnismäßig ist. Es reicht insoweit zur Begründung nicht aus, lediglich darauf zu verweisen, daß Volkszählungen schon immer in Form von Totalerhebungen durchgeführt worden seien.

In diesem Sinne hat der Deutsche Bundestag in einem Beschluß vom 15. Dezember 1982 zum Gesetz über die Durchführung einer Repräsentativstatistik der Bevölkerung und des Erwerbslebens (Mikrozensusgesetz) die Bundesregierung ersucht darzulegen (BTDrucks 9/2261, S. 3),

1. in welchem Umfang auf Erhebungen nach dem Mikrozensusgesetz wegen Reduzierung oder Wegfalls der sachlichen Notwendigkeit dieser Erhebung verzichtet werden kann,

2. in welchem Umfang Erhebungen nach dem Mikrozensusgesetz durch weniger kostenintensive und gleichwertige oder bessere Umfragemethoden ersetzt werden können.

Dabei sollen auch die neuesten Erkenntnisse der empirischen Sozialforschung und die Erfahrungen mit statistischen Erhebungen im Ausland bewertet und sofern sie auf anderen Systemen beruhen, ihre Geeignetheit für die Bundesrepublik Deutschland geprüft werden.

Wie aus den Stellungnahmen mehrerer Datenschutzbeauftragter hervorgeht, wird neuerdings im Inland und Ausland diskutiert, ob auf Totalerhebungen verzichtet werden kann. Diese Diskussion wird der Gesetzgeber aufmerksam zu verfolgen haben. Zur Zeit liegen aber noch keine sicheren Ergebnisse vor, die das Mittel der Totalerhebung schon jetzt unverhältnismäßig erscheinen lassen.

bb) Auch die Übernahme sämtlicher Daten aus bereits vorhandenen Dateien der Verwaltung ist keine zulässige Alternative zu der vorgesehenen Totalzählung. Denn die Nutzung von Daten aus verschiedenen Registern und Dateien würde voraussetzen, daß technische, organisatorische und rechtliche Maßnahmen getroffen werden, die es erst erlauben, diese Daten, bezogen auf bestimmte Personen oder Institutionen, zusammenzuführen. Eine solche Maßnahme wäre zum Beispiel die Einführung eines einheitlichen, für alle Register und Dateien geltenden Personenkennzeichens oder dessen Substituts. Dies wäre aber gerade ein entscheidender Schritt, den einzelnen Bürger in seiner ganzen Persönlichkeit zu registrieren und zu katalogisieren. Die Verknüpfung vorhandener Dateien wäre danach auch nicht das mildere Mittel.

cc) Auch die bei Wahlen und Abstimmungen geläufigen, der Briefwahl nachgebildeten und damit anonymeren Erhebungsformen sind allgemein kein Ersatz für die vorgesehene Zählung.

Eine vollständige und regional richtige Feststellung der Einwohner, Gebäude, Wohnungen und Arbeitsstätten setzt eine Begehung des Gemeindegebietes voraus. Ein Postversand der Fragebogen erreicht nicht alle Auskunftspflichtigen. Denn es müßte hierbei auf Adressen in vorhandenen Registern zurückgegriffen werden, die in aller Regel die Situation am Zählungsstichtag nicht vollständig wiedergeben.

Ein gegenüber dem bisher vorgesehenen Volkszählungsverfahren milderes Mittel besteht jedoch darin, die Zähler die Fragebogen lediglich austeilen und eine Adressenliste anlegen zu lassen, in der Namen und Anschriften der Auskunftspflichtigen aufgeführt sind, die Fragebogen erhalten haben. Die Auskunftspflichtigen hätten dann die ausgefüllten Bögen in verschlossenem Umschlag dem Zähler zu übergeben, bei der Zählungsdienststelle abzugeben oder an diese zurückzusenden. Diese Erhebungsmethode vermeidet die Gefährdungen, die durch die Einsichtnahme der Zähler in die personenbezogenen Angaben der Bürger entstehen. Sie berücksichtigt andererseits, daß zur vollständigen und richtigen Zählung das Gemeindegebiet begangen werden muß, und ermöglicht es, Unstimmigkeiten durch Rückfragen zu klären.

Eine solche Erhebungsmethode läßt § 5 Abs. 1 VZG 1983 in Verbindung mit § 10 Abs. 2 und 3 BStatG zu. Die Auskunftspflicht besteht nach § 10 Abs. 2 BStatG gegenüber den mit der Durchführung der Bundesstatistik amtlich betrauten Stellen und Personen. Nach § 10 Abs. 3 BStatG ist die Antwort unter anderem kostenfrei und portofrei zu erteilen. Die Auskunftspflicht kann somit auf dem Postwege erfüllt werden; der Bürger ist berechtigt, den Erhebungsbogen zur Volkszählung im verschlossenen Umschlag kostenfrei und portofrei an die Zählungsdienststellen zu senden. Eine andere Auslegung hätte zur Folge, daß die Erhebungsform der Volkszählung 1983 unverhältnismäßig wäre und deshalb das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art 1 Abs. 1 GG verletzen würde.

dd) Die Erhebungstatbestände des § 2 Nr 1 bis 7 und der §§ 3, 4 VZG 1983 sind auch in ihrer Gesamtheit erforderlich, um den Zweck der Volkszählung zu erreichen. Die Volkszählung soll ein vielseitiges koordiniertes statistisches Gesamtbild von Gesellschaft und Wirtschaft liefern. Dazu werden die Daten aus allen Zählungsteilen - für die Volkszählung und Berufszählung sowie für die Gebäudezählung, Wohnungszählung und Arbeitsstättenzählung - in Verbindung miteinander benötigt. Die Erhebungstatbestände des Volkszählungsgesetzes 1983 dienen in der Regel mehreren nicht abschließend zu benennenden Zwecken. Das jeweilige Merkmal darf aber nicht isoliert gesehen werden. Denn nur in der Kombination mit weiteren Merkmalen - in Abhängigkeit von den jeweiligen Fragestellungen - sind die vielfältigen von der Bundesregierung in ihrer Stellungnahme im einzelnen genannten Zwecke zu erfüllen. Deshalb werden die Daten gerade in ihrer Gesamtheit benötigt.

2. Indessen bedarf es zur Sicherung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung noch ergänzender verfahrensrechtlicher Vorkehrungen für Durchführung und Organisation der Datenerhebung. Die verfassungsrechtlichen Anforderungen (oben C II 2 b bb) sind für die durch das Volkszählungsgesetz 1983 vorgesehene Erhebung nur zum Teil erfüllt. Zwar trägt § 11 BStatG dem Schutz des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung durch eine Regelung über das Statistikgeheimnis Rechnung. Auch schreibt § 11 Abs. 7 Satz 1 BStatG die Löschung der zur Identifizierung dienenden Daten vor, sobald diese nicht mehr für statistische Zwecke des Bundes benötigt werden. Bis zu diesem Zeitpunkt sollen nach Satz 2 der Vorschrift Namen und Anschriften von den übrigen Angaben getrennt und unter besonderem Verschluß gehalten werden. Diese Bestimmungen reichen jedoch nicht aus, um für die Volkszählung verfassungsgemäße Bedingungen der Datenerhebung und Datenverarbeitung zu gewährleisten. Vielmehr hat der Gesetzgeber darüber hinaus für notwendige Sicherungsvorkehrungen zum Schutz des informationellen Selbstbestimmungsrechts Sorge zu tragen. Er braucht nicht alles selbst zu regeln, muß aber dafür sorgen, daß das Notwendige geschieht. Im einzelnen sind folgende grundrechtssichernde Maßnahmen geboten:

a) Es bestehen Aufklärungspflichten und Belehrungspflichten. Zwar braucht der Auskunftspflichtige sich nicht mit anderen einem Haushalt zurechnen zu lassen, sondern wird, sofern er es wünscht, anhand eines eigenen Haushaltsbogens gezählt; denn § 5 Abs. 1 VZG 1983 sieht grundsätzlich eine persönliche Auskunftspflicht jedes einzelnen Bürgers vor. Auch steht diesem - wie bereits ausgeführt - das Recht zu, den ausgefüllten Erhebungsbogen in verschlossenem Umschlag dem Zähler zu übergeben, bei der Zählungsdienststelle abzugeben oder ihn ihr mit der Post zuzusenden. Diese Rechte sind für den Bürger bei Massenerhebungen der streitigen Art aber nur schwer erkennbar und der gesetzlichen Regelung erst im Wege der Auslegung zu entnehmen; die vorgesehene Durchführung der Erhebung lenkt von ihnen eher ab. Daher hat der Gesetzgeber sicherzustellen, daß die Bürger über diese Rechte schriftlich belehrt werden. Auch ist deutlich kenntlich zu machen, soweit bestimmte Angaben (wie etwa die Telefonnummer) lediglich auf freiwilliger Basis erhoben werden.

b) Die zur Identifizierung dienenden Merkmale (insbesondere Namen, Anschriften, Kennummern und Zählerlistennummern) sind zum frühest möglichen Zeitpunkt zu löschen und bis dahin von den übrigen Angaben getrennt unter Verschluß zu halten.

Die Handhabung der Vorschrift des § 11 Abs. 7 BStatG, der insoweit grundrechtssichernde Funktion zukommt, darf nicht allein dem Ermessen der Verwaltung überlassen bleiben. Zugleich ist eine effektive Kontrolle durch die Datenschutzbeauftragten notwendig. Sinnvollerweise wird der Auskunftspflichtige genauer darüber zu belehren sein, welche Merkmale lediglich Hilfsmittel der Erhebung sind (vgl § 5 des Mikrozensusgesetzes vom 21. Februar 1983 (BGBl. I S. 201)).

c) Den Bürgern treten Zähler entgegen, die Einblick in die Unterlagen erhalten, wenn der ausgefüllte Erhebungsbogen offen abgegeben wird. Deshalb müssen Maßnahmen getroffen werden, um Interessenkollisionen möglichst zu vermeiden. Dem Schutzbedürfnis wird zwar schon weitgehend durch die aufgeführten Möglichkeiten der Abgabe des ausgefüllten Fragebogens Rechnung getragen. Dies allein reicht jedoch bei einer Massenerhebung mit etwa 600.000 Zählern (vgl BTDrucks 9/451, S. 10) für einen effektiven Schutz des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung nicht aus. Mit Recht haben die Datenschutzbeauftragten deshalb in ihrer Besprechung vom 22. März 1983 angeregt, auf den Einsatz von Zählern zu verzichten, bei denen im Hinblick auf ihre dienstliche Tätigkeit Interessenkonflikte nicht auszuschließen sind. Als weitere Maßnahme ist eine Vorschrift geboten, daß Zähler - darüber besteht zwischen dem Bundesminister des Innern und den Datenschutzbeauftragten Einvernehmen - nicht in der unmittelbaren Nähe ihrer Wohnung eingesetzt werden sollen, damit in der Nachbarschaft die Auskunftsbereitschaft nicht beeinträchtigt wird.

d) Schließlich hat der Gesetzgeber dafür Sorge zu tragen, daß der Inhalt des Fragebogens mit dem Gesetz übereinstimmt. So ist es nicht angängig, alle Auskunftspflichtigen von vornherein nach Haushalten zu erfassen, obwohl § 5 VZG 1983 grundsätzlich eine persönliche Auskunftspflicht jedes Bürgers vorsieht. Auch darf der Inhalt der einzelnen Fragen im Fragebogen nicht weiter gehen, als der Gesetzestext es zuläßt. Die Entscheidung, wie die Erfüllung dieser Anforderungen an den Fragebogen sicherzustellen ist, hat der Gesetzgeber zu treffen. Dazu stehen ihm verschiedene Möglichkeiten offen, einschließlich der Ermächtigung, den Inhalt des Fragebogens durch eine Rechtsverordnung festzulegen.

IV.

1. Die zu statistischen Zwecken erhobenen, noch nicht anonymisierten, also noch personenbezogenen Daten dürfen - wie bereits ausgeführt (oben C II 2 cc) - kraft ausdrücklicher gesetzlicher Ermächtigung weitergeleitet werden, soweit und sofern dies zur statistischen Aufbereitung durch andere Behörden erfolgt und wenn dabei die zum Schutz des Persönlichkeitsrechts gebotenen Vorkehrungen, insbesondere das Statistikgeheimnis und das Gebot der Anonymisierung, in gleicher Weise zuverlässig sichergestellt sind wie bei den Statistischen Ämtern des Bundes und der Länder. Würden hingegen personenbezogene, nicht anonymisierte Daten, die zu statistischen Zwecken erhoben wurden und nach der gesetzlichen Regelung dafür bestimmt sind, für Zwecke des Verwaltungsvollzuges weitergegeben (Zweckentfremdung), würde in unzulässiger Weise in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung eingegriffen. Es kann offenbleiben, ob eine direkte Weiterleitung dieser Daten generell und selbst dann als unvereinbar mit dem Grundsatz der Trennung von Statistik und Vollzug zu beanstanden wäre, wenn der Gesetzgeber diese Weiterleitung ausdrücklich vorsähe. Es bedarf auch keiner abschließenden Erörterung, ob die gleichzeitige Durchführung einer an sich statthaften Erhebung personenbezogener Daten für statistische Zwecke mit einer an sich statthaften Erhebung personenbezogener Daten für bestimmte Zwecke des Verwaltungsvollzugs auf verschiedenen Bögen (kombinierte Erhebung) zulässig wäre. Sowohl die direkte Übermittlung von zu statistischen Zwecken erhobenen Daten als auch die kombinierte Erhebung wären schon deshalb nicht bedenkenfrei, weil die Verknüpfung zweier unterschiedlicher Zwecke mit unterschiedlichen Anforderungen den Bürger angesichts der für ihn undurchsichtigen Möglichkeiten der automatischen Datenverarbeitung in hohem Maße verunsichert und dadurch die Zuverlässigkeit der Angaben und deren Eignung für statistische Zwecke gefährden kann. Ferner wären die unterschiedlichen Voraussetzungen zu beachten: So gelten für die Erhebung und Verwertung zu statistischen Zwecken das Statistikgeheimnis, das Gebot der Anonymisierung und das Nachteilsverbot; für die Erhebung zu Verwaltungsvollzugszwecken ist dies hingegen nicht oder nicht in gleicher Weise der Fall; während für die Statistik Identifikationsmerkmale (etwa Name und Anschrift) nur als Hilfsmittel dienen, sind sie in aller Regel für die Erhebung zu Verwaltungsvollzugszwecken wesentlicher Bestandteil. Zudem wird dabei die auf statistische Datensammlung zugeschnittene Ermittlungsorganisation zugleich für andere Erhebungszwecke eingesetzt, die für sich allein eine solche Organisation schwerlich rechtfertigen würden. Auch wäre zu beachten, daß das Rechtsschutzverfahren bei den beiden Erhebungsarten auseinanderlaufen kann.

Eine Regelung, die dennoch beide Zwecke gleichzeitig erreichen will, ist zur Erreichung der beabsichtigten Zwecke jedenfalls dann untauglich und damit verfassungswidrig, wenn sie tendenziell Unvereinbares miteinander verbindet. In einem solchen Fall kann die Verbindung statistischer Zwecke mit Verwaltungsvollzugszwecken in einer Zählung nicht nur zu Unklarheit und Unverständlichkeit der Norm führen, sondern bewirkt darüber hinaus ihre Unverhältnismäßigkeit. Anders als bei Datenerhebungen zu ausschließlich statistischen Zwecken ist hier eine enge und konkrete Zweckbindung der weitergeleiteten Daten unerläßlich (oben C II 2 a). Zudem ist das Gebot der Normenklarheit von besonderer Bedeutung. Der Bürger muß aus der gesetzlichen Regelung klar erkennen können, daß seine Daten nicht allein zu statistischen Zwecken verwendet werden, für welche konkreten Zwecke des Verwaltungsvollzugs seine personenbezogenen Daten bestimmt und erforderlich sind und daß ihre Verwendung unter Schutz gegen Selbstbezichtigungen auf diesen Zweck begrenzt bleibt.

2. Die Kombination der Volkszählung für statistische Zwecke mit dem Melderegisterabgleich nach § 9 Abs. 1 VZG 1983 entspricht nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen.

a) Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführer fehlt dem Bund zur Regelung des Melderegisterabgleichs allerdings nicht die Zuständigkeit; sie ist nach Art 75 Nr 5 GG gegeben.

Die Rahmengesetzgebungskompetenz des Bundes (Art 75 GG) gestattet diesem nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch Vollregelungen für einzelne Teile einer Gesetzgebungsmaterie, sofern dem Landesgesetzgeber für die Gesamtmaterie noch ausreichender Regelungsspielraum verbleibt, den dieser aufgrund eigener Entschließung ausfüllen kann (vgl BVerfGE 43, 291 [343] - Numerus clausus). Da § 9 Abs. 1 Satz 1 VZG 1983 nur die Möglichkeit des Melderegisterabgleichs einräumt, bleibt dem Landesgesetzgeber, der sowohl das Ob als auch das Wie des Abgleichs der Angaben der Volkszählung nach § 2 Nr 1 und 2 VZG 1983 bestimmen kann, noch ausreichender Regelungsspielraum, den er aufgrund eigener Entschließung ausfüllen kann, aber nicht muß. Die Entscheidung darüber, ob ein Bedürfnis nach bundesgesetzlicher Regelung des Melderegisterabgleichs im Sinne des Art 72 Abs. 2 GG besteht, ist in das Ermessen des Bundesgesetzgebers gestellt (vgl BVerfGE 33, 224 [229]; st Rspr). Für den Melderegisterabgleich besteht nach der nicht zu beanstandenden Einschätzung des Gesetzgebers ein Bedürfnis nach bundesgesetzlicher Regelung zur Wahrung der Rechtseinheit oder Wirtschaftseinheit (Art 72 Abs. 2 Nr 3 GG); denn die Berichtigung der Melderegister sollte insbesondere im Hinblick auf § 12 Abs. 2 des Melderechtsrahmengesetzes (MRRG) vom 16. August 1980 (BGBl. I S. 1429) in allen Bundesländern zur gleichen Zeit und in gleichem Umfang erfolgen. Da somit die Zuständigkeit des Bundes zur Regelung des Melderegisterabgleichs nach Art 75 Nr 5 GG gegeben ist, kann dahingestellt bleiben, ob seine Zuständigkeit zu dieser Regelung auch aus Art 73 Nr 11 GG folgt.

b) § 9 Abs. 1 VZG 1983 verletzt aber das in Art 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art 1 Abs. 1 GG gesicherte Recht auf informationelle Selbstbestimmung, weil die Regelung tendenziell Unvereinbares miteinander verbindet, deshalb zur Erreichung der angestrebten Zwecke ungeeignet, in ihrem Inhalt unklar und daher in ihrer Tragweite für den Bürger unverständlich ist.

§ 9 Abs. 1 Satz 1 VZG 1983 gestattet den Gemeinden, bestimmte Angaben aus den Erhebungsunterlagen mit den Melderegistern zu vergleichen und zu deren Berichtigung zu verwenden. Ausgewählte Personendaten der Volkszählung 1983 können so nicht nur zu statistischen Zwecken, sondern zusätzlich zu einem Verwaltungsvollzug verwandt werden, dem keine konkrete Zweckbindung entspricht. Zwar ergibt sich aus der gesetzlichen Regelung, daß die gemäß § 2 Nr 1 und 2 VZG 1983 erhobenen Daten nicht nur zu statistischen Zwecken, sondern zusätzlich für den Melderegisterabgleich erhoben werden; es ist jedoch infolge der Aufgaben der Meldebehörden, die Daten ihrerseits nach Maßgabe des Vierten Abschnitts des Melderechtsrahmengesetzes und der entsprechenden Vorschriften der Länder weiterzugeben, nicht vorhersehbar, zu welchem konkreten Zweck welche Behörden die Daten verwenden. Dies hat zur Folge, daß sich die Zwecke beider Erhebungen (Statistik - Melderegisterabgleich) nicht nur gegenseitig beeinträchtigen, sondern sogar ausschließen; denn während die Effizienz der Statistik eine strenge Beachtung des Statistikgeheimnisses verlangt, ist dieses, wie die weitergehenden Übermittlungsregelungen des Melderechtsrahmengesetzes zeigen, mit den Aufgaben der Meldebehörden (§ 1 Abs. 3 MRRG) unvereinbar.

Wie sehr durch die gleichzeitige Verfolgung beider Zwecke die Funktionsfähigkeit der amtlichen Statistik gefährdet wird, die ein Kernstück der statistischen Bestandsaufnahme bildet (vgl Begründung der Bundesregierung zu dem Entwurf eines Gesetzes über eine Volkszählung, Berufszählung, Wohnungszählung und Arbeitsstättenzählung - Volkszählungsgesetz 1982 (BTDrucks 9/451, S. 7, A I)), hat auch der Gesetzgeber gesehen; denn in § 9 Abs. 1 Satz 2 hat er es ausdrücklich untersagt, aus den statistischen Einzelangaben gewonnene Erkenntnisse zu Maßnahmen gegen den einzelnen Auskunftspflichtigen zu verwenden. Dieses Nachteilsverbot verspricht jedoch mehr, als es leisten kann. Es vermag das Defizit für die Funktionsfähigkeit der Statistik und für den Schutz der Betroffenen nicht auszugleichen, das durch die Verbindung von Statistik und Vollzug entsteht. Das Verbot, das wörtlich aus § 1 Abs. 3 Satz 2 BStatG übernommen und welches auf das Statistikgeheimnis zugeschnitten ist, kann zwar einen ausreichenden Schutz gewähren, wenn die Daten allein zu statistischen Zwecken weitergegeben werden. Seine Übernahme in eine Vorschrift über den Melderegisterabgleich erhöht aber die Unverständlichkeit der gesamten Regelung und führt dazu, daß der auskunftspflichtige Bürger die Auswirkungen dieser Bestimmung nicht mehr zu übersehen vermag. Für den Betroffenen ist nicht erkennbar, daß seine statistischen Angaben nach Maßgabe der melderechtlichen Vorschriften in weitem Umfang an Behörden und öffentliche Stellen übermittelt werden können, ohne daß diese den statistischen Ursprung dieser Daten feststellen und dem Nachteilsverbot Rechnung tragen können. Damit kann das Nachteilsverbot (§ 9 Abs. 1 Satz 2 VZG 1983) seine Aufgabe nicht erfüllen; zugleich verletzt es das Gebot der Normenklarheit (oben C II 1 b).

3. Auch § 9 Abs. 2 VZG 1983 verstößt gegen Art 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art 1 Abs. 1 GG. Diese Vorschrift gestattet die Übermittlung von personenbezogenen Einzelangaben an die fachlich zuständigen obersten Bundesbehörden und Landesbehörden sowie an die von ihnen bestimmten Stellen, soweit diese personenbezogenen Daten von den Empfängern zur rechtmäßigen Erfüllung der in ihrer Zuständigkeit liegenden Aufgaben benötigt werden. Sie geht über § 11 Abs. 5 und 6 BStatG hinaus, da die Daten lediglich ohne Namen, nach § 9 Abs. 2 Satz 2 VZG 1983 auch ohne die Angaben der Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu einer Religionsgesellschaft übermittelt werden können und dem Betroffenen daher noch ohne Schwierigkeiten zuzuordnen sind. Ob die Übermittlung nur zu statistischen Zecken oder auch für den Verwaltungsvollzug zulässig ist, kann der Vorschrift nicht entnommen werden. Eine Begrenzung auf die Übermittlung zu statistischen Zwecken scheitert an der fehlenden Normenklarheit. Damit ist aber die Möglichkeit der Verwendung für Verwaltungsvollzugszwecke gegeben. Selbst wenn die Übermittlung von zu statistischen Zwecken erhobenen personenbezogenen Daten zu Verwaltungsvollzugszwecken oder eine Kombination einer für sich allein zulässigen statistischen Erhebung mit einer für sich allein zulässigen Erhebung zu Verwaltungsvollzugszwecken nicht von vornherein gegen das Persönlichkeitsrecht verstoßen sollte, verletzt § 9 Abs. 2 VZG 1983 die Bürger doch bereits deshalb in ihrem Recht auf informationelle Selbstbestimmung, weil weder aus der Vorschrift klar zu erkennen ist, daß diese überhaupt eine Weitergabe zu Verwaltungszwecken vorsieht, noch um welche konkreten, klar definierten Zwecke es sich dabei handelt, wie dies bei nicht anonymisierten Daten geboten ist. Wenn aber schon eine klare Zweckbestimmung fehlt, ist auch nicht mehr abzusehen, ob sich die Weitergabe in den Grenzen des zur Zweckerfüllung Erforderlichen hält.

4. § 9 Abs. 3 VZG 1983 verstößt ebenfalls gegen Art 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art 1 Abs. 1 GG.

a) Satz 1 des § 9 Abs. 3 VZG 1983 ermöglicht es, die mit Hilfe der Gemeinden erhobenen personenbezogenen Daten ohne Namen auch dem kommunalen Bereich für bestimmte Verwaltungszwecke zur Verfügung zu stellen. Übermittelt werden dürfen die erforderlichen (personenbezogenen) Einzelangaben über die nach den §§ 2 bis 4 VZG 1983 erfaßten Tatbestände - mit Ausnahme der nach § 4 Nr 1 Buchstabe c und § 4 Nr 3 Buchstabe c VZG 1983 verlangten Angaben und des Merkmals der rechtlichen Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu einer Religionsgesellschaft - für Zwecke der Regionalplanung, des Vermessungswesens, der gemeindlichen Planung und des Umweltschutzes. Zu welchem konkreten Zweck die Daten indessen weitergegeben werden, insbesondere ob nur zu statistischen oder auch zu Verwaltungsvollzugszwecken, ist danach nicht hinreichend erkennbar. So besteht Regionalplanung auf gemeindlicher Ebene aus den Flächennutzungsplänen und den aus ihnen hervorgegangenen Bebauungsplänen. Diese sind ebenso Bestandteil gemeindlicher Planung und treffen für die im jeweiligen Planungsgebiet belegenen Grundstücke spezifizierte und eindeutige Festsetzungen über Art und Ausmaß der zugelassenen baulichen Nutzung, mithin Verwaltungsentscheidungen gegenüber dem einzelnen Bürger. Auch die für Zwecke des Vermessungswesens und des Umweltschutzes übermittelten personenbezogenen Einzelangaben können von den Übermittlungsadressaten nicht nur zu statistischen, sondern ebenso zu Verwaltungsvollzugszwecken verwendet werden. So wurde in der Berichterstattergruppe "Statistik" des Innenausschusses anläßlich der Beratung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung ausdrücklich darauf hingewiesen, daß mit der Formulierung "für Zwecke des Vermessungswesens" gerade nicht nur eine statistische Aufbereitung für eine gemeindliche Planung gemeint sei, sondern mit Rücksicht auf die Landesvermessungsbehörden an einen Abgleich der Unterlagen und an eine Verbesserung der vorhandenen Liegenschaftskataster gedacht sei (vgl. S. 14 des Kurzprotokolls der 4. Sitzung der Berichterstattergruppe "Statistik" vom 8. Mai 1979). Überdies verfolgen der Umweltschutz und das Vermessungswesen im Bereich der Gemeinden weniger statistische, sondern eher Verwaltungsvollzugszwecke; hierauf hatte bereits der Bayerische Landesbeauftragte für den Datenschutz in seiner Stellungnahme vom 31. Mai 1979 an den Innenausschuß des Deutschen Bundestages ausdrücklich hingewiesen. § 9 Abs. 3 Satz 1 VZG 1983 verstößt daher bereits deshalb gegen das durch Art 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art 1 Abs. 1 GG geschützte allgemeine Persönlichkeitsrecht, weil die Vorschrift weder klar erkennen läßt, daß die übermittelten personenbezogenen Daten auch zu Verwaltungsvollzugszwecken verwendet werden können, noch um welche konkreten klar definierten Zwecke es sich dabei handelt. Angesichts der Unklarheit der vorgesehenen Zwecke ist es den Statistischen Ämtern des Bundes und der Länder auch nicht möglich festzustellen, ob zur Erfüllung der jeweiligen Zwecke nicht die Übermittlung - faktisch - anonymisierter Einzelangaben (§ 11 Abs. 5 BStatG) an die Gemeinden oder ihre Verbände genügt.

b) Auch Satz 2 des § 9 Abs. 3 VZG 1983 verstößt gegen das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Für eigene statistische Aufbereitungen können den Gemeinden und Gemeindeverbänden nach dieser Vorschrift die nach den §§ 2 bis 4 VZG 1983 erfaßten Tatbestände sogar einschließlich der Namen zur Verfügung gestellt werden.

Zwar begrenzt die Bestimmung damit die Verwendung personenbezogener Einzelangaben im kommunalen Bereich auf statistische Aufbereitungen. Unberücksichtigt bleibt jedoch, daß es zur Sicherung des informationellen Selbstbestimmungsrechts der Bürger darüber hinaus bei der Verarbeitung personenbezogener Daten auch außerhalb der Statistischen Ämter einer Organisation bedarf, welche die Zweckbindung ebenso sichert wie innerhalb der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder. Eine derartige Sicherung ist insbesondere deshalb geboten, weil in vielen Gemeinden keine für die Bearbeitung von Statistiken zuständigen Stellen vorhanden sind, so daß eine ausschließlich für statistische Zwecke vorgesehene Nutzung der Daten nicht als ausreichend gewährleistet angesehen werden kann. Hinzu kommt, daß die Kommunalstatistik im Gegensatz zur Bundesstatistik nicht gesetzlich geregelt und damit von anderen Verwaltungsaufgaben nicht von vornherein abgeschottet ist. Damit ist der Datenfluß personenbezogener Daten über die nach den §§ 2 bis 4 VZG 1983 erfaßten Tatbestände innerhalb der Kommunen und ihrer Verbände nur unzureichend allein durch die Verwendungsschranke "statistische Aufbereitungen" gehemmt. Diese Formulierung ist aber so ungenau, daß sie herangezogen werden kann, um die verschiedensten Aktivitäten zu decken. Im kommunalen Bereich sind die Grenzen statistischer Nutzung fließend: Darunter werden nicht nur herkömmliche Tabellenwerke verstanden, sondern auch Spezialaufbereitungen für Planungszwecke, die bei kleinräumigem Bezug - wegen des besonders großen Zusatzwissens der Kommunen - leicht an die Grenze der Deanonymisierung stoßen. Gemeindliche Statistik wird insoweit heute weitgehend als "Stadtentwicklung" oder "Stadtentwicklungsforschung" verstanden. Gerade wenn sich die Angaben - wie im gemeindlichen Bereich - auf kleinere Personengruppen beziehen, muß der Gesetzgeber für organisatorische Vorkehrungen sorgen, welche die vorgesehene Zweckbindung garantieren. Dazu ist die Trennung der Kommunalstatistik von anderen Aufgabenbereichen der Gemeinden und ihrer Verbände ("informationelle Gewaltenteilung") unerläßlich. Da § 9 Abs. 3 Satz 2 VZG 1983 eine Übermittlung von personenbezogenen Einzelangaben für statistische Aufbereitungen der Gemeinden und ihrer Verbände gestattet, ohne die Zweckbindung zu statistischen Zwecken wie in den Statistischen Ämtern des Bundes und der Länder zu sichern, ist die Vorschrift mit Art 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art 1 Abs. 1 GG unvereinbar.

5. Demgegenüber verletzt § 9 Abs. 4 VZG 1983 nicht das allgemeine Persönlichkeitsrecht. Diese Vorschrift gestattet für wissenschaftliche Zwecke die Übermittlung bestimmter Einzelangaben an Amtsträger und für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichtete. Die Übermittlung hat sich in den Grenzen des für wissenschaftliche Zwecke Erforderlichen zu halten; Name und Anschrift dürfen überhaupt nicht weitergegeben werden. Die Regelung folgt damit der Erkenntnis, daß für die meisten Untersuchungsbereiche ein direkter Personenbezug nicht erforderlich ist; denn der Wissenschaftler ist regelmäßig nicht an der einzelnen Person interessiert, sondern an dem Individuum als Träger bestimmter Merkmale. Da bei den Übermittlungsadressaten des § 9 Abs. 4 VZG 1983 regelmäßig kaum Zusatzwissen vorhanden sein wird, ist nach dem derzeitigen Erkenntnisstand und Verfahrensstand nicht davon auszugehen, daß der Schutz des informationellen Selbstbestimmungsrechts bei der Verarbeitung von Daten nach § 9 Abs. 4 VZG 1983 über die durch § 5 BDSG, § 11 Abs. 5 BStatG, § 9 Abs. 5 VZG 1983 und die Kontrolle der Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder gewährleisteten Sicherungen hinaus weitere Vorkehrungen von Verfassungs wegen erfordert.

V.

Die Beschwerdeführer werden nicht in ihrem Grundrecht aus Art 19 Abs. 4 GG verletzt.

1. Art 19 Abs. 4 GG garantiert nicht nur das formelle Recht und die Möglichkeit, die Gerichte anzurufen, sondern auch die Effektivität des Rechtsschutzes; der Bürger hat einen substantiellen Anspruch auf eine tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle (BVerfGE 53, 115 [127 f.]; st Rspr). Würde das Volkszählungsgesetz 1983 demnach verhindern, daß der Bürger Kenntnis davon erlangen könnte, wer wo über welche seiner personenbezogenen Daten in welcher Weise und zu welchen Zwecken verfügt, so wäre sein Rechtsschutz verfassungsrechtlich unzureichend. Gerade deshalb verpflichtet Art 19 Abs. 4 GG die Statistischen Ämter des Bundes und der Länder, die Übermittlung personenbezogener Daten zu protokollieren, so daß der Bürger von der Weitergabe seiner Daten gemäß § 13 BDSG und den entsprechenden Vorschriften der Datenschutzgesetze der Länder Kenntnis erlangen und dagegen den Rechtsweg beschreiten kann.

2. Auch § 5 Abs. 2 VZG 1983, der die aufschiebende Wirkung von Rechtsbehelfen gegen die Aufforderung zur Auskunftserteilung ausschließt, ist mit Art 19 Abs. 4 GG vereinbar.

Der Rechtsweggarantie kommt auch die Aufgabe zu, irreparable Entscheidungen, wie sie durch die sofortige Vollziehung einer staatlichen Maßnahme eintreten können, soweit als möglich auszuschließen (BVerfGE 35, 263 [274]; 51, 268 [284]; 53, 30 [67 f.]). Aus dieser grundsätzlichen Garantie folgt zugleich das Verfassungsgebot, möglichst zu verhindern, daß durch die sofortige Vollziehung Tatsachen geschaffen werden, die auch dann nicht mehr rückgängig gemacht werden können, wenn sie sich bei richterlicher Prüfung als rechtswidrig erweisen sollten (vgl BVerfGE 35, 382 [401 f.]; 37, 150 [153]). Andererseits gewährleistet Art 19 Abs. 4 GG die aufschiebende Wirkung von Rechtsbehelfen im Verwaltungsprozeß nicht schlechthin. Überwiegende öffentliche Belange können es rechtfertigen, den Rechtsschutzanspruch des Einzelnen einstweilen zurückzustellen, um unaufschiebbare Maßnahmen im Interesse des allgemeinen Wohls rechtzeitig in die Wege zu leiten (BVerfGE 51, 268 [284]).

Bei Volkszählungen wäre eine vollständige Erhebung, die insbesondere als Informationsbasis für regional bezogene Entscheidungen unentbehrlich ist, für die Dauer der aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage gegen die Aufforderung zur Auskunftserteilung ausgeschlossen. Das Ziel der Volkszählung wäre ohne § 5 Abs. 2 VZG 1983 gefährdet. Die besonderen Umstände der Volkszählung, die auf vollständige Angaben zu einem Stichtag angewiesen ist, rechtfertigen es, den Rechtsschutzanspruch des einzelnen Bürgers einstweilen zurückzustellen.

VI.

1. Da die Absätze 1 bis 3 des § 9 VZG 1983 mit dem Grundgesetz unvereinbar sind und die Beschwerdeführer in ihren Grundrechten aus Art 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art 1 Abs. 1 GG verletzen, sind diese Vorschriften gemäß § 95 Abs. 3 Satz 1 BVerfGG für nichtig zu erklären. Gründe, die es ausnahmsweise zulassen, von einer Nichtigerklärung abzusehen, liegen nicht vor.

2. Die Entscheidung über die Erstattung der Auslagen beruht auf § 34 Abs. 3 und 4 BVerfGG.

Da die Verfassungsbeschwerden Anlaß zur Gesamtüberprüfung des Gesetzes gegeben und zu wesentlichen Beanstandungen geführt haben, ist es gerechtfertigt, eine Auslagenerstattung auch insoweit anzuordnen, als die Verfassungsbeschwerden erfolglos geblieben sind.


Dr. Benda, Dr. Simon, Dr.Hesse, Dr. Katzenstein, Dr. Niemeyer, Dr. Heußner, Niedermaier, Dr. Henschel
MARS
 
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BKA-Gesetz Urteil vom 20. April 2016

Beitragvon MARS » Do 21. Apr 2016, 09:14

BKA-Gesetz Urteil vom 20. April 2016 - 1 BvR 966/09

Leitsätze

zum Urteil des Ersten Senats vom 20. April 2016

- 1 BvR 966/09 -
- 1 BvR 1140/09 -

1. a) Die Ermächtigung des Bundeskriminalamts zum Einsatz von heimlichen Überwachungsmaßnahmen (Wohnraumüberwachungen, Online-Durch-suchungen, Telekommunikationsüberwachungen, Telekommunikations-verkehrsdatenerhebungen und Überwachungen außerhalb von Wohnungen mit besonderen Mitteln der Datenerhebung) ist zur Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus im Grundsatz mit den Grundrechten des Grundgesetzes vereinbar.

b) Die Ausgestaltung solcher Befugnisse muss dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügen. Befugnisse, die tief in das Privatleben hineinreichen, müssen auf den Schutz oder die Bewehrung hinreichend gewichtiger Rechtsgüter begrenzt sein, setzen voraus, dass eine Gefährdung dieser Rechtsgüter hinreichend konkret absehbar ist, dürfen sich nur unter eingeschränkten Bedingungen auf nichtverantwortliche Dritte aus dem Umfeld der Zielperson erstrecken, verlangen überwiegend besondere Regelungen zum Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung sowie einen Schutz von Berufsgeheimnisträgern, unterliegen Anforderungen an Transparenz, individuellen Rechtsschutz und aufsichtliche Kontrolle und müssen mit Löschungspflichten bezüglich der erhobenen Daten flankiert sein.

2. Anforderungen an die Nutzung und Übermittlung staatlich erhobener Daten richten sich nach den Grundsätzen der Zweckbindung und Zweckänderung.

a) Die Reichweite der Zweckbindung richtet sich nach der jeweiligen Ermächtigung für die Datenerhebung; die Datenerhebung bezieht ihren Zweck zunächst aus dem jeweiligen Ermittlungsverfahren.

b) Der Gesetzgeber kann eine Datennutzung über das für die Datenerhebung maßgebende Verfahren hinaus im Rahmen der ursprünglichen Zwecke dieser Daten erlauben (weitere Nutzung). Dies setzt voraus, dass es sich um eine Verwendung der Daten durch dieselbe Behörde zur Wahrnehmung derselben Aufgabe und zum Schutz derselben Rechtsgüter handelt. Für Daten aus Wohnraumüberwachungen oder einem Zugriff auf informationstechnische Systeme müssen zusätzlich für jede weitere Nutzung auch die für die Datenerhebung maßgeblichen Anforderungen an die Gefahrenlage erfüllt sein.

c) Der Gesetzgeber kann darüber hinaus eine Nutzung der Daten auch zu anderen Zwecken als denen der ursprünglichen Datenerhebung erlauben (Zweckänderung).

Die Verhältnismäßigkeitsanforderungen für eine solche Zweckänderung orientieren sich am Grundsatz der hypothetischen Datenneuerhebung. Danach muss die neue Nutzung der Daten dem Schutz von Rechtsgütern oder der Aufdeckung von Straftaten eines solchen Gewichts dienen, die verfassungsrechtlich ihre Neuerhebung mit vergleichbar schwerwiegenden Mitteln rechtfertigen könnten. Eine konkretisierte Gefahrenlage wie bei der Datenerhebung ist demgegenüber grundsätzlich nicht erneut zu verlangen; erforderlich aber auch ausreichend ist in der Regel das Vorliegen eines konkreten Ermittlungsansatzes.

Für Daten aus Wohnraumüberwachungen und Online-Durchsuchungen darf die Verwendung zu einem geänderten Zweck allerdings nur erlaubt werden, wenn auch die für die Datenerhebung maßgeblichen Anforderungen an die Gefahrenlage erfüllt sind.

3. Die Übermittlung von Daten an staatliche Stellen im Ausland unterliegt den allgemeinen verfassungsrechtlichen Grundsätzen von Zweckänderung und Zweckbindung. Bei der Beurteilung der neuen Verwendung ist die Eigenständigkeit der anderen Rechtsordnung zu achten. Eine Übermittlung von Daten ins Ausland verlangt eine Vergewisserung darüber, dass ein hinreichend rechtsstaatlicher Umgang mit den Daten im Empfängerstaat zu erwarten ist.

Verkündet

am 20. April 2016

Sommer

Amtsinspektorin

als Urkundsbeamtin

der Geschäftsstelle

BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

- 1 BvR 966/09 -

- 1 BvR 1140/09 -

IM NAMEN DES VOLKES
In den Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerden


I.
1. des Herrn B…,


2.
des Herrn F…,


3.
des Herrn Sch…,


4.
des Herrn Prof. Dr. H…,


5.
des Herrn Dr. N…,


6.
des Herrn H…

- Bevollmächtigte:

1. Rechtsanwalt Dr. Dr. h.c. Burkhard Hirsch,
Rheinallee 120, 40545 Düsseldorf,

2. Rechtsanwalt Gerhart R. Baum
in Sozietät Rechtsanwälte Baum, Reiter & Collegen,
Benrather Schloßallee 101, 40597 Düsseldorf -

gegen


§ 14, § 20c Abs. 3, § 20g, § 20h, § 20k, § 20l, § 20u Abs. 1 und 2, § 20v und § 20w des Bundeskriminalamtgesetzes (BKAG) in der Fassung vom 31. Dezember 2008 (BGBl 2008, S. 3083 ff.)

- 1 BvR 966/09 -,


II.
1. des Herrn W…,


2.
des Herrn St…,


3.
des Herrn Dr. T…,


4.
der Frau R…,


5.
des Herrn N…,


6.
des Herrn T…,


7.
der Frau M…,


8.
der Frau K…,


9.
des Herrn B…

- Bevollmächtigter:

Rechtsanwalt Sönke Hilbrans
in Sozietät dka Rechtsanwälte Fachanwälte,
Immanuelkirchstraße 3-4, 10405 Berlin -

gegen


a)


§ 20g Abs. 1 und 2, § 20h Abs. 1, 2 und 5, § 20j Abs. 1, § 20k Abs. 1 und 7, § 20l Abs. 1 und 6, § 20m Abs. 1, § 20v Abs. 4 Satz 2 und Abs. 6 Satz 5, § 20w Abs. 2 Satz 1 und 2 BKAG,


b)


§ 20h Abs. 5 Satz 10, § 20k Abs. 7 Satz 8, § 20l Abs. 6 Satz 10 BKAG,


c)


§ 20u Abs. 1 und 2 BKAG in Verbindung mit § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und 3 StPO

- 1 BvR 1140/09 -

hat das Bundesverfassungsgericht - Erster Senat -

unter Mitwirkung der Richterinnen und Richter

Vizepräsident Kirchhof,

Gaier,

Eichberger,

Schluckebier,

Masing,

Paulus,

Baer,

Britz

aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 7. Juli 2015 durch
Urteil

für Recht erkannt:

§ 20h Absatz 1 Nummer 1 c des Bundeskriminalamtgesetzes in der Fassung des Gesetzes zur Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus durch das Bundeskriminalamt vom 25. Dezember 2008 (Bundesgesetzblatt I Seite 3083) und in der Fassung späterer Gesetze verstößt gegen Artikel 13 Absatz 1 des Grundgesetzes und ist nichtig.

§ 20v Absatz 6 Satz 5 Bundeskriminalamtgesetz verstößt gegen Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1, Artikel 10 Absatz 1, Artikel 13 Absatz 1, jeweils in Verbindung mit Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes, und ist nichtig.

§ 14 Absatz 1 (ohne Satz 1 Nummer 2), § 20g Absatz 1 bis 3, §§ 20h, 20j, 20k, 20l, § 20m Absatz 1, 3, § 20u Absatz 1, 2 und § 20v Absatz 4 Satz 2, Absatz 5 Satz 1 bis 4 (ohne Satz 3 Nummer 2), Absatz 6 Satz 3 des Bundeskriminalamtgesetzes sind nach Maßgabe der Urteilsgründe mit Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1, Artikel 10 Absatz 1, Artikel 13 Absatz 1 und 3 - auch in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 und Artikel 19 Absatz 4 Grundgesetz - nicht vereinbar.

Bis zu einer Neuregelung, längstens jedoch bis zum 30. Juni 2018 gelten die für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärten Vorschriften mit der Maßgabe fort, dass Maßnahmen gemäß § 20g Absatz 2 Nummern 1, 2 b, 4 und 5 Bundeskriminalamtgesetz nur durch ein Gericht angeordnet werden dürfen; bei Gefahr im Verzug gilt § 20g Absatz 3 Satz 2 bis 4 Bundeskriminalamtgesetz entsprechend.

Maßnahmen gemäß § 20g Absatz 1 Satz 1 Nummer 2, § 20l Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 und § 20m Absatz 1 Nummer 2 Bundeskriminalamtgesetz dürfen nur angeordnet werden, wenn die Voraussetzungen des § 20k Absatz 1 Satz 2 Bundeskriminalamtgesetz in der in den Urteilsgründen dargelegten verfassungskonformen Auslegung vorliegen.

Eine weitere Verwendung von Daten gemäß § 20v Absatz 4 Satz 2 Bundeskriminalamtgesetz oder eine Übermittlung von Daten gemäß § 20v Absatz 5 und § 14 Absatz 1 Bundeskriminalamtgesetz betreffend Daten aus Wohnraumüberwachungen (§ 20h Bundeskriminalamtgesetz) ist nur bei Vorliegen einer dringenden Gefahr und betreffend Daten aus Online-Durchsuchungen (§ 20k Bundeskriminalamtgesetz) nur bei Vorliegen einer im Einzelfall drohenden Gefahr für die jeweils maßgeblichen Rechtsgüter zulässig.

Die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zu 4. in dem Verfahren 1 BvR 966/09 hat sich durch seinen Tod erledigt.

Im Übrigen werden die Verfassungsbeschwerden zurückgewiesen.

Die Bundesrepublik Deutschland hat den Beschwerdeführern ihre notwendigen Auslagen aus dem Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.

G r ü n d e:
A.
I.

1

Die Verfassungsbeschwerden richten sich gegen Regelungen des Bundeskriminalamtgesetzes (im Folgenden: BKAG), die als Unterabschnitt 3a durch das Gesetz zur Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus durch das Bundeskriminalamt vom 25. Dezember 2008 (BGBl I S. 3083) mit Wirkung zum 1. Januar 2009 eingefügt wurden. Der Bundesgesetzgeber hat so auf der Grundlage des hierfür im Jahre 2006 neu geschaffenen Art. 73 Abs. 1 Nr. 9a GG (BGBl I S. 2034) dem Bundeskriminalamt über die bisherigen Aufgaben der Strafverfolgung hinaus die bis dahin allein den Ländern vorbehaltene Aufgabe der Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus übertragen. Gegenstand der Verfassungsbeschwerden ist daneben eine bereits zuvor bestehende Regelung des Bundeskriminalamtgesetzes zur Übermittlung von Daten ins Ausland, die durch die Aufgabenerweiterung ein weiteres Anwendungsfeld erhält.
II.

2

Die Verfassungsbeschwerden wenden sich zum einen gegen die Einräumung verschiedener Ermittlungsbefugnisse. Angegriffen ist die Ermächtigung zur Befragung von Personen gemäß § 20c BKAG sowie zum Einsatz von besonderen Mitteln der Datenerhebung außerhalb von Wohnungen gemäß § 20g Abs. 1 bis 3 BKAG, wozu insbesondere das geheime Abhören und Aufzeichnen des nichtöffentlich gesprochenen Wortes, die Erstellung von Bildaufnahmen, die Anbringung von Peilsendern und der Einsatz von Vertrauenspersonen und Verdeckten Ermittlern gehören. Weiter richten sich die Verfassungsbeschwerden gegen die Befugnis zur Durchführung optischer und akustischer Wohnraumüberwachungen gemäß § 20h BKAG, zur Rasterfahndung gemäß § 20j BKAG, zu Zugriffen auf informationstechnische Systeme gemäß § 20k BKAG, zur Überwachung der laufenden Telekommunikation gemäß § 20l BKAG sowie zur Erhebung von Telekommunikationsverkehrsdaten gemäß § 20m Abs. 1, 3 BKAG. Angegriffen sind insoweit auch § 20u BKAG, der den Schutz zeugnisverweigerungsberechtigter Personen regelt, sowie § 20w BKAG, der die Pflicht zur Benachrichtigung der betroffenen Personen nach Abschluss der Überwachungsmaßnahme anordnet.

3

Zum anderen wenden sich die Verfassungsbeschwerden gegen Regelungen zur Datennutzung. Dies betrifft zunächst die Regelung zur Nutzung der nach dem Unterabschnitt 3a des Gesetzes erhobenen Daten gemäß § 20v Abs. 4 Satz 2 BKAG durch die Behörde selbst. Zur Prüfung gestellt sind des Weiteren die Befugnisse gemäß § 20v Abs. 5 BKAG - mit Ausnahme des Satzes 3 Nr. 2 - zur Übermittlung dieser Daten an andere öffentliche Stellen im Inland. Schließlich richten sich die Angriffe auch gegen § 14 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 3 und Satz 2, Abs. 7 BKAG, der allgemein die Übermittlung von Daten an ausländische Stellen erlaubt. Nicht Gegenstand des Verfahrens ist demgegenüber § 14a BKAG, der daneben eine spezielle Befugnis zur Übermittlung personenbezogener Daten an Mitgliedstaaten der Europäischen Union begründet.

4

Die für das Verfahren maßgeblichen Normen lauten:

§ 4a Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus

(1) Das Bundeskriminalamt kann die Aufgabe der Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus in Fällen wahrnehmen, in denen

1. eine länderübergreifende Gefahr vorliegt,

2. die Zuständigkeit einer Landespolizeibehörde nicht erkennbar ist oder

3. die oberste Landesbehörde um eine Übernahme ersucht.

Es kann in diesen Fällen auch Straftaten verhüten, die in § 129a Abs. 1 und 2 des Strafgesetzbuchs bezeichnet und dazu bestimmt sind, die Bevölkerung auf erhebliche Weise einzuschüchtern, eine Behörde oder eine internationale Organisation rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit Gewalt zu nötigen oder die politischen, verfassungsrechtlichen, wirtschaftlichen oder sozialen Grundstrukturen eines Staates oder einer internationalen Organisation zu beseitigen oder erheblich zu beeinträchtigen, und durch die Art ihrer Begehung oder ihre Auswirkungen einen Staat oder eine internationale Organisation erheblich schädigen können.

(2) Die Befugnisse der Länder und anderer Polizeibehörden des Bundes bleiben unberührt. Die zuständigen obersten Landesbehörden und, soweit zuständig, anderen Polizeibehörden des Bundes sind unverzüglich zu benachrichtigen, wenn das Bundeskriminalamt die Aufgabe nach Absatz 1 wahrnimmt. Die Aufgabenwahrnehmung erfolgt in gegenseitigem Benehmen. Stellt das Bundeskriminalamt bei der Aufgabenwahrnehmung nach Absatz 1 Satz 1 Nr. 2 die Zuständigkeit einer Landespolizeibehörde fest, so gibt es diese Aufgabe an diese Polizeibehörde ab, wenn nicht ein Fall des Absatzes 1 Satz 1 Nr. 1 oder 3 vorliegt.

Unterabschnitt 2

§ 14 Befugnisse bei der Zusammenarbeit im internationalen Bereich

(1) Das Bundeskriminalamt kann an Polizei- und Justizbehörden sowie an sonstige für die Verhütung oder Verfolgung von Straftaten zuständige öffentliche Stellen anderer Staaten sowie zwischen- und überstaatliche Stellen, die mit Aufgaben der Verhütung oder Verfolgung von Straftaten befaßt sind, personenbezogene Daten übermitteln, soweit dies erforderlich ist

1. zur Erfüllung einer ihm obliegenden Aufgabe,

2. zur Verfolgung von Straftaten und zur Strafvollstreckung nach Maßgabe der Vorschriften über die internationale Rechtshilfe in strafrechtlichen Angelegenheiten oder der Vorschriften über die Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof oder

3. zur Abwehr einer im Einzelfall bestehenden erheblichen Gefahr für die öffentliche Sicherheit.

Gleiches gilt, wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen, daß Straftaten von erheblicher Bedeutung begangen werden sollen.

(2) bis (6) …

(7) Die Verantwortung für die Zulässigkeit der Übermittlung trägt das Bundeskriminalamt. § 10 Abs. 4 Satz 2 gilt entsprechend. Das Bundeskriminalamt hat die Übermittlung und ihren Anlaß aufzuzeichnen. Der Empfänger personenbezogener Daten ist darauf hinzuweisen, daß sie nur zu dem Zweck genutzt werden dürfen, zu dem sie übermittelt worden sind. Ferner ist ihm der beim Bundeskriminalamt vorgesehene Löschungszeitpunkt mitzuteilen. Die Übermittlung personenbezogener Daten unterbleibt, soweit Grund zu der Annahme besteht, daß durch sie gegen den Zweck eines deutschen Gesetzes verstoßen würde. Die Übermittlung unterbleibt außerdem, soweit, auch unter Berücksichtigung des besonderen öffentlichen Interesses an der Datenübermittlung, im Einzelfall schutzwürdige Interessen der betroffenen Person an dem Ausschluss der Übermittlung überwiegen. Zu den schutzwürdigen Interessen der betroffenen Person gehört auch das Vorhandensein eines angemessenen Datenschutzniveaus im Empfängerstaat. Die schutzwürdigen Interessen der betroffenen Person können auch dadurch gewahrt werden, dass der Empfängerstaat oder die empfangende zwischen- oder überstaatliche Stelle im Einzelfall einen angemessenen Schutz der übermittelten Daten garantiert.

Unterabschnitt 3a Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus

§ 20a Allgemeine Befugnisse

(1) Das Bundeskriminalamt kann zur Erfüllung seiner Aufgabe nach § 4a Abs. 1 Satz 1 die notwendigen Maßnahmen treffen, um eine Gefahr abzuwehren, soweit nicht dieses Gesetz die Befugnisse des Bundeskriminalamtes besonders regelt. Die §§ 15 bis 20 des Bundespolizeigesetzes gelten entsprechend.

(2) Gefahr im Sinne dieses Unterabschnitts ist eine im Einzelfall bestehende Gefahr für die öffentliche Sicherheit im Zusammenhang mit Straftaten gemäß § 4a Abs. 1 Satz 2.

§ 20b Erhebung personenbezogener Daten

(1) Das Bundeskriminalamt kann, sofern in diesem Unterabschnitt nichts anderes bestimmt ist, personenbezogene Daten erheben, soweit dies zur Erfüllung der ihm nach § 4a Abs. 1 obliegenden Aufgabe erforderlich ist.

(2) Zur Verhütung von Straftaten gemäß § 4a Abs. 1 Satz 2 ist eine Erhebung personenbezogener Daten nur zulässig, soweit Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass

1. die Person eine Straftat gemäß § 4a Abs. 1 Satz 2 begehen will und die erhobenen Daten zur Verhütung dieser Straftat erforderlich sind oder

2. die Person mit einer Person nach Nummer 1 nicht nur flüchtig oder in zufälligem Kontakt in Verbindung steht und

a) von der Vorbereitung einer Straftat gemäß § 4a Abs. 1 Satz 2 Kenntnis hat,

b) aus der Verwertung der Tat Vorteile ziehen oder

c) die Person nach Nummer 1 sich ihrer zur Begehung der Straftat bedienen könnte (Kontakt- und Begleitperson) und die Verhütung dieser Straftaten auf andere Weise aussichtslos oder wesentlich erschwert wäre.

(3) bis (8) …

§ 20c Befragung und Auskunftspflicht

(1) Das Bundeskriminalamt kann eine Person befragen, wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass die Person sachdienliche Angaben für die Erfüllung der dem Bundeskriminalamt nach § 4a Abs. 1 Satz 1 obliegenden Aufgabe machen kann. Zum Zwecke der Befragung kann die Person angehalten werden. Auf Verlangen hat die Person mitgeführte Ausweispapiere zur Prüfung auszuhändigen.

(2) Die befragte Person ist verpflichtet, Namen, Vornamen, Tag und Ort der Geburt, Wohnanschrift und Staatsangehörigkeit anzugeben, soweit dies zur Erfüllung der dem Bundeskriminalamt nach § 4a Abs. 1 Satz 1 obliegenden Aufgabe erforderlich ist. Eine weitergehende Auskunftspflicht besteht nur für die entsprechend den §§ 17 und 18 des Bundespolizeigesetzes Verantwortlichen und entsprechend den Voraussetzungen des § 20 Abs. 1 des Bundespolizeigesetzes für die dort bezeichneten Personen sowie für die Personen, für die gesetzliche Handlungspflichten bestehen, soweit die Auskunft zur Abwehr einer Gefahr erforderlich ist.

(3) Unter den in den §§ 52 bis 55 der Strafprozessordnung bezeichneten Voraussetzungen ist der Betroffene zur Verweigerung der Auskunft berechtigt. Dies gilt nicht, soweit die Auskunft zur Abwehr einer Gefahr für den Bestand oder die Sicherheit des Staates oder Leib, Leben oder Freiheit einer Person erforderlich ist. Eine in § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 2 oder 4 der Strafprozessordnung genannte Person ist auch in den Fällen des Satzes 2 zur Verweigerung der Auskunft berechtigt. Die betroffene Person ist über ihr Recht zur Verweigerung der Auskunft zu belehren. Auskünfte, die gemäß Satz 2 erlangt wurden, dürfen nur für den dort bezeichneten Zweck verwendet werden.

(4) § 136a der Strafprozessordnung gilt entsprechend. § 12 des Verwaltungsvollstreckungsgesetzes findet keine Anwendung.

§ 20g Besondere Mittel der Datenerhebung

(1) Das Bundeskriminalamt kann personenbezogene Daten mit den besonderen Mitteln nach Absatz 2 erheben über

1. den entsprechend § 17 oder § 18 des Bundespolizeigesetzes Verantwortlichen oder entsprechend den Voraussetzungen des § 20 Abs. 1 des Bundespolizeigesetzes über die dort bezeichnete Person zur Abwehr einer Gefahr für den Bestand oder die Sicherheit des Staates oder für Leib, Leben oder Freiheit einer Person oder Sachen von bedeutendem Wert, deren Erhaltung im öffentlichen Interesse geboten ist,

2. die Person, bei der Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sie Straftaten gemäß § 4a Abs. 1 Satz 2 begehen wird, oder

3. eine Kontakt- oder Begleitperson,

wenn die Abwehr der Gefahr oder die Verhütung der Straftaten auf andere Weise aussichtslos ist oder wesentlich erschwert wäre. Die Maßnahme kann auch durchgeführt werden, wenn Dritte unvermeidbar betroffen werden.

(2) Besondere Mittel der Datenerhebung sind

1. die planmäßig angelegte Beobachtung einer Person, die durchgehend länger als 24 Stunden dauern oder an mehr als zwei Tagen stattfinden soll (längerfristige Observation),

2. der Einsatz technischer Mittel außerhalb von Wohnungen in einer für den Betroffenen nicht erkennbaren Weise

a) zur Anfertigung von Bildaufnahmen oder -aufzeichnungen von Personen oder Sachen, die sich außerhalb von Wohnungen befinden, oder

b) zum Abhören oder Aufzeichnen des außerhalb von Wohnungen nicht öffentlich gesprochenen Wortes,

3. sonstige besondere für Observationszwecke bestimmte technische Mittel zur Erforschung des Sachverhalts oder zur Bestimmung des Aufenthaltsortes einer in Absatz 1 genannten Person,

4. der Einsatz von Privatpersonen, deren Zusammenarbeit mit dem Bundeskriminalamt Dritten nicht bekannt ist (Vertrauensperson), und

5. der Einsatz eines Polizeivollzugsbeamten unter einer ihm verliehenen und auf Dauer angelegten Legende (Verdeckter Ermittler).

(3) Maßnahmen nach Absatz 2 Nr. 5, die sich gegen eine bestimmte Person richten oder bei denen der Verdeckte Ermittler eine Wohnung betritt, die nicht allgemein zugänglich ist, dürfen nur auf Antrag der zuständigen Abteilungsleitung oder deren Vertretung durch das Gericht angeordnet werden. Bei Gefahr im Verzuge kann die Anordnung einer Maßnahme nach Satz 1 durch die Abteilungsleitung nach Satz 1 oder deren Vertretung getroffen werden. In diesem Fall ist die gerichtliche Entscheidung unverzüglich nachzuholen. Soweit die Anordnung nach Satz 2 nicht binnen drei Tagen durch das Gericht bestätigt wird, tritt sie außer Kraft. Die übrigen Maßnahmen nach Absatz 2 Nr. 1 bis 5 dürfen, außer bei Gefahr im Verzuge, nur durch die Abteilungsleitung nach Satz 1 oder deren Vertretung angeordnet werden. Die Anordnung ist unter Angabe der maßgeblichen Gründe aktenkundig zu machen und auf höchstens einen Monat zu befristen; im Fall des Absatzes 2 Nr. 4 und 5 ist die Maßnahme auf höchstens zwei Monate zu befristen. Die Verlängerung der Maßnahme bedarf einer neuen Anordnung. Die Entscheidung über die Verlängerung der Maßnahme darf in den Fällen des Absatzes 2 Nr. 1, 2 Buchstabe b, Nr. 4 und 5 nur durch das Gericht getroffen werden. Die Sätze 4 und 5 gelten entsprechend.

(4) …

§ 20h Besondere Bestimmungen über den Einsatz technischer Mittel in oder aus Wohnungen

(1) Das Bundeskriminalamt kann zur Abwehr einer dringenden Gefahr für den Bestand oder die Sicherheit des Staates oder für Leib, Leben oder Freiheit einer Person oder Sachen von bedeutendem Wert, deren Erhaltung im öffentlichen Interesse geboten ist, durch den verdeckten Einsatz technischer Mittel in oder aus Wohnungen

1. das nichtöffentlich gesprochene Wort einer Person abhören und aufzeichnen,

a) die entsprechend § 17 oder § 18 des Bundespolizeigesetzes verantwortlich ist,

b) bei der konkrete Vorbereitungshandlungen für sich oder zusammen mit weiteren bestimmten Tatsachen die begründete Annahme rechtfertigen, dass sie Straftaten gemäß § 4a Abs. 1 Satz 2 begehen wird, oder

c) die eine Kontakt- und Begleitperson einer Person nach Buchstabe a oder b ist, und

2. Lichtbilder und Bildaufzeichnungen über diese Person herstellen,

wenn die Abwehr der Gefahr auf andere Weise aussichtslos oder wesentlich erschwert wäre.

(2) Die Maßnahme darf sich nur gegen die in Absatz 1 genannte Person richten und nur in deren Wohnung durchgeführt werden. In Wohnungen anderer Personen ist die Maßnahme nur zulässig, wenn auf Grund bestimmter Tatsachen anzunehmen ist, dass

1. sich eine in Absatz 1 Nr. 1 Buchstabe a oder b genannte Person dort aufhält und

2. die Maßnahme in der Wohnung dieser Person allein nicht zur Abwehr der Gefahr nach Absatz 1 führen wird.

Die Maßnahme darf auch durchgeführt werden, wenn andere Personen unvermeidbar betroffen werden.

(3) Maßnahmen nach Absatz 1 dürfen nur auf Antrag des Präsidenten des Bundeskriminalamtes oder seines Vertreters durch das Gericht angeordnet werden. Bei Gefahr im Verzuge kann die Anordnung auch durch den Präsidenten des Bundeskriminalamtes oder seinen Vertreter getroffen werden. In diesem Fall ist die gerichtliche Entscheidung unverzüglich nachzuholen. Soweit die Anordnung des Präsidenten des Bundeskriminalamtes oder seines Vertreters nicht binnen drei Tagen durch das Gericht bestätigt wird, tritt sie außer Kraft.

(4) Die Anordnung ergeht schriftlich. In ihr sind anzugeben

1. der Name und die Anschrift der Person, gegen die sich die Maßnahme richtet, soweit möglich,

2. die zu überwachende Wohnung oder die zu überwachenden Wohnräume,

3. Art, Umfang und Dauer der Maßnahme und

4. die wesentlichen Gründe.

Die Anordnung ist auf höchstens einen Monat zu befristen. Eine Verlängerung um jeweils nicht mehr als einen Monat ist zulässig, soweit die in den Absätzen 1 und 5 bezeichneten Voraussetzungen unter Berücksichtigung der gewonnenen Erkenntnisse fortbestehen. Liegen die Voraussetzungen der Anordnung nicht mehr vor, so sind die auf Grund der Anordnung ergriffenen Maßnahmen unverzüglich zu beenden.

(5) Die Maßnahme nach Absatz 1 darf nur angeordnet und durchgeführt werden, soweit auf Grund tatsächlicher Anhaltspunkte, insbesondere zu der Art der zu überwachenden Räumlichkeiten und dem Verhältnis der zu überwachenden Personen zueinander, anzunehmen ist, dass durch die Überwachung Äußerungen, die dem Kernbereich privater Lebensgestaltung zuzurechnen sind, nicht erfasst werden. Das Abhören und Beobachten nach Satz 1 ist unverzüglich zu unterbrechen, soweit sich während der Überwachung tatsächliche Anhaltspunkte dafür ergeben, dass Inhalte, die dem Kernbereich privater Lebensgestaltung zuzurechnen sind, erfasst werden. Bestehen insoweit Zweifel, darf nur eine automatische Aufzeichnung fortgesetzt werden. Automatische Aufzeichnungen nach Satz 3 sind unverzüglich dem anordnenden Gericht zur Entscheidung über die Verwertbarkeit oder Löschung der Daten vorzulegen. Sind das Abhören und Beobachten nach Satz 2 unterbrochen worden, so darf es unter den in Satz 1 genannten Voraussetzungen fortgeführt werden. Erkenntnisse aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung, die durch eine Maßnahme nach Absatz 1 erlangt worden sind, dürfen nicht verwertet werden. Aufzeichnungen hierüber sind unverzüglich zu löschen. Die Tatsachen der Erfassung der Daten und der Löschung sind zu dokumentieren. Die Dokumentation darf ausschließlich für Zwecke der Datenschutzkontrolle verwendet werden. Sie ist zu löschen, wenn sie für diese Zwecke nicht mehr erforderlich ist, spätestens jedoch am Ende des Kalenderjahres, das dem Jahr der Dokumentation folgt.

§ 20j Rasterfahndung

(1) Das Bundeskriminalamt kann von öffentlichen oder nichtöffentlichen Stellen die Übermittlung von personenbezogenen Daten von bestimmten Personengruppen aus Dateien zum Zwecke des automatisierten Abgleichs mit anderen Datenbeständen verlangen, soweit dies zur Abwehr einer Gefahr für den Bestand oder die Sicherheit des Staates oder für Leib, Leben oder Freiheit einer Person oder Sachen von bedeutendem Wert, deren Erhalt im öffentlichen Interesse geboten ist, erforderlich ist; eine solche Gefahr liegt in der Regel auch dann vor, wenn konkrete Vorbereitungshandlungen die Annahme rechtfertigen, dass eine Straftat nach § 4a Abs. 1 Satz 2 begangen werden soll. Von den Verfassungsschutzämtern des Bundes und der Länder, dem Militärischen Abschirmdienst sowie dem Bundesnachrichtendienst kann die Übermittlung nach Satz 1 nicht verlangt werden.

(2) Das Übermittlungsersuchen ist auf Namen, Anschrift, Tag und Ort der Geburt sowie auf andere im Einzelfall festzulegende Merkmale zu beschränken; es darf sich nicht auf personenbezogene Daten erstrecken, die einem Berufs- oder besonderen Amtsgeheimnis unterliegen. Von Übermittlungsersuchen nicht erfasste personenbezogene Daten dürfen übermittelt werden, wenn wegen erheblicher technischer Schwierigkeiten oder wegen eines unangemessenen Zeit- oder Kostenaufwands eine Beschränkung auf die angeforderten Daten nicht möglich ist; diese Daten dürfen vom Bundeskriminalamt nicht verwendet werden.

(3) Ist der Zweck der Maßnahme erreicht oder zeigt sich, dass er nicht erreicht werden kann, sind die übermittelten und im Zusammenhang mit der Maßnahme zusätzlich angefallenen Daten zu löschen und die Akten zu vernichten, soweit sie nicht für ein mit dem Sachverhalt zusammenhängendes Verfahren erforderlich sind. Die getroffene Maßnahme ist zu dokumentieren. Diese Dokumentation ist gesondert aufzubewahren, durch technische und organisatorische Maßnahmen zu sichern und am Ende des Kalenderjahres, das dem Jahr der Löschung der Daten oder der Vernichtung der Akten nach Satz 1 folgt, zu vernichten.

(4) Die Maßnahme darf nur auf Antrag des Präsidenten des Bundeskriminalamtes oder seines Vertreters durch das Gericht angeordnet werden.

§ 20k Verdeckter Eingriff in informationstechnische Systeme

(1) Das Bundeskriminalamt darf ohne Wissen des Betroffenen mit technischen Mitteln in vom Betroffenen genutzte informationstechnische Systeme eingreifen und aus ihnen Daten erheben, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass eine Gefahr vorliegt für

1. Leib, Leben oder Freiheit einer Person oder

2. solche Güter der Allgemeinheit, deren Bedrohung die Grundlagen oder den Bestand des Staates oder die Grundlagen der Existenz der Menschen berührt.

Eine Maßnahme nach Satz 1 ist auch zulässig, wenn sich noch nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit feststellen lässt, dass ohne Durchführung der Maßnahme in näherer Zukunft ein Schaden eintritt, sofern bestimmte Tatsachen auf eine im Einzelfall durch bestimmte Personen drohende Gefahr für eines der in Satz 1 genannten Rechtsgüter hinweisen. Die Maßnahme darf nur durchgeführt werden, wenn sie für die Aufgabenerfüllung nach § 4a erforderlich ist und diese ansonsten aussichtslos oder wesentlich erschwert wäre.

(2) Es ist technisch sicherzustellen, dass

1. an dem informationstechnischen System nur Veränderungen vorgenommen werden, die für die Datenerhebung unerlässlich sind, und

2. die vorgenommenen Veränderungen bei Beendigung der Maßnahme soweit technisch möglich automatisiert rückgängig gemacht werden.

Das eingesetzte Mittel ist nach dem Stand der Technik gegen unbefugte Nutzung zu schützen. Kopierte Daten sind nach dem Stand der Technik gegen Veränderung, unbefugte Löschung und unbefugte Kenntnisnahme zu schützen.

(3) Bei jedem Einsatz des technischen Mittels sind zu protokollieren

1. die Bezeichnung des technischen Mittels und der Zeitpunkt seines Einsatzes,

2. die Angaben zur Identifizierung des informationstechnischen Systems und die daran vorgenommenen nicht nur flüchtigen Veränderungen,

3. die Angaben, die die Feststellung der erhobenen Daten ermöglichen, und

4. die Organisationseinheit, die die Maßnahme durchführt.

Die Protokolldaten dürfen nur verwendet werden, um dem Betroffenen oder einer dazu befugten öffentlichen Stelle die Prüfung zu ermöglichen, ob die Maßnahme nach Absatz 1 rechtmäßig durchgeführt worden ist. Sie sind bis zum Ablauf des auf die Speicherung folgenden Kalenderjahres aufzubewahren und sodann automatisiert zu löschen, es sei denn, dass sie für den in Satz 2 genannten Zweck noch erforderlich sind.

(4) Die Maßnahme darf sich nur gegen eine Person richten, die entsprechend § 17 oder § 18 des Bundespolizeigesetzes verantwortlich ist. Die Maßnahme darf auch durchgeführt werden, wenn andere Personen unvermeidbar betroffen werden.

(5) Die Maßnahme nach Absatz 1 darf nur auf Antrag des Präsidenten des Bundeskriminalamtes oder seines Vertreters durch das Gericht angeordnet werden.

(6) Die Anordnung ergeht schriftlich. In ihr sind anzugeben

1. die Person, gegen die sich die Maßnahme richtet, soweit möglich, mit Name und Anschrift,

2. eine möglichst genaue Bezeichnung des informationstechnischen Systems, in das zur Datenerhebung eingegriffen werden soll,

3. Art, Umfang und Dauer der Maßnahme unter Benennung des Endzeitpunktes sowie

4. die wesentlichen Gründe.

Die Anordnung ist auf höchstens drei Monate zu befristen. Eine Verlängerung um jeweils nicht mehr als drei weitere Monate ist zulässig, soweit die Anordnungsvoraussetzungen unter Berücksichtigung der gewonnenen Erkenntnisse fortbestehen. Liegen die Voraussetzungen der Anordnung nicht mehr vor, sind die auf Grund der Anordnung ergriffenen Maßnahmen unverzüglich zu beenden.

(7) Liegen tatsächliche Anhaltspunkte für die Annahme vor, dass durch die Maßnahme allein Erkenntnisse aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung erlangt würden, ist die Maßnahme unzulässig. Soweit möglich, ist technisch sicherzustellen, dass Daten, die den Kernbereich privater Lebensgestaltung betreffen, nicht erhoben werden. Erhobene Daten sind unter der Sachleitung des anordnenden Gerichts nach Absatz 5 unverzüglich vom Datenschutzbeauftragten des Bundeskriminalamtes und zwei weiteren Bediensteten des Bundeskriminalamtes, von denen einer die Befähigung zum Richteramt hat, auf kernbereichsrelevante Inhalte durchzusehen. Der Datenschutzbeauftragte ist bei Ausübung dieser Tätigkeit weisungsfrei und darf deswegen nicht benachteiligt werden (§ 4f Abs. 3 des Bundesdatenschutzgesetzes). Daten, die den Kernbereich privater Lebensgestaltung betreffen, dürfen nicht verwertet werden und sind unverzüglich zu löschen. Die Tatsachen der Erfassung der Daten und der Löschung sind zu dokumentieren. Die Dokumentation darf ausschließlich für Zwecke der Datenschutzkontrolle verwendet werden. Sie ist zu löschen, wenn sie für diese Zwecke nicht mehr erforderlich ist, spätestens jedoch am Ende des Kalenderjahres, das dem Jahr der Dokumentation folgt.

§ 20l Überwachung der Telekommunikation

(1) Das Bundeskriminalamt kann ohne Wissen des Betroffenen die Telekommunikation einer Person überwachen und aufzeichnen,

1. die entsprechend § 17 oder § 18 des Bundespolizeigesetzes verantwortlich ist, und dies zur Abwehr einer dringenden Gefahr für den Bestand oder die Sicherheit des Staates oder für Leib, Leben oder Freiheit einer Person oder Sachen von bedeutendem Wert, deren Erhaltung im öffentlichen Interesse liegt, geboten ist,

2. bei der bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sie Straftaten gemäß § 4a Abs. 1 Satz 2 vorbereitet,

3. bei der bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sie für eine Person nach Nummer 1 bestimmte oder von dieser herrührende Mitteilungen entgegennimmt oder weitergibt, oder

4. bei der bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass eine Person nach Nummer 1 deren Telekommunikationsanschluss oder Endgerät benutzen wird,

und die Abwehr der Gefahr oder Verhütung der Straftaten auf andere Weise aussichtslos oder wesentlich erschwert wäre. Die Maßnahme darf auch durchgeführt werden, wenn andere Personen unvermeidbar betroffen werden.

(2) Die Überwachung und Aufzeichnung der Telekommunikation darf ohne Wissen des Betroffenen in der Weise erfolgen, dass mit technischen Mitteln in vom Betroffenen genutzte informationstechnische Systeme eingegriffen wird, wenn

1. durch technische Maßnahmen sichergestellt ist, dass ausschließlich laufende Telekommunikation überwacht und aufgezeichnet wird, und

2. der Eingriff in das informationstechnische System notwendig ist, um die Überwachung und Aufzeichnung der Telekommunikation insbesondere auch in unverschlüsselter Form zu ermöglichen.

§ 20k Abs. 2 und 3 gilt entsprechend. § 20k bleibt im Übrigen unberührt.

(3) Maßnahmen nach den Absätzen 1 und 2 dürfen nur auf Antrag des Präsidenten des Bundeskriminalamtes oder seines Vertreters durch das Gericht angeordnet werden. Bei Gefahr im Verzuge kann die Anordnung durch den Präsidenten des Bundeskriminalamtes oder seinen Vertreter getroffen werden. In diesem Fall ist die gerichtliche Entscheidung unverzüglich nachzuholen. Soweit diese Anordnung nicht binnen drei Tagen durch das Gericht bestätigt wird, tritt sie außer Kraft.

(4) Die Anordnung ergeht schriftlich. In ihr sind anzugeben

1. die Person, gegen die sich die Maßnahme richtet, soweit möglich, mit Name und Anschrift,

2. die Rufnummer oder eine andere Kennung des zu überwachenden Anschlusses oder des Endgeräts, sofern sich nicht aus bestimmten Tatsachen ergibt, dass diese zugleich einem anderen Endgerät zugeordnet ist,

3. Art, Umfang und Dauer der Maßnahme unter Benennung des Endzeitpunktes und

4. im Fall des Absatzes 2 auch eine möglichst genaue Bezeichnung des informationstechnischen Systems, in das zur Datenerhebung eingegriffen werden soll.

Die Anordnung ist auf höchstens drei Monate zu befristen. Eine Verlängerung um jeweils nicht mehr als drei weitere Monate ist zulässig, soweit die Voraussetzungen der Anordnung unter Berücksichtigung der gewonnenen Erkenntnisse fortbestehen. Liegen die Voraussetzungen der Anordnung nicht mehr vor, sind die auf Grund der Anordnung ergriffenen Maßnahmen unverzüglich zu beenden.

(5) Auf Grund der Anordnung hat jeder, der Telekommunikationsdienste erbringt oder daran mitwirkt (Diensteanbieter), dem Bundeskriminalamt die Maßnahmen nach Absatz 1 zu ermöglichen und die erforderlichen Auskünfte unverzüglich zu erteilen. Ob und in welchem Umfang hierfür Vorkehrungen zu treffen sind, bestimmt sich nach dem Telekommunikationsgesetz und der Telekommunikations-Überwachungsverordnung. Für die Entschädigung der Diensteanbieter ist § 23 des Justizvergütungs- und -entschädigungsgesetzes entsprechend anzuwenden.

(6) Liegen tatsächliche Anhaltspunkte für die Annahme vor, dass durch eine Maßnahme nach den Absätzen 1 und 2 allein Erkenntnisse aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung erlangt würden, ist die Maßnahme unzulässig. Soweit im Rahmen von Maßnahmen nach den Absätzen 1 und 2 neben einer automatischen Aufzeichnung eine unmittelbare Kenntnisnahme erfolgt, ist die Maßnahme unverzüglich zu unterbrechen, soweit sich während der Überwachung tatsächliche Anhaltspunkte dafür ergeben, dass Inhalte, die dem Kernbereich privater Lebensgestaltung zuzurechnen sind, erfasst werden. Bestehen insoweit Zweifel, darf nur eine automatische Aufzeichnung fortgesetzt werden. Automatische Aufzeichnungen nach Satz 3 sind unverzüglich dem anordnenden Gericht zur Entscheidung über die Verwertbarkeit oder Löschung der Daten vorzulegen. Ist die Maßnahme nach Satz 2 unterbrochen worden, so darf sie für den Fall, dass sie nicht nach Satz 1 unzulässig ist, fortgeführt werden. Erkenntnisse aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung, die durch eine Maßnahme nach den Absätzen 1 und 2 erlangt worden sind, dürfen nicht verwertet werden. Aufzeichnungen hierüber sind unverzüglich zu löschen. Die Tatsachen der Erfassung der Daten und der Löschung sind zu dokumentieren. Die Dokumentation darf ausschließlich für Zwecke der Datenschutzkontrolle verwendet werden. Sie ist zu löschen, wenn sie für diese Zwecke nicht mehr erforderlich ist, spätestens jedoch am Ende des Kalenderjahres, das dem Jahr der Dokumentation folgt.

§ 20m Erhebung von Telekommunikationsverkehrsdaten und Nutzungsdaten

(1) Das Bundeskriminalamt kann ohne Wissen des Betroffenen Verkehrsdaten (§ 96 Abs. 1 und § 113a des Telekommunikationsgesetzes) erheben zu

1. den entsprechend § 17 oder § 18 des Bundespolizeigesetzes Verantwortlichen zur Abwehr einer dringenden Gefahr für den Bestand oder die Sicherheit des Staates oder für Leib, Leben oder Freiheit einer Person oder Sachen von bedeutendem Wert, deren Erhaltung im öffentlichen Interesse geboten ist,

2. der Person, bei der bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sie Straftaten gemäß § 4a Abs. 1 Satz 2 vorbereitet,

3. der Person, bei der bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sie für eine Person nach Nummer 1 bestimmte oder von dieser herrührende Mitteilungen entgegennimmt oder weitergibt, oder

4. der Person, bei der bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass eine Person nach Nummer 1 deren Telekommunikationsanschluss oder Endgerät benutzen wird,

wenn die Abwehr der Gefahr oder Verhütung der Straftaten auf andere Weise aussichtslos oder wesentlich erschwert wäre.

(2) …

(3) § 20l Abs. 3 bis 5 gilt entsprechend mit der Maßgabe, dass an die Stelle des Präsidenten des Bundeskriminalamtes oder seines Vertreters die zuständige Abteilungsleitung oder deren Vertretung tritt. Abweichend von § 20l Abs. 4 Nr. 2 genügt eine räumlich und zeitlich hinreichende Bezeichnung der Telekommunikation, sofern anderenfalls die Erreichung des Zwecks der Maßnahme aussichtslos oder wesentlich erschwert wäre.

§ 20u Schutz zeugnisverweigerungsberechtigter Personen

(1) Maßnahmen nach diesem Unterabschnitt, die sich gegen eine in § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 2 oder Nr. 4 der Strafprozessordnung genannte Person richten und voraussichtlich Erkenntnisse erbringen würden, über die diese Person das Zeugnis verweigern dürfte, sind unzulässig. § 20c Abs. 3 bleibt unberührt. Dennoch erlangte Erkenntnisse dürfen nicht verwertet werden. Aufzeichnungen hierüber sind unverzüglich zu löschen. Die Tatsache ihrer Erlangung und Löschung ist zu dokumentieren. Die Sätze 2 bis 4 gelten entsprechend, wenn durch eine Maßnahme, die sich nicht gegen eine in § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 2 oder Nr. 4 der Strafprozessordnung genannte Person richtet, von einer dort genannten Person Erkenntnisse erlangt werden, über die sie das Zeugnis verweigern dürfte.

(2) Soweit durch eine Maßnahme eine in § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 bis 3b oder Nr. 5 der Strafprozessordnung genannte Person betroffen wäre und dadurch voraussichtlich Erkenntnisse erlangt würden, über die diese Person das Zeugnis verweigern dürfte, ist dies im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit unter Würdigung des öffentlichen Interesses an den von dieser Person wahrgenommenen Aufgaben und des Interesses an der Geheimhaltung der dieser Person anvertrauten oder bekannt gewordenen Tatsachen besonders zu berücksichtigen. Soweit hiernach geboten, ist die Maßnahme zu unterlassen oder, soweit dies nach der Art der Maßnahme möglich ist, zu beschränken.

(3) Die Absätze 1 und 2 gelten entsprechend, soweit die in § 53a der Strafprozessordnung Genannten das Zeugnis verweigern dürften.

(4) Die Absätze 1 bis 3 gelten nicht, sofern Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass die zeugnisverweigerungsberechtigte Person für die Gefahr verantwortlich ist.

§ 20v Gerichtliche Zuständigkeit, Kennzeichnung, Verwendung und Löschung

(1) bis (2) …

(3) Die durch Maßnahmen nach den §§ 20g bis 20n erhobenen personenbezogenen Daten sind zu kennzeichnen. Nach einer Übermittlung an eine andere Stelle ist die Kennzeichnung durch diese aufrechtzuerhalten.

(4) Eine Maßnahme nach diesem Unterabschnitt ist unzulässig, soweit besondere bundesgesetzliche oder entsprechende landesgesetzliche Verwendungsregelungen entgegenstehen. Das Bundeskriminalamt darf die nach diesem Unterabschnitt erhobenen personenbezogenen Daten verwenden,

1. um seine Aufgabe nach § 4a Abs. 1 Satz 1 wahrzunehmen oder

2. soweit dies zur Wahrnehmung seiner Aufgaben nach den §§ 5 und 6 erforderlich ist.

(5) Das Bundeskriminalamt kann die nach diesem Unterabschnitt erhobenen personenbezogenen Daten an andere Polizeien des Bundes und der Länder sowie an sonstige öffentliche Stellen übermitteln, soweit dies erforderlich ist

1. zur Herbeiführung des gegenseitigen Benehmens nach § 4a Abs. 2 Satz 3,

2. zur Abwehr einer erheblichen Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder zur Verhütung von Straftaten, die in § 129a Abs. 1 und 2 des Strafgesetzbuchs bezeichnet sind, im Fall einer Maßnahme nach den §§ 20h, 20k oder § 20l nur zur Abwehr einer dringenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit, insbesondere einer gemeinen Gefahr oder einer Lebensgefahr, oder

3. zur Verfolgung von Straftaten, wenn ein Auskunftsverlangen nach der Strafprozessordung zulässig wäre. Daten, die nach den §§ 20h, 20k oder § 20l erhoben worden sind, dürfen nur zur Verfolgung von Straftaten übermittelt werden, die im Höchstmaß mit mindestens fünf Jahren Freiheitsstrafe bedroht sind.

In Fällen des Satzes 1 Nr. 2 ist § 20a Abs. 2 insoweit nicht anzuwenden, als die Gefahr im Zusammenhang mit Straftaten gemäß § 4a Abs. 1 Satz 2 stehen muss. Die vom Bundeskriminalamt nach diesem Unterabschnitt erlangten personenbezogenen Daten dürfen an die Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder sowie an den Militärischen Abschirmdienst übermittelt werden, wenn

1. tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Daten erforderlich sind zur Sammlung und Auswertung von Informationen über Bestrebungen in der Bundesrepublik Deutschland, die durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen gegen die in § 3 Abs. 1 Nr. 1, 3 und 4 des Bundesverfassungsschutzgesetzes genannten Schutzgüter gerichtet sind, oder

2. bestimmte Tatsachen den Verdacht sicherheitsgefährdender oder geheimdienstlicher Tätigkeiten für eine fremde Macht begründen.

Die vom Bundeskriminalamt nach diesem Unterabschnitt erlangten personenbezogenen Daten dürfen an den Bundesnachrichtendienst übermittelt werden, wenn bestimmte Tatsachen den Verdacht begründen, dass diese Daten für die Erfüllung der Aufgaben des Bundesnachrichtendienstes nach § 1 Abs. 2 des BND-Gesetzes zur Sammlung von Informationen über die in § 5 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 bis 3 des Artikel 10-Gesetzes genannten Gefahrbereiche erforderlich sind. Nach § 20h erhobene Daten dürfen nur übermittelt werden, um bei dem Bundesamt für Verfassungsschutz, den Verfassungsschutzbehörden der Länder, dem Bundesnachrichtendienst oder dem Militärischen Abschirmdienst Auskünfte einzuholen, die für die Erfüllung der Aufgabe des Bundeskriminalamtes nach § 4a Abs. 1 Satz 1 erforderlich sind. Der Empfänger darf die übermittelten Daten, soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist, nur zu dem Zweck verwenden, zu dem sie ihm übermittelt wurden.

(6) Sind die durch eine Maßnahme nach diesem Unterabschnitt erlangten personenbezogenen Daten zur Erfüllung des der Maßnahme zugrunde liegenden Zwecks und für eine etwaige gerichtliche Überprüfung der Maßnahme nicht mehr erforderlich, sind sie unverzüglich zu löschen. Die Löschung ist aktenkundig zu machen. Die Akten sind gesondert aufzubewahren, durch technische und organisatorische Maßnahmen zu sichern und am Ende des Kalenderjahres, das dem Jahr der Löschung der Daten folgt, zu löschen. Soweit die Löschung lediglich für eine etwaige gerichtliche Überprüfung der Maßnahme zurückgestellt ist, dürfen die Daten ohne Einwilligung der Betroffenen nur zu diesem Zweck verwendet werden; sie sind entsprechend zu sperren. Eine Löschung unterbleibt, soweit die Daten zur Verfolgung von Straftaten oder nach Maßgabe des § 8 zur Verhütung oder zur Vorsorge für die künftige Verfolgung einer Straftat mit erheblicher Bedeutung erforderlich sind.

§ 20w Benachrichtigung

(1) Über eine Maßnahme nach den §§ 20g bis 20n sind zu benachrichtigen im Fall

1. des § 20g Abs. 2 Nr. 1 bis 3 (längerfristige Observation, Bildaufnahmen, technische Observationsmittel) die Zielperson sowie die erheblich mitbetroffenen Personen,

2. des § 20g Abs. 2 Nr. 4 und 5 (Einsatz Vertrauensperson und Verdeckter Ermittler)

a) die Zielperson,

b) die erheblich mitbetroffenen Personen,

c) die Personen, deren nicht allgemein zugängliche Wohnung die Vertrauensperson oder der Verdeckte Ermittler betreten hat,

3. des § 20h (Wohnraumüberwachung)

a) die Person, gegen die sich die Maßnahme richtete,

b) sonstige überwachte Personen,

c) Personen, die die überwachte Wohnung zur Zeit der Durchführung der Maßnahme innehatten oder bewohnten,

4. des § 20i (Ausschreibung) die Zielperson und die Personen, deren personenbezogene Daten gemeldet worden sind,

5. des § 20j (Rasterfahndung) die betroffenen Personen, gegen die nach Auswertung der Daten weitere Maßnahmen getroffen wurden,

6. des § 20k (Verdeckter Eingriff in informationstechnische Systeme) die Zielperson sowie die mitbetroffenen Personen,

7. des § 20l (Telekommunikationsüberwachung) die Beteiligten der überwachten Telekommunikation,

8. des § 20m Abs. 1 (Erhebung von Verkehrsdaten) die Beteiligten der betroffenen Telekommunikation,

9. des § 20m Abs. 2 (Erhebung von Nutzungsdaten) der Nutzer,

10. des § 20n (IMSI-Catcher) die Zielperson.

Die Benachrichtigung unterbleibt, wenn ihr überwiegende schutzwürdige Belange einer betroffenen Person entgegenstehen. Zudem kann die Benachrichtigung einer in Satz 1 Nr. 6, 7 und 8 bezeichneten Person, gegen die sich die Maßnahme nicht gerichtet hat, unterbleiben, wenn diese von der Maßnahme nur unerheblich betroffen wurde und anzunehmen ist, dass sie kein Interesse an einer Benachrichtigung hat. Nachforschungen zur Feststellung der Identität einer in Satz 1 bezeichneten Person sind nur vorzunehmen, wenn dies unter Berücksichtigung der Eingriffsintensität der Maßnahme gegenüber dieser Person, des Aufwands für die Feststellung ihrer Identität sowie der daraus für diese oder andere Personen folgenden Beeinträchtigungen geboten ist.

(2) Die Benachrichtigung erfolgt, sobald dies ohne Gefährdung des Zwecks der Maßnahme, des Bestandes des Staates, von Leib, Leben oder Freiheit einer Person oder Sachen von bedeutendem Wert, deren Erhaltung im öffentlichen Interesse geboten ist, im Fall des § 20g Abs. 2 Nr. 4 und 5 auch der Möglichkeit der weiteren Verwendung des Verdeckten Ermittlers oder der Vertrauensperson möglich ist. Wird wegen des zugrunde liegenden Sachverhaltes ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren geführt, erfolgt die Benachrichtigung durch die Strafverfolgungsbehörde entsprechend den Vorschriften des Strafverfahrensrechts. Wird die Benachrichtigung aus einem der vorgenannten Gründe zurückgestellt, ist dies zu dokumentieren.

(3) Erfolgt die nach Absatz 2 zurückgestellte Benachrichtigung nicht binnen zwölf Monaten nach Beendigung der Maßnahme, bedarf die weitere Zurückstellung der gerichtlichen Zustimmung. Im Fall der §§ 20h und 20k beträgt die Frist sechs Monate. Das Gericht bestimmt die Dauer der weiteren Zurückstellung, im Fall der §§ 20h und 20k jedoch nicht länger als sechs Monate. Verlängerungen der Zurückstellungsdauer sind zulässig. Fünf Jahre nach Beendigung der Maßnahme kann mit gerichtlicher Zustimmung endgültig von der Benachrichtigung abgesehen werden, wenn die Voraussetzungen für die Benachrichtigung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch in Zukunft nicht eintreten werden. Sind mehrere Maßnahmen in einem engen zeitlichen Zusammenhang durchgeführt worden, beginnt die in Satz 1 genannte Frist mit der Beendigung der letzten Maßnahme.
III.

5

Die Beschwerdeführer im Verfahren 1 BvR 966/09 sind Rechtsanwälte, Journalisten, ein Arzt und ein Diplom-Psychologe, von denen die meisten in der Menschenrechtspolitik aktiv sind. Die Beschwerdeführer und Beschwerdeführerinnen im Verfahren 1 BvR 1140/09 sind - als Privatpersonen auftretende - ehemalige und gegenwärtige Abgeordnete des Deutschen Bundestags, die sich weithin gleichfalls in der Menschenrechtspolitik engagieren und teilweise auch als Rechtsanwalt oder Arzt tätig sind. Sie rügen der Sache nach die Verletzung von Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1, Art. 5 Abs. 1 Satz 2, Art. 10, Art. 12, Art. 13, zum Teil auch in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4 und Art. 20 Abs. 3 GG.

6

1. Die Verfassungsbeschwerden seien zulässig.

7

Die Beschwerdeführer und Beschwerdeführerinnen seien von den angegriffenen Vorschriften unmittelbar, selbst und gegenwärtig betroffen. Sie gerieten, wie sie im Einzelnen darlegen, beruflich, als Abgeordnete oder privat wiederholt in Kontakt zu Personen, die extremistischen und terroristischen Organisationen zugerechnet würden oder Ziel staatlicher Überwachung im Rahmen der Terrorismusbekämpfung seien. Hinzu kämen Kontakte zu regierungsnahen und parlamentarischen Gesprächspartnern, zu Menschenrechtsaktivisten sowie zu - auch militanten - Separatisten und Oppositionellen aus dem Ausland, insbesondere auch aus Krisen- und Bürgerkriegsregionen. Es sei daher nicht fernliegend, im Rahmen dieser Kontakte Ziel oder Drittbetroffener einer der angegriffenen Maßnahmen zu werden. § 20u Abs. 1 BKAG in Verbindung mit § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StPO schütze nur in einem Teilbereich der vorgenannten Aktivitäten vor Überwachungsmaßnahmen des Bundeskriminalamts. Angesichts der Streubreite der Vorschriften, der Geheimhaltung des Vollzugs des Gesetzes und einer nur unzureichenden Pflicht zur Benachrichtigung des von einer Überwachungsmaßnahme Betroffenen reiche dies aus, um ihre Beschwerdebefugnis zu begründen.

8

Die Beschwerdefrist des § 93 Abs. 3 BVerfGG sei beachtet. Dies gelte auch für den schon früher und nicht erst im letzten Jahr in das Gesetz eingefügten § 14 BKAG. Die hier geregelte Übermittlung von Daten an das Ausland erhalte durch die neuen Befugnisse des Bundeskriminalamts zur Datenerhebung einen neuen Anwendungs- und Regelungsgehalt. Dies führe dazu, dass die Beschwerdefrist des § 93 Abs. 3 BVerfGG neu in Gang gesetzt werde.

9

2. Die Verfassungsbeschwerden seien begründet.

10

a) Die parallele Aufgabenwahrnehmung von Landespolizeibehörden und Bundeskriminalamt nach § 4a Abs. 2 BKAG sowie die Einräumung eines Ermessensspielraumes des Bundeskriminalamts bei der Wahrnehmung seiner Aufgaben nach § 4a Abs. 1 BKAG seien nicht mit der verfassungsrechtlichen Kompetenzordnung nach Art. 73 Abs. 1 Nr. 9a GG vereinbar. Art. 73 Abs. 1 Nr. 9a GG gebe dem Bund auch nicht die Kompetenz für Regelungen zur Verhütung von Straftaten, die im Vorfeld der Abwehr konkreter Gefahren ansetze. § 20g Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und 3, § 20l Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BKAG seien daher schon formell verfassungswidrig.

11

b) Der für die Aufgabenbestimmung des Bundeskriminalamts verwendete Begriff des „internationalen Terrorismus“ sei mehrdeutig und verstoße gegen den Grundsatz der Normenklarheit. Gleiches gelte für den in § 20a Abs. 2 BKAG normierten Gefahrenbegriff mit seiner Bezugnahme auf § 4a Abs. 1 Satz 2 BKAG. Auch das in § 20g Abs. 1, § 20h Abs. 1, § 20j Abs. 1, § 20l Abs. 1, § 20m Abs. 1 und § 20w Abs. 2 BKAG festgelegte Schutzgut der „Sachen von bedeutendem Wert, deren Erhaltung im öffentlichen Interesse geboten ist“, sei mangels Bestimmtheit verfassungswidrig.

12

c) § 20c Abs. 3 BKAG verletze - ebenso wie § 20u Abs. 2 BKAG - Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1, Art. 5 Abs. 1 Satz 2 und Art. 12 Abs. 1 GG.

13

d) Die in § 20g Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BKAG bezüglich der besonderen Mittel der Datenerhebung normierte Befugnis zur Straftatenverhütung sei ferner mit dem Gebot der Normenklarheit nicht vereinbar. Die geringen tatbestandlichen Voraussetzungen wahrten nicht das Gebot der Verhältnismäßigkeit. Die Regelung überlasse der Verwaltung, wo die Grenze zu ziehen sei zwischen unverdächtigem und solchem Verhalten, das erwarten lässt, dass jemand eine Straftat begehen wird. Auch der Begriff der „Kontakt- und Begleitperson“ in § 20g Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 BKAG sei zu unbestimmt.

14

§ 20g Abs. 1, 2 BKAG verstoße gegen Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG, soweit die Beschwerdeführer in ihren Berufen betroffen seien gegen Art. 12 GG und, soweit sie in ihren Wohn- und Kanzleiräumen betroffen seien, gegen Art. 13 Abs. 1 GG. Die Norm ermögliche die Erstellung eines weitreichenden Profils der überwachten Person und den Zugriff auf nicht für die Öffentlichkeit bestimmte Kommunikation, auch durch systematische Täuschung durch Vertrauenspersonen und den Einsatz Verdeckter Ermittler. Durch die Möglichkeit der Inanspruchnahme von Nichtstörern und eine Datenerhebung zur Verhütung von Straftaten werde der Grundrechtseingriff trotz niedriger Eingriffsschwelle noch vertieft.


15

In § 20g Abs. 3 BKAG sei für besondere Mittel der Datenerhebung in verfassungswidriger Weise teilweise kein Richtervorbehalt vorgesehen. Zudem habe der Gesetzgeber die besondere Gefahr additiver Grundrechtseingriffe nicht berücksichtigt, weil neben dem Bundeskriminalamt auch Landespolizeibehörden tätig bleiben könnten.

16

e) Der Einsatz technischer Mittel in Wohnungen gemäß § 20h BKAG sei insbesondere mit Art. 13 Abs. 1, 4 GG unvereinbar. Der Begriff der „Sachen von bedeutendem Wert“ in § 20h Abs. 1 BKAG erfülle nicht die Anforderungen der „gemeinen Gefahr“ des Art. 13 Abs. 4 GG. Inkonsistent sei, dass in die Unverletzlichkeit der Wohnung anders als bei dem Zugriff auf informationstechnische Systeme schon zum bloßen Schutz von Sachwerten eingegriffen werden dürfe. Die in § 20h BKAG verwandte Formel einer „dringenden“ Gefahr für die Gesundheit Dritter sei unbestimmt. Verfassungswidrig sei die Erlaubnis von Maßnahmen gegen Zustandsstörer, Begleit- und Kontaktpersonen sowie von Vorfeldermittlungen gemäß § 20h Abs. 1 Nr. 1 b BKAG. Der Kreis möglicher Adressaten werde angesichts der nur schwer nachvollziehbaren Verweisungskette nicht hinreichend bestimmt und in der Sache übermäßig ausgeweitet. § 20h Abs. 1 Nr. 2 BKAG sei unverhältnismäßig. Die optische Wohnraumüberwachung dürfe allenfalls unter erheblich höheren Eingriffsvoraussetzungen als die akustische Wohnraumüberwachung oder subsidiär zu dieser eingesetzt werden.

17

§ 20h Abs. 2 BKAG verstoße gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, denn die Regelung erlaube bereits eine Überwachung der Wohnung von Unbeteiligten, wenn sich dort eine Person, die eine Gefahr verursache oder eine Straftat im Sinne des § 4a Abs. 1 Satz 2 BKAG vorbereite, aufhalte.

18

§ 20h Abs. 4 BKAG verletze Art. 13 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG, da für die Anordnung der Wohnraumüberwachung nur die Angabe der wesentlichen Gründe verlangt werde und eine richterliche Verlaufskontrolle fehle.

19

f) Die Regelung zur Rasterfahndung nach § 20j BKAG verstoße gegen Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG. Sie sei unverhältnismäßig, soweit eine „Gefahr“ bereits dann vorliegen solle, wenn konkrete Vorbereitungshandlungen die Annahme rechtfertigen, dass eine Straftat nach § 4a Abs. 1 Satz 2 BKAG begangen werden solle. Eine Rasterfahndung käme nur in Betracht, wenn eine hinreichend konkrete Gefahr für hochrangige Rechtsgüter vorliege und diese tatsachengestützt sei.

20

g) Die Regelung zum Zugriff auf informationstechnische Systeme in § 20k BKAG verstoße gegen Art. 13 Abs. 1 GG, weil nicht ausgeschlossen sei, dass die Infiltration eines informationstechnischen Systems durch Betreten der Wohnung erfolgen könne.

21

§ 20k Abs. 1 Satz 1 BKAG lasse eine Ausforschung der Persönlichkeit des Betroffenen zu. Die Tiefe des Eingriffs im konkreten Fall sei abhängig vom Stand der Technik und damit entwicklungsoffen. § 20k Abs. 1 Satz 1 BKAG beschränke sich nicht auf den Schutz überragend wichtiger Rechtsgüter.

22

Nicht hinnehmbar sei, dass § 20k Abs. 4 Satz 1 BKAG den Zugriff auf informationstechnische Systeme von Zustandsstörern erlaube. Dies werde dem personalisierten Gefahrbegriff für heimliche Überwachungsmaßnahmen nicht gerecht. Unverhältnismäßig lang sei die mögliche Dauer der Anordnung von bis zu drei Monaten nach § 20k Abs. 6 Satz 3 BKAG.

23

h) Die Telekommunikationsüberwachung nach § 20l Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BKAG sei mit dem Bestimmtheitsgebot nicht vereinbar, weil der Gesetzgeber nicht konkretisiere, wann jemand eine Straftat im Sinne des § 4a Abs. 1 Satz 2 BKAG vorbereite. § 20l Abs. 1 Satz 2 BKAG genüge dem verfassungsrechtlich gebotenen Schutz beruflich genutzter Anschlüsse von Arztpraxen und Rechtsanwaltskanzleien nicht.

24

Unverhältnismäßig sei die Quellen-Telekommunikationsüberwachung nach § 20l Abs. 2 BKAG. Es sei nicht möglich, auf einen Rechner zuzugreifen und hierbei lediglich laufende Telekommunikationsvorgänge abzuhören. Eine Überwachungssoftware, die auch andere Informationen erfasse, sei aber als Online-Durchsuchung zu werten. Ob gleichwohl Maßnahmen der Quellen-Telekommunikationsüberwachung stattfänden, sei aufgrund der Heimlichkeit der Maßnahme nicht überprüfbar.

25

i) Die Erhebung von Telekommunikationsverkehrsdaten nach § 20m BKAG greife unverhältnismäßig in Art. 10 Abs. 1 GG und bezüglich der als Rechtsanwalt und Arzt tätigen Beschwerdeführer in Art. 12 Abs. 1 GG ein. Sie ermögliche die Erstellung von Kontaktprofilen, Bewegungsbildern und die Standortüberwachung in Echtzeit. Die Streubreite und die Anknüpfung an ein nur vage bestimmtes Vorbereitungsstadium (§ 20m Abs. 1 Nr. 2 BKAG) erhöhten das Eingriffsgewicht. Bedenklich sei gerade in Bezug auf Berufsgeheimnisträger, dass § 20m Abs. 1 Nr. 2 bis 4 BKAG auch Nichtstörer als Zielpersonen erfasse und schon ein nur mittelbarer Bezug zu einer Gefahr ausreiche.

26

j) Die angegriffenen Vorschriften würden den verfassungsrechtlichen Anforderungen an Transparenz und effektiven Rechtsschutz nicht gerecht. Die Benachrichtigungspflichten seien unzureichend geregelt. § 20w Abs. 1 Satz 3 BKAG lege es mit offenen Kriterien weitgehend in die Hand der Ermittlungsbehörde, auf eine Benachrichtigung der Betroffenen zu verzichten; eine gerichtliche Überprüfung finde nicht statt. Die Zurückstellung der Benachrichtigung zum Schutz von Sachen gemäß § 20w Abs. 2 Satz 1 BKAG und zur Sicherung der weiteren Verwendung von Verdeckten Ermittlern oder Vertrauenspersonen verletze die Beschwerdeführer in ihrem verfassungsrechtlichen Recht auf Benachrichtigung zur Erlangung von Rechtsschutz. Der Verweis auf die Benachrichtigungsregelungen der Strafprozessordnung in § 20w Abs. 2 Satz 2 BKAG sei unzureichend, da das Strafverfahrensrecht selbst Lücken bei der Benachrichtigung des Betroffenen aufweise. Zudem werde damit der für eine Zurückhaltung der Benachrichtigung tragende Bezugspunkt in verfassungsrechtlich bedenklicher Weise ausgewechselt. Statt der Gefährdung des Zwecks der Überwachungsmaßnahme werde auf die Gefährdung eines strafverfahrensrechtlichen Untersuchungszwecks abgestellt. § 20w Abs. 3 Satz 5 BKAG sei mit den Anforderungen an einen effektiven Rechtsschutz nicht vereinbar, da bereits nach fünf Jahren von der Benachrichtigung des Betroffenen endgültig abgesehen werden könne.

27

k) Es fehle an ausreichenden gesetzlichen Regelungen zum Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung.

28

Vollständig fehlten solche Regelungen für die Überwachung außerhalb von Wohnungen nach § 20g BKAG. Sie seien aber jedenfalls für die längerfristige Observation und für die Überwachung mittels akustischer und optischer Mittel geboten. Auch außerhalb von Wohnungen könne der Kernbereich privater Lebensgestaltung berührt sein, etwa wenn sich die Zielperson außerhalb der Wohnung mit Familienangehörigen oder anderen Vertrauten bespreche.

29

§ 20h Abs. 5 Satz 1 BKAG beschränke den Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung auf „Äußerungen“, obgleich auch durch die optische Wohnraumüberwachung kernbereichsrelevante Verhaltensweisen erfasst werden könnten. § 20h Abs. 5 Satz 3 BKAG sei unzureichend, da bei Zweifeln über die Kernbereichsrelevanz der Beobachtungen eine automatische Aufzeichnung erlaubt sei. Ferner beschränke § 20h Abs. 5 Satz 4 BKAG in unzulässiger Weise die gerichtliche Durchsicht der erhobenen Daten auf diese Fallkonstellation. Für den Fall des „Live“-Mithörens helfe das Gebot der Löschung kernbereichsrelevanter Daten nach § 20h Abs. 5 Satz 6 und 7 BKAG nicht. § 20h Abs. 5 Satz 9 und 10 BKAG (ebenso wie § 20k Abs. 7 Satz 8 und in § 20l Abs. 6 Satz 10 BKAG) verletzten die Garantie eines effektiven Rechtsschutzes, da die zu dokumentierende Erfassung und Löschung spätestens zum Ende des nächsten Jahres und damit möglicherweise noch vor einer Benachrichtigung des Betroffenen zu löschen seien.

30

Der verdeckte Zugriff auf informationstechnische Systeme sei nach § 20k Abs. 7 Satz 1 BKAG nur dann unzulässig, wenn durch ihn „allein“ Erkenntnisse aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung erfasst würden. Danach wäre der Zugriff auf ein informationstechnisches System schon zulässig, wenn sich darauf nur irgendwelche Daten befinden würden, die nicht dem Kernbereich privater Lebensgestaltung zuzurechnen wären. Da die Verarbeitung ausschließlich kernbereichsrelevanter Informationen auf einem informationstechnischen System auszuschließen sei, laufe die Vorschrift leer. Entsprechendes gelte für die Überwachung der Telekommunikation nach § 20l Abs. 6 Satz 1 BKAG. Demgegenüber sei es geboten, mittels einer fundierten Prognoseentscheidung zu vermeiden, dass überhaupt kernbereichsrelevante Daten erfasst würden. § 20k Abs. 7 Satz 3, 4 BKAG werde der gebotenen Durchsicht der erhobenen Daten durch eine unabhängige Stelle nicht gerecht; als eine solche komme grundsätzlich nur ein Gericht in Frage. An der Sichtung nach § 20k Abs. 7 Satz 3, 4 BKAG würden aber im Wesentlichen Personen des Bundeskriminalamts beteiligt. Was unter der vorgesehenen „Sachleitung“ des anordnenden Gerichts zu verstehen sei, bleibe unklar; sie sichere die Unabhängigkeit der Sichtung nicht.

31

l) Der Schutz von Berufsgeheimnisträgern sei im Bundeskriminalamtgesetz nur unzureichend ausgestaltet.

32

§ 20u Abs. 1 BKAG verstoße gegen Art. 1 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG. Er schütze die in § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 2 und 4 StPO genannten Berufsgeheimnisträger - Geistliche, Abgeordnete und Verteidiger - nur insoweit, als sich die Maßnahme gegen sie selbst richte. Da sich eine Maßnahme aber in der Regel gegen einen Verdächtigen richten werde, laufe der Schutz des § 20u Abs. 1 BKAG weitgehend leer. Das Verwertungsverbot des § 20u Abs. 1 Satz 6 BKAG begründe einen nur unzureichenden Schutz.

33

§ 20u Abs. 2 BKAG verstoße gegen Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1, Art. 5 Abs. 1 und Art. 12 Abs. 1 GG sowie gegen das Rechtsstaatsprinzip, bei einer Überwachung von Kanzleiräumen auch gegen Art. 13 Abs. 1 GG.

34

Ärzte, Psychotherapeuten, Journalisten oder nicht als Verteidiger tätige Anwälte seien weniger weitreichend vor Überwachungsmaßnahmen geschützt als Geistliche, Verteidiger oder Abgeordnete, ohne dass dies zu rechtfertigen sei. Die Unterscheidung zwischen Rechtsanwälten und Verteidigern sei willkürlich und ein geringerer Schutzbedarf von nicht-strafrechtlichen Mandatsbeziehungen nicht ersichtlich. Das Berufsgeheimnis der Anwälte werde durch die Möglichkeit entsprechender Überwachungsmaßnahmen grundsätzlich in Frage gestellt, womit auch Art. 12 Abs. 1 GG verletzt werde. Gleiches gelte für das ärztliche Berufsgeheimnis, das in seinem Wesenskern getroffen werde. Auch die durch Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG gewährleisteten Funktionsvoraussetzungen der freien Presse schütze § 20u Abs. 2 BKAG nicht ausreichend. Im Übrigen sei der bloße Verweis auf eine Abwägung zu unbestimmt.

35

m) Verfassungswidrig sei das Gesetz auch, weil es auf gebotene verfahrensrechtliche Sicherungen und materiell-eingriffsrechtliche Abstufungen verzichte, um eine von Verfassungs wegen verbotene Rundumüberwachung durch die kumulative Anwendung eingriffsintensiver Maßnahmen zu verhindern.

36

n) Die Vorschriften zur weiteren Nutzung einmal erhobener Daten durch das Bundeskriminalamt selbst und zu ihrer Weiterleitung an sonstige innerstaatliche Behörden seien verfassungswidrig.

37

§ 20v Abs. 4 Satz 2 BKAG erlaube eine Nutzung der Daten unter gegenüber den Erhebungsvoraussetzungen abgesenkten Anforderungen und unabhängig von einer konkreten Bedrohung von Schutzgütern und emanzipiere sich als Aufgabennorm von konkreten Gefahren im polizeirechtlichen Sinne. Das unterlaufe den Grundsatz der Zweckbindung, wonach Daten nur zu dem Zweck verarbeitet werden dürften, zu dem sie erhoben worden seien. Auch die nach § 20v Abs. 4 Satz 2 Nr. 2 BKAG mögliche Nutzung der vom Bundeskriminalamt erhobenen Daten zur Wahrung der Aufgaben nach §§ 5 und 6 BKAG reiche weit in das Vorfeld von Rechtsgutverletzungen und entspreche nicht dem Gewicht der Rechtsgüter, die die Datenerhebung erfordere.

38

Auch § 20v Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 bis 3, Satz 4, 5 BKAG erlaube die Datennutzung unter abgesenkten Anforderungen. § 20v Abs. 5 Satz 1 BKAG sei nicht bestimmt genug, weil die Behörden nicht benannt würden, an die Informationen übermittelt werden dürften. § 20v Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 BKAG verstoße gegen Art. 13 GG sowie gegen das Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme. Nur im Fall des Art. 13 Abs. 4 GG sei eine Verwendung von Erkenntnissen erlaubt, die mittels eines Spähangriffs erlangt worden seien, nicht aber zum Zwecke der Strafverfolgung.

39

Auch § 20v Abs. 6 Satz 5 BKAG mit seinem Verweis auf die Nutzung von Daten zur Verhütung oder zur Vorsorge für die künftige Verfolgung einer Straftat mit erheblicher Bedeutung nach Maßgabe des § 8 BKAG werde dem Grundsatz nicht gerecht, dass die sekundäre Verwendung von Daten sich nach den Voraussetzungen ihrer Erhebung richten müsse.

40

o) § 14 Abs. 1 BKAG sei nicht mit dem Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme sowie mit Art. 10 Abs. 1 und Art. 13 Abs. 1 GG vereinbar. Es dürften Daten - insbesondere aus der Wohnraumüberwachung und aus einem Zugriff auf informationstechnische Systeme - an ausländische Behörden unter Voraussetzungen übermittelt werden, die für ihre Erhebung unzureichend wären.
IV.

41

Zu den Verfassungsbeschwerden haben die Bundesregierung, der Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit, mittels einer gemeinsamen Stellungnahme die Datenschutzbeauftragten der Länder, das Bundesverwaltungsgericht und der Bundesgerichtshof Stellung genommen.

42

1. Die Bundesregierung hält die Verfassungsbeschwerden teils für unzulässig, jedenfalls aber für unbegründet.

43

a) Die Rüge des § 20c Abs. 3 BKAG sei mangels Beschwer unzulässig. Die Norm regle eine offene Ermittlungsmaßnahme von begrenzter Streubreite, gegen die die Beschwerdeführer nicht die erforderliche eigene, unmittelbare und gegenwärtige Beschwer geltend gemacht hätten. Unzulässig sei auch die Rüge des § 14 Abs. 1 BKAG, der bereits vor Inkrafttreten des beschwerdegegenständlichen Gesetzes Teil des Bundeskriminalamtgesetzes gewesen sei, so dass die Beschwerdefrist des § 93 Abs. 3 BVerfGG nicht eingehalten sei.

44

b) Im Übrigen seien die Verfassungsbeschwerden zulässig, aber unbegründet.

45

aa) Der Bundesgesetzgeber verfüge gemäß Art. 73 Abs. 1 Nr. 9a GG über die Kompetenz, dem Bundeskriminalamt die Abwehr von Gefahren und auch die im angegriffenen Gesetz vorgesehenen Maßnahmen der Gefahrenverhütung zuzuweisen. Da es bei der Straftatenverhütung um Sachverhalte gehe, in denen eine Straftat noch nicht begangen worden sei, handele es sich bei ihr um eine besondere Form der Gefahrenabwehr, die bereits vor der Schwelle einer konkreten Gefahr greife.

46

bb) Die im Gesetz vorgesehenen Eingriffsbefugnisse dienten dem Schutz verfassungsrechtlich geschützter Rechtsgüter von besonderem Gewicht und entsprächen damit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip im engeren Sinne. Die angegriffenen Normen seien hinreichend bestimmt. Die qualifizierten Eingriffsbefugnisse gingen dabei von einem ähnlichen materiellen Standard aus.

47

Zum einen sehe das Gesetz Befugnisse zur Gefahrenabwehr vor. § 20a Abs. 2 BKAG stelle klar, dass der in den Befugnisnormen verwendete Gefahrenbegriff eine konkrete Gefahr bezeichne. § 20h Abs. 1 und § 20l Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BKAG verlangten das qualifizierte Erfordernis einer dringenden Gefahr. Überdies müssten sich alle angegriffenen Ermittlungsbefugnisse nach § 4a Abs. 1 Satz 2 BKAG auf bestimmte, als Tatbestand einzeln aufgeführte Straftaten beziehen, die in § 129a Abs. 1 und 2 StGB bezeichnet seien. Das Erfordernis eines Bezugs zum „internationalen Terrorismus“ bei der Abwehr konkreter Gefahren in § 4a Abs. 1 Satz 1 BKAG bestimme und qualifiziere die Befugnisse darüber hinaus. Der Begriff des „internationalen Terrorismus“ als solcher diene aber nicht als Grundlage einer Eingriffsbefugnis.

48

Neben die Befugnisse zur Abwehr konkreter Gefahren träten Befugnisse zur Straftatenverhütung gemäß § 4a Abs. 1 Satz 2 BKAG. Auch diese blieben hinreichend begrenzt. Die insoweit in Bezug genommenen Straftatbestände nach § 129a StGB beträfen allesamt qualifizierte Rechtsgüter; die Straftaten müssten terroristischen Zielen dienen und eine qualifizierte Schadensneigung aufweisen. Alle in Frage stehenden Befugnisnormen, die sich auf die Aufgabenbestimmung des § 4a Abs. 1 Satz 2 BKAG bezögen, verlangten darüber hinaus das Vorliegen von „Tatsachen“ oder „konkreten Vorbereitungshandlungen“, durch die die Vorbereitung einer Straftat objektiv erkennbar werde. Das Eingreifen im Rahmen der Straftatenverhütung werde hiermit in den Bereich einer individualisierten Gefahrenprognose gebracht. „Tatsachen“ im Sinne des Gesetzes seien Sachverhalte, die sich auf das individualisierte Verhalten bestimmter Personen bezögen.

49

Die Befugnis zur Abwehr konkreter Gefahren für „Sachen von bedeutendem Wert, deren Erhaltung im öffentlichen Interesse geboten ist“, entspreche den verfassungsrechtlichen Anforderungen. Die doppelte Qualifikation in Bezug auf den Wert der Sache und ihre Bedeutung für das öffentliche Interesse stelle klar, dass hieran anknüpfende Überwachungsmaßnahmen nur in besonders gelagerten Fällen zulässig seien, in denen am Erhalt der zu schützenden Sachwerte ihrerseits rechtlich geschützte Einrichtungen hingen, die über den Wert der Sache selbst in beträchtlichem Umfang hinausgingen.

50

cc) Die Datenerhebung gemäß § 20g BKAG stünde unter einem strengen Erforderlichkeitsvorbehalt und setze eine konkrete Gefahr für qualifizierte Rechtsgüter voraus. Die durch § 20g Abs. 2 BKAG aufgrund einer behördlichen Anordnung ermöglichten Maßnahmen berührten allesamt weder einen geschriebenen grundsätzlichen Richtervorbehalt noch griffen sie so intensiv in die Sphäre der Betroffenen ein, dass sie einen ungeschriebenen Richtervorbehalt auslösen könnten. Zur Ermittlung eingesetzte Personen dürften nach § 20g Abs. 3 Satz 1 BKAG die Wohnung des Betroffenen nur auf richterliche Anordnung betreten.

51

dd) Die Wohnraumüberwachung gemäß § 20h BKAG stehe ebenfalls unter einem Erforderlichkeitsvorbehalt und werde dem in Art. 13 Abs. 4 GG normierten Erfordernis gerecht, Grundrechtseingriffe nur bei einer „dringenden“ Gefahr zuzulassen. Der Grundrechtseingriff werde durch eine auch mögliche optische Wohnraumüberwachung nicht vertieft, der Grundrechtsschutz des Art. 13 GG sei medienübergreifend. Eine permanente richterliche Verlaufskontrolle der Wohnraumüberwachung sei verfassungsrechtlich nicht geboten.

52

ee) Die Rasterfahndung nach § 20j BKAG sei ein zur Gefahrenabwehr geeignetes Instrument, weil sie den Zweck erfülle, in einer Gefahrensituation weitere Ermittlungsansätze zu gewinnen. Aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts lasse sich herleiten, dass der Gesetzgeber unter den Bedingungen bestimmter Tatbestandsvoraussetzungen nicht in jedem Fall am Erfordernis des konkreten Gefahrenmaßstabs festhalten müsse. Vor diesem Hintergrund erscheine die Regelung des § 20j Abs. 1 Satz 1, 2. Halbsatz BKAG verfassungsrechtlich unbedenklich.

53

ff) Die in § 20k Abs. 6 Satz 2 Nr. 4 BKAG normierte Nennung der „wesentlichen Gründe“ für die Anordnung einer Überwachungsmaßnahme entspreche den verfassungsrechtlichen Vorgaben. Wenn das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung die Fachgerichte auf bestimmte Inhalte einer angemessenen Entscheidungsbegründung verpflichte, folge daraus nicht, dass der Gesetzgeber diese auch in gleicher Präzision zum Gegenstand der gesetzlichen Regelung machen müsse.

54

gg) Die Telekommunikationsüberwachung gemäß § 20l BKAG halte die Grenzen der materiellen Angemessenheit ein. Soweit es um die Befugnis nach § 20l Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BKAG zur Straftatenverhütung gehe, verweise die Norm auf mehrfach qualifizierte, tatbestandlich aufgezählte Straftaten, nicht einfach nur auf eine bestimmte Gruppe von Straftaten. Die zu schützenden Rechtsgüter würden benannt.

55

Die ermittelnde Behörde sei in der Lage, den Zugriff nach § 20l Abs. 2 BKAG auf Daten der laufenden Kommunikation zu beschränken. Die Überwachung der Telekommunikation dürfe daher nicht mit einem Eingriff in informationstechnische Systeme gleichgesetzt werden.

56

hh) Die Abfragebefugnis zur Abwehr konkreter Gefahren in § 20m Abs. 1 Nr. 1 BKAG entspreche den verfassungsrechtlichen Vorgaben. Gleiches gelte für die Abfragebefugnis im Rahmen der Straftatenverhütung, die das Vorliegen „bestimmter Tatsachen“ zur Vorbereitung einer Straftat verlange.

57

ii) Hinsichtlich der Adressaten der Ermittlungsmaßnahmen sei zu beachten, dass eine Zurechnung im Bereich des Gefahrenabwehrrechts allein nach der Frage der Verursachung einer Gefahr, nicht aber nach dem Schuldprinzip erfolge. Ein Nichtstörer dürfe nur unter erhöhten Anforderungen und in speziellen Ausnahmekonstellationen in Anspruch genommen werden. Dies lasse sich beispielsweise für die Inanspruchnahme von in § 20b Abs. 2 BKAG näher definierten Kontakt- und Begleitpersonen nach § 20h Abs. 1 Nr. 1 c BKAG zeigen. Es kämen danach nur diejenigen als Adressaten einer Überwachungsmaßnahme in Betracht, die einen spezifisch tatbezogenen Kontakt mit einem Störer oder Nichtstörer im Sinne des Gesetzes gehabt hätten, nicht aber jedermann, der mit diesen Personen kommuniziere. Dies sei auch bei einer Wohnraumüberwachung zulässig.

58

jj) § 20w BKAG richte ein differenziertes Benachrichtigungsregime für die Ermittlungsbefugnisse ein, das dem Umstand Rechnung zu tragen habe, dass neben dem aus Art. 19 Abs. 4 GG folgenden Rechtsschutzinteresse der Ermittlungsadressaten auch die Ermittlungsinteressen der Allgemeinheit und mögliche Rechtspositionen Dritter verfassungsrechtlichen Schutz genössen und von der Benachrichtigung berührt sein könnten.

59

kk) Der Kernbereichsschutz sei als Folge des Grundrechtsschutzes stets zu beachten und müsse nicht in jeder polizeigesetzlichen Regelung abgebildet werden. Verfassungsrechtlich geboten erscheine ein gesetzlich normierter Kernbereichsschutz nur, wenn die Art der Eingriffsbefugnisse eine Berührung des Kernbereichs typischerweise möglich erscheinen lasse. Die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die konkrete Ausgestaltung des Kernbereichsschutzes könnten je nach Art der Informationserhebung und der durch sie erfassten Informationen unterschiedlich sein.

60

Unter diesen Voraussetzungen sei der Verzicht auf einen gesetzlich normierten Kernbereichsschutz in § 20g BKAG, der keine herausgehobenen Elemente kernbereichssensibler Ermittlungstätigkeit enthalte, verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

61

Durch die Unterscheidung in § 20h Abs. 5 BKAG zwischen automatischen Aufzeichnungen, über deren Verwertung das anordnende Gericht zu entscheiden habe, und anderen Ermittlungsformen, bei denen die Behörde über Abbruch oder Fortsetzung der Ermittlungen entscheide, werde sichergestellt, dass die vor Ort ermittelnden Beamten überhaupt nur solche Informationen zur Kenntnis nehmen könnten, an deren fehlender Kernbereichsrelevanz kein Zweifel bestehe. Automatisierte Aufzeichnungen als solche verstießen nicht gegen den Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung. Verfassungsrechtlich nicht erforderlich sei, dass sämtliche Informationen, die im Rahmen einer potentiell kernbereichsrelevanten Befugnisnorm erhoben würden, durch eine unabhängige Stelle zu kontrollieren seien.

62

Wenn in § 20k Abs. 7, § 20l Abs. 6 BKAG angeordnet werde, dass eine Überwachungsmaßnahme unzulässig sei, wenn „allein“ Erkenntnisse aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung erlangt würden, komme hierin zum Ausdruck, dass die ermittelnden Behörden eine Einschätzung ex ante darüber abgeben müssten, ob die Maßnahmen geeignet seien, die Ermittlungsziele weiterzubringen, ohne den Kernbereich zu verletzen. Äußerungen, die beispielsweise die Planung einer schweren Straftat thematisierten, würden der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Folge gar nicht vom Kernbereichsschutz umfasst, also auch dann nicht, wenn sie in einer besonders privaten Situation getätigt würden.

63

§ 20k Abs. 7 Satz 3 BKAG ordne an, dass die erhobenen Daten unter der Sachleitung des anordnenden Gerichts durch den Datenschutzbeauftragten des Bundeskriminalamts und zwei Beamte, von denen einer die Befähigung zum Richteramt haben müsse, auf Kernbereichsrelevanz durchzusehen seien, weil sich die ermittelten Informationen bei der Durchsicht elektronischer Dateien ohne zusätzliche technische Fertigkeiten der beteiligten Beamten überhaupt nicht entschlüsseln ließen.

64

Die Regeln zur Löschung einer dokumentierten Kernbereichsverletzung und zur Benachrichtigung des Betroffenen seien ein Kompromiss zwischen den Rechtsschutzanliegen eines Betroffenen und der Vermeidung einer zu langen Speicherung sensibler personenbezogener Daten. Sie genügten den Anforderungen des Art. 19 Abs. 4 GG.

65

ll) Hinsichtlich des Schutzes von Berufsgeheimnisträgern sei die herausgehobene Schutzbedürftigkeit des Strafverteidigers gegenüber anderen Berufen in der Rechtsprechung anerkannt. Die Regelungen des § 20u Abs. 2 BKAG genügten daher sowohl materiell als auch ihrer Bestimmtheit nach den Anforderungen des Grundgesetzes. Ob die Regelung des § 20u BKAG den Schutzbereich des Art. 12 GG berühre, erscheine zweifelhaft; denn die einschlägigen Regelungen hätten keine berufsregelnde Tendenz. Selbst im Falle der Eröffnung des Schutzbereichs handele es sich aber um eine bloße Berufsausübungsregelung, die durch ein Gesetz und einen Gemeinwohlbelang gerechtfertigt sei.

66

mm) Die gesetzlichen Vorschriften zur Verwendung der vom Bundeskriminalamt zur Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus erhobenen Daten entsprächen den verfassungsrechtlichen Vorgaben.

67

§ 20v Abs. 4 Satz 2 BKAG stelle klar, dass das Bundeskriminalamt die ermittelten Daten nur zur Erfüllung der gesetzlichen Aufgaben nach §§ 4a, 5, 6 BKAG verwenden dürfe. Bei dieser Regelung handele es sich um beschränkte Verwendungsregeln, die durch die Kohärenz der zu schützenden Rechtsgüter in gleicher Weise gerechtfertigt seien wie die Ermittlungsbefugnisse selbst.

68

Die Datenübermittlungsregeln des § 20v Abs. 5 Satz 1 BKAG verhielten sich akzessorisch zu den Kompetenzen des Bundeskriminalamts, bildeten im Bereich der Gefahrenabwehr den gesetzlichen Gefahrenmaßstab ab und beschränkten sich im Bereich der Strafverfolgung bei den besonders eingriffsintensiven Befugnissen der §§ 20h, 20k, 20l BKAG auf die Verfolgung schwerer Straftaten. Die Regelungen genügten auch dem Erfordernis der Normenklarheit. Die Datenübermittlung an „sonstige öffentliche Stellen“ werde durch die Zweckgebundenheit der Übermittlung beschränkt. § 20v Abs. 5 Satz 5 BKAG sehe für die Übermittlung von Informationen, die mit Hilfe des besonders eingriffsintensiven § 20h BKAG ermittelt worden seien, keine Zweckänderung vor.

69

2. Der Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit hält die angegriffenen Vorschriften in wesentlichen Punkten aus denselben Gründen für verfassungswidrig wie die Beschwerdeführer. Bedenklich sei, dass die Aufgaben und Befugnisse des Bundeskriminalamts nicht hinreichend klar von denen der Polizeibehörden der Länder sowie der Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder abgegrenzt seien. Zweifelhaft sei, ob die Befugnisse zur Straftatenverhütung nach § 4a Abs. 1 Satz 2 BKAG hinreichend normenklar ausgestaltet und die möglichen Eingriffe im Gefahrenvorfeld verhältnismäßig seien. Soweit Maßnahmen zum Schutz von „Sachen von bedeutendem Wert“ erlaubt würden, seien sie unverhältnismäßig; wann die Erhaltung einer Sache im öffentlichen Interesse „geboten“ sei, lasse sich den Vorschriften nicht entnehmen. Der Richtervorbehalt des § 20g Abs. 3 BKAG sei unzureichend und weise hinsichtlich der verschiedenen Observationsmittel wie auch im Verhältnis zu strafrechtlichen Vorschriften Wertungswidersprüche auf. Aufgrund unklarer Begrenzungen unverhältnismäßig weit seien die Regelungen zur Inanspruchnahme des Zustands- und Nichtstörers sowie von Kontakt- und Begleitpersonen. Überwiegend verfassungswidrig sei auch die Regelung der Benachrichtigungspflichten in § 20w BKAG. Eine dem § 20w Abs. 2 Satz 1 BKAG entsprechende Regelung habe das Bundesverfassungsgericht in Fällen der akustischen Wohnraumüberwachung bereits für unzulässig erklärt, und die Beschränkungen der Benachrichtigung in § 20w Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Nr. 2 b, Satz 3 BKAG seien zu unbestimmt; verfassungswidrig sei auch die Möglichkeit eines endgültigen Absehens von einer Benachrichtigung gemäß § 20w Abs. 3 Satz 5 BKAG. In Übereinstimmung mit den Argumenten der Beschwerdeführer hält der Bundesdatenschutzbeauftragte die in den angegriffenen Vorschriften getroffenen Regelungen zum Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung für unzureichend. Ebenso teilt er die verfassungsrechtlichen Bedenken der Beschwerdeführer hinsichtlich des Schutzes zeugnisverweigerungsberechtigter Personen gemäß § 20u BKAG. § 20v Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 BKAG sei unverhältnismäßig, weil die Verwendung von Daten aus einer Wohnraumüberwachung oder dem Zugriff auf informationstechnische Systeme schon für die Verfolgung von Straftaten erlaubt werde, die im Höchstmaß mit „mindestens“ fünf Jahren bedroht seien. Im Falle des § 14 BKAG würden die verfassungsrechtlich gebotenen Restriktionen des § 20v Abs. 4, 5 BKAG für die Verwendung der Daten ins Leere laufen.

70

3. Die Datenschutzbeauftragten der Länder teilen im Wesentlichen gleichfalls die verfassungsrechtlichen Bedenken der Beschwerdeführer und des Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit.

71

Insbesondere sei der im Gesetz verwandte Gefahrbegriff nicht hinreichend normenklar und trennscharf formuliert. Die Befugnisse im Vorfeld der Gefahrenabwehr und zur Strafverfolgung genügten nicht den besonders hohen Anforderungen an die Bestimmtheit des Eingriffsanlasses. Für die Definition der Kontakt- und Begleitperson machen sie ergänzend geltend, dass § 20b Abs. 2 Nr. 2 BKAG seiner Bedeutung nach systematisch unklar und der Sache nach zu unbestimmt sei. Hinsichtlich der möglichen Dauer einer Anordnung zur Online-Durchsuchung weisen sie auf Wertungswidersprüche zwischen § 20k Abs. 6 BKAG und anderen Ermächtigungsnormen hin; die besondere Eingriffsintensität einer Online-Durchsuchung bedinge eine kürzere als die dreimonatige Anordnungsfrist.

72

4. Das Bundesverwaltungsgericht weist durch die Mitglieder des für das Polizeirecht zuständigen 6. Senats darauf hin, dass - nach der Rechtsprechung des Gerichts zu polizeilichen Meldeauflagen - für die Erfüllung polizeilicher Aufgaben im Vorfeld der Gefahrenabwehr die Bestimmtheitsanforderungen spezifisch an der Vorfeldsituation ausgerichtet sein müssen. Sehe der Gesetzgeber in solchen Lagen Grundrechtseingriffe vor, habe er hierfür eine spezielle Rechtsgrundlage mit handlungsbegrenzenden Tatbestandselementen zu schaffen.

73

Hinsichtlich der Benachrichtigung des von einer Überwachungsmaßnahme Betroffenen habe das Gericht im Zusammenhang mit Maßnahmen der Telekommunikationsüberwachung unter dem G10-Gesetz entschieden, dass die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG eine Benachrichtigung gebieten könne, wenn diese Form der Kenntnisgewähr Voraussetzung der Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes sei. Begrenzungen dieses Anspruchs, der einer gesetzlichen Ausgestaltung bedürfe, seien allerdings nicht ausgeschlossen. Im Lichte des Art. 19 Abs. 4 GG sei auch die grundsätzlich bestehende Pflicht zur Vernichtung nicht mehr erforderlicher Daten zu sehen. Die Vernichtungspflicht müsse für die Fälle, in denen der Betroffene die gerichtliche Kontrolle staatlicher Informations- und Datenerhebungsmaßnahmen anstrebe, mit der Rechtsschutzgarantie so abgestimmt werden, dass der Rechtsschutz nicht unterlaufen oder vereitelt werde. Die die Telekommunikationsüberwachung veranlassende Behörde sei grundrechtlich verpflichtet, den von der heimlichen Überwachungsmaßnahme Betroffenen so bald wie möglich zu unterrichten. Die Verzögerung der Mitteilung begründe einen neben der Datenerhebung liegenden, eigenständigen Grundrechtseingriff, der als solcher Gegenstand einer gerichtlichen Feststellung sein könne.
V.

74

In der mündlichen Verhandlung haben sich geäußert: die Beschwerdeführer, die Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen, die Bundesregierung durch den Bundesminister des Inneren, das Bundeskriminalamt, der Generalbundesanwalt, das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik, die Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit und der Bayerische Landesbeauftragte für den Datenschutz. Als sachkundige Dritte wurden Prof. Dr. Matthias Bäcker, Prof. Dr. Felix Freiling, der Richter am Amtsgericht Wiesbaden Frank Hoffrichter, die Bundesrechtsanwaltskammer, der Deutsche Anwaltverein e.V., der Chaos Computer Club e.V., Netzpolitik.org und Amnesty International angehört. Die Bundesrechtsanwaltskammer hat ihre Stellungnahme mittels eines Schriftsatzes betreffend den Schutz von Rechtsanwälten nach § 20u Abs. 1, 2 BKAG ergänzt. Der Chaos Computer Club e.V. hat seine in der mündlichen Verhandlung getätigten Ausführungen mittels einer schriftlichen Stellungnahme zu den technischen Risiken bei der Infiltration eines informationstechnischen Systems, zum Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung, zur Quellen-Telekommunikationsüberwachung und zur Überprüfbarkeit von Trojaner-Funktionen weiter unterlegt.
B.

75

Die Verfassungsbeschwerden sind im Wesentlichen zulässig.
I.

76

Die Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer wenden sich mit ihren Verfassungsbeschwerden gegen Überwachungs- und Ermittlungsbefugnisse des Bundeskriminalamts, dabei eigens auch gegen einen unzureichenden Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung und gegen Überwachungen zeugnisverweigerungsberechtigter Personen, sowie gegen Regelungen zur Datennutzung. Unmittelbar richten sich ihre Angriffe gegen die die Behörde jeweils ermächtigenden Befugnisnormen, mittelbar aber auch gegen die weiteren Regelungen, mit denen der Gesetzgeber diese Befugnisse zur Gewährleistung ihrer Verhältnismäßigkeit flankiert und ohne die ihre Verfassungsmäßigkeit nicht beurteilt werden kann. Bei verständiger Auslegung der Verfassungsbeschwerden erstrecken sich ihre Angriffe damit auf § 14 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 3, Satz 2, Abs. 7, § 20c, § 20g Abs. 1 bis 3, § 20h, § 20j, § 20k, § 20l, § 20m Abs. 1, 3, § 20u Abs. 1, 2 und 4, § 20v Abs. 4 Satz 2, Abs. 5 (ohne den nicht substantiiert beanstandeten Satz 3 Nr. 2) und Abs. 6 sowie auf § 20w BKAG.
II.

77

Die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zu 4) im Verfahren 1 BvR 966/09 hat sich durch seinen Tod erledigt. Die Voraussetzungen für eine Fortführung des Verfahrens nach dem Tod (vgl. BVerfGE 109, 279 <304>; 124, 300 <318 f.>) liegen nicht vor.

78

Unzulässig ist die Verfassungsbeschwerde in diesem Verfahren, soweit sie sich gegen § 20c BKAG richtet. Die Vorschrift ermächtigt allein zu Maßnahmen, die als offene Vollzugsakte gegenüber den Betroffenen ergehen; eine Verfassungsbeschwerde ist nur insoweit zulässig, als entsprechende Maßnahmen gegen sie selbst ergangen sind und sie sich dagegen vor den Fachgerichten erfolglos zur Wehr gesetzt haben (vgl. BVerfGE 122, 63 <78 ff.> m.w.N.). Dies ist hier nicht geschehen.
III.

79

Im Übrigen sind die Verfassungsbeschwerden zulässig.

80

1. Die Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer sind beschwerdebefugt. Sie rügen eine mögliche Verletzung ihrer Grundrechte unmittelbar durch die angegriffenen Bestimmungen. Sie machen geltend, dass die angegriffenen Datenerhebungsbefugnisse in ihr Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung aus Art. 13 Abs. 1 GG, ihr Grundrecht auf Wahrung des Telekommunikationsgeheimnisses aus Art. 10 Abs. 1 GG sowie ihre Grundrechte aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG sowohl in der Ausformung als Recht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme als auch als Recht auf informationelle Selbstbestimmung eingreifen, und tragen eingehend vor, dass diese unverhältnismäßig ausgestaltet seien. Eine mögliche Grundrechtsverletzung ist insoweit hinreichend dargelegt. Dies gilt auch, soweit die Beschwerdeführer bezüglich der Befugnisse zur Datenerhebung eine Verletzung dieser Grundrechte in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG durch einen unzureichend normierten Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung rügen und Grundrechtsverletzungen durch die ihrer Ansicht nach unzureichenden und gleichheitswidrigen Regelungen zum Schutz zeugnisverweigerungsberechtigter Personen geltend machen. Möglich erscheint eine Grundrechtsverletzung schließlich auch durch die von ihnen angegriffenen Vorschriften zur Datenverwendung. In der weiteren Verwendung von Daten kann eine eigene Grundrechtsverletzung liegen; maßgeblich sind insoweit die Grundrechte, die jeweils für deren Erhebung einschlägig waren (vgl. BVerfGE 100, 313 <359 f., 391>; 109, 279 <374 f.>; 110, 33 <68 f.>; 113, 348 <365>; 125, 260 <312 f., 333>; 133, 277 <372 ff.>; stRspr).

81

2. Die Beschwerdeführer und Beschwerdeführerinnen sind durch die angegriffenen Vorschriften unmittelbar, selbst und gegenwärtig betroffen. Ihre Verfassungsbeschwerden erfüllen damit die spezifischen Anforderungen für Verfassungsbeschwerden unmittelbar gegen ein Gesetz.

82

a) Den Beschwerdeführern fehlt es nicht an einer unmittelbaren Betroffenheit. Zwar bedürfen die angegriffenen Befugnisse der Umsetzung durch weitere Vollzugsakte. Von einer unmittelbaren Betroffenheit durch Gesetz ist jedoch auch dann auszugehen, wenn Beschwerdeführer den Rechtsweg nicht beschreiten können, weil sie keine Kenntnis von der betreffenden Vollziehungsmaßnahme erhalten. In solchen Fällen steht ihnen die Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen das Gesetz zu (vgl. BVerfGE 133, 277 <311 Rn. 83>; stRspr). Die durch die angegriffenen Vorschriften ermöglichten Ermittlungs- und Überwachungsmaßnahmen werden grundsätzlich heimlich durchgeführt. Die im Gesetz vorgesehenen Benachrichtigungspflichten fangen dies nur teilweise auf, weil sie möglicherweise erst spät greifen und weitreichende Ausnahmen kennen. Keine Kenntnis erhalten die Betroffenen in der Regel auch von der weiteren Nutzung oder Übermittlung der Daten, die durch die angegriffenen Vorschriften erlaubt werden. Die Beschwerdeführer sind deswegen nicht darauf zu verweisen, entsprechende Vollzugsakte abzuwarten und gegen diese vorzugehen.

83

b) Die Beschwerdeführer sind auch selbst und gegenwärtig betroffen.

84

Die Beschwerdeführer legen dar, dass sie wegen ihrer spezifischen politischen, beruflichen und privaten Verbindungen zu potenziellen Zielpersonen von den angegriffenen Maßnahmen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit betroffen sind. Sie verweisen darauf, dass sie aufgrund ihrer politischen Tätigkeit, ihrer beruflichen Tätigkeit als Rechtsanwälte oder Psychotherapeuten oder aufgrund ihres Engagements in Menschenrechtsfragen leicht auch mit Personen in Kontakt geraten können, die möglicherweise dem internationalen Terrorismus zugerechnet werden. Angesichts der Streubreite der angegriffenen Vorschriften, die nicht von vornherein auf einen begrenzten spezifischen Personenkreis zugeschnitten sind, sondern nach § 4a BKAG der Abwehr des internationalen Terrorismus allgemein dienen und hierbei in weitem Umfang auch gutgläubige Dritte mit erfassen können, ist eine hinreichende Wahrscheinlichkeit ihrer gegenwärtigen Betroffenheit in eigenen Rechten dargetan (vgl. BVerfGE 109, 279 <307 f.>; 113, 348 <363 f.>; 133, 277 <312 f. Rn. 86 f.>).

85

3. Die Verfassungsbeschwerden sind nach § 93 Abs. 3 BVerfGG fristgerecht eingelegt. Dies gilt auch hinsichtlich § 14 Abs. 1, 7 BKAG. Die Vorschrift wurde zwar nicht durch das hier in Rede stehende Gesetz zur Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus durch das Bundeskriminalamt vom 25. Dezember 2008 (BGBl I S. 3083) eingeführt oder modifiziert, sondern geht zurück auf das Bundeskriminalamtgesetz in der Fassung vom 7. Juli 1997 (BGBl I S. 1650) und wurde vor dem Inkrafttreten des Unterabschnitts 3a des Bundeskriminalamtgesetzes zuletzt durch Artikel 9 des Gesetzes zur Ausführung des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs vom 17. Juli 1998 vom 21. Juni 2002 (BGBl I S. 2144) geändert. Durch die Reform des Bundeskriminalamtgesetzes zum 1. Januar 2009 hat § 14 Abs. 1, 7 BKAG jedoch einen neuen Gehalt bekommen. Dem Bundeskriminalamt wurden hierdurch erstmals die Aufgabe der präventiven Bekämpfung des internationalen Terrorismus und entsprechend neue Befugnisse übertragen. Damit bezieht sich die Übermittlung von Daten gemäß § 14 Abs. 1, 7 BKAG nunmehr auch auf Informationen, die mit neuen Mitteln aufgrund der neuen Aufgabe erlangt werden. Hierin liegt eine geänderte Beschwer, die die Beschwerdefrist gegen die Vorschrift erneut in Gang setzt (vgl. BVerfGE 78, 350 <356>; 79, 1 <13 f.>; 80, 137 <149>; 100, 313 <356>).
C.

86

Soweit sich die Verfassungsbeschwerden gegen die Ermittlungs- und Überwachungsbefugnisse richten, sind sie in verschiedener Hinsicht begründet.
I.

87

In kompetenzrechtlicher Hinsicht sind die angegriffenen Vorschriften indes verfassungsgemäß.

88

1. Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes ergibt sich aus Art. 73 Abs. 1 Nr. 9a GG. Die angegriffenen neuen Befugnisse des Bundeskriminalamts beziehen sich ausschließlich auf die Wahrnehmung der Aufgaben nach § 4a Abs. 1 BKAG und sind hierdurch begrenzt. Satz 1 der Vorschrift lehnt sich dabei seinem Wortlaut nach eng an Art. 73 Abs. 1 Nr. 9a GG an, und Satz 2 BKAG führt dies, ausdrücklich auf Satz 1 bezugnehmend, weiter aus. Dass dabei auch die Straftatenverhütung erfasst wird, ist durch Art. 73 Abs. 1 Nr. 9a GG nicht ausgeschlossen. Grenzen einer Vorverlagerung von Maßnahmen in das Vorfeld konkreter Gefahren ergeben sich aus rechtsstaatlichen, insbesondere grundrechtlichen Anforderungen, nicht aber aus dem Kompetenztitel des Art. 73 Abs. 1 Nr. 9a GG. Der Begriff der Gefahrenabwehr schließt kompetenzrechtlich die Straftatenverhütung ein. Unbedenklich ist auch, dass die angegriffenen Vorschriften Handlungsbefugnisse begründen, die sich teilweise mit denen der Landespolizeibehörden überschneiden. Der verfassungsändernde Gesetzgeber hat dies bewusst in Kauf genommen.

89

2. Die angegriffenen Vorschriften sind auch nicht unter dem Gesichtspunkt der Verwaltungskompetenz zu beanstanden. Ungeachtet der Frage, wie das Verhältnis des Art. 87 Abs. 1 Satz 2 GG zu Art. 73 Abs. 1 Nr. 9a und 10 GG genauer zu bestimmen ist, zielte die Einführung des Art. 73 Abs. 1 Nr. 9a GG im Jahre 2006 von vornherein darauf, die neu zu schaffenden Regelungen in die Hände des Bundeskriminalamts zu legen. Nach dem Wortlaut des neuen Kompetenztitels soll ausdrücklich die Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus „durch das Bundeskriminalpolizeiamt“ geregelt werden. Deshalb lässt sich die Verwaltungskompetenz des Bundeskriminalamts als Bundesbehörde jedenfalls auf eine Zusammenschau von Art. 73 Abs. 1 Nr. 9a GG und Art. 87 Abs. 1 Satz 2 GG stützen.
II.

90

Die angegriffenen Überwachungs- und Ermittlungsbefugnisse ermächtigen zu Grundrechtseingriffen, die in Abhängigkeit von dem jeweils betroffenen Grundrecht und dem verschiedenen Eingriffsgewicht je einzeln am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und am Grundsatz der Normenklarheit und Bestimmtheit zu messen sind. Ihnen gemeinsam ist allerdings, dass die danach möglichen Eingriffe überwiegend schwer wiegen, mit dem Zweck der Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus aber ein legitimes Ziel verfolgen und hierfür auch geeignet und erforderlich sind.

91

1. Die angegriffenen Befugnisse ermächtigen das Bundeskriminalamt im Rahmen der Gefahrenabwehr und Straftatenverhütung zur heimlichen Erhebung personenbezogener Daten und begründen - unterschieden je nach der in Frage stehenden Befugnis - Eingriffe in die Grundrechte aus Art. 13 Abs. 1, Art. 10 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG, letzteres sowohl in seiner Ausprägung als Recht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme als auch als Recht auf informationelle Selbstbestimmung.

92

Es handelt sich bei all diesen Befugnissen um Rechtsgrundlagen für Überwachungs- und Ermittlungsmaßnahmen, die meistens ohne Kenntnis der Betroffenen heimlich durchgeführt werden und dabei tief in die Privatsphäre eingreifen können. Auch wenn hierbei berechtigte Vertraulichkeitserwartungen in verschiedenem Umfang berührt werden und das Eingriffsgewicht der Befugnisse sich deutlich unterscheidet, haben sie in aller Regel ein Eingriffsgewicht, das jedenfalls schwer wiegt. Anders liegt es nur bei einzelnen Maßnahmen gemäß § 20g Abs. 1, 2 BKAG.

93

2. Die Verfassungsmäßigkeit der Befugnisse hängt von den sich aus diesen Grundrechten jeweils ergebenden Grenzen und den hierbei für die Befugnisse je einzeln zu ermittelnden Verhältnismäßigkeitsanforderungen ab. Dabei muss die Einräumung dieser Befugnisse aber in allen Fällen nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit einem legitimen Ziel dienen und zu dessen Erreichung geeignet, erforderlich und verhältnismäßig im engeren Sinne sein (vgl. BVerfGE 67, 157 <173>; 70, 278 <286>; 104, 337 <347 ff.>; 120, 274 <318 f.>; 125, 260 <316>; stRspr).

94


Alle angegriffenen Befugnisse sind zudem am Grundsatz der Normenklarheit und Bestimmtheit zu messen, der der Vorhersehbarkeit von Eingriffen für die Bürgerinnen und Bürger, einer wirksamen Begrenzung der Befugnisse gegenüber der Verwaltung sowie der Ermöglichung einer effektiven Kontrolle durch die Gerichte dient (vgl. BVerfGE 113, 348 <375 ff.>; 120, 378 <407 f.>; 133, 277 <336 Rn. 140>; stRspr). Für die hier in Frage stehenden Befugnisse zur heimlichen Datenerhebung und -verarbeitung, die tief in die Privatsphäre hineinwirken können, stellt er besonders strenge Anforderungen. Da ihre Handhabung von den Betroffenen weitgehend nicht wahrgenommen und angegriffen werden kann, kann ihr Gehalt - anders als etwa durch Verwaltungsakt zu vollziehende auslegungsbedürftige Begriffe des Verwaltungsrechts sonst - nur sehr eingeschränkt im Wechselspiel von Anwendungspraxis und gerichtlicher Kontrolle konkretisiert werden. Im Einzelnen unterscheiden sich hierbei die Anforderungen allerdings maßgeblich nach dem Gewicht des Eingriffs und sind insoweit mit den jeweiligen materiellen Anforderungen der Verhältnismäßigkeit eng verbunden (vgl. BVerfGE 110, 33 <55>; 113, 348 <376>).

95

3. Die angegriffenen Vorschriften dienen einem legitimen Ziel und sind hierfür geeignet und erforderlich.

96

a) Die Befugnisse dienen einem legitimen Ziel. Sie geben dem Bundeskriminalamt Aufklärungsmittel an die Hand, mit denen dieses seine neue Aufgabe der Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus wahrnehmen soll. Der Begriff des internationalen Terrorismus ist dabei durch die Aufgabenbeschreibung des § 4a Abs. 1 BKAG und dessen Verweis auf § 129a Abs. 1, 2 StGB in enger Anlehnung an den EU-Rahmenbeschluss vom 13. Juni 2002 und die internationale Begrifflichkeit (ABl. EU Nr. L 164 S. 3; Entwurf einer Allgemeinen Konvention zum internationalen Terrorismus, in: Measures to eliminate international terrorism, Report of the Working Group vom 3. November 2010, UN Doc. A/C.6/65/L.10) definiert und - in Übereinstimmung mit den Vorstellungen des verfassungsändernden Gesetzgebers bei Schaffung des Art. 73 Abs. 1 Nr. 9a GG (vgl. BTDrucks 16/813, S. 12) - auf spezifisch charakterisierte Straftaten von besonderem Gewicht begrenzt. Straftaten mit dem Gepräge des Terrorismus in diesem Sinne zielen auf eine Destabilisierung des Gemeinwesens und umfassen hierbei in rücksichtsloser Instrumentalisierung anderer Menschen Angriffe auf Leib und Leben beliebiger Dritter. Sie richten sich gegen die Grundpfeiler der verfassungsrechtlichen Ordnung und das Gemeinwesen als Ganzes. Die Bereitstellung von wirksamen Aufklärungsmitteln zu ihrer Abwehr ist ein legitimes Ziel und für die demokratische und freiheitliche Ordnung von großem Gewicht (vgl. BVerfGE 115, 320 <357 f.>; 120, 274 <319>; 133, 277 <333 f. Rn. 133>).

97

b) Die Einräumung der fraglichen Überwachungs- und Ermittlungsbefugnisse ist zur Erreichung dieses Ziels geeignet. Sie geben dem Bundeskriminalamt Mittel zur Aufklärung an die Hand, die dazu beitragen können, den Gefahren des internationalen Terrorismus entgegenzutreten. Die verschiedenen Befugnisse sind hierfür jedenfalls im Grundsatz auch erforderlich. Jede Befugnis ermöglicht spezifische Maßnahmen, die jedenfalls nicht immer durch andere ersetzt werden können. Mildere Mittel, die gleichermaßen effektiv ebenso weitgehende Aufklärungsmöglichkeiten zur Abwehr des internationalen Terrorismus ermöglichten, sind nicht ersichtlich. Dies lässt freilich unberührt, dass auch die Anwendung der Befugnisse im Einzelfall dem Grundsatz der Geeignetheit und Erforderlichkeit zu folgen hat.
III.

98

Begrenzungen ergeben sich maßgeblich aus den Anforderungen der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne. Danach müssen die Überwachungs- und Ermittlungsbefugnisse mit Blick auf das Eingriffsgewicht angemessen ausgestaltet sein. Es ist Aufgabe des Gesetzgebers, einen Ausgleich zwischen der Schwere der mit den hier zur Prüfung stehenden Eingriffen in die Grundrechte potentiell Betroffener auf der einen Seite und der Pflicht des Staates zum Schutz der Grundrechte auf der anderen Seite zu schaffen.

99

1. Der Gesetzgeber hat dabei auf der einen Seite das Eingriffsgewicht der durch die angegriffenen Vorschriften erlaubten Maßnahmen in Rechnung zu stellen. Sie ermöglichen - je nach Befugnis in verschiedenem Umfang - tiefgreifende Eingriffe in die Privatsphäre und können im Einzelfall auch in private Rückzugsräume eindringen, deren Schutz für die Wahrung der Menschenwürde von besonderer Bedeutung ist. Dabei hat der Gesetzgeber in seine Abwägung auch die Entwicklung der Informationstechnik einzustellen, die die Reichweite von Überwachungsmaßnahmen zunehmend ausdehnt, ihre Durchführbarkeit erleichtert und Verknüpfungen erlaubt, die bis hin zur Erstellung von Persönlichkeitsprofilen reichen. Überwachungsmaßnahmen erhalten dadurch ein gesteigertes Eingriffsgewicht, dem in der Abwägung Rechnung zu tragen ist.

100

2. Auf der anderen Seite hat der Gesetzgeber einen wirksamen Schutz der Grundrechte und Rechtsgüter der Bürgerinnen und Bürger zu sichern. Für die verfassungsrechtliche Prüfung der Angemessenheit ist zu berücksichtigen, dass die verfassungsmäßige Ordnung, der Bestand und die Sicherheit des Bundes und der Länder sowie Leib, Leben und Freiheit der Person Schutzgüter von hohem verfassungsrechtlichem Gewicht sind. Dementsprechend hat das Bundesverfassungsgericht hervorgehoben, dass die Sicherheit des Staates als verfasster Friedens- und Ordnungsmacht und die von ihm - unter Achtung von Würde und Eigenwert des Einzelnen - zu gewährleistende Sicherheit der Bevölkerung Verfassungswerte sind, die mit anderen hochwertigen Verfassungsgütern im gleichen Rang stehen. Es hat den Staat deshalb für verpflichtet erachtet, das Leben, die körperliche Unversehrtheit und die Freiheit des Einzelnen zu schützen, das heißt vor allem, auch vor rechtswidrigen Eingriffen von Seiten anderer zu bewahren (vgl. BVerfGE 115, 320 <346 f.>; siehe auch BVerfGE 49, 24 <56 f.>; 90, 145 <195>; 115, 118 <152 f.>).

101

Bei der Prüfung der Angemessenheit der angegriffenen Vorschriften ist zudem zu beachten, dass es sich nicht um Normen handelt, die in ihrer Eingriffswirkung mit großer Streubreite gleichsam die gesamte Bevölkerung betreffen. Es geht vielmehr ganz überwiegend um Bestimmungen, die die Sicherheitsbehörden einzelfallbezogen in den Stand setzen sollen, schwerwiegende Gefahren für Rechtsgüter von Verfassungsrang abzuwehren und Straftaten von großem Gewicht zu verhüten.

102

Dabei ist die Entscheidung über die Erhebung der Daten im Blick auf die Gefahren, die vom internationalen Terrorismus ausgehen, auch für den Informationsaustausch zwischen den innerstaatlichen Stellen und die möglichst effektive Zusammenarbeit mit den Sicherheitsbehörden anderer Staaten von besonderer Bedeutung. Ein funktionierender Informationsaustausch setzt im Interesse des verfassungsrechtlich gebotenen Schutzes der Menschen eine Übermittlung von im Inland erhobenen Erkenntnissen voraus und ist im Gegenzug auf Unterrichtungen durch ausländische Stellen angewiesen.
IV.

103

Für tief in die Privatsphäre eingreifende Ermittlungs- und Überwachungsbefugnisse, wie sie ganz überwiegend hier in Frage stehen, hat das Bundesverfassungsgericht aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im engeren Sinne übergreifende Anforderungen abgeleitet. Diese betreffen spezifisch breitenwirksame Grundrechtsgefährdungspotenziale, insbesondere solche der elektronischen Datenverarbeitung (vgl. BVerfGE 100, 313 <358 ff.>; 115, 320 <341 ff.>; 125, 260 <316 ff.>; 133, 277 <335 ff. Rn. 138 ff.>), ebenso wie einzelfallbezogene Maßnahmen gegen Betroffene, die in den Fokus der handelnden Behörden geraten sind (BVerfGE 107, 299 <312 ff.> - Telekommunikationsverkehrsdatenerhebung -, BVerfGE 110, 33 <52 ff.>; 113, 348 <364 ff.>; 129, 208 <236 ff.> - Telekommunikationsüberwachung nach Bundes-, Landes- und Strafprozessrecht -, BVerfGE 109, 279 <335 ff.> - Wohnraumüberwachung -, BVerfGE 112, 304 <315 ff.> - GPS-Observierung -, BVerfGE 120, 274 <302 ff.> - Online-Durchsuchung -).

104

1. Heimliche Überwachungsmaßnahmen, sofern sie, wie die meisten der hier in Rede stehenden Maßnahmen, tief in die Privatsphäre eingreifen, sind mit der Verfassung nur vereinbar, wenn sie dem Schutz oder der Bewehrung von hinreichend gewichtigen Rechtsgütern dienen, für deren Gefährdung oder Verletzung im Einzelfall belastbare tatsächliche Anhaltspunkte bestehen. Sie setzen grundsätzlich voraus, dass der Adressat der Maßnahme in die mögliche Rechtsgutverletzung aus Sicht eines verständigen Dritten den objektiven Umständen nach verfangen ist. Eine vorwiegend auf den Intuitionen der Sicherheitsbehörden beruhende bloße Möglichkeit weiterführender Erkenntnisse genügt zur Durchführung solcher Maßnahmen nicht (vgl. BVerfGE 107, 299 <321 ff.>; 110, 33 <56>; 113, 348 <377 f., 380 f.>; 120, 274 <328>; 125, 260 <330>). Die Verfassung setzt so der Absenkung der Eingriffsschwellen für Maßnahmen der Straftatenverhütung, die heimlich durchgeführt werden und tief in die Privatsphäre hineinreichen können, deutliche Grenzen; für weniger tief in die Privatsphäre eingreifende Maßnahmen reichen die verfassungsrechtlich zulässigen Gestaltungsmöglichkeiten zur Straftatenverhütung demgegenüber weiter.

105

Bei der näheren Ausgestaltung der Einzelbefugnisse kommt es für deren Angemessenheit wie für die zu fordernde Bestimmtheit maßgeblich auf das Gewicht des jeweils normierten Eingriffs an. Je tiefer Überwachungsmaßnahmen in das Privatleben hineinreichen und berechtigte Vertraulichkeitserwartungen überwinden, desto strenger sind die Anforderungen. Besonders tief in die Privatsphäre dringen die Wohnraumüberwachung sowie der Zugriff auf informationstechnische Systeme.

106

a) Heimliche Überwachungsmaßnahmen müssen auf den Schutz oder die Bewehrung hinreichend gewichtiger Rechtsgüter begrenzt sein.

107

Für Maßnahmen, die der Strafverfolgung dienen und damit repressiven Charakter haben, kommt es auf das Gewicht der verfolgten Straftaten an, die der Gesetzgeber insoweit in - jeweils näher bestimmte - erhebliche, schwere und besonders schwere Straftaten eingeteilt hat. So bedarf die Durchführung einer Wohnraumüberwachung des Verdachts einer besonders schweren Straftat (vgl. BVerfGE 109, 279 <343 ff.>), die Durchführung einer Telekommunikationsüberwachung oder die Nutzung von vorsorglich erhobenen Telekommunikationsverkehrsdaten des Verdachts einer schweren Straftat (vgl. BVerfGE 125, 260 <328 f.>; 129, 208 <243>) und die Durchführung einer anlassbezogenen Telekommunikationsverkehrsdatenerhebung oder einer Observation etwa durch einen GPS-Sender einer - im ersten Fall durch Regelbeispiele konkretisierten - Straftat von erheblicher Bedeutung (vgl. BVerfGE 107, 299 <321 f.>; 112, 304 <315 f.>; zu letzterer Entscheidung vgl. auch EGMR, Uzun v. Deutschland, Entscheidung vom 2. September 2010, Nr. 35623/05, § 70, NJW 2011, S. 1333 <1337>, zu Art. 8 EMRK).

108

Für Maßnahmen, die der Gefahrenabwehr dienen und damit präventiven Charakter haben, kommt es unmittelbar auf das Gewicht der zu schützenden Rechtsgüter an (vgl. BVerfGE 125, 260 <329>). Heimliche Überwachungsmaßnahmen, die tief in das Privatleben hineinreichen, sind nur zum Schutz besonders gewichtiger Rechtsgüter zulässig. Hierzu gehören Leib, Leben und Freiheit der Person sowie der Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes (vgl. BVerfGE 120, 274 <328>; 125, 260 <330>). Einen uneingeschränkten Sachwertschutz hat das Bundesverfassungsgericht demgegenüber nicht als ausreichend gewichtig für solche Maßnahmen angesehen. Es hat den Zugriff auf vorsorglich gespeicherte Daten (vgl. BVerfGE 125, 260 <330>) oder die Durchführung von Wohnraumüberwachungen jedoch auch bei einer gemeinen Gefahr (vgl. BVerfGE 109, 279 <379>) und Online-Durchsuchungen bei einer Gefahr für Güter der Allgemeinheit, die die Existenz der Menschen berühren (vgl. BVerfGE 120, 274 <328>), für im Grundsatz mit der Verfassung vereinbar gehalten. Der Gesetzgeber ist nicht gehindert, die maßgebliche Schwelle für den Rechtsgüterschutz dieser Überwachungsmaßnahmen hiervon ausgehend auch einheitlich zu bestimmen.

109

b) Die Erhebung von Daten durch heimliche Überwachungsmaßnahmen mit hoher Eingriffsintensität ist im Bereich der Gefahrenabwehr zum Schutz der genannten Rechtsgüter grundsätzlich nur verhältnismäßig, wenn eine Gefährdung dieser Rechtsgüter im Einzelfall hinreichend konkret absehbar ist und der Adressat der Maßnahmen aus Sicht eines verständigen Dritten den objektiven Umständen nach in sie verfangen ist (vgl. BVerfGE 120, 274 <328 f.>; 125, 260 <330 f.>).

110

Auch diese Anforderungen hängen im Einzelnen zunächst von Art und Gewicht des Eingriffs ab. Für die besonders tief in die Privatsphäre eindringenden Eingriffe der Wohnraumüberwachung verlangt Art. 13 Abs. 4 GG eine dringende Gefahr. Der Begriff der dringenden Gefahr nimmt dabei nicht nur im Sinne des qualifizierten Rechtsgüterschutzes auf das Ausmaß, sondern auch auf die Wahrscheinlichkeit eines Schadens Bezug (vgl. BVerfGE 130, 1 <32>).

111

Im Übrigen müssen die Anforderungen an eine hinreichend konkret absehbare Gefahrenlage hinsichtlich der genannten Rechtsgüter im Verhältnis zur Belastung des Betroffenen bestimmt werden. Verfassungsrechtlich ausreichend sind hierfür zunächst die Anforderungen zur Abwehr konkreter, unmittelbar bevorstehender oder gegenwärtiger Gefahren gegenüber polizeipflichtigen Personen nach den Maßgaben des allgemeinen Sicherheitsrechts für die hier relevanten Schutzgüter. Der traditionelle polizeirechtliche Begriff der „konkreten Gefahr“ setzt eine Sachlage voraus, die bei ungehindertem Ablauf des objektiv zu erwartenden Geschehens im Einzelfall in absehbarer Zeit mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu einer Verletzung eines polizeilichen Schutzguts führt (vgl. BVerfGE 115, 320 <364>; BVerwGE 116, 347 <351>). Ein noch engerer zeitlicher Zusammenhang wird gefordert, wenn es nach der jeweiligen Ermächtigungsgrundlage auf eine „unmittelbar bevorstehende“ oder „gegenwärtige Gefahr“ ankommt (vgl. BVerwGE 45, 51 <57 f.>).

112

Der Gesetzgeber ist von Verfassungs wegen aber nicht von vornherein für jede Art der Aufgabenwahrnehmung auf die Schaffung von Eingriffstatbeständen beschränkt, die dem tradierten sicherheitsrechtlichen Modell der Abwehr konkreter, unmittelbar bevorstehender oder gegenwärtiger Gefahren entsprechen. Vielmehr kann er die Grenzen für bestimmte Bereiche mit dem Ziel schon der Straftatenverhütung auch weiter ziehen, indem er die Anforderungen an die Vorhersehbarkeit des Kausalverlaufs reduziert. Allerdings müssen die Eingriffsgrundlagen auch dann eine hinreichend konkretisierte Gefahr in dem Sinne verlangen, dass zumindest tatsächliche Anhaltspunkte für die Entstehung einer konkreten Gefahr für die Schutzgüter bestehen. Allgemeine Erfahrungssätze reichen insoweit allein nicht aus, um den Zugriff zu rechtfertigen. Vielmehr müssen bestimmte Tatsachen festgestellt sein, die im Einzelfall die Prognose eines Geschehens, das zu einer zurechenbaren Verletzung der hier relevanten Schutzgüter führt, tragen (vgl. BVerfGE 110, 33 <56 f., 61>; 113, 348 <377 f.>). Eine hinreichend konkretisierte Gefahr in diesem Sinne kann danach schon bestehen, wenn sich der zum Schaden führende Kausalverlauf noch nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit vorhersehen lässt, sofern bereits bestimmte Tatsachen auf eine im Einzelfall drohende Gefahr für ein überragend wichtiges Rechtsgut hinweisen. Die Tatsachen müssen dafür zum einen den Schluss auf ein wenigstens seiner Art nach konkretisiertes und zeitlich absehbares Geschehen zulassen, zum anderen darauf, dass bestimmte Personen beteiligt sein werden, über deren Identität zumindest so viel bekannt ist, dass die Überwachungsmaßnahme gezielt gegen sie eingesetzt und weitgehend auf sie beschränkt werden kann (BVerfGE 120, 274 <328 f.>; 125, 260 <330 f.>). In Bezug auf terroristische Straftaten, die oft durch lang geplante Taten von bisher nicht straffällig gewordenen Einzelnen an nicht vorhersehbaren Orten und in ganz verschiedener Weise verübt werden, können Überwachungsmaßnahmen auch dann erlaubt werden, wenn zwar noch nicht ein seiner Art nach konkretisiertes und zeitlich absehbares Geschehen erkennbar ist, jedoch das individuelle Verhalten einer Person die konkrete Wahrscheinlichkeit begründet, dass sie solche Straftaten in überschaubarer Zukunft begehen wird. Denkbar ist das etwa, wenn eine Person aus einem Ausbildungslager für Terroristen im Ausland in die Bundesrepublik Deutschland einreist.

113

Dagegen wird dem Gewicht eines Eingriffs durch heimliche polizeirechtliche Überwachungsmaßnahmen nicht hinreichend Rechnung getragen, wenn der tatsächliche Eingriffsanlass noch weiter in das Vorfeld einer in ihren Konturen noch nicht absehbaren konkreten Gefahr für die Schutzgüter der Norm verlegt wird. Eine Anknüpfung der Einschreitschwelle an das Vorfeldstadium ist verfassungsrechtlich angesichts der Schwere des Eingriffs nicht hinnehmbar, wenn nur relativ diffuse Anhaltspunkte für mögliche Gefahren bestehen. Die Tatsachenlage ist dann häufig durch eine hohe Ambivalenz der Bedeutung einzelner Beobachtungen gekennzeichnet. Die Geschehnisse können in harmlosen Zusammenhängen verbleiben, aber auch den Beginn eines Vorgangs bilden, der in eine Gefahr mündet (vgl. BVerfGE 120, 274 <329>; vgl. auch BVerfGE 110, 33 <59>; 113, 348 <377>). Solche Offenheit genügt für die Durchführung von eingriffsintensiven heimlichen Überwachungsmaßnahmen nicht. Nicht ausreichend für solche Maßnahmen ist insoweit etwa allein die Erkenntnis, dass sich eine Person zu einem fundamentalistischen Religionsverständnis hingezogen fühlt.

114

c) Gestufte Anforderungen ergeben sich hinsichtlich der Frage, wieweit Überwachungsmaßnahmen als Maßnahmen der Umfeldüberwachung auch gegenüber Personen durchgeführt werden dürfen, die nicht als Handlungs- oder Zustandsverantwortliche beziehungsweise Tatverdächtige in besonderer Verantwortung stehen.

115

Der Zugriff auf informationstechnische Systeme und die Wohnraumüberwachung dürfen sich unmittelbar nur gegen diejenigen als Zielperson richten, die für die drohende oder dringende Gefahr verantwortlich sind (vgl. BVerfGE 109, 279 <351, 352>; 120, 274 <329, 334>). Diese Maßnahmen dringen so tief in die Privatsphäre ein, dass sie auf weitere Personen nicht ausgedehnt werden dürfen. Verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist allerdings, wenn die gegen die Verantwortlichen angeordneten Maßnahmen, soweit unvermeidbar, auch Dritte miterfassen (vgl. BVerfGE 109, 279 <352 ff.>). Deshalb kann die Überwachung der Wohnung eines Dritten erlaubt werden, wenn aufgrund bestimmter Tatsachen vermutet werden kann, dass die Zielperson sich dort zur Zeit der Maßnahme aufhält, sie dort für die Ermittlungen relevante Gespräche führen wird und eine Überwachung ihrer Wohnung allein zur Erforschung des Sachverhalts nicht ausreicht (vgl. BVerfGE 109, 279 <353, 355 f.>). Ebenso kann eine Online-Durchsuchung auf informationstechnische Systeme Dritter erstreckt werden, wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Zielperson dort ermittlungsrelevante Informationen speichert und ein auf ihre eigenen informationstechnischen Systeme beschränkter Zugriff zur Erreichung des Ermittlungsziels nicht ausreicht.

116

Eine Anordnung von anderen heimlichen Überwachungsmaßnahmen ist auch unmittelbar gegenüber Dritten nicht schlechthin ausgeschlossen. In Betracht kommt insoweit eine Befugnis zur Überwachung von Personen aus dem Umfeld einer Zielperson, etwa von - näher einzugrenzenden - Kontaktpersonen oder Nachrichtenmittlern. Solche Befugnisse rechtfertigen sich aus der objektiven Natur der Gefahrenabwehr und der Wahrheitsermittlung im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren. Ihre Erstreckung auf Dritte steht unter strengen Verhältnismäßigkeitsanforderungen und setzt eine spezifische individuelle Nähe der Betroffenen zu der aufzuklärenden Gefahr oder Straftat voraus. Hierfür reicht es nicht schon, dass sie mit einer Zielperson überhaupt in irgendeinem Austausch stehen. Vielmehr bedarf es zusätzlicher Anhaltspunkte, dass der Kontakt einen Bezug zum Ermittlungsziel aufweist und so eine nicht unerhebliche Wahrscheinlichkeit besteht, dass die Überwachungsmaßnahme der Aufklärung der Gefahr dienlich sein wird (vgl. BVerfGE 107, 299 <322 f.>; 113, 348 <380 f.>). Eine Überwachung von Personen, die - allein gestützt auf die Tatsache eines Kontaktes zu einer Zielperson - erst versucht herauszufinden, ob sich hierüber weitere Ermittlungsansätze erschließen, ist verfassungsrechtlich unzulässig. Dies hindert hinsichtlich solcher Kontaktpersonen allerdings von Verfassungs wegen nicht Ermittlungsmaßnahmen geringerer Eingriffstiefe mit dem Ziel, gegebenenfalls die Eingriffsschwelle für intensivere Überwachungsmaßnahmen zu erreichen.

117

2. Übergreifende Anforderungen ergeben sich aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auch in verfahrensrechtlicher Hinsicht. Die hier ganz überwiegend in Rede stehenden eingriffsintensiven Überwachungs- und Ermittlungsmaßnahmen, bei denen damit zu rechnen ist, dass sie auch höchstprivate Informationen erfassen, und gegenüber den Betroffenen heimlich durchgeführt werden, bedürfen grundsätzlich einer vorherigen Kontrolle durch eine unabhängige Stelle, etwa in Form einer richterlichen Anordnung (vgl. dazu auch EGMR, Klass u.a. v. Deutschland, Urteil vom 6. September 1978, Nr. 5029/71, § 56; EGMR [GK], Zakharov v. Russland, Urteil vom 4. Dezember 2015, Nr. 47143/06, §§ 258, 275; EGMR, Szabó und Vissy v. Ungarn, Urteil vom 12. Januar 2016, Nr. 37138/14, § 77). Dies gilt für Maßnahmen der Wohnraumüberwachung bereits gemäß Art. 13 Abs. 3 und 4 GG (vgl. hierzu BVerfGE 109, 279 <357 ff.>) und folgt im Übrigen unmittelbar aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (vgl. BVerfGE 120, 274 <331 ff.>; 125, 260 <337 ff.>).

118

Der Gesetzgeber hat das Gebot vorbeugender unabhängiger Kontrolle in spezifischer und normenklarer Form mit strengen Anforderungen an den Inhalt und die Begründung der gerichtlichen Anordnung zu verbinden. Hieraus folgt zugleich das Erfordernis einer hinreichend substantiierten Begründung und Begrenzung des Antrags auf Anordnung, die es dem Gericht oder der unabhängigen Stelle erst erlaubt, eine effektive Kontrolle auszuüben. Insbesondere bedarf es der vollständigen Information seitens der antragstellenden Behörde über den zu beurteilenden Sachstand (vgl. BVerfGE 103, 142 <152 f.>). In Anknüpfung hieran ist es Aufgabe und Pflicht des Gerichts oder der sonst entscheidenden Personen, sich eigenverantwortlich ein Urteil darüber zu bilden, ob die beantragte heimliche Überwachungsmaßnahme den gesetzlichen Voraussetzungen entspricht. Hierfür die notwendigen sachlichen und personellen Voraussetzungen zu schaffen, obliegt der Landesjustizverwaltung und dem Präsidium des zuständigen Gerichts (vgl. BVerfGE 125, 260 <338>).

119

3. Neben den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die allgemeinen Eingriffsvoraussetzungen ergeben sich aus den jeweiligen Grundrechten in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG für die Durchführung von besonders eingriffsintensiven Überwachungsmaßnahmen besondere Anforderungen an den Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung.

120

a) Der verfassungsrechtliche Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung gewährleistet dem Individuum einen Bereich höchstpersönlicher Privatheit gegenüber Überwachung. Er wurzelt in den von den jeweiligen Überwachungsmaßnahmen betroffenen Grundrechten in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG und sichert einen dem Staat nicht verfügbaren Menschenwürdekern grundrechtlichen Schutzes gegenüber solchen Maßnahmen. Selbst überragende Interessen der Allgemeinheit können einen Eingriff in diesen absolut geschützten Bereich privater Lebensgestaltung nicht rechtfertigen (vgl. BVerfGE 109, 279 <313>; stRspr).

121

Zur Entfaltung der Persönlichkeit im Kernbereich privater Lebensgestaltung gehört die Möglichkeit, innere Vorgänge wie Empfindungen und Gefühle sowie Überlegungen, Ansichten und Erlebnisse höchstpersönlicher Art zum Ausdruck zu bringen (vgl. BVerfGE 109, 279 <313>; 120, 274 <335>; stRspr). Geschützt ist insbesondere die nichtöffentliche Kommunikation mit Personen des höchstpersönlichen Vertrauens, die in der berechtigten Annahme geführt wird, nicht überwacht zu werden, wie es insbesondere bei Gesprächen im Bereich der Wohnung der Fall ist. Zu diesen Personen gehören insbesondere Ehe- oder Lebenspartner, Geschwister und Verwandte in gerader Linie, vor allem, wenn sie im selben Haushalt leben, und können Strafverteidiger, Ärzte, Geistliche und enge persönliche Freunde zählen (vgl. BVerfGE 109, 279 <321 ff.>). Dieser Kreis deckt sich nur teilweise mit dem der Zeugnisverweigerungsberechtigten. Solche Gespräche verlieren dabei nicht schon dadurch ihren Charakter als insgesamt höchstpersönlich, dass sich in ihnen Höchstpersönliches und Alltägliches vermischen (vgl. BVerfGE 109, 279 <330>; 113, 348 <391 f.>).

122

Demgegenüber ist die Kommunikation unmittelbar über Straftaten nicht geschützt, selbst wenn sie auch Höchstpersönliches zum Gegenstand hat. Die Besprechung und Planung von Straftaten gehört ihrem Inhalt nach nicht zum Kernbereich privater Lebensgestaltung, sondern hat Sozialbezug (vgl. BVerfGE 80, 367 <375>; 109, 279 <319 f., 328>; 113, 348 <391>). Dies bedeutet freilich nicht, dass der Kernbereich unter einem allgemeinen Abwägungsvorbehalt in Bezug auf öffentliche Sicherheitsinteressen steht. Ein höchstpersönliches Gespräch fällt nicht schon dadurch aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung heraus, dass es für die Aufklärung von Straftaten oder Gefahren hilfreiche Aufschlüsse geben kann. Aufzeichnungen oder Äußerungen im Zwiegespräch, die zum Beispiel ausschließlich innere Eindrücke und Gefühle wiedergeben und keine Hinweise auf konkrete Straftaten enthalten, gewinnen nicht schon dadurch einen Gemeinschaftsbezug, dass sie Ursachen oder Beweggründe eines strafbaren Verhaltens freizulegen vermögen (vgl. BVerfGE 109, 279 <319>). Auch können trotz Straftatenbezugs Situationen, in denen Einzelnen gerade ermöglicht werden soll, ein Fehlverhalten einzugestehen oder sich auf dessen Folgen einzurichten, wie Beichtgespräche oder vertrauliche Gespräche mit einem Psychotherapeuten oder einem Strafverteidiger, der höchstpersönlichen Privatsphäre unterfallen, die dem Staat absolut entzogen ist (vgl. BVerfGE 109, 279 <322>). Ein hinreichender Sozialbezug besteht demgegenüber dann, wenn Gespräche - auch mit Vertrauenspersonen - sonst unmittelbar Straftaten zu ihrem Gegenstand haben (vgl. BVerfGE 109, 279 <319>).

123

b) Der Kernbereich privater Lebensgestaltung beansprucht gegenüber allen Überwachungsmaßnahmen Beachtung. Können sie typischerweise zur Erhebung kernbereichsrelevanter Daten führen, muss der Gesetzgeber Regelungen schaffen, die einen wirksamen Schutz normenklar gewährleisten (vgl. BVerfGE 109, 279 <318 f.>; 113, 348 <390 f.>; 120, 274 <335 ff.>). Außerhalb solch verletzungsgeneigter Befugnisse bedarf es eigener Regelungen nicht. Grenzen, die sich im Einzelfall auch hier gegenüber einem Zugriff auf höchstpersönliche Informationen ergeben können, sind bei deren Anwendung unmittelbar von Verfassungs wegen zu beachten.

124

c) Der Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung ist strikt und darf nicht durch Abwägung mit den Sicherheitsinteressen nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes relativiert werden (vgl. BVerfGE 109, 279 <314>; 120, 273 <339>; stRspr). Dies bedeutet jedoch nicht, dass jede tatsächliche Erfassung von höchstpersönlichen Informationen stets einen Verfassungsverstoß oder eine Menschenwürdeverletzung begründet. Angesichts der Handlungs- und Prognoseunsicherheiten, unter denen Sicherheitsbehörden ihre Aufgaben wahrnehmen, kann ein unbeabsichtigtes Eindringen in den Kernbereich privater Lebensgestaltung im Rahmen von Überwachungsmaßnahmen nicht für jeden Fall von vornherein ausgeschlossen werden (vgl. BVerfGE 120, 274 <337 f.>). Die Verfassung verlangt jedoch für die Ausgestaltung der Überwachungsbefugnisse die Achtung des Kernbereichs als eine strikte, nicht frei durch Einzelfallerwägungen überwindbare Grenze.

125

aa) Absolut ausgeschlossen ist damit zunächst, den Kernbereich zum Ziel staatlicher Ermittlungen zu machen und diesbezügliche Informationen in irgendeiner Weise zu verwerten oder sonst zur Grundlage der weiteren Ermittlungen zu nehmen. Auch wenn hierdurch weiterführende Erkenntnisse erlangt werden können, scheidet ein gezielter Zugriff auf die höchstprivate Sphäre - zu der freilich nicht die Besprechung von Straftaten gehört (siehe oben C IV 3 a) - von vornherein aus. Insbesondere darf der Kernbereichsschutz nicht unter den Vorbehalt einer Abwägung im Einzelfall gestellt werden.

126

bb) Des Weiteren folgt hieraus, dass bei der Durchführung von Überwachungsmaßnahmen dem Kernbereichsschutz auf zwei Ebenen Rechnung getragen werden muss. Zum einen sind auf der Ebene der Datenerhebung Vorkehrungen zu treffen, die eine unbeabsichtigte Miterfassung von Kernbereichsinformationen nach Möglichkeit ausschließen. Zum anderen sind auf der Ebene der nachgelagerten Auswertung und Verwertung die Folgen eines dennoch nicht vermiedenen Eindringens in den Kernbereich privater Lebensgestaltung strikt zu minimieren (vgl. BVerfGE 120, 274 <337 ff.>; 129, 208 <245 f.>).

127

d) In diesem Rahmen kann der Gesetzgeber den Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung in Abhängigkeit von der Art der Befugnis und deren Nähe zum absolut geschützten Bereich privater Lebensgestaltung für die verschiedenen Überwachungsmaßnahmen verschieden ausgestalten (vgl. BVerfGE 120, 274 <337>; 129, 208 <245>). Er hat hierbei jedoch auf beiden Ebenen Vorkehrungen zu treffen.

128

Auf der Ebene der Datenerhebung ist bei verletzungsgeneigten Maßnahmen durch eine vorgelagerte Prüfung sicherzustellen, dass die Erfassung von kernbereichsrelevanten Situationen oder Gesprächen jedenfalls insoweit ausgeschlossen ist, als sich diese mit praktisch zu bewältigendem Aufwand im Vorfeld vermeiden lässt (vgl. BVerfGE 109, 279 <318, 320, 324>; 113, 348 <391 f.>; 120, 274 <338>). Für Gespräche mit Personen höchstpersönlichen Vertrauens kann unter Umständen, die typischerweise auf eine vertrauliche Situation hinweisen, die Vermutung geboten sein, dass sie dem Kernbereichsschutz unterfallen und nicht überwacht werden dürfen (vgl. BVerfGE 109, 279 <321 ff.>; 129, 208 <247>). Eine solche Vermutung darf der Gesetzgeber als widerleglich ausgestalten und dabei insbesondere darauf abstellen, ob im Einzelfall Anhaltspunkte bestehen, dass in dem Gespräch Straftaten besprochen werden. Demgegenüber reicht es zur Widerlegung der Höchstvertraulichkeit eines Gespräches nicht, dass neben höchstpersönlichen Fragen auch Alltägliches zur Sprache kommen wird (vgl. BVerfGE 109, 279 <330>). In jedem Fall ist der Abbruch der Maßnahme vorzusehen, wenn erkennbar wird, dass eine Überwachung in den Kernbereich privater Lebensgestaltung eindringt (vgl. BVerfGE 109, 279 <318, 324, 331>; 113, 348 <392>; 120, 274 <338>).

129

Auf der Ebene der Auswertung und Verwertung hat der Gesetzgeber für den Fall, dass die Erfassung von kernbereichsrelevanten Informationen nicht vermieden werden konnte, in der Regel die Sichtung der erfassten Daten durch eine unabhängige Stelle vorzusehen, die die kernbereichsrelevanten Informationen vor deren Verwendung durch die Sicherheitsbehörden herausfiltert (vgl. BVerfGE 109, 279 <331 f., 333 f.>; 120, 274 <338 f.>). Die von Verfassungs wegen geforderten verfahrensrechtlichen Sicherungen gebieten jedoch nicht in allen Fallkonstellationen, dass neben staatlichen Ermittlungsbehörden weitere unabhängige Stellen eingerichtet werden (vgl. BVerfGE 129, 208 <250>). Die Erforderlichkeit einer solchen Sichtung hängt von der Art sowie gegebenenfalls auch der Ausgestaltung der jeweiligen Befugnis ab. Dabei kann auf die Sichtung durch eine unabhängige Stelle umso eher verzichtet werden, je verlässlicher schon auf der ersten Stufe die Erfassung kernbereichsrelevanter Sachverhalte vermieden wird und umgekehrt. Unberührt bleibt auch die Möglichkeit des Gesetzgebers, die notwendigen Regelungen zu treffen, um den Ermittlungsbehörden für Ausnahmefälle bei Gefahr im Verzug auch kurzfristig erste Handlungsmöglichkeiten einzuräumen. In jedem Fall hat der Gesetzgeber die sofortige Löschung von gegebenenfalls erfassten höchstpersönlichen Daten vorzusehen und jegliche Verwendung auszuschließen. Die Löschung ist in einer Weise zu protokollieren, die eine spätere Kontrolle ermöglicht (vgl. BVerfGE 109, 279 <318 f., 332 f.>; 113, 348 <392>; 120, 274 <337, 339>).

130

4. Eigene verfassungsrechtliche Grenzen ergeben sich hinsichtlich des Zusammenwirkens der verschiedenen Überwachungsmaßnahmen. Mit der Menschenwürde unvereinbar ist es, wenn eine Überwachung sich über einen längeren Zeitraum erstreckt und derart umfassend ist, dass nahezu lückenlos alle Bewegungen und Lebensäußerungen des Betroffenen registriert werden und zur Grundlage für ein Persönlichkeitsprofil werden können (vgl. BVerfGE 109, 279 <323>; 112, 304 <319>; 130, 1 <24>; stRspr). Beim Einsatz moderner, insbesondere dem Betroffenen verborgener Ermittlungsmethoden müssen die Sicherheitsbehörden mit Rücksicht auf das dem „additiven“ Grundrechtseingriff innewohnende Gefährdungspotenzial koordinierend darauf Bedacht nehmen, dass das Ausmaß der Überwachung insgesamt beschränkt bleibt (vgl. BVerfGE 112, 304 <319 f.>). Die aus dem Gebot der Zweckbindung folgenden Grenzen für einen Austausch von Daten zwischen den Behörden bleiben hierdurch unberührt (siehe unten D I).

131

5. Eigene verfassungsrechtliche Grenzen heimlicher Überwachungsmaßnahmen können sich unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten gegenüber bestimmten Berufs- und anderen Personengruppen ergeben, deren Tätigkeit von Verfassungs wegen eine besondere Vertraulichkeit voraussetzt. Der Gesetzgeber muss gewährleisten, dass die Behörden bei der Anordnung und Durchführung von Überwachungsmaßnahmen solche Grenzen beachten.

132

Angesichts der schon grundsätzlich hohen Anforderungen an die Anordnung solcher Maßnahmen und der großen Bedeutung einer effektiven Terrorismusabwehr für die demokratische und freiheitliche Ordnung (vgl. BVerfGE 115, 320 <357 f.>; 120, 274 <319>; 133, 277 <333 f. Rn. 133>), die Sicherheit der Menschen sowie mit Blick auf die Vielgestaltigkeit der in Ausgleich zu bringenden Gesichtspunkte und zugleich die Notwendigkeit, Missbrauchsmöglichkeiten zu begrenzen, ist der Gesetzgeber in der Regel nicht verpflichtet, bestimmte Personengruppen von Überwachungsmaßnahmen von vornherein gänzlich auszunehmen (vgl. BVerfGE 129, 208 <262 ff.>). Vielmehr kann er den Schutz der Vertraulichkeit jedenfalls in der Regel von einer Abwägung im Einzelfall abhängig machen.

133

Bei der Abgrenzung und Ausgestaltung der zu schützenden Vertraulichkeitsbeziehungen verbleibt dem Gesetzgeber ein Gestaltungsspielraum. Er hat das öffentliche Interesse an einer effektiven Gefahrenabwehr in Ausgleich zu bringen mit dem Gewicht, das die Maßnahmen gegenüber auf besondere Vertraulichkeit verwiesenen Berufsgeheimnisträgern entfalten. Dabei hat er neben dem spezifischen Eingriffsgewicht, das diese Maßnahmen gegenüber solchen Personen hinsichtlich der insoweit allgemein maßgeblichen Grundrechte entfalten, auch zu berücksichtigen, wie sie sich auf weitere Grundrechte, insbesondere auf Art. 4 Abs. 1, Art. 5 Abs. 1 und Art. 12 Abs. 1 GG oder das freie Mandat nach Art. 38 Abs. 1 GG auswirken. Sofern er hierbei einzelne Berufsgruppen einem strikteren Schutz unterstellt, müssen diese in Bezug auf die Überwachungsziele geeignet abgegrenzt sein.

134

6. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz stellt auch Anforderungen an Transparenz, individuellen Rechtsschutz und aufsichtliche Kontrolle (BVerfGE 133, 277 <365 Rn. 204>; vgl. auch BVerfGE 65, 1 <44 ff.>; 100, 313 <361, 364>; 109, 279 <363 f.>; 125, 260 <334 ff.>; stRspr; vgl. ähnlich auch Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zum Zwecke der Verhütung, Untersuchung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung sowie zum freien Datenverkehr vom 25. Januar 2012, KOM[2012] 10 endgültig - Stand nach Abschluss des Trilogs, 16. Dezember 2015: 15174/15; Stand 28. Januar 2016: 5463/16, Anlage). Die insoweit geltenden Anforderungen ergeben sich aus dem jeweiligen Grundrecht in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG (vgl. BVerfGE 125, 260 <335>; 133, 277 <366 Rn. 206>).

135

Transparenz der Datenerhebung und -verarbeitung soll dazu beitragen, dass Vertrauen und Rechtssicherheit entstehen können und der Umgang mit Daten in einen demokratischen Diskurs eingebunden bleibt (BVerfGE 133, 277 <366 Rn. 206>). Durch sie soll, soweit möglich, den Betroffenen subjektiver Rechtsschutz ermöglicht und zugleich einer diffusen Bedrohlichkeit geheimer staatlicher Beobachtung entgegengewirkt werden (vgl. BVerfGE 125, 260 <335>; ähnlich EuGH, Urteil vom 8. April 2014 - C-293/12, C-594/12 -, Digital Rights Ireland Ldt/Minister for Communications, Marine and Natural Resources u.a., NJW 2014, S. 2169 <2170>, Rn. 37). Je weniger die Gewährleistung subjektiven Rechtsschutzes möglich ist, desto größere Bedeutung erhalten dabei Anforderungen an eine wirksame aufsichtliche Kontrolle und an die Transparenz des Behördenhandelns gegenüber der Öffentlichkeit (vgl. BVerfGE 133, 277 <366 f. Rn. 207>).

136

a) Zu den Anforderungen an die verhältnismäßige Ausgestaltung der fraglichen Überwachungsmaßnahmen gehört die gesetzliche Anordnung von Benachrichtigungspflichten. Da solche Maßnahmen, um ihren Zweck zu erreichen, heimlich durchgeführt werden müssen, hat der Gesetzgeber zur Gewährleistung subjektiven Rechtsschutzes im Sinne des Art. 19 Abs. 4 GG vorzusehen, dass die Betroffenen zumindest nachträglich von den Überwachungsmaßnahmen grundsätzlich in Kenntnis zu setzen sind. Ausnahmen kann er in Abwägung mit verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgütern Dritter vorsehen. Sie sind jedoch auf das unbedingt Erforderliche zu beschränken (BVerfGE 125, 260 <336>). Denkbar sind Ausnahmen von den Benachrichtigungspflichten etwa, wenn die Kenntnis von der Maßnahme dazu führen würde, dass diese ihren Zweck verfehlt, wenn die Benachrichtigung nicht ohne Gefährdung von Leib und Leben einer Person geschehen kann, oder wenn ihr überwiegende Belange einer betroffenen Person entgegenstehen, etwa weil durch die Benachrichtigung von einer Maßnahme, die keine weiteren Folgen gehabt hat, der Grundrechtseingriff noch vertieft würde. Liegen zwingende Gründe vor, die eine nachträgliche Benachrichtigung ausschließen, ist dies richterlich zu bestätigen und in regelmäßigen Abständen zu prüfen (BVerfGE 125, 260 <336 f.>).

137

b) Zur Flankierung von informationsbezogenen Eingriffen, deren Vornahme oder Umfang die Betroffenen nicht sicher abschätzen können, hat der Gesetzgeber überdies Auskunftsrechte vorzusehen. Einschränkungen sind nur zulässig, wenn sie gegenläufigen Interessen von größerem Gewicht dienen. Gesetzliche Ausschlusstatbestände müssen sicherstellen, dass die betroffenen Interessen einander umfassend und auch mit Blick auf den Einzelfall zugeordnet werden (BVerfGE 120, 351 <365>). Wenn dann aber dennoch die praktische Wirksamkeit solcher Auskunftsrechte angesichts der Art der Aufgabenwahrnehmung - wie bei der heimlichen Datenverarbeitung zur Abwehr von Gefahren durch den internationalen Terrorismus - sehr begrenzt bleibt, ist das verfassungsrechtlich hinnehmbar (vgl. BVerfGE 133, 277 <367 f. Rn. 209 ff.>).

138

c) Eine verhältnismäßige Ausgestaltung der Überwachungsmaßnahmen verlangt im Lichte des Art. 19 Abs. 4 GG außerdem, dass die Betroffenen nach Benachrichtigung in zumutbarer Weise eine gerichtliche Rechtmäßigkeitskontrolle erwirken können (vgl. hierzu auch Art. 51, Art. 52 des Vorschlags für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zum Zwecke der Verhütung, Untersuchung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung sowie zum freien Datenverkehr, a.a.O.).

139

Überdies setzt eine verhältnismäßige Ausgestaltung wirksame Sanktionen bei Rechtsverletzungen voraus. Würden auch schwere Verletzungen der Eingriffsvoraussetzungen im Ergebnis sanktionslos bleiben mit der Folge, dass der Schutz des Persönlichkeitsrechts angesichts der immateriellen Natur dieses Rechts verkümmern würde, widerspräche dies der Verpflichtung der staatlichen Gewalt, die Entfaltung der Persönlichkeit wirksam zu schützen. Dies kann insbesondere der Fall sein, wenn eine unberechtigte Erhebung oder Verwendung der Daten mangels materiellen Schadens regelmäßig ohne einen der Genugtuung der Betroffenen dienenden Ausgleich bliebe. Der Gesetzgeber hat diesbezüglich allerdings einen weiten Gestaltungsspielraum (vgl. BVerfGE 125, 260 <339 f.> m.w.N.).

140

d) Weil eine Transparenz der Datenerhebung und -verarbeitung sowie die Ermöglichung individuellen Rechtsschutzes für heimliche Überwachungsmaßnahmen nur sehr eingeschränkt sichergestellt werden können, kommt der Gewährleistung einer effektiven aufsichtlichen Kontrolle umso größere Bedeutung zu. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz stellt für tief in die Privatsphäre reichende Überwachungsmaßnahmen deshalb an eine wirksame Ausgestaltung dieser Kontrolle sowohl auf der Ebene des Gesetzes als auch der Verwaltungspraxis gesteigerte Anforderungen (vgl. BVerfGE 133, 277 <369 Rn. 214>).

141

Die Gewährleistung einer wirksamen aufsichtlichen Kontrolle setzt zunächst eine mit wirksamen Befugnissen ausgestattete Stelle - wie nach geltendem Recht die Bundesdatenschutzbeauftragte - voraus (vgl. grundlegend BVerfGE 65, 1 <46>). Dazu ist erforderlich, dass die Datenerhebungen vollständig protokolliert werden. Es muss durch technische und organisatorische Maßnahmen sichergestellt werden, dass die Daten der Datenschutzbeauftragten in praktikabel auswertbarer Weise zur Verfügung stehen und die Protokollierung hinreichende Angaben zu dem zu kontrollierenden Vorgang enthält (BVerfGE 133, 277 <370 Rn. 215>). Angesichts der Kompensationsfunktion der aufsichtlichen Kontrolle für den schwach ausgestalteten Individualrechtsschutz kommt deren regelmäßiger Durchführung besondere Bedeutung zu und sind solche Kontrollen in angemessenen Abständen - deren Dauer ein gewisses Höchstmaß, etwa zwei Jahre, nicht überschreiten darf - durchzuführen. Dies ist bei der Ausstattung der Aufsichtsinstanz zu berücksichtigen (vgl. BVerfGE 133, 277 <370 f. Rn. 217>). Die Gewährleistung der verfassungsrechtlichen Anforderungen einer wirksamen aufsichtlichen Kontrolle obliegt dem Gesetzgeber und den Behörden gemeinsam (vgl. BVerfGE 133, 277 <371 Rn. 220>).

142

e) Zur Gewährleistung von Transparenz und Kontrolle bedarf es schließlich einer gesetzlichen Regelung von Berichtspflichten.

143

Da sich die Durchführung von heimlichen Überwachungsmaßnahmen der Wahrnehmung der Betroffenen und der Öffentlichkeit entzieht und dem auch Benachrichtigungspflichten oder Auskunftsrechte mit der Möglichkeit anschließenden subjektiven Rechtsschutzes nur begrenzt entgegenwirken können, sind hinsichtlich der Wahrnehmung dieser Befugnisse regelmäßige Berichte des Bundeskriminalamts gegenüber Parlament und Öffentlichkeit gesetzlich sicherzustellen. Sie sind erforderlich und müssen hinreichend gehaltvoll sein, um eine öffentliche Diskussion über Art und Ausmaß der auf diese Befugnisse gestützten Datenerhebung, einschließlich der Handhabung der Benachrichtigungspflichten und Löschungspflichten, zu ermöglichen und diese einer demokratischen Kontrolle und Überprüfung zu unterwerfen (vgl. BVerfGE 133, 277 <372 Rn. 221 f.>).

144

7. Zu den übergreifenden Verhältnismäßigkeitsanforderungen gehört auch die Regelung von Löschungspflichten (vgl. BVerfGE 65, 1 <46>; 133, 277 <366 Rn. 206>; stRspr). Mit ihnen ist sicherzustellen, dass eine Verwendung personenbezogener Daten auf die die Datenverarbeitung rechtfertigenden Zwecke begrenzt bleibt und nach deren Erledigung nicht mehr möglich ist. Die Löschung der Daten ist zur Gewährleistung von Transparenz und Kontrolle zu protokollieren.
V.

145

Die angegriffenen polizeirechtlichen Überwachungsbefugnisse genügen den vorstehend dargelegten verfassungsrechtlichen Anforderungen hinsichtlich ihrer jeweiligen Eingriffsvoraussetzungen in verschiedener Hinsicht nicht.

146

1. Nur teilweise mit der Verfassung vereinbar ist § 20g Abs. 1 bis 3 BKAG.

147

a) § 20g Abs. 1 BKAG erlaubt die Überwachung außerhalb von Wohnungen unter dem Einsatz besonderer, in § 20g Abs. 2 BKAG näher bestimmten Mittel der Datenerhebung. Er ermächtigt das Bundeskriminalamt damit zu Eingriffen in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG).

148

Die Vorschrift ermächtigt demgegenüber nicht auch zu Eingriffen in Art. 10 Abs. 1 GG. Anders als die §§ 20l, 20m BKAG erlauben die in § 20g Abs. 2 BKAG genannten Mittel keine Maßnahmen, die in das Telekommunikationsgeheimnis eingreifen. Sie gestatten auch keine Maßnahmen, die in das Recht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme eingreifen, wie eine Manipulation von solchen Systemen zur Observation. Auch ist die Vorschrift nicht an Art. 13 Abs. 1 GG zu messen. Sie berechtigt allein zur Überwachung außerhalb von Wohnungen (vgl. BTDrucks 16/9588, S. 23) und setzt damit voraus, dass auf sie gestützte Überwachungsmaßnahmen, wie gegebenenfalls auch technisch sichergestellt werden muss, an der Wohnungstür enden. Die darüber hinausgehenden Befugnisse des § 20g Abs. 4 BKAG sind nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens.

149

b) Hinsichtlich seines Eingriffsgewichts deckt § 20g Abs. 1, 2 BKAG ein weites Spektrum ab. Es umfasst hierbei auch gravierende Eingriffe.

150

Die Vorschrift erlaubt Überwachungen außerhalb von Wohnungen mit den in Absatz 2 genannten Mitteln. Hierzu gehören insbesondere die längerfristige Observation, die Erstellung von heimlichen Bildaufzeichnungen, das Abhören des nichtöffentlich gesprochenen Wortes, das Nachverfolgen mittels Peilsendern oder der Einsatz von Vertrauenspersonen und Verdeckten Ermittlern.

151

Das Eingriffsgewicht dieser Maßnahmen kann sehr unterschiedlich sein. Es reicht von eher geringeren bis mittleren Eingriffen, wie dem Erstellen einzelner Fotos oder der zeitlich begrenzten schlichten Beobachtung, bis zu schweren Eingriffen wie dem langfristig-dauerhaften heimlichen Aufzeichnen von Wort und Bild einer Person. Insbesondere wenn diese Maßnahmen gebündelt durchgeführt werden und dabei unter Nutzung moderner Technik darauf zielen, möglichst alle Äußerungen und Bewegungen zu erfassen und bildlich wie akustisch festzuhalten, können sie tief in die Privatsphäre eindringen und ein besonders schweres Eingriffsgewicht erlangen.

152

Ebenso wie die Abwendung von anderen gewichtigen Rechtsgutverletzungen oder die Verfolgung von erheblichen Straftaten kann das öffentliche Interesse an einer effektiven Terrorismusabwehr solche Eingriffe jedoch rechtfertigen (siehe oben C II 3 a). Vorausgesetzt ist dabei, dass sie verhältnismäßig ausgestaltet sind. Das ist hier allerdings nur teilweise der Fall.

153

c) Nicht zu beanstanden ist die an das allgemeine Sicherheitsrecht angelehnte Regelung der Eingriffsvoraussetzungen in § 20g Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 BKAG.

154

aa) Die Vorschrift begrenzt Überwachungsmaßnahmen auf den Schutz hinreichend gewichtiger Rechtsgüter.

155

Dies gilt zunächst insoweit, als sie Maßnahmen zum Schutz des Bestandes oder der Sicherheit des Staates oder von Leib, Leben oder Freiheit einer Person erlaubt. Nichts anderes gilt aber auch, soweit sie Überwachungsmaßnahmen zum Schutz von Sachen von bedeutendem Wert gestattet, deren Erhaltung im öffentlichen Interesse geboten ist. Bei verständiger Auslegung kann hierunter nicht schon allein der Schutz von bedeutsamen Sachwerten verstanden werden. Gemeint sind hier im gesetzlichen Zusammenhang mit der Terrorismusabwehr vielmehr etwa wesentliche Infrastruktureinrichtungen oder sonstige Anlagen mit unmittelbarer Bedeutung für das Gemeinwesen (vgl. BVerfGE 133, 277 <365 Rn. 203>).

156

Die Eingriffsbefugnisse sind dabei gemäß § 20g Abs. 1 Nr. 1 BKAG darüber hinaus weiter dadurch eingeschränkt, dass Maßnahmen zum Schutz der genannten Rechtsgüter nur erlaubt sind, wenn diese durch eine der in § 4a Abs. 1 Satz 2 BKAG genannten Straftaten bedroht sind. Dies ergibt sich schon aus der Aufgabennorm des § 4a BKAG selbst, in die die Befugnisse der §§ 20a ff. BKAG eingebunden sind. Die Eingriffsbefugnisse werden so auf die Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus begrenzt. Dabei verweist der Gesetzgeber weder lediglich auf einen unbestimmten Begriff des Terrorismus noch pauschal auf § 129a StGB als solchen, sondern bestimmt, dass die Gefahr für die Rechtsgüter von bestimmten, in § 129a StGB einzeln festgelegten und besonders qualifizierten Straftaten ausgehen muss. Die Norm ist so auf den Schutz von besonders gewichtigen Rechtsgütern vor besonders bedrohlichen Angriffen begrenzt. Ungeachtet der Frage, wo diesbezüglich die verfassungsrechtlichen Grenzen für solche Maßnahmen im Allgemeinen - etwa auch für entsprechende Befugnisse nach den Landespolizeigesetzen - liegen, wird damit jedenfalls vorliegend den Verhältnismäßigkeitsanforderungen genügt.

157

Demgegenüber kann die in § 20g Abs. 1 Nr. 1 BKAG erfolgte Bezugnahme auf die in § 20a Abs. 2 BKAG enthaltene Legaldefinition der Gefahr nicht dahingehend verstanden werden, dass § 20a Abs. 2 BKAG die Begrenzung der Rechtsgüter in § 20g Abs. 1 Nr. 1 BKAG überspielt und schon für sich jede Gefahr für die öffentliche Sicherheit im Zusammenhang mit Straftaten gemäß § 4a Abs. 1 Satz 2 BKAG ausreichen lässt. Zwar konkretisiert § 20a Abs. 2 BKAG den Gefahrenbegriff für alle nachfolgenden Befugnisse hinsichtlich des Erfordernisses der Einzelfallbezogenheit. Er hat bei verständiger und verfassungsrechtlich gebotener Auslegung jedoch nicht die Funktion, die in den Einzelbefugnissen spezifisch begrenzten Anforderungen an den Rechtsgüterschutz aufzuheben.

158

bb) § 20g Abs. 1 Nr. 1 BKAG setzt auch einen hinreichend konkretisierten Anlass für die Anordnung der Maßnahmen voraus. Die Vorschrift stellt auf das Vorliegen einer Gefahr ab. Gemäß § 20a Abs. 2 BKAG ist hierunter eine „im Einzelfall bestehende Gefahr“ und damit eine konkrete Gefahr im Sinne des allgemeinen Sicherheitsrechts zu verstehen. Angesichts der Konturen, die dieser Begriff durch die fachgerichtliche Rechtsprechung erhalten hat, sind hiergegen unter Bestimmtheits- und Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten keine Bedenken zu erheben.

159

cc) Keine verfassungsrechtlichen Bedenken bestehen weiter gegen die in § 20g Abs. 1 Nr. 1 BKAG vorgenommene Bestimmung der Adressaten der Maßnahmen unter Rückgriff auf §§ 17, 18 und 20 BPolG und damit die Grundsätze der polizeirechtlichen Verantwortlichkeit. Der Gesetzgeber darf auch insoweit auf die Figuren des allgemeinen Sicherheitsrechts zurückgreifen. Ob hierbei im konkreten Kontext der Terrorismusabwehr durch das Bundeskriminalamt die Zustandsverantwortlichkeit gemäß § 18 BPolG praktisch wirksam werden kann, oder ob die Vorschrift insoweit im Ergebnis leerläuft (vgl. Bäcker, Terrorismusabwehr durch das Bundeskriminalamt, 2009, S. 75 ff.), ist verfassungsrechtlich unerheblich. Bezogen auf die hier in Frage stehenden Befugnisse des § 20g Abs. 1, 2 BKAG, die weder in Art. 10 Abs. 1 GG noch in die Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme noch in Art. 13 Abs. 1 GG eingreifen, ist auch nicht zu beanstanden, dass eine Überwachung gemäß § 20 BPolG unter den Voraussetzungen der Notstandspflicht auch gegen den Nichtstörer angeordnet werden darf. Die diesbezüglichen Vorschriften sind eng gefasst und streng auszulegen. Erforderlich ist das Vorliegen einer gegenwärtigen Gefahr für die in § 20g Abs. 1 Satz 1 BKAG genannten Rechtsgüter, für deren Abwehr die Maßnahme unmittelbar zielführend sein muss. Unter diesen Maßgaben ist eine Inanspruchnahme des Nichtstörers nicht unverhältnismäßig. Insbesondere öffnet sie damit auch keinen Weg, die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Kontaktpersonen zu umgehen.

160

dd) Zu unbestimmt oder unverhältnismäßig ist die Vorschrift auch nicht hinsichtlich der in § 20g Abs. 2 BKAG definierten Mittel der Überwachung. Allerdings umfassen diese - ungeachtet ihres unterschiedlichen Eingriffsgewichts im Einzelnen - auch sehr schwerwiegende Grundrechtseingriffe, wie etwa die Möglichkeit von langfristig angelegten Wort- und Bildaufzeichnungen privater Gespräche und Situationen oder das Ausnutzen von Vertrauen durch Verdeckte Ermittler oder Vertrauenspersonen. Zur Abwehr der in § 20g Abs. 1 Nr. 1 BKAG genannten besonders gewichtigen Gefahren können jedoch auch diese schwerwiegenden Eingriffe - nach Maßgabe einer im Einzelfall vorzunehmenden Prüfung der Verhältnismäßigkeit - verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein.

161

Keinen Bedenken unterliegt auch die technikoffene Bestimmung der Überwachungsmittel in § 20g Abs. 2 Nr. 2 und 3 BKAG. Der Gesetzgeber ist nicht dazu verpflichtet, die erlaubten Mittel für Überwachungen auf den jeweiligen technischen Stand und Zeitpunkt des Gesetzgebungsverfahrens zu begrenzen. Soweit die Art der erlaubten Überwachung aus der Norm hinreichend erkennbar ist, kann er in die Ermächtigung auch künftige technische Entwicklungen einbeziehen. Allerdings bleibt die Ermächtigung, wie bei ihrer Auslegung zu beachten ist, auf solche technische Mittel beschränkt, die in ihrer Qualität und in Blick auf das Eingriffsgewicht den bereits bekannten Mitteln entsprechen. Im Übrigen obliegt es dem Gesetzgeber, die technische Entwicklung insoweit aufmerksam zu beobachten und bei Fehlentwicklungen hinsichtlich der konkreten Ausfüllung offener Gesetzesbegriffe korrigierend einzugreifen (vgl. BVerfGE 112, 304 <316 f.>).

162

d) Mit den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht zu vereinbaren ist hingegen § 20g Abs. 1 Nr. 2 BKAG. Die Eingriffsvoraussetzungen genügen weder dem Grundsatz der Bestimmtheit noch dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne.

163

aa) § 20g Abs. 1 Nr. 2 BKAG ergänzt die auf die Gefahrenabwehr begrenzte Eingriffsgrundlage des § 20g Abs. 1 Nr. 1 BKAG und soll nach der Vorstellung des Gesetzgebers schon früher ansetzen und der Straftatenverhütung dienen.

164

Nach den oben dargelegten Maßstäben ist der Gesetzgeber hieran nicht grundsätzlich gehindert und zwingt ihn die Verfassung nicht, Sicherheitsmaßnahmen auf die Abwehr von - nach tradiertem Verständnis - konkreten Gefahren zu beschränken. Allerdings bedarf es aber auch bei Maßnahmen zur Straftatenverhütung zumindest einer auf bestimmte Tatsachen und nicht allein auf allgemeine Erfahrungssätze gestützten Prognose, die auf eine konkrete Gefahr bezogen ist. Grundsätzlich gehört hierzu, dass insoweit ein wenigstens seiner Art nach konkretisiertes und zeitlich absehbares Geschehen erkennbar ist (vgl. BVerfGE 110, 33 <56 f., 61>; 113, 348 <377 f.>; 120, 274 <328 f.>; 125, 260 <330>). In Bezug auf terroristische Straftaten kann der Gesetzgeber stattdessen aber auch darauf abstellen, ob das individuelle Verhalten einer Person die konkrete Wahrscheinlichkeit begründet, dass sie in überschaubarer Zukunft terroristische Straftaten begeht (siehe oben C IV 1 b). Die diesbezüglichen Anforderungen sind normenklar zu regeln.

165

bb) Dem genügt § 20g Abs. 1 Nr. 2 BKAG nicht. Zwar knüpft die Vorschrift an eine mögliche Begehung terroristischer Straftaten an. Die diesbezüglichen Prognoseanforderungen sind hierbei jedoch nicht hinreichend gehaltvoll ausgestaltet. Die Vorschrift schließt nicht aus, dass sich die Prognose allein auf allgemeine Erfahrungssätze stützt. Sie enthält weder die Anforderung, dass ein wenigstens seiner Art nach konkretisiertes und absehbares Geschehen erkennbar sein muss, noch die alternative Anforderung, dass das individuelle Verhalten einer Person die konkrete Wahrscheinlichkeit begründen muss, dass sie in überschaubarer Zukunft terroristische Straftaten begeht. Damit gibt sie den Behörden und Gerichten keine hinreichend bestimmten Kriterien an die Hand und eröffnet Maßnahmen, die unverhältnismäßig weit sein können.

166

e) Verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist bei verfassungskonformer Auslegung demgegenüber § 20g Abs. 1 Nr. 3 in Verbindung mit § 20b Abs. 2 Nr. 2 BKAG.

167

§ 20g Abs. 1 Nr. 3 BKAG erlaubt Maßnahmen auch gegenüber Kontakt- oder Begleitpersonen. Der Begriff der Kontakt- und Begleitpersonen wird dabei in § 20b Abs. 2 Nr. 2 BKAG eingegrenzt und ist bei sachgerechter Auslegung als zusammenfassende Bezeichnung allein der dort genannten Personengruppen zu verstehen.

168

In dieser Eingrenzung ist § 20g Abs. 1 Nr. 3 BKAG verfassungsrechtlich tragfähig. Der Gesetzgeber eröffnet hier nicht ins Blaue hinein die Möglichkeit der Überwachung des gesamten Umfelds einer Zielperson, um so - gestützt lediglich auf die Tatsache eines Kontaktes mit dieser - erst herauszufinden, ob sich hierüber weitere Ermittlungsansätze erschließen. Für die Anordnung von Maßnahmen gegenüber Dritten verlangt die Vorschrift vielmehr, dass diese eine besondere, in § 20b Abs. 2 Nr. 2 BKAG näher definierte Tatnähe aufweisen. Tatsachen, die die Annahme rechtfertigen, dass eines der in § 20b Abs. 2 Nr. 2 BKAG genannten Nähekriterien vorliegt, sind danach eine eigene, in den Gründen der Anordnung darzulegende Voraussetzung für entsprechende Maßnahmen. In dieser Ausgestaltung ist eine Regelung, die Überwachungsmaßnahmen auch gegenüber selbst nicht verantwortlichen Personen erlaubt, verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden (vgl. BVerfGE 107, 299 <322 f.>; 113, 348 <380 f.>). Dem entspricht freilich, dass bei der Anwendung der Vorschrift die Voraussetzungen des § 20b Abs. 2 Nr. 2 BKAG nicht ihrerseits aus dem bloßen Kontakt oder der bloßen persönlichen Nähe des Betreffenden zur Zielperson hergeleitet werden können.

169

Keine Bedenken sind dabei auch gegen die Merkmale des § 20b Abs. 2 Nr. 2 a bis c BKAG im Einzelnen zu erheben. Freilich dürfen die Merkmale von Verfassungs wegen nicht entgrenzend weit verstanden werden, so dass sie jede Person einschlössen, die mit der Zielperson im weiten Vorfeld von etwaigen Straftaten in wirtschaftlichem Kontakt steht. Vielmehr begrenzt § 20b Abs. 2 Nr. 2 b BKAG die Vorteilsziehung auf die Verwertung der Tat und damit auf Früchte, die sich gerade aus deren Unrechtsgehalt ergeben, und verlangt auch § 20b Abs. 2 Nr. 2 c BKAG, dass die Instrumentalisierung des Betroffenen in einem engen Konnex zur Tat selbst steht. Liegen diese Voraussetzungen vor, sind entsprechende Anordnungen verfassungsrechtlich gerechtfertigt. Dem steht nicht entgegen, dass damit Maßnahmen auch gegen gutgläubige Dritte gerichtet werden können, denen eine Gefahr nicht zugerechnet werden kann. Zwar liegt hierin ein besonders schwerer Eingriff, der jedoch als Inanspruchnahme für überragend wichtige Gemeinwohlinteressen - ähnlich wie Zeugen- oder Notstandspflichten - verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist.

170

f) Nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht in jeder Hinsicht tragfähig sind die verfahrensmäßigen Anforderungen in § 20g Abs. 3 BKAG.

171

aa) Keinen Bedenken unterliegt allerdings, dass die Überwachungsmaßnahmen nach dieser Vorschrift zwar jeweils nur für eine vertretbar begrenzte Zeit angeordnet werden dürfen, aber deren Verlängerung nicht durch eine Obergrenze beschränkt wird. Der Gesetzgeber konnte davon ausgehen, dass eine konkretisierte Gefahrenlage, wie sie für die Anordnung oder Verlängerung der Maßnahmen vorausgesetzt ist, in der Regel nicht für einen übermäßig langen Zeitraum vorliegt, so dass eine unverhältnismäßige Dauerüberwachung hierdurch im Allgemeinen nicht droht. Im Übrigen kann eine Begrenzung, auch wenn eine absolute Höchstdauer nicht ausdrücklich bestimmt ist, aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Einzelfall folgen, da mit zunehmender Dauer der Observationsmaßnahmen der Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht immer intensiver wird und auch dazu führen kann, dass eine weitere Verlängerung verfassungsrechtlich nicht mehr zu rechtfertigen ist (vgl. BVerfGE 109, 279 <362>).

172

bb) Unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten unzureichend ist demgegenüber die Regelung des Richtervorbehalts in § 20g Abs. 3 BKAG.

173

§ 20g Abs. 3 BKAG sieht einen Richtervorbehalt unmittelbar für die erstmalige Anordnung der Maßnahme nur beim Einsatz Verdeckter Ermittler vor (vgl. § 20g Abs. 3 Satz 1 BKAG). In anderen Fällen erlaubt er die erstmalige Anordnung unmittelbar durch das Bundeskriminalamt selbst und fordert eine richterliche Entscheidung erst für deren etwaige Verlängerung (§ 20g Abs. 3 Satz 8 BKAG). Dies gilt einerseits für das Abhören und Aufzeichnen des nichtöffentlich gesprochenen Wortes und den Einsatz von Vertrauenspersonen oder Verdeckten Ermittlern (§ 20g Abs. 2 Nr. 2 b, 4 und 5 BKAG) sowie anderseits für längerfristige Observationen (§ 20g Abs. 2 Nr. 1 BKAG), wobei auch die Fälle eingeschlossen sind, in denen diese mittels Bildaufzeichnungen oder dem Einsatz von technischen Mitteln wie Peilsendern (vgl. § 20g Abs. 2 Nr. 2 a, 3 BKAG) durchgeführt werden.

174

Diese Regelung genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen nur teilweise. Nicht zu beanstanden ist allerdings, dass für die Anfertigung von Bildaufnahmen sowie für nur kurzfristige Observationen - auch mittels Bildaufzeichnungen oder technischer Mittel wie Peilsender - ein Richtervorbehalt nicht vorgesehen ist. Bleiben die Überwachungsmaßnahmen in dieser Weise begrenzt, haben sie kein so großes Eingriffsgewicht, dass deren Anordnung durch einen Richter verfassungsrechtlich geboten ist (vgl. strenger für die Observation mittels GPS-Sender Supreme Court of the United States, United States v. Jones, 132 S. Ct. 945 [2012]; zur Überwachung eines Verdächtigen mittels GPS zurückhaltender wiederum EGMR, Uzun v. Deutschland, Entscheidung vom 2. September 2010, Nr. 35623/05, NJW 2011, S. 1333 <1336 f.>, zu Art. 8 EMRK). Demgegenüber ist eine unabhängige Kontrolle verfassungsrechtlich aber unverzichtbar, wenn Observationen im Sinne des § 20g Abs. 2 Nr. 1 BKAG längerfristig - zumal unter Anfertigung von Bildaufzeichnungen oder unter Nutzung besonderer technischer Mittel wie Peilsender - durchgeführt werden, wenn nichtöffentliche Gespräche erfasst oder Vertrauenspersonen eingesetzt werden. Diese Maßnahmen dringen unter Umständen so tief in die Privatsphäre ein, dass deren Anordnung einer unabhängigen Instanz, etwa einem Gericht, vorbehalten bleiben muss. Insoweit reicht es nicht, die Anordnung der Maßnahmen zunächst der Sicherheitsbehörde selbst zu überlassen und die disziplinierende Wirkung wegen des Erfordernisses einer richterlichen Entscheidung erst für deren Verlängerung - möglicherweise auf der Grundlage der so gewonnenen Erkenntnisse - vorzusehen. Soweit für diese Maßnahmen eine erstmalige Anordnung ohne richterliche Entscheidung vorgesehen ist, genügt § 20g BKAG einer verhältnismäßigen verfahrensrechtlichen Ausgestaltung nicht.

175

g) § 20g BKAG genügt schließlich auch insoweit nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen, als er keine Regelung zum Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung enthält.

176

§ 20g BKAG ermächtigt zu Überwachungsmaßnahmen von verschiedener Qualität und Nähe zur Privatsphäre. Indem die Vorschrift dabei aber auch die Erlaubnis zu längerfristigen Bildaufzeichnungen und einem auf eine lange Zeit angelegten Abhören und Aufzeichnen des nichtöffentlich gesprochenen Wortes umfasst, ermöglicht sie Überwachungsmaßnahmen, die typischerweise tief in die Privatsphäre eindringen können. Zwar handelt es sich bei diesen Maßnahmen immer um eine Überwachung außerhalb von Wohnungen. Das stellt aber nicht in Frage, dass auch insoweit - sei es im Auto, sei es abseits in einem Restaurant, sei es zurückgezogen bei einem Spaziergang - mit einiger Wahrscheinlichkeit höchstvertrauliche Situationen erfasst werden können, die dem Kernbereich privater Lebensgestaltung zuzurechnen sind (vgl. Poscher, JZ 2009, S. 269 <271 f.>).

177


Die Vorschrift weist demnach hinsichtlich mancher Befugnisse eine Kernbereichsnähe auf, die eine ausdrückliche gesetzliche Regelung zum Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung erforderlich macht. Der Gesetzgeber hat hierzu in normenklarer Weise Schutzvorschriften sowohl auf der Ebene der Datenerhebung als auch auf der Ebene der Datenauswertung und Datenverwertung vorzusehen (siehe oben C IV 3 c bb, d). An solchen Vorschriften fehlt es, so dass § 20g Abs. 1, 2 BKAG auch insoweit mit der Verfassung nicht zu vereinbaren sind.

178

2. § 20h BKAG genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen gleichfalls nur teilweise.

179

a) § 20h BKAG erlaubt die akustische und optische Überwachung in Wohnungen. Er greift damit in Art. 13 Abs. 1 GG ein.

180

Mit der Befugnis zur Wohnraumüberwachung ermächtigt die Vorschrift zu Grundrechtseingriffen, die besonders schwer wiegen. Sie erlaubt dem Staat auch in Räume einzudringen, die privater Rückzugsort des Einzelnen sind und einen engen Bezug zur Menschenwürde haben (vgl. BVerfGE 109, 279 <313 f.>). Dies schließt, wie sich aus Art. 13 Abs. 3, 4 GG ergibt, Überwachungsmaßnahmen nicht aus. Die Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus kann solche Maßnahmen rechtfertigen (siehe oben C II 3 a). Sie stehen aber unter besonders strengen Anforderungen, die § 20h BKAG nicht in jeder Hinsicht erfüllt.

181

b) Keinen verfassungsrechtlichen Bedenken unterliegt § 20h Abs. 1, 2 BKAG allerdings insoweit, als er - in Bezug auf alle möglichen Adressaten übergreifend - die allgemeinen Voraussetzungen der Wohnraumüberwachung regelt.

182

aa) Die Vorschrift genügt zunächst insoweit den verfassungsrechtlichen Anforderungen, als sie Maßnahmen auf den Schutz besonders gewichtiger Rechtsgüter beschränkt, dabei das Vorliegen einer dringenden Gefahr erfordert und als Adressaten die Handlungs- und Zustandsverantwortlichen bestimmt.

183

§ 20h Abs. 1 BKAG erlaubt Wohnraumüberwachungen nur zum Schutz besonders gewichtiger Rechtsgüter. Die hier bestimmten Rechtsgüter sind von solchem Gewicht, dass sie auch geeignet sind, eine Wohnraumüberwachung zu rechtfertigen (siehe oben C IV 1 a). Das gilt bei einem hier geboten engen, auf den Zusammenhang der Terrorismusabwehr bezogenen Verständnis auch für „Sachen von bedeutendem Wert, deren Erhaltung im öffentlichen Interesse geboten ist“ (vgl. BVerfGE 133, 277 <365 Rn. 203>).

184

bb) In Übereinstimmung mit Art. 13 Abs. 4 GG verlangt die Vorschrift weiter das Vorliegen einer dringenden Gefahr. Zu berücksichtigen sind hierfür sowohl das Ausmaß als auch die Wahrscheinlichkeit des zu erwartenden Schadens (vgl. BVerfGE 130, 1 <32>). An das Vorliegen einer dringenden Gefahr, deren Anforderungen über die einer konkreten Gefahr noch hinausgehen, sind strenge Anforderungen zu stellen (vgl. BVerwGE 47, 31 <40>; BGHSt 54, 69 <83 f.>). Damit ist ein unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten hinreichend konkreter Anlass für die Durchführung solcher Maßnahmen gewährleistet (siehe oben C IV 1 b).

185

cc) Unverhältnismäßig ist die Regelung auch nicht deshalb, weil sie sowohl die akustische als auch die optische Wohnraumüberwachung erlaubt. Dass die Verfassung eine optische Wohnraumüberwachung für Eingriffe zur Gefahrenabwehr nach Art. 13 Abs. 4 GG nicht schon grundsätzlich ausschließt, ergibt sich aus einem Umkehrschluss zu Art. 13 Abs. 3 GG. Allerdings hat die Verbindung von akustischer und optischer Überwachung ein wesentlich größeres Eingriffsgewicht als etwa nur eine akustische Überwachung und bedarf besonderer Rechtfertigung. Dementsprechend sind die Anforderungen an die Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit bei der Anordnung der Maßnahmen für jede der Überwachungsformen eigens und gegebenenfalls auch mit Blick auf deren Verbindung zu prüfen. Dabei reicht es für die zusätzliche Anordnung einer optischen Überwachung regelmäßig nicht, auf bloße Erleichterungen für die Zuordnung von Stimmen zu verweisen, sondern bedarf es gewichtiger, für den Erfolg der Überwachung maßgeblicher eigener Gründe. Diesen Anforderungen kann und muss im Rahmen der Gesetzesanwendung Rechnung getragen werden. § 20h Abs. 1 Nr. 1 und 2 BKAG, der die akustische und die optische Wohnraumüberwachung als eigene und damit auch eigens zu prüfende Überwachungsmaßnahmen ausgestaltet, bietet hierfür eine hinreichende Grundlage.

186

c) Teilweise unverhältnismäßig und mit der Verfassung nicht vereinbar ist demgegenüber die Bestimmung der möglichen Adressaten von Wohnraumüberwachungen.

187

aa) Keine Bedenken bestehen insoweit freilich gegen § 20h Abs. 1 Nr. 1 a BKAG, der zur Anordnung von Wohnraumüberwachungen gegen die polizeilich Verantwortlichen nach §§ 17, 18 BPolG als Zielpersonen ermächtigt (siehe oben C IV 1 c).

188

Nicht zu beanstanden ist gleichfalls, dass § 20h Abs. 2 BKAG dabei die Überwachung solcher Personen nicht nur in deren eigener Wohnung, sondern auch in der Wohnung Dritter erlaubt, wenn sich die Zielperson dort aufhält und Maßnahmen in der Wohnung der Zielperson allein nicht zur Abwehr der Gefahr führen werden. Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht für solche Überwachungsmaßnahmen in Wohnungen Dritter eingrenzende Maßgaben zur Auslegung vorgeschrieben. Es bedarf insoweit eines konkretisierten Verdachts, dass sich die Zielperson zur Zeit der Maßnahme in der Wohnung des Dritten aufhält. Dies ist gegebenenfalls durch andere Maßnahmen, wie eine Observation, sicherzustellen. Nicht auf konkrete Anhaltspunkte gestützte Vermutungen für die Anwesenheit der Zielperson in der Wohnung des Dritten reichen für den Beginn der Maßnahme nicht aus (vgl. BVerfGE 109, 279 <356>). Darüber hinaus muss eine hinreichende Wahrscheinlichkeit bestehen, hierbei verfahrensrelevante Informationen zu gewinnen. Erforderlich sind auch insoweit tatsächliche Anhaltspunkte dafür, dass die Zielperson in den zu überwachenden Räumlichkeiten im Überwachungszeitraum verfahrensrelevante und im weiteren Verfahren verwertbare Gespräche führen wird. Bloße Vermutungen und eine Überwachung ins Blaue hinein, allein getragen von der Hoffnung auf Erkenntnisse, genügen nicht (vgl. BVerfGE 109, 279 <356 f.>).

189

bb) Verfassungsrechtlich tragfähig ist auch § 20h Abs. 1 Nr. 1 b BKAG, der eine Wohnraumüberwachung gegenüber Personen erlaubt, bei denen konkrete Vorbereitungshandlungen die Annahme der Begehung terroristischer Straftaten rechtfertigen.

190

Anders als in § 20g Abs. 1 Nr. 2 BKAG wird hier kein besonders weit ins Gefahrvorfeld vorverlagerter eigener Eingriffstatbestand geschaffen, sondern setzt die Vorschrift - im Einklang mit Art. 13 Abs. 4 GG - eine dringende Gefahr für qualifizierte Rechtsgüter voraus, für deren Abwehr die Überwachung erforderlich sein muss. Darüber hinaus ist auch der Kreis der Adressaten der Maßnahme in dieser Bestimmung hinreichend eingegrenzt: Indem die Vorschrift die Kenntnis von konkreten Vorbereitungshandlungen für - näher qualifizierte - terroristische Straftaten verlangt, setzt sie ein seiner Art nach konkretisiertes und zeitlich absehbares Geschehen voraus. Sie stellt damit auf einen den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügenden Anlass für die Durchführung solcher Maßnahmen ab (siehe oben C IV 1 b).

191

cc) Nicht mit Art. 13 Abs. 1, 4 GG vereinbar ist demgegenüber die Erlaubnis von Wohnraumüberwachungen auch gegenüber Kontakt- und Begleitpersonen (§ 20h Abs. 1 Nr. 1 c BKAG). Sie ist unverhältnismäßig.

192

Die Wohnraumüberwachung ist ein besonders schwerwiegender Eingriff, der tief in die Privatsphäre eindringt. Sie hat ihrer Grundtypik nach eine stärker belastende Wirkung als Überwachungsmaßnahmen außerhalb von Wohnungen oder auch als Maßnahmen der Telekommunikationsüberwachung und findet von ihrem Eingriffsgewicht nur bei Eingriffen in informationstechnische Systeme eine Entsprechung. Deshalb bleibt die Angemessenheit einer solchen Überwachungsmaßnahme nur gewahrt, wenn sie von vornherein ausschließlich auf Gespräche der gefahrenverantwortlichen Zielperson selbst gerichtet ist (vgl. BVerfGE 109, 279 <355>). Eine Erstreckung unmittelbar auf Dritte ist unverhältnismäßig und scheidet für einen solch gravierenden Eingriff aus (siehe oben C IV 1 c).

193

Unberührt bleibt hiervon, dass, soweit unvermeidbar, durch eine Wohnraumüberwachung in der Wohnung der Zielperson verfassungsrechtlich unbedenklich auch unbeteiligte Dritte erfasst werden dürfen (vgl. § 20h Abs. 2 Satz 3 BKAG) und zur Überwachung der Zielperson, wie dargelegt, sogar Wohnraumüberwachungen in Wohnungen Dritter durchgeführt werden dürfen.

194

d) Keinen verfassungsrechtlichen Bedenken unterliegt die Wohnraumüberwachung auch hinsichtlich ihrer verfahrensrechtlichen Ausgestaltung. Insbesondere ist sie durch einen Richter anzuordnen. Wenn das Gesetz dabei die Angabe der „wesentlichen Gründe“ verlangt (§ 20h Abs. 4 Nr. 4 BKAG), liegt hierin - wie in den entsprechenden anderen Vorschriften des Gesetzes auch (vgl. § 20k Abs. 6 Nr. 4 BKAG) - keine Zurücknahme der verfassungsrechtlichen Prüfungs- und Begründungspflichten (vgl. BVerfGE 109, 279 <359 f.>), sondern die Betonung, dass alle rechtlich maßgeblichen Gesichtspunkte tragfähig dargelegt werden müssen.

195

Verfassungsrechtlich unbedenklich ist auch das Fehlen einer zeitlichen Obergrenze gegenüber einer wiederholten Anordnung der Wohnraumüberwachung, da eine zeitliche Begrenzung gegebenenfalls einzelfallbezogen aus Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten herzuleiten ist (vgl. BVerfGE 109, 279 <362>).

196

e) Verfassungsrechtlich unzureichend ist demgegenüber die Regelung zum Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung in § 20h Abs. 5 BKAG. Sie genügt den Anforderungen des Art. 13 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG nicht.

197

aa) Da Wohnraumüberwachungen besonders tief in die Privatsphäre und den persönlichen, zur Wahrung der Menschenwürde besonders wichtigen Rückzugsraum des Einzelnen eindringen können, sind ihnen gegenüber die Anforderungen an den Kernbereichsschutz besonders streng (vgl. BVerfGE 109, 279 <313 ff., 318 ff., 328 ff.>).

198

(1) Besondere Anforderungen gelten zum einen auf der Erhebungsebene. Bei der Prüfung, ob die Wahrscheinlichkeit einer Erfassung höchstprivater Situationen besteht, sind im Interesse der Effektivität des Kernbereichsschutzes Vermutungsregeln zugrunde zu legen (vgl. BVerfGE 109, 279 <320>). Danach gilt die Vermutung, dass Gespräche, die in Privaträumen mit Personen des besonderen persönlichen Vertrauens (siehe oben C IV 3 a) geführt werden, dem Kernbereich privater Lebensgestaltung unterfallen und nicht überwacht werden dürfen (vgl. BVerfGE 109, 279 <321 ff.>). Für Räume, in denen solche Gespräche zu erwarten sind, scheidet entsprechend auch eine automatische Dauerüberwachung aus (vgl. BVerfGE 109, 279 <324>). Diese Vermutung kann widerlegt werden, sofern für bestimmte Gespräche konkrete Anhaltspunkte vorliegen, dass sie im Sinne der oben dargelegten Maßstäbe einen unmittelbaren Straftatenbezug - der auch vorliegt, wenn sie mit höchstpersönlichen Inhalten durchsetzt sind - aufweisen oder ihnen insgesamt ein höchstvertraulicher Charakter fehlen wird. Hierfür reicht hingegen nicht schon die Prognose, dass sich in einem Gespräch höchstvertrauliche und alltägliche Fragen mischen werden (vgl. BVerfGE 109, 279 <330>; siehe oben C IV 3 a, d).

199

Besteht danach die Wahrscheinlichkeit, dass eine Überwachungsmaßnahme in den Kernbereich privater Lebensgestaltung eindringt, ist die Maßnahme zu unterlassen. Fehlen - auch unter Berücksichtigung der Vermutungsregeln - Anhaltspunkte für ein Eindringen in den höchstpersönlichen Privatbereich, dürfen die Maßnahmen demgegenüber durchgeführt werden. Wenn es dabei dennoch zur Erfassung höchstvertraulicher Situationen kommt, sind die Maßnahmen unverzüglich abzubrechen (vgl. BVerfGE 109, 279 <320, 323 f.>). Bestehen in dieser Lage über den höchstvertraulichen Charakter - etwa aus sprachlichen Gründen - Zweifel oder gibt es konkrete Anhaltspunkte, dass im Zusammenhang mit dem Austausch höchstprivater Gedanken auch Straftaten besprochen werden, kann die Überwachung in Form einer automatischen Aufzeichnung fortgeführt werden.

200

(2) Spezifische verfassungsrechtliche Anforderungen ergeben sich zum anderen aber auch auf der Auswertungs- und Verwertungsebene. Hier ist eine Sichtung der Ergebnisse der Überwachung durch eine unabhängige Stelle vorzusehen. Diese Sichtung dient sowohl der Rechtmäßigkeitskontrolle als auch dem Herausfiltern höchstvertraulicher Daten, so dass diese nach Möglichkeit der Sicherheitsbehörde gegenüber nicht offenbar werden. Dabei sind der unabhängigen Stelle Aufzeichnungen aus der Wohnraumüberwachung vollständig vorzulegen (vgl. BVerfGE 109, 279 <333 f.>; anders BVerfGK 11, 164 <178>).

201

Für den Fall, dass ungeachtet aller Schutzvorkehrungen dennoch kernbereichsrelevante Informationen erfasst werden, sind ein Verwertungsverbot und eine Löschungspflicht, einschließlich der Protokollierung der Löschung, vorzusehen (siehe oben C IV 3 c bb, d, 7).

202

bb) Hiervon ausgehend genügt § 20h Abs. 5 BKAG zwar den verfassungsrechtlichen Anforderungen auf der Erhebungsebene, nicht aber auf der Verwertungsebene.

203

(1) § 20h Abs. 5 Satz 1, 2, 3 und 5 BKAG ordnet der Sache nach an, dass bei Wohnraumüberwachungen eine Prüfung vorzunehmen ist, ob kernbereichsrelevante Informationen erfasst werden. Indem er die Überwachung nur bei der prognosegestützten Annahme erlaubt, dass Äußerungen, die dem Kernbereich privater Lebensgestaltung zuzurechnen sind, nicht erfasst werden, und den Abbruch der Maßnahmen vorsieht, wenn es entgegen der Prognose im Zuge der Wohnraumüberwachung Anhaltspunkte dafür gibt, dass es doch zur Erfassung höchstprivater Informationen kommt, genügt die Vorschrift den verfassungsrechtlichen Anforderungen. Das gilt auch für die Erlaubnis zur automatischen Aufzeichnung nach Satz 3, die die Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen von Satz 1 nicht aufhebt, sondern an die nach Satz 2 gebotene Unterbrechung des persönlichen Abhörens und Beobachtens anknüpft. Wenn in § 20h Abs. 5 Satz 1 BKAG kernbereichsrelevante „Äußerungen“ unter Schutz gestellt werden, ist dieses sachgerecht so zu verstehen, dass hierunter auch bildlich erfasste entsprechende Situationen fallen können.

204

(2) Nicht in jeder Hinsicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügen indes die Regelungen zum Kernbereichsschutz auf der Verwertungsebene. Zwar sieht das Gesetz eine Sichtung von Aufzeichnungen durch ein Gericht vor, jedoch begrenzt es diese Sichtung auf die automatischen Aufzeichnungen in Zweifelsfällen (§ 20h Abs. 5 Satz 4 BKAG). Der Gesetzgeber lässt sich insoweit ersichtlich von der Erwägung leiten, dass eine weitere unabhängige Sichtung nicht erforderlich ist, weil die Erfassung von höchstpersönlichen Informationen bei richtiger Gesetzesanwendung auf der Erhebungsstufe durch § 20h Abs. 5 Satz 1 und 2 BKAG ausgeschlossen wird. Damit lässt sich eine solche Beschränkung der unabhängigen Sichtung für Aufzeichnungen aus Wohnraumüberwachungen aber nicht rechtfertigen. Denn das Ziel solcher Sichtung liegt nicht allein in dem Herausfiltern von Zweifelsfällen, sondern auch in der Gewährleistung einer unabhängigen Kontrolle der dem Kernbereichsschutz dienenden Anforderungen insgesamt. Dies aber gewährleistet die nur eingeschränkte Kontrollbefugnis des Gerichts gemäß § 20h Abs. 5 Satz 4 BKAG nicht. Freilich lässt das Grundgesetz dem Gesetzgeber Raum, bei der Ausgestaltung der im Grundsatz umfassenden Kontrollbefugnis für Ausnahmefälle bei Gefahr im Verzug besondere Regelungen vorzusehen.

205

In Übereinstimmung mit den verfassungsrechtlichen Anforderungen hat der Gesetzgeber demgegenüber ein Verwertungsverbot sowie die sofortige Löschung, einschließlich deren Protokollierung, für dennoch erfasste höchstpersönliche Daten geregelt. Verfassungswidrig ist jedoch die kurze Frist des § 20h Abs. 5 Satz 10 BKAG, innerhalb derer die Löschungsprotokolle zu löschen sind. Diese ist so kurz bemessen, dass während der Aufbewahrungszeit der Löschungsprotokolle typischerweise weder mit einer Kontrolle durch den Datenschutzbeauftragten noch durch die Betroffenen gerechnet werden kann und die Protokollierung der Löschung damit ihren Sinn verliert (vgl. Bäcker, a.a.O., S. 88; vgl. hierzu auch BVerfGE 100, 313 <400>; 109, 279 <332 f.>). Weil die Löschungsprotokolle selbst keine die Betroffenen belastenden Daten enthalten, kann diese kurze Frist insbesondere nicht mit deren Schutz gerechtfertigt werden.

206

3. Verfassungsrechtlich unbedenklich ist die Regelung der Eingriffsvoraussetzungen der Rasterfahndung gemäß § 20j BKAG.

207

Die Regelung begründet einen Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Sie ist hinsichtlich ihrer Eingriffsvoraussetzungen aber hinreichend bestimmt und verhältnismäßig ausgestaltet, so dass der Eingriff gerechtfertigt ist. Insbesondere wird die Rasterfahndung für den Schutz von hinreichend gewichtigen Rechtsgütern erlaubt (siehe oben C IV 1 a, V 1 c aa) und setzt gemäß § 20j Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 20a Abs. 2 BKAG eine konkrete Gefahr voraus. Verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist insoweit auch das Regelbeispiel in § 20j Abs. 1 Satz 1, 2. Halbsatz BKAG, mit dem der Gesetzgeber die geforderte Gefahrenlage exemplarisch konkretisiert. Die diesbezüglichen Anforderungen (vgl. BVerfGE 115, 320 <363 ff.>) bleiben hierdurch unberührt. Auch in verfahrensrechtlicher Hinsicht ist die Regelung verhältnismäßig ausgestaltet, insbesondere verlangt sie die Anordnung durch einen Richter.

208

4. § 20k BKAG ist bei verfassungskonformer Auslegung hinsichtlich seiner allgemeinen Eingriffsvoraussetzungen mit der Verfassung vereinbar. Nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügen demgegenüber die Regelungen zum Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung.

209

a) § 20k Abs. 1 BKAG ermächtigt zu einem Zugriff auf informationstechnische Systeme und erlaubt die geheime Durchführung von Online-Durchsuchungen, mit denen private, von den Betroffenen auf eigenen oder vernetzten fremden Computern (wie etwa der sogenannten Cloud) abgelegte oder hinterlassene Daten erhoben und deren Verhalten im Netz nachvollzogen werden kann. Die Vorschrift begründet damit einen Eingriff in das Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG).

210

Mit dieser eigenständigen Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts trägt die Verfassung der heute weit in die Privatsphäre hineinreichenden Bedeutung der Nutzung informationstechnischer Systeme für die Persönlichkeitsentfaltung Rechnung (vgl. BVerfGE 120, 274 <302 ff.>). Tagebuchartige Aufzeichnungen, intime Erklärungen oder sonstige schriftliche Verkörperungen des höchstpersönlichen Erlebens, Film- oder Tondokumente werden heute zunehmend in Dateiform angelegt, gespeichert und teilweise ausgetauscht. Weite Bereiche auch der höchstpersönlichen Kommunikation finden elektronisch mit Hilfe von Kommunikationsdiensten im Internet oder im Rahmen internetbasierter sozialer Netzwerke statt. Dabei befinden sich die Daten, auf deren Vertraulichkeit die Betroffenen angewiesen sind und auch vertrauen, in weitem Umfang nicht mehr nur auf eigenen informationstechnischen Systemen, sondern auf denen Dritter. Das Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme schützt dementsprechend vor einem geheimen Zugriff auf diese Daten und damit insbesondere vor Online-Durchsuchungen, mit denen private Computer wie sonstige informationstechnische Systeme manipuliert und ausgelesen, sowie persönliche Daten, die auf externen Servern in einem berechtigten Vertrauen auf Vertraulichkeit ausgelagert sind, erfasst und Bewegungen der Betroffenen im Netz verfolgt werden. Wegen der oft höchstpersönlichen Natur dieser Daten, die sich insbesondere auch aus deren Verknüpfung ergibt, ist ein Eingriff in dieses Grundrecht von besonderer Intensität. Er ist seinem Gewicht nach mit dem Eingriff in die Unverletzlichkeit der Wohnung vergleichbar.

211

b) Die Anforderungen des § 20k Abs. 1, 2 BKAG für einen Zugriff auf informationstechnische Systeme genügen bei verfassungskonformer Auslegung den verfassungsrechtlichen Anforderungen.

212

aa) Eingriffe in das Recht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme stehen allerdings unter strengen Bedingungen (vgl. BVerfGE 120, 274 <322 ff., 326 ff.>). Insbesondere müssen die Maßnahmen davon abhängig sein, dass tatsächliche Anhaltspunkte für eine im Einzelfall drohende konkrete Gefahr für ein überragend wichtiges Rechtsgut vorliegen (vgl. BVerfGE 120, 274 <326, 328>). Dem genügt § 20k Abs. 1 BKAG. Die Vorschrift beschränkt die Maßnahmen auf den Schutz von hinreichend qualifizierten Rechtsgütern. Auch genügt sie den verfassungsrechtlichen Anforderungen insoweit, als sie in Satz 1 - in Verbindung mit § 20a Abs. 2 BKAG - auf das Vorliegen bestimmter Tatsachen abstellt, die die Annahme rechtfertigen, dass eine im Einzelfall bestehende Gefahr vorliegt.

213

Einer verfassungskonform einschränkenden Auslegung bedarf allerdings § 20k Abs. 1 Satz 2 BKAG. Die in dieser Vorschrift eröffnete Möglichkeit, auch schon im Vorfeld einer konkreten Gefahr Maßnahmen durchzuführen, wenn bestimmte Tatsachen auf eine im Einzelfall erst drohende Gefahr einer Begehung terroristischer Straftaten hinweisen, ist dahingehend auszulegen, dass Maßnahmen nur erlaubt sind, wenn die Tatsachen den Schluss auf ein wenigstens seiner Art nach konkretisiertes und zeitlich absehbares Geschehen zulassen, und wenn erkennbar ist, dass bestimmte Personen beteiligt sein werden, über deren Identität zumindest so viel bekannt ist, dass die Überwachungsmaßnahme gezielt gegen sie eingesetzt und weitgehend auf sie beschränkt werden kann (vgl. BVerfGE 120, 274 <329>). Ausreichend ist insoweit auch, wenn zwar noch nicht ein seiner Art nach konkretisiertes und zeitlich absehbares Geschehen erkennbar ist, jedoch das individuelle Verhalten eines Betroffenen eine konkrete Wahrscheinlichkeit begründet, dass er solche Straftaten in überschaubarer Zukunft begehen wird (siehe oben C IV 1 b).

214

Da § 20k Abs. 1 Satz 2 BKAG in enger Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts formuliert ist (vgl. BVerfGE 120, 274 <329>), ist davon auszugehen, dass der Gesetzgeber hierauf Bezug nehmen wollte. Die Vorschrift ist damit noch einer verfassungskonformen Auslegung zugänglich.

215

bb) Im Übrigen genügt die Vorschrift hinsichtlich ihrer materiellen Eingriffsvoraussetzungen dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Insbesondere regelt § 20k Abs. 2 BKAG, dass die durch den Zugriff bedingten Veränderungen an dem informationstechnischen System zu minimieren, deren Nutzbarkeit durch Dritte zu vermeiden und sie nach Beendigung soweit möglich rückgängig zu machen sind (vgl. hierzu BVerfGE 120, 274 <325 f.>). Dass damit Folgeschäden nicht völlig ausgeschlossen werden können, macht die Maßnahme nicht von vornherein unverhältnismäßig. Zur Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Einzelfall gehört auch, dass ein offener Zugriff auf die Datenbestände einer Zielperson vor einer heimlichen Infiltration grundsätzlich Vorrang hat.

216

c) Keine Bedenken bestehen weiter gegen die verfahrensrechtliche Ausgestaltung der Vorschrift (vgl. § 20k Abs. 5, 6 BKAG). Die Anordnung einer Maßnahme ist nur durch den Richter möglich und dabei sachhaltig zu begründen (vgl. BVerfGE 120, 274 <331 ff.>; siehe oben C IV 2). Die mögliche lange Dauer von drei Monaten, für die die Maßnahme angeordnet werden kann, ist verfassungsrechtlich allerdings nur mit der Maßgabe tragfähig, dass es sich hierbei für die jeweilige Anordnung um eine Obergrenze handelt und sich die tatsächliche Dauer der Anordnung nach einer Verhältnismäßigkeitsprüfung im Einzelfall richtet.

217

d) Nicht in jeder Hinsicht genügen demgegenüber die Regelungen zum Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung den verfassungsrechtlichen Anforderungen.

218

aa) Da der heimliche Zugriff auf informationstechnische Systeme typischerweise die Gefahr einer Erfassung auch höchstvertraulicher Daten in sich trägt und damit eine besondere Kernbereichsnähe aufweist, bedarf es ausdrücklicher gesetzlicher Vorkehrungen zum Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung (vgl. BVerfGE 120, 274 <335 ff.>). Die diesbezüglichen Anforderungen sind dabei mit denen der Wohnraumüberwachung nicht in jeder Hinsicht identisch und verschieben den Schutz ein Stück weit von der Erhebungsebene auf die nachgelagerte Aus- und Verwertungsebene (vgl. BVerfGE 120, 274 <337>). Dies hat seinen Grund in dem spezifischen Charakter des Zugriffs auf informationstechnische Systeme. Schutzmaßnahmen vor Kernbereichsverletzungen zielen hier nicht primär auf die Verhinderung des Erfassens und Festhaltens eines nur flüchtigen, höchstvertraulichen Moments an einem Ort privater Zurückgezogenheit, sondern auf die Verhinderung des Auslesens höchstvertraulicher Informationen aus einem Gesamtdatenbestand von ohnehin digital vorliegenden Informationen, die in ihrer Gesamtheit typischerweise nicht schon als solche den Charakter der Privatheit wie das Verhalten oder die Kommunikation in einer Wohnung aufweisen. Die Überwachung vollzieht sich hier nicht als ein zeitlich gegliedertes Geschehen an verschiedenen Orten, sondern als Zugriff mittels eines Ausforschungsprogramms, sodass - bezogen auf den Zugriff selbst - weitgehend die Alternativen von ganz oder gar nicht bestehen.

219

Dementsprechend sind die Anforderungen an den Kernbereichsschutz auf der Erhebungsebene ein Stück weit zurückgenommen. Allerdings ist auch hier vorzusehen, dass die Erhebung von Informationen, die dem Kernbereich zuzuordnen sind, soweit wie informationstechnisch und ermittlungstechnisch möglich unterbleibt. Insbesondere sind verfügbare informationstechnische Sicherungen einzusetzen; können mit deren Hilfe höchstvertrauliche Informationen aufgespürt und isoliert werden, ist der Zugriff auf diese untersagt (vgl. BVerfGE 120, 274 <338>).

220

Können demgegenüber kernbereichsrelevante Daten vor oder bei der Datenerhebung nicht ausgesondert werden, ist ein Zugriff auf das informationstechnische System jedoch auch dann zulässig, wenn hierbei eine Wahrscheinlichkeit besteht, dass am Rande auch höchstpersönliche Daten miterfasst werden. Der Gesetzgeber hat insofern dem Schutzbedarf der Betroffenen durch Sicherungen auf der Aus- und Verwertungsebene Rechnung zu tragen und die Auswirkungen eines solchen Zugriffs zu minimieren. Entscheidende Bedeutung hierfür kommt dabei einer Sichtung durch eine unabhängige Stelle zu, die kernbereichsrelevante Informationen vor ihrer Kenntnisnahme und Nutzung durch das Bundeskriminalamt herausfiltert (vgl. BVerfGE 120, 274 <338 f.>).

221

bb) Diesen Anforderungen genügt § 20k Abs. 7 BKAG nur teilweise.

222

(1) Bei verfassungskonformer Auslegung nicht zu beanstanden sind allerdings die Regelungen auf der Ebene der Datenerhebung. Satz 2 der Vorschrift sieht in Einklang mit den genannten Anforderungen vor, dass alle technischen Möglichkeiten zur Vermeidung der Erhebung von kernbereichsrelevanten Informationen zu nutzen sind. Im Übrigen verbietet die Vorschrift den Zugriff auf informationstechnische Systeme dann nur, wenn durch sie „allein“ Informationen aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung erfasst werden. Das ist nach den dargelegten Maßstäben verfassungsrechtlich tragfähig. Hierbei ist die Vorschrift von Verfassungs wegen allerdings so auszulegen, dass eine Kommunikation über Höchstvertrauliches nicht schon deshalb aus dem strikt zu schützenden Kernbereich herausfällt, weil sich in ihr höchstvertrauliche mit alltäglichen Informationen vermischen (vgl. BVerfGE 109, 279 <330>). Die Vorschrift ist insoweit in Einklang mit den verfassungsrechtlichen Schutzanforderungen des Kernbereichs privater Lebensgestaltung und dem hierbei zugrunde gelegten Begriffsverständnis zu verstehen und anzuwenden (siehe oben C IV 3 a, d).

223

(2) Demgegenüber fehlt es für die in Rede stehenden Maßnahmen an verfassungsrechtlich hinreichenden Vorkehrungen auf der Ebene des nachgelagerten Kernbereichsschutzes. § 20k Abs. 7 Satz 3, 4 BKAG sieht keine hinreichend unabhängige Kontrolle vor.

224

Die verfassungsrechtlich gebotene Sichtung durch eine unabhängige Stelle dient neben der Rechtmäßigkeitskontrolle maßgeblich dem Ziel, kernbereichsrelevante Daten so frühzeitig herauszufiltern, dass sie den Sicherheitsbehörden nach Möglichkeit nicht offenbar werden. Dies setzt voraus, dass die Kontrolle im Wesentlichen von externen, nicht mit Sicherheitsaufgaben betrauten Personen wahrgenommen wird. Hierdurch wird eine - durch gesonderte Verschwiegenheitspflichten abgesicherte - Hinzuziehung auch eines Bediensteten des Bundeskriminalamts zur Gewährleistung von ermittlungsspezifischem Fachverstand nicht ausgeschlossen. Ebenso kann darüber hinaus für die Sichtung auf technische Unterstützung - etwa auch zur Sprachmittlung - durch das Bundeskriminalamt zurückgegriffen werden. Die tatsächliche Durchführung und Entscheidungsverantwortung muss jedoch maßgeblich in den Händen von dem Bundeskriminalamt gegenüber unabhängigen Personen liegen.

225

Das sichert die derzeitige Regelung nicht. Sie überlässt die Sichtung im Wesentlichen Bediensteten des Bundeskriminalamts selbst. Dass einer der Bediensteten als behördeninterner Datenschutzbeauftragter weisungsfrei ist, ändert daran ebenso wenig wie die Unterstellung der Sichtung unter eine allgemein bleibende „Sachleitung“ des anordnenden Gerichts.

226

Demgegenüber stellt § 20k Abs. 7 Satz 5 bis 7 BKAG die weiteren auf Verwertungsebene gebotenen Vorkehrungen an einen wirksamen Kernbereichsschutz verfassungsrechtlich tragfähig sicher. Verfassungswidrig ist allerdings auch hier die übermäßig kurze Dauer für die Aufbewahrung der Löschungsprotokolle gemäß § 20k Abs. 7 Satz 8 BKAG (siehe oben C IV 3 d).

227

5. Nur teilweise mit der Verfassung zu vereinbaren ist § 20l BKAG.

228

a) § 20l BKAG regelt die Telekommunikationsüberwachung und begründet damit Eingriffe in Art. 10 Abs. 1 GG. An Art. 10 Abs. 1 GG ist dabei nicht nur § 20l Abs. 1 BKAG zu messen, der die herkömmliche Telekommunikationsüberwachung regelt, sondern auch § 20l Abs. 2 BKAG, der die Quellen-Telekommunikations-überwachung erlaubt, sofern durch technische Maßnahmen sichergestellt ist, dass ausschließlich laufende Telekommunikation erfasst wird. Zwar setzt diese technisch einen Zugriff auf das entsprechende informationstechnische System voraus. Jedoch erlaubt § 20l Abs. 2 BKAG ausschließlich Überwachungen, die sich auf den laufenden Telekommunikationsvorgang beschränken. Die Vorschrift hat damit lediglich die Aufgabe, den technischen Entwicklungen der Informationstechnik zu folgen und - ohne Zugriff auf weitere inhaltliche Informationen des informationstechnischen Systems - eine Telekommunikationsüberwachung auch dort zu ermöglichen, wo dies mittels der alten Überwachungstechnik nicht mehr möglich ist. Von daher ist sie nicht am Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme, sondern an Art. 10 Abs. 1 GG zu messen (vgl. BVerfGE 120, 274 <309>).

229

Eine Überwachung der Telekommunikation begründet Eingriffe, die schwer wiegen (vgl. BVerfGE 113, 348 <382>; 129, 208 <240>). Sie sind jedoch zur Abwehr des internationalen Terrorismus gerechtfertigt (siehe oben C II 3 a), sofern die Eingriffsgrundlagen im Einzelnen verhältnismäßig begrenzt sind. Dies ist durch § 20l BKAG nur teilweise sichergestellt.

230

b) § 20l Abs. 1 Nr. 1 bis 4 BKAG regelt verschiedene Eingriffstatbestände gegenüber verschiedenen Adressaten. Nicht alle genügen den verfassungsrechtlichen Anforderungen.

231

Keinen verfassungsrechtlichen Bedenken unterliegt freilich auch hier die auf den Schutz qualifizierter Rechtsgüter gerichtete und allein auf die Abwehr dringender Gefahren beschränkte Befugnis zur Überwachung gegenüber den polizeirechtlich Verantwortlichen gemäß § 20l Abs. 1 Nr. 1 BKAG.

232

Mit der Verfassung nicht zu vereinbaren ist demgegenüber die nicht näher eingeschränkte Erstreckung der Telekommunikationsüberwachung nach § 20l Abs. 1 Nr. 2 BKAG auf Personen, bei denen bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sie terroristische Straftaten vorbereiten. Die Vorschrift, die über die Abwehr einer konkreten Gefahr hinaus die Eingriffsmöglichkeiten mit dem Ziel der Straftatenverhütung vorverlagert, verstößt in ihrer konturenarmen offenen Fassung gegen den Bestimmtheitsgrundsatz und ist unverhältnismäßig weit. Es gelten insoweit die gleichen Erwägungen wie zu § 20g Abs. 1 Nr. 2 BKAG (siehe oben C V 1 d). Die geringfügigen Formulierungsunterschiede gegenüber jener Vorschrift begründen keinen substantiellen Unterschied. Dies erhellt auch die Gesetzesbegründung, die den Gehalt des § 20l Abs. 1 Nr. 2 BKAG zum Teil mit den Worten, die der Gesetzgeber in § 20g Abs. 1 Nr. 2 BKAG benutzt, paraphrasiert (vgl. BTDrucks 16/10121, S. 31). Soweit sich § 20l Abs. 2 BKAG auf diese Vorschrift bezieht, kann nichts anderes gelten.

233

Demgegenüber ist die mögliche Erstreckung der Telekommunikationsüberwachung auf Nachrichtenmittler gemäß § 20l Abs. 1 Nr. 3 und 4 BKAG bei verfassungskonformer Auslegung mit Art. 10 Abs. 1 GG vereinbar. Die Vorschrift, die in ihrer Formulierung eng an § 100a Abs. 3 StPO angelehnt ist, ist hinreichend auslegungsfähig und genügt den Anforderungen des Bestimmtheitsgrundsatzes. Wie die Regelung zu den Kontakt- und Begleitpersonen in § 20b Abs. 2 Nr. 2 BKAG erlaubt die Vorschrift nicht, Überwachungsmaßnahmen ins Blaue hinein auf alle Personen zu erstrecken, die mit der Zielperson Nachrichten ausgetauscht haben, sondern setzt eigene, in der Anordnung darzulegende Anhaltspunkte voraus, dass der Nachrichtenmittler von der Zielperson in die Tatdurchführung eingebunden wird und somit eine besondere Tat- oder Gefahrennähe aufweist.

234

c) Keinen durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken unterliegen die zusätzlichen weiteren Voraussetzungen, unter denen § 20l Abs. 2 BKAG subsidiär eine Quellen-Telekommunikationsüberwachung erlaubt. Insbesondere ist die Vorschrift nicht deshalb verfassungswidrig, weil sie, wie die Beschwerdeführer meinen, in ihrer Nummer 1 unerfüllbare Anforderungen stellt. Ob oder wie sich durch technische Maßnahmen sicherstellen lässt, dass ausschließlich die laufende Telekommunikation überwacht und aufgezeichnet wird, betrifft die Anwendung der Norm, nicht aber ihre Gültigkeit. Insoweit ist es nicht Aufgabe des vorliegenden Verfahrens, hierüber eine Klärung herbeizuführen. Das Gesetz lässt jedenfalls keinen Zweifel, dass eine Quellen-Telekommunikationsüberwachung nur bei einer technisch sichergestellten Begrenzung der Überwachung auf die laufende Telekommunikation erlaubt ist. Andernfalls kommt allein ein Vorgehen auf der Grundlage des § 20k Abs. 1 BKAG in Betracht. Sollten zum gegenwärtigen Zeitpunkt diese Anforderungen nicht erfüllbar sein, liefe die Vorschrift folglich bis auf weiteres leer. Auch dies machte sie jedoch nicht widersprüchlich und verfassungswidrig, weil damit nicht ausgeschlossen ist, dass die nötigen technischen Voraussetzungen in absehbarer Zukunft geschaffen werden können. Dabei schließt der für die Quellen-Telekommunikationsüberwachung erforderliche Zugriff auf das informationstechnische System eine Erfüllung dieser Voraussetzungen auch nicht etwa schon begrifflich aus mit der Folge, dass die Vorschrift selbstwidersprüchlich wäre. Denn maßgeblich ist nicht, ob durch eine technisch aufwendige Änderung des Überwachungsprogramms selbst - sei es durch die Behörde, sei es durch Dritte - dessen Begrenzung auf eine Erfassung der laufenden Telekommunikation aufgehoben werden kann, sondern ob das Programm so ausgestaltet ist, dass es - hinreichend abgesichert auch gegenüber Dritten - den mit der Überwachung betrauten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Bundeskriminalamts inhaltlich eine ausschließlich auf die laufenden Kommunikationsinhalte begrenzte Kenntnisnahme ermöglicht.

235

d) Verfahrensrechtlich normiert § 20l Abs. 3 BKAG in Einklang mit den verfassungsrechtlichen Anforderungen einen Richtervorbehalt (vgl. BVerfGE 125, 260 <337 f.>). Es fehlt indes eine gesetzliche Regelung, die - wie verfassungsrechtlich geboten (siehe oben C IV 2) - für die Anordnung der Telekommunikationsüberwachung eine Mitteilung der Gründe verlangt. Dies lässt sich auch nicht im Wege der verfassungskonformen Auslegung überwinden. Denn jedenfalls vor dem Hintergrund, dass das Gesetz in anderen Vorschriften eine Pflicht zur Begründung ausdrücklich anordnet (vgl. § 20g Abs. 3 Satz 6, § 20h Abs. 4, § 20k Abs. 6 BKAG), ist seine Deutung, nach der das Absehen von einer Regelung über die Mitteilung der Gründe hier als bewusste Entscheidung zu verstehen ist, nicht hinreichend sicher ausgeschlossen.

236

e) Die Regelungen zum Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung gemäß § 20l Abs. 6 BKAG sind mit der Verfassung im Wesentlichen vereinbar.

237

aa) Die Telekommunikationsüberwachung ist ein schwerer Eingriff, der eine besondere Kernbereichsnähe aufweist. Als inhaltliche Überwachung jeder Art von telekommunikationsbasiertem Austausch begründet sie typischerweise die Gefahr, auch höchstprivate Kommunikation, die dem Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung unterliegt, zu erfassen. Insofern bedarf es besonderer gesetzlicher Schutzvorkehrungen (vgl. BVerfGE 113, 348 <390 f.>; 129, 208 <245>).

238

Allerdings ist die Telekommunikationsüberwachung ihrem Gesamtcharakter nach nicht in gleicher Weise durch ein Eindringen in die Privatsphäre geprägt wie die Wohnraumüberwachung oder auch die Online-Durchsuchung (vgl. BVerfGE 113, 348 <391>). Sie erfasst Kommunikation aller Art in allen Situationen, die immer technisch vermittelt ist. Höchstvertrauliche Kommunikation ist ein kleiner Teil von ihr, der bei der Überwachung miterfasst zu werden droht, nicht aber - wie die Überwachung des Rückzugsbereichs der privaten Wohnung - typusprägend ist. Sie unterscheidet sich insoweit auch von Online-Durchsuchungen. Denn während diese oft gesamthaft über lange Zeit angesammelte Informationen einschließlich höchstprivater Aufzeichnungen erfassen und dabei unter Umständen durch deren Verknüpfung sowie das Nach- oder Mitverfolgen der Bewegungen im Internet auch geheim gehaltene Schwächen und Neigungen erschließen können, bezieht sich die Telekommunikationsüberwachung auf einzelne Akte unmittelbarer Kommunikation. Ihre Kernbereichsnähe beschränkt sich vor allem darauf, dass sie hierbei auch den höchstpersönlichen Austausch zwischen Vertrauenspersonen umfasst (vgl. BVerfGE 129, 208 <247>).

239

Dem kann der Gesetzgeber durch weniger strenge Anforderungen an den Kernbereichsschutz Rechnung tragen. Allerdings ist auch hier auf der Erhebungsstufe eine Prüfung geboten, ob die Wahrscheinlichkeit der Erfassung höchstprivater Gespräche besteht, deren Überwachung gegebenenfalls zu verbieten ist. Können solche nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit identifiziert werden, darf die Überwachung durchgeführt werden - nach Maßgabe einer Verhältnismäßigkeitsprüfung im Einzelfall auch in Form einer automatischen Dauerüberwachung (vgl. BVerfGE 113, 348 <391 f.>; 129, 208 <245>).

240

Für den nachgelagerten Kernbereichsschutz sind zwar Verwertungsverbote und Löschungspflichten einschließlich einer diesbezüglichen Protokollierungspflicht vorzusehen, nicht aber in jedem Fall auch die Sichtung durch eine unabhängige Stelle (vgl. BVerfGE 129, 208 <249>). Der Gesetzgeber kann eine solche Sichtung für die Telekommunikationsüberwachung vielmehr davon abhängig machen, in welchem Ausmaß mit einer etwaigen Erfassung höchstprivater Informationen zu rechnen ist. Dies kann auch in Wechselwirkung mit den Schutzvorkehrungen auf der Ebene der Datenerhebung stehen.

241

Der Gesetzgeber hat hierbei nicht unerheblichen Gestaltungsspielraum. So hat das Bundesverfassungsgericht im Zusammenhang mit einer Regelung, die auf der Stufe der Datenerhebung wie vorliegend § 20l Abs. 6 Satz 1 BKAG ausgestaltet war, sogar den vollständigen Verzicht auf eine unabhängige Sichtung als verfassungsmäßig beurteilt; es hat dabei freilich das auf der Erhebungsstufe geregelte Verbot von Telekommunikationsüberwachungen bei einem ausschließlichen Kernbereichsbezug sehr streng verstanden und danach eine Telekommunikationsüberwachung immer schon dann als verboten angesehen, wenn den Behörden erkennbar ist, dass es sich um die Kommunikation zwischen Personen des höchstpersönlichen Vertrauens handelt (vgl. BVerfGE 129, 208 <247>). Wenn in dieser Weise die Erfassung kernbereichsrelevanter Gespräche schon bei der Datenerhebung vermieden wird und so Zweifelsfälle weitgehend ausgeschlossen werden, ist eine Sichtung durch eine unabhängige Stelle für die Telekommunikationsüberwachung nicht erforderlich. Ein derart strenger Schutz auf der Erhebungsebene ist verfassungsrechtlich jedoch nicht geboten. Der Gesetzgeber muss nicht für jedes Gespräch zwischen Vertrauenspersonen ein Erhebungsverbot vorsehen, sondern kann dieses von weiteren Voraussetzungen abhängig machen und Widerlegungsmöglichkeiten für die Schutzbedürftigkeit solcher Kommunikation zulassen (siehe oben C IV 3 d). Erlaubt der Gesetzgeber in dieser Weise auch die Erhebung von Informationen, für die Zweifel bestehen können, ob sie dem Kernbereich privater Lebensgestaltung unterfallen, bedarf es für solche Aufzeichnungen dann aber auch der Sichtung durch eine unabhängige Stelle.

242

bb) § 20l Abs. 6 BKAG genügt diesen Anforderungen im Wesentlichen.

243

(1) § 20l Abs. 6 Satz 1 BKAG ordnet der Sache nach an, dass vor einer Telekommunikationsüberwachung im Hinblick auf den Kernbereichsschutz eine Prüfung stattfindet und Maßnahmen zu unterlassen sind, wenn tatsächliche Anhaltspunkte bestehen, dass allein Erkenntnisse aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung erlangt werden. Da auch dieser Vorschrift ein verfassungsrechtliches Begriffsverständnis zugrunde zu legen ist, nach dem Gespräche mit Personen engsten Vertrauens nicht schon dann aus dem strikten Schutz herausfallen, wenn sich in ihnen Höchstpersönliches und Alltägliches vermischt (vgl. BVerfGE 109, 279 <330>), ist hiergegen nichts zu erinnern. In Einklang mit der Verfassung sieht das Gesetz auch vor, dass die Maßnahme abzubrechen ist, wenn höchstvertrauliche Gespräche den überwachenden Personen unmittelbar zur Kenntnis kommen, und begrenzt das Gesetz die Überwachung bei aufkommenden Zweifel auf eine automatische Aufzeichnung, § 20l Abs. 6 Satz 2, 3 BKAG.

244

Allerdings erlaubt das Gesetz darüber hinaus automatische Aufzeichnungen auch allgemein, also auch, wenn hierbei neben anderen kernbereichsrelevante Gespräche erfasst werden können (vgl. § 20l Abs. 6 Satz 2, 1. Halbsatz BKAG). In Bezug auf Telekommunikationsüberwachungen ist dies verfassungsrechtlich jedoch noch hinnehmbar. Die diesbezüglichen strengeren Vorgaben der Wohnraumüberwachung (vgl. BVerfGE 109, 279 <324>), die ihrem Grundtypus nach eine noch größere Kernbereichsnähe aufweisen, gelten hier nicht. Freilich bedarf die Anordnung einer solchen automatischen Überwachung hinsichtlich ihres zeitlichen und sachlichen Umfangs einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung im Einzelfall. Ebenso setzt die mit dieser Regelung in Kauf genommene Erfassung von höchstpersönlichen Informationen wirksame Schutzvorkehrungen auf der Stufe der Aus- und Verwertung voraus.

245

(2) Auch diesbezüglich erfüllt die Vorschrift die verfassungsrechtlichen Anforderungen weitgehend. Sie sieht nicht nur die erforderlichen Verwertungsverbote und Löschungspflichten, sondern für automatische Aufzeichnungen auch eine der Datenverwendung vorgelagerte Sichtung durch ein Gericht vor. Dass diese auf automatische Aufzeichnungen und damit die Erfassung von Zweifelsfällen beschränkt ist, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Anders als für die Wohnraumüberwachung kann die unabhängige Sichtung für die Telekommunikationsüberwachung auf Zweifelsfälle beschränkt werden.

246

Verfassungswidrig ist demgegenüber auch hier die zu knappe Aufbewahrungsfrist der Löschungsprotokolle gemäß § 20l Abs. 6 Satz 10 BKAG (siehe oben C IV 3 d).

247

6. § 20m Abs. 1, 3 BKAG teilt, soweit er sich mit § 20l BKAG deckt, dessen verfassungsrechtliche Mängel und ist insoweit auch seinerseits verfassungswidrig. Darüber hinaus ist die Vorschrift mit der Verfassung vereinbar.

248

a) § 20m Abs. 1, 3 BKAG, der die Erhebung von Telekommunikationsverkehrsdaten erlaubt, begründet einen Eingriff in das Telekommunikationsgeheimnis gemäß Art. 10 Abs. 1 GG. Dieses schützt nicht nur die Inhalte der Kommunikation, sondern auch die Vertraulichkeit der näheren Umstände des Kommunikationsvorgangs, zu denen insbesondere gehört, ob, wann und wie oft zwischen welchen Personen oder Telekommunikationseinrichtungen Telekommunikationsverkehr stattgefunden hat oder versucht worden ist (vgl. BVerfGE 67, 157 <172>; 130, 151 <179>; stRspr).

249

Ein Eingriff in Art. 10 Abs. 1 GG durch Erhebung von Telekommunikationsverkehrsdaten wiegt, auch wenn hierdurch nicht unmittelbar der Inhalt der Kommunikation erfasst wird, schwer (vgl. BVerfGE 107, 299 <318 ff.>; für die vorsorgliche Speicherung solcher Daten vgl. auch BVerfGE 125, 260 <318 ff.>). Er kann bei verhältnismäßiger Ausgestaltung zur Terrorismusabwehr jedoch gerechtfertigt sein. Wie bei § 20l BKAG ist dies auch hier nicht in jeder Hinsicht der Fall.

250

b) Für die verfassungsrechtliche Beurteilung der Vorschrift, deren Eingriffsvoraussetzungen sich mit denen des § 20l Abs. 1, 3 bis 5 BKAG im Wesentlichen decken, gelten die diesbezüglichen Ausführungen entsprechend. Da insoweit Anforderungen verfehlt werden, die sich für eingriffsintensive Ermittlungs- und Überwachungsmaßnahmen schon übergreifend aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ergeben (siehe oben C IV 1 b, 2), gilt für die Telekommunikationsverkehrsdatenerhebung nichts anderes als für die inhaltliche Überwachung der Telekommunikation.

251

Danach ist § 20m Abs. 1 Nr. 2 BKAG mit der Verfassung nicht vereinbar und bedarf § 20m Abs. 1 Nr. 3 und 4 BKAG einer verfassungskonformen Auslegung; auch fehlt es an einer gesetzlichen Pflicht, die Anordnung der Maßnahme sachhaltig zu begründen (siehe oben C V 5 b, d).

252

Im Übrigen ist § 20m Abs. 1, 3 BKAG mit der Verfassung vereinbar. Soweit er auf § 113a TKG (a.F.) verweist, läuft er leer, da das Bundesverfassungsgericht § 113a TKG (a.F.) für nichtig erklärt hat (vgl. BVerfGE 125, 260 <347 ff.>). Die Vorschrift entfaltet insoweit keine Beschwer. Die Neufassung des Telekommunikationsgesetzes durch Gesetz vom 10. Dezember 2015 (BGBl I S. 2218), dessen § 113a schon vom Regelungsgegenstand nicht identisch ist mit dem des § 113a TKG (a.F.), wird durch den Verweis nicht erfasst und ist nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens. Keinen verfassungsrechtlichen Bedenken unterliegt auch § 20m Abs. 3 Satz 2 BKAG, der für die Anordnung der Maßnahme Erleichterungen bezüglich der Bezeichnung der zu erhebenden Daten vorsieht; hierdurch bleibt unberührt, dass gemäß § 20m Abs. 1 BKAG nur auf einzelne Personen bezogene Datenerhebungen zulässig sind.
VI.

253

Die angegriffenen Ermittlungs- und Überwachungsbefugnisse sind in verschiedener Hinsicht auch hinsichtlich der weiteren, gleichartig an sie zu stellenden Anforderungen (siehe oben C IV 4 bis 7) nicht mit der Verfassung vereinbar. Es fehlt an flankierenden Regelungen, ohne die die Verhältnismäßigkeit dieser Eingriffe nicht gewahrt ist.

254

1. Keinen Bedenken unterliegt allerdings, dass das Gesetz keine ausdrückliche Regelung enthält, die mit Blick auf das Zusammenwirken der verschiedenen Befugnisse das Verbot der Rundumüberwachung näher ausformt (siehe oben C IV 4). Das Verbot der Rundumüberwachung gilt als Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zur Wahrung eines in der Menschenwürde wurzelnden unverfügbaren Kerns der Person unmittelbar von Verfassungs wegen und ist von den Sicherheitsbehörden im Rahmen ihrer Befugnisse von sich aus zu beachten (vgl. BVerfGE 109, 279 <323>; 112, 304 <319>; 130, 1 <24>; stRspr). Weiterer gesetzlicher Konkretisierung bedarf es insoweit nicht. Soweit es um die hierfür erforderliche Koordination der Befugnisse innerhalb des Bundeskriminalamts selbst geht, durfte der Gesetzgeber davon ausgehen, dass diese angesichts der vergleichsweise übersichtlichen Größe und Strukturen des Bundeskriminalamts im Rahmen der Leitungsverantwortung hinreichend gewährleistet ist. Soweit es demgegenüber um die Abstimmung mit Überwachungsmaßnahmen anderer Behörden geht, ist zu berücksichtigen, dass Beschränkungen des Informationsflusses zwischen den Sicherheitsbehörden auch eine grundrechtsschützende Dimension haben (vgl. BVerfGE 133, 277 <323 Rn. 113>). Es ist deshalb verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass das Gesetz zur Verhinderung einer Rundumüberwachung auf eine Abstimmung im Rahmen der allgemeinen Vorschriften sowie insbesondere gemäß § 4a Abs. 2 BKAG vertraut.

255

2. Nicht in jeder Hinsicht mit den Anforderungen der Verfassung vereinbar ist dagegen die Ausgestaltung des Schutzes von Berufs- und anderen Personengruppen, deren Tätigkeit von Verfassungs wegen eine besondere Vertraulichkeit ihrer Kommunikation voraussetzt.

256

a) Allerdings hat der Gesetzgeber in § 20u BKAG eine Regelung geschaffen, die den verfassungsrechtlichen Anforderungen diesbezüglich weithin entspricht. Insbesondere ist nicht zu beanstanden, dass § 20u Abs. 2 BKAG - in enger Anlehnung an § 160a StPO - die Überwachung von Berufsgeheimnisträgern grundsätzlich nicht strikt, sondern nur nach Maßgabe einer Abwägung im Einzelfall ausschließt, und ein strikteres Überwachungsverbot in § 20u Abs. 1 BKAG nur für einen kleinen Personenkreis vorgesehen ist, für den der Gesetzgeber besonderen Schutzbedarf sieht (vgl. BVerfGE 129, 208 <258 ff.>). Bei der nach § 20u Abs. 2 BKAG vorzunehmenden Abwägung sind die Grundrechte der Betroffenen angemessen zu gewichten. Dabei ist die Abwägung durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz strukturiert. In Entsprechung zu § 160a Abs. 2 Satz 1, 2. Halbsatz StPO gebietet die Verfassung insoweit die Vermutung, dass von einem Überwiegen des Interesses des Bundeskriminalamts an der Erhebung der Daten in der Regel nicht auszugehen ist, wenn die Maßnahme nicht der Abwehr einer erheblichen Gefahr dient.

257

b) Verfassungsrechtlich nicht tragfähig ist insoweit allerdings die Ausgestaltung des Schutzes der Vertrauensverhältnisse von Rechtsanwälten zu ihren Mandanten. Die vom Gesetzgeber herangezogene Unterscheidung zwischen Strafverteidigern und den in anderen Mandatsverhältnissen tätigen Rechtsanwälten ist als Abgrenzungskriterium für einen unterschiedlichen Schutz schon deshalb ungeeignet, weil die in Frage stehenden Überwachungsmaßnahmen nicht der Strafverfolgung, sondern der Gefahrenabwehr dienen, die Strafverteidigung also hier gerade nicht entscheidend ist.

258

c) Darüber hinaus sind Grundrechtsverletzungen durch § 20u BKAG nicht zu erkennen. Ein Anspruch auf strikteren Schutz ergibt sich insbesondere nicht aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG für Medienvertreter (vgl. BVerfGE 107, 299 <332 f.>). Weitere Grenzen ergeben sich auch nicht aus Art. 3 Abs. 1 GG. Der Gesetzgeber darf die Zuerkennung eines strengeren Schutzes vor Überwachungsmaßnahmen als Ausnahme für spezifische Schutzlagen verstehen, hinsichtlich derer er einen erheblichen Einschätzungsspielraum hat. Die Anerkennung einer solchen besonderen Schutzbedürftigkeit von Geistlichen und Abgeordneten gegenüber anderen Berufsgruppen wurde durch die Entscheidung des Zweiten Senats vom 12. Oktober 2011 als zumindest tragfähig angesehen. Eine Pflicht zur Ausweitung dieses besonders strikten Schutzes auf weitere Gruppen kann hieraus nicht abgeleitet werden (vgl. BVerfGE 129, 208 <258 ff., 263 ff.>). Unberührt bleibt, dass in die für die anderen Berufsgeheimnisträger gebotene Abwägung auch unter Berücksichtigung des Art. 12 Abs. 1 GG die Vertrauensbedürftigkeit der jeweiligen Kommunikationsbeziehungen im jeweiligen Einzelfall maßgeblich einzufließen hat und darüber hinaus eine Überwachung - etwa für psychotherapeutische Gespräche - auch unter dem Gesichtspunkt des Kernbereichs privater Lebensgestaltung ausgeschlossen sein kann (siehe oben C IV 3 a).

259


3. Die Regelungen zur Gewährleistung von Transparenz, Rechtsschutz und aufsichtlicher Kontrolle genügen gleichfalls den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht in jeder Hinsicht.

260

a) Bei sachgerechter Auslegung nicht zu beanstanden ist allerdings die Regelung der Benachrichtigungspflichten in § 20w BKAG. Die in enger Anlehnung an § 101 Abs. 4 bis 6 StPO formulierte Vorschrift genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen (vgl. BVerfGE 129, 208 <250 ff.>).

261

Dies gilt auch für § 20w Abs. 2 Satz 1, 2. Halbsatz BKAG, der das Absehen von einer Benachrichtigung zur Sicherung des weiteren Einsatzes eines Verdeckten Ermittlers erlaubt. Denn anders als für die Zurückstellung der Benachrichtigung über den Einsatz von Verdeckten Ermittlern im Rahmen einer Wohnraumüberwachung, für die dieser Gesichtspunkt nicht ausreicht (vgl. BVerfGE 109, 279 <366 f.>), geht es bei dieser Ausnahme von der Benachrichtigungspflicht um den Einsatz von Verdeckten Ermittlern als solchen. Allerdings ist die Vorschrift so auszulegen, dass nicht schon jede bloß abstrakte Möglichkeit einer Beeinträchtigung der weiteren Verwendung der betreffenden Ermittlungsperson ausreicht, um von der Benachrichtigung abzusehen, sondern die Notwendigkeit eines solchen Schutzes für eine absehbare weitere Verwendung der betreffenden Person konkretisierbar sein muss.

262

Verfassungsmäßig ist auch das endgültige Absehen von einer Benachrichtigung nach Ablauf von mindestens fünf Jahren gemäß § 20w Abs. 3 Satz 5 BKAG. In Übereinstimmung mit der derzeitigen Praxis, wie sie in der mündlichen Verhandlung von Vertretern des Bundeskriminalamts geschildert wurde, setzt die Entscheidung über ein endgültiges Absehen von der Benachrichtigung bei verfassungskonformer Auslegung voraus, dass eine weitere Verwendung der Daten gegen den Betroffenen ausgeschlossen ist und die Daten gelöscht werden.

263

b) Auskunftsrechte sowie die Möglichkeit einer nachträglichen gerichtlichen Kontrolle und gegebenenfalls Wiedergutmachung werden in Bezug auf die angegriffenen Ermittlungs- und Überwachungsbefugnisse gleichfalls in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise gewährleistet.

264

Vom Grundsatz her ist ein Auskunftsrecht in § 19 BDSG anerkannt, dessen Anwendbarkeit für das Bundeskriminalamtgesetz nach § 37 BKAG nicht ausgeschlossen ist. Dass dabei im Zusammenhang mit Ermittlungen des Bundeskriminalamts zur Terrorismusabwehr häufig die Ausnahmetatbestände des § 19 Abs. 4 BDSG greifen dürften, nimmt diesen Rechten in tatsächlicher Hinsicht zwar erheblich an Wirksamkeit, ist aber für eine effektive Aufgabenwahrnehmung unvermeidlich und verfassungsrechtlich hinzunehmen (vgl. BVerfGE 133, 277 <367 f. Rn. 210>).

265

Die von der Verfassung geforderte Eröffnung nachträglichen Rechtsschutzes im Falle der unrechtmäßigen Überwachung ergibt sich aus Verwaltungsprozessrecht, hier der Feststellungs- oder Fortsetzungsfeststellungsklage, für die in solchen Fällen in der Regel ein Feststellungsinteresse anzuerkennen ist (vgl. Happ, in: Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 43 Rn. 34; Schmidt, in: Eyermann, a.a.O., § 113 Rn. 87 ff., 93; vgl. hierzu auch BVerfGE 96, 27 <39 f.>); Ansprüche auf Wiedergutmachung lassen sich auf die zivilrechtlichen Grundsätze zur Entschädigungspflicht bei schweren Eingriffen in das allgemeine Persönlichkeitsrecht stützen (siehe oben C IV 6 c).

266

c) Nicht verfassungsrechtlich hinreichend ausgestaltet ist demgegenüber die aufsichtliche Kontrolle (siehe oben C IV 6 d). Zwar ist nach den Vorschriften des Bundesdatenschutzgesetzes eine Kontrolle durch die Bundesdatenschutzbeauftragte eröffnet und verfügt diese insoweit auch über ausreichende Befugnisse (vgl. BVerfGE 133, 277 <370 Rn. 215>). Es fehlt jedoch an einer hinreichenden gesetzlichen Vorgabe zu turnusmäßigen Pflichtkontrollen, deren Abstand ein gewisses Höchstmaß, etwa zwei Jahre, nicht überschreiten darf (vgl. BVerfGE 133, 277 <370 f. Rn. 217>).

267

Auch fehlt es an einer umfassenden Protokollierungspflicht, die es ermöglicht, die jeweiligen Überwachungsmaßnahmen sachhaltig zu prüfen (vgl. BVerfGE 133, 277 <370 Rn. 215>). Das Gesetz sieht zwar vereinzelt Protokollierungspflichten vor wie § 20k Abs. 3 BKAG für den Eingriff in informationstechnische Systeme oder § 20w Abs. 2 Satz 3 BKAG für die Zurückstellung einer Benachrichtigung. Selbst dort, wo eine Protokollierung der Benachrichtigung vorgesehen ist, bleibt unklar, ob sie sich auch auf die Gründe für das Absehen bezieht. Die Regelungen bleiben jedenfalls punktuell und stellen eine nachträgliche Kontrolle der Überwachungsmaßnahmen nicht hinreichend sicher. Zwar werden zumindest wichtige Ergebnisse der Datenerhebung auf der Grundlage der allgemeinen Regeln zur Aktenführung dokumentiert. Jedoch ist dies weder umfassend klar noch in Bezug auf die datenschutzrechtlichen Erfordernisse einer wirksamen Kontrolle gesetzlich geregelt. Dies fällt umso mehr für den Bereich der Gefahrenabwehr ins Gewicht, wo die Aufklärung und Abwehr von Gefahren nicht wie im Strafprozess als Ermittlungsverfahren gegen bestimmte einzelne Personen durchgeführt werden müssen. Es ist insoweit nicht ersichtlich, dass die Nachvollziehbarkeit der Datenerhebung - auch für Betroffene in etwaigen späteren Strafverfahren - sichergestellt ist. Daran ändert die richterliche Anordnung der Maßnahme nichts. Denn aus dieser ergibt sich nur die Erlaubnis zu deren Durchführung, nicht aber, ob und wie hiervon Gebrauch gemacht wurde. Im Übrigen ist anders als für das Strafverfahren in § 100b Abs. 4 Satz 2 StPO noch nicht einmal eine Unterrichtung des anordnenden Gerichts über die Ergebnisse der Ermittlungen vorgesehen.

268

d) Schließlich fehlt es für eine verhältnismäßige Ausgestaltung der angegriffenen Überwachungsbefugnisse auch an Berichtspflichten gegenüber Parlament und Öffentlichkeit (vgl. BVerfGE 133, 277 <372 Rn. 221 f.>). Weder sieht das Gesetz Berichte darüber vor, in welchem Umfang von den Befugnissen aus Anlass welcher Art von Verdachtslagen Gebrauch gemacht wurde, noch darüber, wieweit die Betroffenen hierüber benachrichtigt wurden. Da sich die Wahrnehmung der in Frage stehenden Befugnisse sowohl dem Betroffenen als auch der Öffentlichkeit weitgehend entzieht, sind solche Berichte zur Ermöglichung einer öffentlichen Diskussion und demokratischen Kontrolle in regelmäßigen Abständen verfassungsrechtlich geboten (siehe oben C IV 6 e).

269

4. Verfassungsrechtlich nicht in jeder Hinsicht tragfähig ist auch die Regelung zur Löschung der Daten gemäß § 20v Abs. 6 BKAG.

270

a) Die Grundstruktur der Regelung ist freilich verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Die Daten sind nach Erfüllung des der Datenerhebung zugrundeliegenden Zwecks zu löschen (Satz 1). Dies verweist auf die verfassungsrechtlichen Grundsätze zur Zweckbindung (siehe unten D I). Mit Blick auf eine weitere Verwendung der Daten gemäß § 20v Abs. 4 Satz 2 BKAG kommt danach bei verfassungskonformer Auslegung ein Absehen von einer Löschung über den unmittelbaren Anlassfall hinaus nur insoweit in Betracht, als sich aus ihnen konkrete Ermittlungsansätze für die Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus ergeben. Die Löschung ist aktenkundig zu machen (Satz 2). Die Löschung kann für eine etwaige gerichtliche Überprüfung zurückgestellt werden; die Daten sind dann zu sperren (Satz 4). Verfahrensrechtlich steht die Vorschrift in Kontext mit § 32 BKAG. Nach dessen Absatz 3 sind neben der Einzelfallbearbeitung auch periodisierte Prüfungen der Löschungspflichten vorgesehen.

271

Für Maßnahmen der Rasterfahndung sind in § 20j Abs. 3 BKAG entsprechende eigene Löschungspflichten vorgesehen, die diese Regelung in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise konkretisieren.

272

b) Verfassungsrechtlich nicht tragfähig ist demgegenüber die Anordnung der sehr kurzen Frist zur Löschung der „Akten“ in § 20v Abs. 6 Satz 3 BKAG, mit der das Gesetz die Löschung der Löschungsprotokolle regelt. Löschungsprotokolle dienen der Ermöglichung der späteren Nachvollziehbarkeit und Kontrolle. Die Frist ihrer Aufbewahrung muss demnach so bemessen sein, dass die Protokolle bei typisierender Betrachtung nach der Benachrichtigung der Betroffenen und im Rahmen der nächsten periodisch anstehenden Kontrolle durch die Datenschutzbeauftragte noch vorliegen (vgl. hierzu auch BVerfGE 100, 313 <400>).

273

Entsprechendes gilt für die Frist des § 20j Abs. 3 Satz 3 BKAG.

274

c) Verfassungswidrig ist darüber hinaus § 20v Abs. 6 Satz 5 BKAG. Die Vorschrift sieht ein Absehen von der Löschung auch nach Zweckerfüllung vor, soweit die Daten zur Verfolgung von Straftaten oder - nach Maßgabe des § 8 BKAG - zur Verhütung oder zur Vorsorge für die künftige Verfolgung einer Straftat mit erheblicher Bedeutung erforderlich sind. Sie erlaubt damit die Speicherung der Daten in Blick auf eine Nutzung zu neuen, nur allgemein umschriebenen Zwecken, für die das Gesetz keine Ermächtigungsgrundlage enthält und in dieser Offenheit auch nicht schaffen kann.
D.

275

Soweit sich die Verfassungsbeschwerden gegen die Befugnisse zur weiteren Nutzung der Daten und zu ihrer Übermittlung an inländische und ausländische Behörden richten, greifen die Rügen gleichfalls in verschiedener Hinsicht durch.
I.

276

Die Anforderungen an die weitere Nutzung und Übermittlung staatlich erhobener Daten richten sich nach den Grundsätzen der Zweckbindung und Zweckänderung (vgl. BVerfGE 65, 1 <51, 62>; 100, 313 <360 f., 389 f.>; 109, 279 <375 ff.>; 110, 33 <73>; 120, 351 <368 f.>; 125, 260 <333>; 130, 1 <33 f.>; 133, 277 <372 ff. Rn. 225 f.>; stRspr).

277

Erlaubt der Gesetzgeber die Nutzung von Daten über den konkreten Anlass und rechtfertigenden Grund einer Datenerhebung hinaus, muss er hierfür eine eigene Rechtsgrundlage schaffen (vgl. nur BVerfGE 109, 279 <375 f.>; 120, 351 <369>; 130, 1 <33>; stRspr). Er kann insoweit zum einen eine weitere Nutzung der Daten im Rahmen der für die Datenerhebung maßgeblichen Zwecke vorsehen; stellt er sicher, dass die weitere Nutzung der Daten den näheren verfassungsrechtlichen Anforderungen der Zweckbindung genügt, ist eine solche Regelung verfassungsrechtlich grundsätzlich zulässig (1.). Er kann zum anderen aber auch eine Zweckänderung erlauben; als Ermächtigung zu einer Datennutzung für neue Zwecke unterliegt sie spezifischen verfassungsrechtlichen Anforderungen (2.).

278

1. Der Gesetzgeber kann eine Datennutzung über das für die Datenerhebung maßgebende Verfahren hinaus als weitere Nutzung im Rahmen der ursprünglichen Zwecke dieser Daten erlauben. Er kann sich insoweit auf die der Datenerhebung zugrundeliegenden Rechtfertigungsgründe stützen und unterliegt damit nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine Zweckänderung.

279

a) Die zulässige Reichweite solcher Nutzungen richtet sich nach der Ermächtigung für die Datenerhebung. Die jeweilige Eingriffsgrundlage bestimmt Behörde, Zweck und Bedingungen der Datenerhebung und definiert damit die erlaubte Verwendung. Die Zweckbindung der auf ihrer Grundlage gewonnenen Informationen beschränkt sich folglich nicht allein auf eine Bindung an bestimmte, abstrakt definierte Behördenaufgaben, sondern bestimmt sich nach der Reichweite der Erhebungszwecke in der für die jeweilige Datenerhebung maßgeblichen Ermächtigungsgrundlage. Eine weitere Nutzung innerhalb der ursprünglichen Zwecksetzung kommt damit nur seitens derselben Behörde im Rahmen derselben Aufgabe und für den Schutz derselben Rechtsgüter in Betracht wie für die Datenerhebung maßgeblich: Ist diese nur zum Schutz bestimmter Rechtsgüter oder zur Verhütung bestimmter Straftaten erlaubt, so begrenzt dies deren unmittelbare sowie weitere Verwendung auch in derselben Behörde, soweit keine gesetzliche Grundlage für eine zulässige Zweckänderung eine weitergehende Nutzung erlaubt.

280

b) Nicht zu den Zweckbindungen, die für jede weitere Nutzung der Daten seitens derselben Behörde je neu beachtet werden müssen, gehören grundsätzlich die für die Datenerhebung maßgeblichen Anforderungen an Einschreitschwellen, wie sie traditionell die hinreichend konkretisierte Gefahrenlage im Bereich der Gefahrenabwehr und der hinreichende Tatverdacht im Bereich der Strafverfolgung darstellen. Das Erfordernis einer hinreichend konkretisierten Gefahrenlage oder eines qualifizierten Tatverdachts bestimmt den Anlass, aus dem entsprechende Daten erhoben werden dürfen, nicht aber die erlaubten Zwecke, für die die Daten der Behörde dann zur Nutzung offen stehen.

281

Folglich widerspricht es nicht von vornherein dem Gebot einer dem ursprünglichen Erhebungszweck entsprechenden Verwendung, wenn die weitere Nutzung solcher Daten bei Wahrnehmung derselben Aufgabe auch unabhängig von weiteren gesetzlichen Voraussetzungen als bloßer Spurenansatz erlaubt wird. Die Behörde kann die insoweit gewonnenen Kenntnisse zum Schutz derselben Rechtsgüter und im Rahmen derselben Aufgabenstellung - allein oder in Verbindung mit anderen ihr zur Verfügung stehenden Informationen - als schlichten Ausgangspunkt für weitere Ermittlungen nutzen. Dies trägt dem Umstand Rechnung, dass sich die Generierung von Wissen - nicht zuletzt auch, wenn es um das Verstehen terroristischer Strukturen geht - nicht vollständig auf die Addition von je getrennten, nach Rechtskriterien formell ein- oder ausblendbaren Einzeldaten reduzieren lässt. In den dargelegten Grenzen erkennt das die Rechtsordnung an. Diese Grenzen gewährleisten zugleich, dass damit keine Datennutzung ins Blaue hinein eröffnet ist. Durch die Bindung an die für die Datenerhebung maßgeblichen Aufgaben und die Anforderungen des Rechtsgüterschutzes hat auch eine Verwendung der Daten als Spurenansatz einen hinreichend konkreten Ermittlungsbezug, den der Gesetzgeber nicht durch weitere einschränkende Maßgaben absichern muss.

282

Für die Wahrung der Zweckbindung kommt es demnach darauf an, dass die erhebungsberechtigte Behörde die Daten im selben Aufgabenkreis zum Schutz derselben Rechtsgüter und zur Verfolgung oder Verhütung derselben Straftaten nutzt, wie es die jeweilige Datenerhebungsvorschrift erlaubt. Diese Anforderungen sind erforderlich, aber grundsätzlich auch ausreichend, um eine weitere Nutzung der Daten im Rahmen der Zweckbindung zu legitimieren.

283

Weiter reicht die Zweckbindung allerdings für Daten aus Wohnraumüberwachungen und Online-Durchsuchungen: Hier ist jede weitere Nutzung der Daten nur dann zweckentsprechend, wenn sie auch aufgrund einer den Erhebungsvoraussetzungen entsprechenden dringenden Gefahr (vgl. BVerfGE 109, 279 <377, 379>) oder im Einzelfall drohenden Gefahr (vgl. BVerfGE 120, 274 <326, 328 f.>) erforderlich ist. Das außerordentliche Eingriffsgewicht solcher Datenerhebungen spiegelt sich hier auch in einer besonders engen Bindung jeder weiteren Nutzung der gewonnenen Daten an die Voraussetzungen und damit Zwecke der Datenerhebung. Eine Nutzung der Erkenntnisse als bloßer Spuren- oder Ermittlungsansatz unabhängig von einer dringenden oder im Einzelfall drohenden Gefahr kommt hier nicht in Betracht.

284

2. Der Gesetzgeber kann eine weitere Nutzung der Daten auch zu anderen Zwecken als denen der ursprünglichen Datenerhebung erlauben (Zweckänderung). Er hat dann allerdings sicherzustellen, dass dem Eingriffsgewicht der Datenerhebung auch hinsichtlich der neuen Nutzung Rechnung getragen wird (vgl. BVerfGE 100, 313 <389 f.>; 109, 279 <377>; 120, 351 <369>; 130, 1 <33 f.>; 133, 277 <372 f. Rn. 225>).

285

a) Die Ermächtigung zu einer Nutzung von Daten zu neuen Zwecken begründet einen neuen Eingriff in das Grundrecht, in das durch die Datenerhebung eingegriffen wurde (vgl. BVerfGE 100, 313 <360, 391>; 109, 279 <375>; 110, 33 <68 f.>; 125, 260 <312 f., 333>; 133, 277 <372 Rn. 225>; vgl. auch EGMR, Weber und Saravia v. Deutschland, Entscheidung vom 29. Juni 2006, Nr. 54934/00, § 79, NJW 2007, S. 1433 <1434>, zu Art. 8 EMRK). Zweckänderungen sind folglich jeweils an den Grundrechten zu messen, die für die Datenerhebung maßgeblich waren. Das gilt für jede Art der Verwendung von Daten zu einem anderen Zweck als dem Erhebungszweck, unabhängig davon, ob es sich um die Verwendung als Beweismittel oder als Ermittlungsansatz handelt (vgl. BVerfGE 109, 279 <377>).

286

b) Die Ermächtigung zu einer Zweckänderung ist dabei am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu messen. Hierbei orientiert sich das Gewicht, das einer solchen Regelung im Rahmen der Abwägung zukommt, am Gewicht des Eingriffs der Datenerhebung. Informationen, die durch besonders eingriffsintensive Maßnahmen erlangt wurden, können auch nur zu besonders gewichtigen Zwecken benutzt werden (vgl. BVerfGE 100, 313 <394>; 109, 279 <377>; 133, 277 <372 f. Rn. 225> m.w.N.).

287

aa) Während nach der früheren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts insoweit als Maßstab der Verhältnismäßigkeitsprüfung darauf abgestellt wurde, ob die geänderte Nutzung mit der ursprünglichen Zwecksetzung „unvereinbar“ sei (vgl. BVerfGE 65, 1 <62>; 100, 313 <360, 389>; 109, 279 <376 f.>; 110, 33 <69>; 120, 351 <369>; 130, 1 <33>), ist dies inzwischen durch das Kriterium der hypothetischen Datenneuerhebung konkretisiert und ersetzt worden. Für Daten aus eingriffsintensiven Überwachungs- und Ermittlungsmaßnahmen wie denen des vorliegenden Verfahrens kommt es danach darauf an, ob die entsprechenden Daten nach verfassungsrechtlichen Maßstäben neu auch für den geänderten Zweck mit vergleichbar schwerwiegenden Mitteln erhoben werden dürften (vgl. BVerfGE 125, 260 <333>; 133, 277 <373 f. Rn. 225 f.>; der Sache nach ist diese Konkretisierung nicht neu, vgl. bereits BVerfGE 100, 313 <389 f.>, und findet sich unter der Bezeichnung „hypothetischer Ersatzeingriff“ auch in BVerfGE 130, 1 <34>). Das Kriterium der Datenneuerhebung gilt allerdings nicht schematisch abschließend und schließt die Berücksichtigung weiterer Gesichtspunkte nicht aus (vgl. BVerfGE 133, 277 <374 Rn. 226>). So steht die Tatsache, dass die Zielbehörde bestimmte Datenerhebungen, zu denen die Ausgangsbehörde berechtigt ist, ihrerseits wegen ihres Aufgabenspektrums nicht vornehmen darf, einem Datenaustausch nicht prinzipiell entgegen (vgl. BVerfGE 100, 313 <390>). Auch können Gesichtspunkte der Vereinfachung und der Praktikabilität bei der Schaffung von Übermittlungsvorschriften es rechtfertigen, dass nicht alle Einzelanforderungen, die für die Datenerhebung erforderlich sind, in gleicher Detailliertheit für die Übermittlung der Daten gelten. Das Erfordernis einer Gleichgewichtigkeit der neuen Nutzung bleibt hierdurch jedoch unberührt.

288

bb) Voraussetzung für eine Zweckänderung ist danach aber jedenfalls, dass die neue Nutzung der Daten dem Schutz von Rechtsgütern oder der Aufdeckung von Straftaten eines solchen Gewichts dient, die verfassungsrechtlich ihre Neuerhebung mit vergleichbar schwerwiegenden Mitteln rechtfertigen könnten (vgl. BVerfGE 100, 313 <389 f.>; 109, 279 <377>; 110, 33 <73>; 120, 351 <369>; 130, 1 <34>).

289

Nicht in jedem Fall identisch sind die Voraussetzungen einer Zweckänderung mit denen einer Datenerhebung hingegen hinsichtlich des erforderlichen Konkretisierungsgrades der Gefahrenlage oder des Tatverdachts. Die diesbezüglichen Anforderungen bestimmen unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten primär den Anlass nur unmittelbar für die Datenerhebung selbst, nicht aber auch für die weitere Nutzung der erhobenen Daten. Als neu zu rechtfertigender Eingriff bedarf aber auch die Ermächtigung zu einer Nutzung für andere Zwecke eines eigenen, hinreichend spezifischen Anlasses. Verfassungsrechtlich geboten, aber regelmäßig auch ausreichend, ist insoweit, dass sich aus den Daten - sei es aus ihnen selbst, sei es in Verbindung mit weiteren Kenntnissen der Behörde - ein konkreter Ermittlungsansatz ergibt.

290

Der Gesetzgeber kann danach - bezogen auf die Datennutzung von Sicherheitsbehörden - eine Zweckänderung von Daten grundsätzlich dann erlauben, wenn es sich um Informationen handelt, aus denen sich im Einzelfall konkrete Ermittlungsansätze zur Aufdeckung von vergleichbar gewichtigen Straftaten oder zur Abwehr von zumindest auf mittlere Sicht drohenden Gefahren für vergleichbar gewichtige Rechtsgüter wie die ergeben, zu deren Schutz die entsprechende Datenerhebung zulässig ist.

291

Anderes gilt allerdings auch hier für Informationen aus Wohnraumüberwachungen oder dem Zugriff auf informationstechnische Systeme. Angesichts des besonderen Eingriffsgewichts dieser Maßnahmen muss für sie jede neue Nutzung der Daten wie bei der Datenerhebung selbst auch durch eine dringende Gefahr (vgl. BVerfGE 109, 279 <377, 379>) oder eine im Einzelfall hinreichend konkretisierte Gefahr (siehe oben C IV 1 b) gerechtfertigt sein.

292

cc) In diesen Anforderungen an die Zulässigkeit einer Zweckänderung liegt eine konkretisierende Konsolidierung einer langen Rechtsprechung beider Senate des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfGE 65, 1 <45 f., 61 f.>; 100, 313 <389 f.>; 109, 279 <377>; 110, 33 <68 f., 73>; 120, 351 <369>; 125, 260 <333>; 130, 1 <33 f.>; 133, 277 <372 f. Rn. 225>). Hierin liegt keine Verschärfung der Maßstäbe, sondern eine behutsame Einschränkung, indem das Kriterium der hypothetischen Datenneuerhebung nicht strikt angewandt (vgl. bereits BVerfGE 133, 277 <374 Rn. 226>), sondern in Blick auf die - die zu fordernde Aktualität der Gefahrenlage bestimmenden - Eingriffsschwellen gegenüber früheren Anforderungen (vgl. insbesondere BVerfGE 100, 313 <394>; 109, 279 <377>) teilweise zurückgenommen wird. Wollte man, wie es in einem Sondervotum befürwortet wird, darüber hinaus auch auf das Erfordernis eines vergleichbar gewichtigen Rechtsgüterschutzes verzichten, würden die Grenzen der Zweckbindung als Kernelement des verfassungsrechtlichen Datenschutzes (vgl. BVerfGE 65, 1 <45 f., 61 f.>) - erst recht wenn zugleich die Voraussetzung eines konkreten Ermittlungsansatzes als zu streng angesehen wird - für das Sicherheitsrecht praktisch hinfällig (oder beschränkten sich allenfalls noch rudimentär auf Daten aus Wohnraumüberwachungen und Online-Durchsuchungen).
II.

293

Ausgehend von den vorstehenden Maßstäben genügt § 20v Abs. 4 Satz 2 BKAG, der die Verwendung der vom Bundeskriminalamt erhobenen Daten durch dieses selbst regelt, den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht. Die Vorschrift ist verfassungswidrig.

294

1. Die in § 20v Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 BKAG allein zur Wahrnehmung der Aufgabe der Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus geregelte Datennutzung ist zwar im Grundsatz mit verfassungsrechtlichen Anforderungen vereinbar; es fehlt jedoch an einer hinreichenden Begrenzung für Daten aus Wohnraumüberwachungen und Online-Durchsuchungen.

295

a) Im Grundsatz bestehen gegen die Regelung keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken.

296

aa) Die Vorschrift erlaubt dem Bundeskriminalamt eine Verwendung der von ihm zur Terrorismusabwehr erhobenen Daten zur Wahrnehmung seiner Aufgabe nach § 4a Abs. 1 Satz 1 BKAG. Damit eröffnet sie zunächst - als innere Konsequenz der Ermächtigung zur Datenerhebung - eine Nutzung der Daten zu dem ihrer Erhebung konkret zugrundeliegenden Zweck. Darüber hinaus eröffnet sie aber auch eine über das jeweilige Ermittlungsverfahren hinausreichende Nutzung der Daten. Mit dem Verweis auf § 4a Abs. 1 Satz 1 BKAG ist diese weitere Nutzung der Daten auf die Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus begrenzt. Bei sachgerechtem Verständnis dieser Verweisung ergibt sich hieraus zugleich, dass die Daten allein zur Verhinderung der in § 4a Abs. 1 Satz 2 BKAG qualifizierten Straftaten und damit zum Schutz nur von solchen hochrangigen Rechtsgütern genutzt werden dürfen, zu deren Schutz auch die Datenerhebungsbefugnisse des Unterabschnitts 3a - einschließlich der besonders eingriffsintensiven Überwachungsbefugnisse der §§ 20g ff. BKAG - eingesetzt werden dürfen.

297

(1) Die Verweisung auf § 4a Abs. 1 Satz 1 BKAG wirft hinsichtlich ihrer Bedeutung allerdings Zweifel auf. Sie können im Wege der Auslegung jedoch überwunden werden, so dass die Vorschrift nicht an Bestimmtheitsanforderungen scheitert. Zwar ist unklar, wie sich § 4a Abs. 1 Satz 1 und 2 BKAG voneinander abgrenzen: Während sich Satz 1 für die Zuweisung der Aufgabe der Gefahrenabwehr an den Wortlaut des Art. 73 Abs. 1 Nr. 9a GG anlehnt, der auch die Straftatenverhütung mitumfasst (siehe oben C I 1), wird die Straftatenverhütung in Satz 2 von der Gefahrenabwehr bewusst unterschieden. Da § 4a Abs. 1 Satz 1 BKAG angesichts seines Charakters als Aufgabennorm für die Gefahrenabwehr jedoch Ermittlungen im Vorfeld konkreter Gefahren einschließt, ist der Verweis in § 20v Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 BKAG letztlich doch hinreichend auslegungsfähig: Die Vorschrift will eine Nutzung der Daten allgemein, gegebenenfalls auch als Spurenansatz, zur Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus eröffnen.

298

Die Regelung ist auch nicht insoweit zu unbestimmt, als § 4a Abs. 1 BKAG nur allgemein auf „Gefahren des internationalen Terrorismus“ abstellt. Auch wenn § 20v Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 BKAG allein auf Satz 1 der Vorschrift verweist, ist für die Konkretisierung der dort genannten Gefahren auf die nähere Definition in Satz 2 zurückzugreifen, der bestimmte Straftaten abschließend aufführt und näher qualifiziert. Dass die dort unter dem Gesichtspunkt der Straftatenverhütung aufgeführten Straftaten auch für die Gefahrenabwehr nach Satz 1 maßgeblich sind, entspricht der Systematik des Gesetzes auch sonst (vgl. nur § 20a Abs. 2 BKAG).

299

(2) Indem § 20v Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 BKAG eine Datennutzung nur zur Abwehr von Gefahren durch terroristische Straftaten im Sinne des § 4a Abs. 1 Satz 2 BKAG erlaubt, ist zugleich gewährleistet, dass diese Nutzung allein zum Schutz von Rechtsgütern eröffnet wird, zu deren Schutz auch von den Datenerhebungsbefugnissen Gebrauch gemacht werden darf. Dies gilt auch für Daten aus besonders eingriffsintensiven Überwachungsmaßnahmen, die nur zum Schutz besonders hochrangiger Rechtsgüter gerechtfertigt sind.

300

Fast alle in § 4a Abs. 1 Satz 2 BKAG in Verbindung mit § 129a Abs. 1, 2 StGB genannten Straftaten betreffen Delikte, die unmittelbar gegen Leib und Leben gerichtet sind oder - etwa als gemeingefährliche Delikte - ihren Unrechtsgehalt maßgeblich aus solchen Gefahren beziehen beziehungsweise Sachen von bedeutendem Wert betreffen, deren Erhaltung als wesentliche Infrastrukturen im öffentlichen Interesse geboten ist. Soweit dies hinsichtlich einzelner in § 129a StGB genannter Delikte nicht zwangsläufig der Fall ist, ist zu berücksichtigen, dass die Verhinderung solcher Straftaten gemäß § 4a Abs. 1 Satz 1, 2 BKAG nur dann in den Aufgabenbereich des Bundeskriminalamts fällt, wenn diese eine gesetzlich näher bestimmte terroristische Dimension haben. Damit ist bei sachgerechtem Verständnis der Norm hinreichend gesichert, dass die durch die einzelnen Ermittlungsbefugnisse gewonnenen Informationen auch bei der weiteren Verwendung gemäß § 20v Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 BKAG stets dem Schutz solcher Rechtsgüter dienen, zu deren Schutz auch bei eingriffsintensiven Maßnahmen schon die Erhebung der Daten gerechtfertigt wurde.

301

bb) Nicht zu beanstanden ist grundsätzlich auch, dass § 20v Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 BKAG die weitere Nutzung der Daten allgemein und damit unabhängig von konkreten Gefahren oder konkreten Ermittlungsansätzen auch als Spurenansatz erlaubt. Soweit nicht Daten aus Wohnraumüberwachungen oder Online-Durchsuchungen betroffen sind (siehe unten D II 1 b), hält sich dies im Rahmen der Zweckbindung. Es handelt sich um Daten, die das Bundeskriminalamt im Rahmen seiner Befugnisse zur Terrorismusabwehr erhoben hat, die es für diese Aufgabe weiter nutzen können soll und die dem Schutz derselben Rechtsgüter dienen, für deren Schutz sie erhoben werden durften. In dieser Situation muss ihre weitere Nutzung nach den oben entwickelten Maßstäben grundsätzlich nicht jeweils erneut von einer konkretisierten Gefahrenlage abhängig gemacht werden, sondern konnte der Gesetzgeber dem Bundeskriminalamt die weitere Nutzung dieser Daten für die Terrorismusabwehr ohne weitere Einschränkungen erlauben (siehe oben D I 1 b). Hiervon unberührt bleiben freilich die Löschungspflichten nach Erreichung des mit der Datenerhebung verfolgten Zwecks (siehe oben C IV 7, VI 4 a).

302

b) Unverhältnismäßig weit ist § 20v Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 BKAG hingegen insoweit, als er sich undifferenziert auf alle Daten erstreckt und damit auch die weitere Verwendung von Daten aus Wohnraumüberwachungen und Online-Durch-suchungen einschließt. Die Vorschrift eröffnet damit die weitere Verwendung solcher Informationen auch unabhängig von dem Vorliegen einer dringenden (vgl. BVerfGE 109, 279 <377, 379>) oder im Einzelfall hinreichend konkretisierten Gefahrenlage (siehe oben C IV 1 b; D I 2 b bb). Dies ist mit den Anforderungen des Übermaßverbots nicht vereinbar. Für Informationen aus diesen besonders intensiven Überwachungsmaßnahmen bedarf jede über das ursprüngliche Ermittlungsverfahren hinausgehende Nutzung jeweils erneut des Vorliegens aller Eingriffsvoraussetzungen, wie es für eine Datenneuerhebung mit diesen Mitteln verfassungsrechtlich geboten wäre (siehe oben D I 1 b).

303

2. Unvereinbar mit den verfassungsrechtlichen Anforderungen ist auch § 20v Abs. 4 Satz 2 Nr. 2 BKAG zur Verwendung der Daten zum Zeugen- und Personenschutz. Der einschränkungslos allgemeine Verweis auf die Aufgaben des Bundeskriminalamts nach §§ 5 und 6 BKAG genügt den oben entwickelten Maßstäben schon mangels Bestimmtheit nicht.
III.

304

§ 20v Abs. 5 BKAG, der die Übermittlung von Daten an andere Behörden regelt, genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen bezüglich verschiedener Regelungen nicht.

305

1. § 20v Abs. 5 BKAG stellt verschiedene Rechtsgrundlagen zur Übermittlung von zur Terrorismusabwehr erhobenen Daten an andere Behörden bereit. Es handelt sich hierbei um Ermächtigungen, mit denen der Gesetzgeber im Einzelfall anlassbezogen eine Zweckänderung der Datennutzung erlaubt. Er öffnet damit die Datennutzung durch andere Behörden, die - nach dem Bild einer Doppeltür - dabei auch ihrerseits zur Abfrage und Verwendung dieser Daten berechtigt sein müssen (vgl. BVerfGE 130, 151 <184>). Die Vorschrift eröffnet somit Grundrechtseingriffe, die jeweils an den Grundrechten zu messen sind, in die bei Erhebung der übermittelten Daten eingegriffen wurde (vgl. BVerfGE 100, 313 <360, 391>; 109, 279 <375>; 110, 33 <68 f.>; 125, 260 <312 f., 333>; 133, 277 <372 Rn. 225>; vgl. auch EGMR, Weber und Saravia v. Deutschland, Entscheidung vom 29. Juni 2006, Nr. 54934/00, § 79, NJW 2007, S. 1433 <1434>, zu Art. 8 EMRK).

306

2. § 20v Abs. 5 BKAG verstößt nicht gegen die Anforderungen des Bestimmtheitsgebots. Das gilt auch insoweit, als die Vorschrift übergreifend eine Übermittlung an „sonstige öffentliche Stellen“ erlaubt. Welche Stellen hierunter zu verstehen sind, richtet sich nach den jeweiligen Übermittlungszwecken, die die verschiedenen Übermittlungsbefugnisse näher regeln. Die möglichen Adressaten einer Übermittlung sind damit auf der Grundlage der Zuständigkeitsvorschriften hinreichend verlässlich bestimmbar.

307

3. Die Übermittlungsbefugnisse sind indes insoweit verfassungswidrig, als ihre Voraussetzungen den oben entwickelten Anforderungen in Bezug auf das Kriterium der hypothetischen Datenneuerhebung (siehe oben D I 2 b) nicht genügen.

308

a) Keinen verfassungsrechtlichen Bedenken unterliegt allerdings § 20v Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 BKAG. Die Datenübermittlung zur Herbeiführung des gegenseitigen Benehmens ist schon keine Zweckänderung. Sie dient der Koordinierung der Gefahrenabwehr in einer Weise, wie sie für die Aufgabenwahrnehmung durch das Bundeskriminalamt gemäß § 4a Abs. 2 BKAG stets geboten ist und ist damit in der Datenerhebungsvorschrift notwendig enthalten. Dies rechtfertigt auch die Weite der Regelung, die Einschränkungen der Datenübermittlung nicht enthält. Da eine Abstimmung nur hinsichtlich solcher Maßnahmen in Betracht kommt, die auf einer rechtmäßigen Datennutzung beruhen, ist auch ein Unterlaufen der Zweckbindung von Informationen aus Wohnraumüberwachungen oder Online-Durchsuchungen, deren Nutzung stets auch das Vorliegen einer hinreichend konkretisierten Gefahrenlage voraussetzt, nicht zu befürchten.

309

Die Vorschrift ist allerdings funktional eng auszulegen. Sie erlaubt allein die Übermittlung von Informationen für die Koordination der Aufgabenwahrnehmung zwischen den Bundes- und Landesbehörden. Auf diese interne Abstimmung ist die Nutzung der Daten nach dieser Vorschrift beschränkt. Sollen demgegenüber die Daten von der Zielbehörde auch operativ genutzt werden können, richtet sich die Übermittlung nach § 20v Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 ff. BKAG.

310

b) § 20v Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 BKAG, der die Übermittlung von Daten zur Gefahrenabwehr regelt, genügt im Wesentlichen den verfassungsrechtlichen Anforderungen. Unverhältnismäßig ist die Vorschrift allerdings insoweit, als sie eine Datenübermittlung allgemein schon zur Verhütung bestimmter Straftaten erlaubt.

311

aa) § 20v Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 BKAG erlaubt zum einen die Übermittlung von Daten aus Maßnahmen gemäß §§ 20h, 20k oder 20l BKAG zur Abwehr einer dringenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit. Mit dieser Schwelle, die unmittelbar Art. 13 Abs. 4 GG entnommen ist, orientiert sich der Gesetzgeber für die Zweckänderung an den Voraussetzungen einer hypothetischen Datenneuerhebung und ist eine Übermittlung auch von Informationen aus besonders eingriffsintensiven Maßnahmen einschließlich Wohnraumüberwachungen und Online-Durchsuchungen gerechtfertigt. Zwar ist es grundsätzlich Aufgabe des Gesetzgebers, die zu schützenden Rechtsgüter im Rahmen der Eingriffsvoraussetzungen näher zu konkretisieren und so auch dem offenen Begriff der öffentlichen Sicherheit des Art. 13 Abs. 4 GG, der nur einen Rahmen vorgibt, näheres Profil zu geben (vgl. entsprechend für Art. 14 Abs. 3 GG BVerfGE 134, 242 <294 Rn. 177>). Vorliegend lässt sich eine solche Konkretisierung jedoch aus dem Regelungszusammenhang ableiten. Bei verständiger Auslegung muss es sich bei der dringenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit um eine Gefahr für die in §§ 20h, 20k und 20l BKAG genannten besonders hochrangigen Rechtsgüter handeln (vgl. hierzu auch BVerfGE 109, 279 <379>).

312

bb) Nicht zu beanstanden ist auch, dass für die Übermittlung von Daten, die durch andere Maßnahmen erhoben wurden, nur eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit verlangt wird. Unbedenklich ist dies zunächst in Bezug auf Daten, die durch niederschwelligere Eingriffe (vgl. etwa §§ 20b ff. oder §§ 20q ff. BKAG) erlangt werden. Diese dürfen schon grundsätzlich unter weniger strengen Anforderungen übermittelt werden. Verfassungsmäßig ist die Vorschrift aber auch in Bezug auf Daten aus eingriffsintensiven Maßnahmen wie gemäß §§ 20g, 20j oder 20m BKAG. Denn der Begriff der öffentlichen Sicherheit bezieht sich auch hier nicht im umfassenden Sinne der polizeilichen Generalklausel auf die Unverletzlichkeit der Rechtsordnung (vgl. Schoch, in: Schoch, Besonderes Verwaltungsrecht, 15. Aufl. 2013, 2. Kap., Rn. 109 f. m.w.N.), sondern erhält seine Konturen in der Verbindung mit dem Begriff der „erheblichen“ Gefahr. Nach dem Verständnis des allgemeinen Sicherheitsrechts setzt dieser voraus, dass eine Gefahr für ein bedeutsames Rechtsgut gegeben sein muss, zu denen insbesondere Leib, Leben, Freiheit oder der Bestand des Staates gerechnet werden (vgl. Schoch, in: Schoch, a.a.O., 2. Kap., Rn. 150 m.w.N.). Auch hier ergibt sich bei einer verfassungsgeleiteten Auslegung der Vorschrift, dass für die Übermittlung von Daten aus besonders eingriffsintensiven Maßnahmen ein hinreichend gewichtiger Rechtsgüterschutz vorausgesetzt wird.

313

cc) Unverhältnismäßig weit und damit verfassungswidrig ist § 20v Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 BKAG demgegenüber insoweit, als er eine Übermittlung auch allgemein zur Verhütung der in § 129a Abs. 1, 2 StGB genannten Straftaten erlaubt. Zwar sind dies nur besonders schwerwiegende Straftaten. Indem das Gesetz eine Übermittlung aber allgemein zur Verhütung solcher Straftaten erlaubt, fehlt es an jeder eingrenzenden Konkretisierung des Übermittlungsanlasses und können Informationen, auch wenn sie aus eingriffsintensiven Maßnahmen stammen, schon mit Blick auf einen nur potentiellen Informationsgehalt als Spurenansatz übermittelt werden. Dies genügt nach den oben entwickelten Maßstäben verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht (siehe oben D I 2 b bb). Eine Übermittlung von Daten aus eingriffsintensiven Überwachungsmaßnahmen an andere Sicherheitsbehörden ist eine Zweckänderung und kommt nur dann in Betracht, wenn sich aus ihnen zumindest ein konkreter Ermittlungsansatz für die Aufdeckung entsprechender Straftaten ergibt. Dies stellt die Vorschrift nicht sicher.

314

c) Nicht mit der Verfassung vereinbar ist auch § 20v Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 BKAG, der die Übermittlung von Daten zur Strafverfolgung regelt.

315

aa) Unverhältnismäßig ist die Regelung zum einen insoweit, als sie in ihrer ersten Fallgruppe eine Übermittlung von Daten allgemein an die Maßstäbe eines Auskunftsverlangens nach der Strafprozessordnung knüpft und sich damit auch auf Daten aus nicht in Nr. 3 Satz 2 eigens geregelten, aber eingriffsintensiven Überwachungsmaßnahmen wie nach §§ 20g, 20j oder 20m BKAG bezieht. Mit der Anknüpfung an die Strafprozessordnung nimmt die Vorschrift insbesondere auf § 161 Abs. 1, 2 StPO Bezug. Dieser sichert die verfassungsrechtlich geforderte Begrenzung der Datenübermittlung jedoch nicht. Insbesondere folgt aus dieser Vorschrift nicht, dass die Daten nur zur Verfolgung solcher Straftaten genutzt werden dürfen, für die sie mit entsprechenden Mitteln erhoben werden dürften (siehe oben D I 2 b). § 161 Abs. 1 StPO regelt vielmehr eine Auskunfts- und damit Datenübermittlungspflicht für die Verfolgung von Straftaten aller Art. Die Beschränkungen des § 161 Abs. 2 StPO beziehen sich allein auf eine Verwertung der Daten zu Beweiszwecken im Strafverfahren. Demgegenüber schließen sie nicht aus, dass die Daten als Ermittlungsansatz auch zur Aufklärung aller, auch geringfügiger Straftaten genutzt werden dürfen (vgl. Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 58. Aufl. 2015, § 161 Rn. 18d f.). Dies stellt die verfassungsrechtlich gebotene Begrenzung der geänderten Datennutzung auf einen gleichgewichtigen Rechtsgüterschutz nicht sicher. Überdies gewährleistet die Vorschrift nicht, dass nur solche Daten übermittelt werden dürfen, die konkrete Ermittlungsansätze zur Aufdeckung der fraglichen Straftaten erkennen lassen.

316

bb) Unverhältnismäßig ist die Regelung zum anderen aber auch insoweit, als sie in Satz 2 für die Nutzung von Daten aus Maßnahmen gemäß §§ 20h, 20k und 20l BKAG eigene Anforderungen stellt. Der Gesetzgeber erlaubt deren Übermittlung zur Verfolgung von Straftaten, die im Höchstmaß mit mindestens fünf Jahren Freiheitsstrafe bedroht sind (§ 20v Abs. 5 Satz 1 Nr. 3, 2. Satz BKAG). Für Daten aus Maßnahmen gemäß §§ 20k und 20l BKAG wirkt dies gegenüber dem allgemeinen Verweis auf die Vorschriften der Strafprozessordnung und damit auf § 161 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 StPO als Einschränkung, für Daten aus Wohnraumüberwachungen hingegen, deren Verwendungsänderung in § 161 Abs. 2 Satz 2, § 100d Abs. 5 Nr. 3 StPO enger geregelt ist, als Erweiterung. Unabhängig hiervon genügt diese Schwelle dem Kriterium der hypothetischen Datenneuerhebung nicht. Für die Wohnraumüberwachung hat das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich festgestellt, dass eine Höchststrafe von mindestens fünf Jahren keine hinreichende Schwelle für die Anordnung einer solchen Maßnahme bildet und dies auch für jede weitere Verwendung der Daten, einschließlich einer solchen als Spurenansatz gilt (vgl. BVerfGE 109, 279 <347 f., 377>). Nichts anderes kann für den Zugriff auf informationstechnische Systeme gelten, der als vergleichbar schwerer Eingriff unter denselben Anforderungen steht. Weniger streng sind zwar die Anforderungen an die Telekommunikationsüberwachung. Doch setzen die Datenerhebung und entsprechend eine zweckändernde Übermittlungsbefugnis auch hier zumindest die Ausrichtung an schweren Straftaten voraus (vgl. BVerfGE 125, 260 <328 f.>; 129, 208 <243>). Es ist deshalb unverhältnismäßig, wenn § 20v Abs. 5 Satz 1 Nr. 3, 2. Satz BKAG schon Straftaten mit einer Höchststrafe von mindestens fünf Jahren genügen lässt, womit auch Delikte eingeschlossen sind, die nur zur mittleren Kriminalität zu rechnen sind und unter Umständen auch Delikte der Massenkriminalität wie den einfachen Diebstahl, die öffentliche Verleumdung oder die einfache Körperverletzung umfassen.

317

Verfassungsrechtlich zu beanstanden ist weiterhin, dass Daten aus optischen Wohnraumüberwachungen von einer Übermittlung an die Strafverfolgungsbehörden nicht ausgeschlossen sind. Art. 13 Abs. 3 GG erlaubt für die Strafverfolgung nur den Einsatz der akustischen Wohnraumüberwachung. Dies darf durch eine Übermittlung von Daten aus einer präventiv angeordneten optischen Wohnraumüberwachung nicht unterlaufen werden.

318

cc) Während an die Übermittlung von Daten aus besonders eingriffsintensiven Überwachungsmaßnahmen qualifizierte Anforderungen zu stellen sind, ist eine Übermittlung von Daten, die durch niederschwelligere Eingriffe erhoben wurden (vgl. etwa §§ 20b ff., §§ 20q ff. BKAG), in weitergehendem Umfang verfassungsrechtlich erlaubt. Die Voraussetzungen des § 20v Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 BKAG können hierfür eine tragfähige Grundlage bilden. Der Gesetzgeber muss hier jedoch zwischen den verschiedenen Daten unterscheiden. In der derzeitigen Fassung ist die Vorschrift undifferenziert weit und damit unverhältnismäßig.

319

d) Nicht mit den verfassungsrechtlichen Anforderungen vereinbar ist auch § 20v Abs. 5 Satz 3 Nr. 1 BKAG, der die Übermittlung von Daten an die Verfassungsschutzbehörden und den Militärischen Abschirmdienst erlaubt.

320

Die Vorschrift, die für alle Daten außer solche aus Wohnraumüberwachungsmaßnahmen gilt (vgl. § 20v Abs. 5 Satz 5 BKAG), erlaubt eine Übermittlung an die vorgenannten Behörden, wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Daten zur Sammlung und Auswertung von Informationen erforderlich sind über Bestrebungen, die in den Aufgabenbereich der Verfassungsschutzbehörden oder des Militärischen Abschirmdienstes fallen. Damit genügt sie dem für eine zweckändernde Datenübermittlung maßgeblichen Kriterium der hypothetischen Neuerhebung nicht (siehe oben D I 2 b). Zwar dient die Datenübermittlung angesichts der insoweit in Bezug genommenen Aufgaben der Verfassungsschutzbehörden und des Militärischen Abschirmdienstes grundsätzlich dem Schutz besonders gewichtiger Rechtsgüter. Auch kann eine Übermittlung von bestimmten Daten wie solchen aus Maßnahmen gemäß § 20g BKAG mit Blick auf den für eine hypothetische Neuerhebung maßgeblichen § 8 BVerfSchG - über dessen Verfassungsmäßigkeit hier nicht zu entscheiden ist - in relativ weitem Umfang gerechtfertigt sein. Eine Regelung jedoch, die für praktisch alle Daten ohne konkretisierende Eingriffsschwelle die Übermittlung zur allgemeinen Unterstützung bei der Aufgabenwahrnehmung erlaubt, ist unverhältnismäßig weit. Das Kriterium der hypothetischen Datenneuerhebung verlangt zwar grundsätzlich nicht, dass eine für die Datenerhebung geforderte konkretisierte Gefahrenlage - wie sie ungeachtet ihres im Wesentlichen auf das Vorfeld von Gefahren beschränkten Handlungsauftrags grundsätzlich auch für Datenerhebungen der Verfassungsschutzbehörden verlangt wird (vgl. BVerfGE 100, 313 <383 f.>; 120, 274 <329 f.>; 130, 151 <205 f.>) - jeweils neu auch immer zur Voraussetzung einer Übermittlung gemacht werden muss (siehe oben D I 2 b bb). Verfassungsrechtlich geboten ist jedoch, dass nur Daten übermittelt werden dürfen, die aus Sicht des Bundeskriminalamts als konkrete Ermittlungsansätze für die Aufdeckung von Straftaten oder Gefahren für hochrangige Rechtsgüter zugleich konkrete Erkenntnisse zu einer Gefährdung hochrangiger Rechtsgüter erkennen lassen (vgl. für die Datenübermittlung von Nachrichtendiensten an das Bundeskriminalamt BVerfGE 133, 277 <329 Rn. 123>), die für die Lagebeurteilung nach Maßgabe der Aufgaben des Verfassungsschutzes bedeutsam sind. Für die Übermittlung von Daten aus Online-Durchsuchungen bedarf es darüber hinaus - ebenso wie für die vom Gesetzgeber insoweit bereits gesondert geregelten Daten aus Wohnraumüberwachungen - des Vorliegens der für die Datenerhebung maßgeblichen Eingriffsschwelle selbst, das heißt einer im Einzelfall drohenden Gefahr (vgl. BVerfGE 120, 274 <326, 328 f.>).

321

e) Entsprechend genügt auch § 20v Abs. 5 Satz 4 BKAG den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht. Die Vorschrift erlaubt eine Übermittlung von Daten an den Bundesnachrichtendienst unter entsprechenden Maßgaben wie § 20v Abs. 5 Satz 3 Nr. 1 BKAG. Die Unterschiede in den Formulierungen haben - auch unter Berücksichtigung der Gesetzesbegründung (vgl. BTDrucks 16/9588, S. 34) - keinen erkennbar sachlichen Gehalt und vermögen jedenfalls die verfassungsrechtliche Beurteilung nicht zu ändern. Die verfassungsrechtlichen Mängel des § 20v Abs. 5 Satz 3 Nr. 1 BKAG gelten auch für diese Vorschrift.

322

4. Hinsichtlich aller Übermittlungsbefugnisse fehlt es übergreifend schließlich an gesetzlichen Regelungen, die eine hinreichende aufsichtliche Kontrolle sicherstellen. Die für die Datenerhebung geltenden Anforderungen an eine sachhaltige Protokollierung und eine effektive Kontrolle durch die Bundesdatenschutzbeauftrage gelten auch hier (vgl. oben C IV 6 d).
IV.

323

§ 14 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 3, Satz 2 BKAG, der - sofern nicht für Mitgliedstaaten der Europäischen Union die hier nicht streitgegenständliche Regelung des § 14a BKAG einschlägig ist - die Übermittlung von Daten an öffentliche Stellen anderer Staaten regelt, genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen teilweise gleichfalls nicht.

324

1. Die Übermittlung von personenbezogenen Daten an öffentliche Stellen anderer Staaten ist, wie die Übermittlung an innerstaatliche Stellen auch, eine Zweckänderung. Sie ist insoweit nach den allgemeinen Grundsätzen jeweils an den Grundrechten zu messen, in die bei der Datenerhebung eingegriffen wurde (siehe oben D I 2 a). Für die Übermittlung ins Ausland gelten aber auch mit Blick auf die Achtung fremder Rechtsordnungen und -anschauungen eigene verfassungsrechtliche Bedingungen.

325

a) Eine Übermittlung von Daten ins Ausland führt dazu, dass die Gewährleistungen des Grundgesetzes nach der Übermittlung nicht mehr als solche zur Anwendung gebracht werden können und stattdessen die im Ausland geltenden Standards Anwendung finden. Dies steht einer Übermittlung ins Ausland jedoch nicht grundsätzlich entgegen. Das Grundgesetz bindet die Bundesrepublik Deutschland mit der Präambel, Art. 1 Abs. 2, Art. 9 Abs. 2, Art. 16 Abs. 2, Art. 23 bis Art. 26 und Art. 59 Abs. 2 GG in die internationale Gemeinschaft ein und hat die deutsche öffentliche Gewalt programmatisch auf internationale Zusammenarbeit ausgerichtet (vgl. BVerfGE 63, 343 <370>; 111, 307 <318 f.>; 112, 1 <25, 27>). Hierzu gehört ein Umgang mit anderen Staaten auch dann, wenn deren Rechtsordnungen und -anschauungen nicht vollständig mit den deutschen innerstaatlichen Auffassungen übereinstimmen (vgl. BVerfGE 31, 58 <75 ff.>; 63, 343 <366>; 91, 335 <340, 343 ff.>; 108, 238 <247 f.>). Ein solcher Datenaustausch zielt auch darauf, die zwischenstaatlichen Beziehungen im gegenseitigen Interesse wie auch die außenpolitische Handlungsfreiheit der Bundesregierung zu erhalten (vgl. BVerfGE 108, 129 <137>).

326

Auch bei der Entscheidung über eine Übermittlung von personenbezogenen Daten ins Ausland bleibt die deutsche Staatsgewalt im Ausgangspunkt allerdings an die Grundrechte gebunden (Art. 1 Abs. 3 GG); die ausländische Staatsgewalt ist nur ihren eigenen rechtlichen Bindungen verpflichtet.

327

Von daher ergeben sich zum einen Grenzen einer Übermittlung in Blick auf die Wahrung datenschutzrechtlicher Garantien. Die Grenzen der inländischen Datenerhebung und -verarbeitung des Grundgesetzes dürfen durch einen Austausch zwischen den Sicherheitsbehörden nicht in ihrer Substanz unterlaufen werden. Der Gesetzgeber hat daher dafür Sorge zu tragen, dass dieser Grundrechtsschutz durch eine Übermittlung der von deutschen Behörden erhobenen Daten ins Ausland und an internationale Organisationen ebenso wenig ausgehöhlt wird wie durch eine Entgegennahme und Verwertung von durch ausländische Behörden menschenrechtswidrig erlangten Daten.

328

Zum anderen ergeben sich Grenzen in Blick auf die Nutzung der Daten durch den Empfängerstaat, wenn dort Menschenrechtsverletzungen zu besorgen sind. Zwingend auszuschließen ist danach jedenfalls die Datenübermittlung an Staaten, wenn zu befürchten ist, dass elementare rechtsstaatliche Grundsätze verletzt werden (vgl. BVerfGE 108, 129 <136 f.>). Keinesfalls darf der Staat seine Hand zu Verletzungen der Menschenwürde reichen (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 15. Dezember 2015 - 2 BvR 2735/14 -, Rn. 62 m.w.N.).

329

b) Die Übermittlung von Daten an das Ausland setzt danach eine Begrenzung auf hinreichend gewichtige Zwecke, für die die Daten übermittelt und genutzt werden dürfen (aa), sowie die Vergewisserung über einen rechtsstaatlichen Umgang mit diesen Daten im Empfängerland voraus (bb). Im Übrigen bedarf es auch hier der Sicherstellung einer wirksamen inländischen Kontrolle (cc). Die Anforderungen sind durch normenklare Grundlagen im deutschen Recht sicherzustellen (dd).

330

aa) Für die Anforderungen an den Übermittlungs- und Nutzungszweck gelten grundsätzlich die nach deutscher Rechtsordnung maßgeblichen verfassungsrechtlichen Kriterien der Zweckänderung (siehe oben D I 2): Eine Übermittlung ist zulässig, soweit die übermittelten Daten auch für den Übermittlungszweck mit vergleichbar schwerwiegenden Mitteln erhoben werden dürften (Kriterium der hypothetischen Datenneuerhebung). Die Übermittlung muss damit der Aufdeckung vergleichbar gewichtiger Straftaten oder dem Schutz vergleichbar gewichtiger Rechtsgüter dienen, wie sie für die ursprüngliche Datenerhebung maßgeblich waren. Sie ist allerdings grundsätzlich nicht an das Vorliegen der für die Datenerhebung erforderlichen Konkretisierung der Gefahrenlage oder des Tatverdachts gebunden; es reicht, dass sich aus den übermittelten Informationen oder der Anfrage des Empfängerstaats im Einzelfall konkrete Ermittlungsansätze zur Aufdeckung solcher Straftaten oder zur Abwehr von zumindest auf mittlere Sicht drohenden Gefahren für solche Rechtsgüter ergeben. Strenger sind insoweit die Voraussetzungen für die Übermittlung von Daten aus Wohnraumüberwachungen und Online-Durchsuchungen, für die die für die Datenerhebung maßgeblichen Eingriffsschwellen vollständig vorliegen müssen (siehe oben D I 2 b bb; vgl. ferner BVerfGE 109, 279 <377, 379>; 120, 274 <329 ff.>).

331

Hinsichtlich der damit verbundenen Beurteilung der für das Empfängerland zu eröffnenden Nutzung der Daten, wie sie insbesondere bei einem ausländischen Übermittlungsersuchen erforderlich ist, ist die Eigenständigkeit der jeweils anderen Rechtsordnung zu berücksichtigen. Für die Frage der Gleichgewichtigkeit der Nutzungszwecke ist insoweit einzustellen, dass die deutsche Rechtsordnung hier auf eine andere Rechtsordnung trifft, deren Abgrenzungslinien, Kategorien und Wertungen mit denen der deutschen Rechtsordnung und auch des Grundgesetzes nicht identisch sind und auch nicht sein müssen. Dass Zweckbegrenzungen in der ausländischen Rechtsordnung insoweit im Einzelnen nicht identisch zur deutschen Rechtsordnung abgebildet werden, steht einer Übermittlung nicht von vornherein entgegen. Verwendungsbeschränkungen sind den Empfangsbehörden bei der Übermittlung klar und ausdrücklich mitzuteilen.

332

bb) Die Übermittlung personenbezogener Daten ins Ausland setzt weiter einen datenschutzrechtlich angemessenen und mit elementaren Menschenrechtsgewährleistungen vereinbaren Umgang mit den übermittelten Daten im Empfängerstaat (1) und eine entsprechende Vergewisserung hierüber seitens des deutschen Staates (2) voraus.

333

(1) Eine Übermittlung von Daten ins Ausland verlangt, dass ein hinreichend rechtsstaatlicher Umgang mit den Daten im Empfängerstaat zu erwarten ist.

334

(a) Für die Anforderungen an den datenschutzrechtlichen Umgang mit den übermittelten Daten ist allerdings nicht erforderlich, dass im Empfängerstaat vergleichbare Regelungen zur Verarbeitung personenbezogener Daten wie nach der deutschen Rechtsordnung gelten oder ein gleichartiger Schutz gewährleistet ist wie nach dem Grundgesetz. Das Grundgesetz anerkennt vielmehr die Eigenständigkeit und Verschiedenartigkeit der Rechtsordnungen und respektiert sie grundsätzlich auch im Rahmen des Austauschs von Daten. Abgrenzungen und Wertungen müssen nicht mit denen der deutschen Rechtsordnung und auch des deutschen Grundgesetzes übereinstimmen.

335

Erlaubt ist eine Übermittlung der Daten ins Ausland jedoch nur, wenn auch durch den dortigen Umgang mit den übermittelten Daten nicht die Garantien des menschenrechtlichen Schutzes personenbezogener Daten unterlaufen werden. Dies bedeutet nicht, dass in der ausländischen Rechtsordnung institutionelle und verfahrensrechtliche Vorkehrungen nach deutschem Vorbild gewährleistet sein müssen; insbesondere müssen nicht die formellen und institutionellen Sicherungen vorhanden sein, die datenschutzrechtlich für deutsche Stellen gefordert werden (siehe oben C IV 6). Geboten ist in diesem Sinne die Gewährleistung eines angemessenen materiellen datenschutzrechtlichen Niveaus für den Umgang mit den übermittelten Daten im Empfängerstaat (vgl. ähnlich EuGH, Urteil vom 6. Oktober 2015 - C-362/14 -, Schrems/Digital Rights Ireland, NJW 2015, S. 3151 <3155>, Rn. 73; vgl. auch Art. 8 EMRK; dazu EGMR [GK], Zakharov v. Russland, Urteil vom 4. Dezember 2015, Nr. 47143/06, §§ 227 ff.; Art. 17 Abs. 1 Satz 1 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966, BGBl 1973 II S. 1534, UNTS 999, S. 171; Art. 12 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948, Res. 217 A III der UN-Generalversammlung, GAOR III, Doc. A/810, S. 71; vgl. dazu The right to privacy in the digital age, UN General Assembly Resolution 68/167 vom 18. Dezember 2013, UN Doc. A/Res/68/167 [2014], Z. 4). In Betracht zu nehmen ist insoweit insbesondere, ob für die Verwendung der Daten die - bei der Übermittlung mitgeteilten - Grenzen durch Zweckbindung und Löschungspflichten sowie grundlegende Anforderungen an Kontrolle und Datensicherheit wenigstens grundsätzlich Beachtung finden. Maßgeblich für diese Beurteilung sind die innerstaatlichen Rechtsvorschriften und die internationalen Verpflichtungen des Empfängerstaats sowie ihre Umsetzung in der täglichen Anwendungspraxis (vgl. ähnlich EuGH, Urteil vom 6. Oktober 2015 - C-362/14 -, Schrems/Digital Rights Ireland, NJW 2015, S. 3151 <3155>, Rn. 75).

336

(b) Hinsichtlich der Besorgnis etwaiger Menschenrechtsverletzungen durch die Nutzung der Daten im Empfängerstaat muss insbesondere gewährleistet erscheinen, dass sie dort weder zu politischer Verfolgung noch unmenschlicher oder erniedrigender Bestrafung oder Behandlung verwendet werden (vgl. Art. 16a Abs. 3 GG). Der Gesetzgeber hat insgesamt Sorge zu tragen, dass der Schutz der Europäischen Menschenrechtskonvention und der anderen internationalen Menschenrechtsverträge (vgl. Art. 1 Abs. 2 GG) durch eine Übermittlung der von deutschen Behörden erhobenen Daten ins Ausland und an internationale Organisationen nicht ausgehöhlt wird.

337

(2) Die Gewährleistung des geforderten Schutzniveaus im Empfängerstaat muss nicht für jeden Fall einzeln geprüft und durch völkerrechtlich verbindliche Einzelzusagen abgesichert werden. Der Gesetzgeber kann diesbezüglich auch eine generalisierende tatsächliche Einschätzung der Sach- und Rechtslage der Empfängerstaaten durch das Bundeskriminalamt ausreichen lassen. Diese kann so lange Geltung beanspruchen, wie sie nicht durch entgegenstehende Tatsachen in besonders gelagerten Fällen erschüttert wird (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 15. Dezember 2015 - 2 BvR 2735/14 -, Rn. 69 m.w.N.).

338

Lassen sich Entscheidungen mit Blick auf einen Empfängerstaat nicht auf solche Beurteilungen stützen, bedarf es aber einer mit Tatsachen unterlegten Einzelfallprüfung, aus der sich ergibt, dass die Beachtung jedenfalls der grundlegenden Anforderungen an den Umgang mit Daten hinreichend gewährleistet ist (siehe oben D IV 1 b bb (1)). Erforderlichenfalls können und müssen verbindliche Einzelgarantien abgegeben werden. Grundsätzlich ist eine verbindliche Zusicherung geeignet, etwaige Bedenken hinsichtlich der Zulässigkeit der Datenübermittlung auszuräumen, sofern nicht im Einzelfall zu erwarten ist, dass die Zusicherung nicht eingehalten wird (vgl. BVerfGE 63, 215 <224>; 109, 38 <62>; BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 15. Dezember 2015 - 2 BvR 2735/14 -, Rn. 70). Welche Anforderungen im Einzelnen gelten, kann der Gesetzgeber auch von einer Einzelfallabwägung abhängig machen.

339

Die Vergewisserung über das geforderte Schutzniveau - sei es generalisiert, sei es im Einzelfall - ist eine nicht der freien politischen Disposition unterliegende Entscheidung deutscher Stellen. Sie hat sich auf gehaltvolle wie realitätsbezogene Informationen zu stützen und muss regelmäßig aktualisiert werden. Ihre Gründe müssen nachvollziehbar dokumentiert werden. Die Entscheidung muss durch die Datenschutzbeauftragten überprüfbar sein und einer gerichtlichen Kontrolle zugeführt werden können (vgl. auch EuGH, Urteil vom 6. Oktober 2015 - C-362/14 -, Schrems/Digital Rights Ireland, NJW 2015, S. 3151 <3155 ff.>, Rn. 78, 81, 89).

340

cc) Auch ansonsten gelten in Deutschland die Anforderungen an eine wirksame aufsichtliche Kontrolle einschließlich einer hierfür geeigneten Protokollierung der jeweiligen Übermittlungsvorgänge sowie das Erfordernis von Berichtspflichten (siehe oben C IV 6 d, e).

341

dd) Die vorstehend entwickelten Maßgaben müssen in einer den Grundsätzen der Bestimmtheit und Normenklarheit entsprechenden Weise gesetzlich ausgeformt sein. Dazu gehört auch, dass Ermächtigungsgrundlagen, die, soweit zulässig, eine Übermittlung von Daten zur Informationsgewinnung durch einen Abgleich mit Daten ausländischer Behörden und einen Rückfluss ergänzender Erkenntnisse herbeiführen sollen, als solche normenklar ausgestaltet sind.

342

2. Die Übermittlungstatbestände des § 14 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 3 und Satz 2 BKAG sind mit diesen Anforderungen nicht vereinbar.

343

a) § 14 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BKAG genügt, soweit er als eigene Ermächtigungsgrundlage zu verstehen ist (vgl. Graulich, in: Schenke/Graulich/Ruthig, Sicherheitsrecht des Bundes, 2014, § 14 BKAG, Rn. 6), den verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine Zweckänderung nicht. Indem er dem Bundeskriminalamt eine Datenübermittlung allgemein zur Erfüllung der ihm obliegenden Aufgaben erlaubt, fehlt es an Maßgaben, die sicherstellen, dass Daten aus eingriffsintensiven Überwachungsmaßnahmen nur für Zwecke übermittelt werden dürfen, die dem Kriterium der hypothetischen Datenneuerhebung entsprechen (vgl. oben D I 2 b). Die Befugnis ist damit nicht hinreichend eingegrenzt und unverhältnismäßig.

344

b) Gleichfalls zu weit und deshalb mit den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht vereinbar ist § 14 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 BKAG in Bezug auf Daten aus Wohnraumüberwachungen. Nach den oben entwickelten Maßgaben ist für diese sicherzustellen, dass sie nur bei Vorliegen einer dringenden Gefahr übermittelt werden dürfen (siehe oben D I 2 b bb; vgl. ferner BVerfGE 109, 279 <377, 379>). Eine solche Begrenzung enthält die Vorschrift nicht.

345

Hinsichtlich anderer Daten ist die Vorschrift bei sachgerechter Auslegung demgegenüber verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Indem die Vorschrift in Anknüpfung an die Terminologie des allgemeinen Sicherheitsrechts eine „erhebliche Gefahr“ für die öffentliche Sicherheit verlangt, erlaubt sie eine Übermittlung nur zum Schutz besonders qualifizierter Rechtsgüter und kann - entsprechend der Regelung des § 20v Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 BKAG (siehe oben D III 3 b bb) - im Lichte der entsprechenden Datenerhebungsvorschriften ausgelegt werden. Da die Vorschrift überdies klarstellt, dass es sich hierbei um eine auch im Einzelfall bestehende Gefahr handeln muss, erfüllt sie auch die Anforderungen an die Übermittlung von Daten aus Online-Durchsuchungen (siehe oben D I 2 b bb).

346

c) Mit den Anforderungen an eine Zweckänderung nicht vereinbar ist schließlich der Übermittlungstatbestand des § 14 Abs. 1 Satz 2 BKAG.

347

Die Vorschrift stellt nicht hinreichend sicher, dass die Übermittlung von Daten in Anknüpfung an das Kriterium der hypothetischen Datenneuerhebung auf den Schutz hinreichend gewichtiger Rechtsgüter begrenzt bleibt (vgl. oben D I 2 b). Sie erlaubt eine Übermittlung allgemein zur Verhütung von Straftaten von erheblicher Bedeutung, ohne zu unterscheiden, mit welchen Mitteln die jeweiligen Daten erhoben wurden. Diese Schwelle rechtfertigt jedoch die Übermittlung von Daten aus besonders eingriffsintensiven Maßnahmen nicht. Knüpft der Gesetzgeber bei Übermittlungen zur Gefahrenabwehr wie hier zur Straftatenverhütung für die Bestimmung der neuen Zwecke nicht unmittelbar an Rechtsgütern, sondern an der Art der zur verhütenden Straftaten an, so ist insoweit an die entsprechenden Gewichtungen, die für die strafprozessuale Datenerhebung gelten, anzuknüpfen. Danach ist etwa die Übermittlung von Daten aus Maßnahmen der Telekommunikationsüberwachung auf die Verhütung von schweren Straftaten und von Daten aus Wohnraumüberwachungen und Online-Durchsuchungen auf die Verhütung von besonders schweren Straftaten beschränkt (vgl. BVerfGE 109, 279 <343 ff.>; 125, 260 <328 f.>; 129, 208 <243>; siehe auch oben C IV 1 a). Entsprechende Anforderungen sieht die Vorschrift für die Übermittlung indessen nicht vor.

348

Darüber hinaus genügt die Vorschrift auch hinsichtlich des geforderten Konkretisierungsgrads der Gefahrenlage nicht in jeder Hinsicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen. Indem sie zur Übermittlung von Daten unterschiedslos dann ermächtigt, wenn „Anhaltspunkte“ für eine künftige Straftatenbegehung bestehen, erlaubt sie auch eine Übermittlung von Daten aus Wohnraumüberwachungen und Online-Durchsuchungen, ohne eine dringende Gefahr (vgl. BVerfGE 109, 279 <377, 379> zur Wohnraumüberwachung) oder eine im Einzelfall hinreichend konkretisiert drohende Gefahr (vgl. BVerfGE 120, 274 <326, 328 f.> zur Online-Durchsuchung) zur Voraussetzung zu machen. Dies ist mit den oben dargelegten Anforderungen nicht vereinbar (vgl. oben D I 2 b bb). Soweit hingegen andere Daten betroffen sind, ist gegen diese Eingriffsschwelle nichts zu erinnern. Indem die Vorschrift Anhaltspunkte über eine Straftatenbegehung verlangt, macht sie die Übermittlung davon abhängig, dass sich aus den übermittelten Daten zumindest konkrete Ermittlungsansätze ergeben. Dies steht mit den verfassungsrechtlichen Anforderungen in Einklang.

349

d) Keinen durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken unterliegt demgegenüber die übergreifende Regelung des § 14 Abs. 7 BKAG.

350

aa) Indem § 14 Abs. 7 Satz 7 BKAG anordnet, dass die Übermittlung unterbleibt, soweit im Einzelfall schutzwürdige Interessen der Betroffenen am Ausschluss der Übermittlung überwiegen, lässt die Regelung Raum für die von Verfassungs wegen geforderte Vergewisserung, dass die gebotenen menschenrechtlichen Standards eingehalten werden.

351

bb) Den datenschutzrechtlichen Anforderungen des Grundgesetzes trägt § 14 Abs. 7 BKAG Rechnung, indem er die Übermittlung verfahrensrechtlich ausgestaltet und Anforderungen an die Vergewisserung über ein angemessenes Datenschutzniveau im Empfängerstaat festlegt.

352

(1) Die Vorschrift begründet eine Verantwortung des Bundeskriminalamts für die Zulässigkeit der Datenübermittlung und verlangt damit insbesondere auch die Prüfung, ob sich aus den übermittelten Informationen selbst oder im Zusammenhang mit einem Übermittlungsersuchen hinreichend plausibel Anhaltspunkte ergeben, nach denen die Übermittlung der Daten für die jeweiligen Zwecke erlaubt ist. Bei sachgerechtem Verständnis stellt die Norm zugleich sicher, dass der Übermittlungszweck förmlich mitgeteilt sowie darauf hingewiesen wird, dass die Daten nur zu diesem Zweck genutzt werden dürfen. Nicht zu beanstanden ist insoweit, dass die Zweckbindung nur in Form eines Hinweises, nicht aber durch eine förmliche Verpflichtung abgesichert wird und auch über den Löschungszeitraum nur ein informatorischer Hinweis auf die deutsche Rechtslage vorgeschrieben ist. Grundsätzlich reicht es, wenn sich die Behörden mit Blick auf die Sach- und Rechtslage im Empfängerstaat in tatsächlicher Hinsicht über das Vorhandensein eines angemessenen Datenschutzniveaus im Empfängerstaat vergewissern.

353

(2) Eine solche Vergewisserung sieht § 14 Abs. 7 Satz 7 bis 9 BKAG vor. Bei verfassungskonformer Auslegung ist diese Regelung mit den verfassungsrechtlichen Anforderungen vereinbar. Sie verbietet eine Übermittlung, wenn nach Maßgabe einer Abwägung im Einzelfall schutzwürdige Interessen der betroffenen Person überwiegen und zählt hierzu das Vorhandensein eines angemessenen Datenschutzniveaus im Empfängerstaat. Bei einer Auslegung im Licht der Verfassung ist die Beachtung der grundrechtlichen Anforderungen an einen angemessenen datenschutzrechtlichen Umgang im Empfängerstaat allerdings nicht lediglich ein Abwägungsgesichtspunkt, der im Einzelfall zur Disposition der Behörden steht. Vielmehr sind insoweit grundrechtliche Mindestanforderungen stets zur Geltung zu bringen. Ist eine Vergewisserung über einen zumindest elementaren Anforderungen genügenden rechtsstaatlichen Umgang des Empfängerstaats mit den übermittelten Daten nicht anders zu erreichen, bedarf es insoweit des Rückgriffs auf eine Einzelfallgarantie nach § 14 Abs. 7 Satz 9 BKAG. Bei diesem Verständnis sind gegen die Verfassungsmäßigkeit der Regelung keine Bedenken zu erheben. Die allgemeine Vorschrift des § 27 Abs. 1 Nr. 1 BKAG stützt die Regelung dabei ergänzend ab.

354

e) Im Übrigen genügen die Übermittlungsregelungen des § 14 Abs. 1 BKAG insoweit nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen, als es an einer hinreichenden Regelung der aufsichtlichen Kontrolle sowie der Anordnung von Berichtspflichten zur Übermittlungspraxis fehlt (siehe oben C IV 6 d, e). Demgegenüber ist eine Protokollierungspflicht, wie verfassungsrechtlich geboten, in § 14 Abs. 7 Satz 3 BKAG vorgesehen (vgl. BVerfGE 133, 277 <370 Rn. 215>). Angesichts der Anwendbarkeit des § 19 BDSG fehlt es auch nicht an Auskunftsrechten der Betroffenen (vgl. BVerfGE 120, 351 <364 f.>; siehe oben C IV 6 b; C VI 3 b).
E.
I.

355


1. Die Feststellung einer Verfassungswidrigkeit gesetzlicher Vorschriften führt grundsätzlich zu deren Nichtigkeit. Allerdings kann sich das Bundesverfassungsgericht, wie sich aus § 31 Abs. 2 Satz 2 und 3 BVerfGG ergibt, auch darauf beschränken, eine verfassungswidrige Norm nur für mit der Verfassung unvereinbar zu erklären (BVerfGE 109, 190 <235>). Es verbleibt dann bei einer bloßen Beanstandung der Verfassungswidrigkeit ohne den Ausspruch der Nichtigkeit. Die Unvereinbarkeitserklärung kann das Bundesverfassungsgericht dabei zugleich mit der Anordnung einer befristeten Fortgeltung der verfassungswidrigen Regelung verbinden. Dies kommt in Betracht, wenn die sofortige Ungültigkeit der zu beanstandenden Norm dem Schutz überragender Güter des Gemeinwohls die Grundlage entziehen würde und eine Abwägung mit den betroffenen Grundrechten ergibt, dass der Eingriff für eine Übergangszeit hinzunehmen ist (vgl. BVerfGE 33, 1 <13>; 33, 303 <347 f.>; 40, 276 <283>; 41, 251 <266 ff.>; 51, 268 <290 ff.>; 109, 190 <235 f.>). Für die Übergangszeit kann das Bundesverfassungsgericht vorläufige Anordnungen treffen, um die Befugnisse der Behörden bis zur Herstellung eines verfassungsmäßigen Zustandes durch den Gesetzgeber auf das zu reduzieren, was nach Maßgabe dieser Abwägung geboten ist (vgl. BVerfGE 40, 276 <283>; 41, 251 <267>).

356

2. Danach sind § 20h Abs. 1 Nr. 1 c und § 20v Abs. 6 Satz 5 BKAG für verfassungswidrig und nichtig zu erklären. Die Vorschriften genügen den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht und eine Regelung mit vergleichbarem Regelungsgehalt kann der Gesetzgeber auch durch Nachbesserung nicht herbeiführen.

357

Demgegenüber sind § 20g Abs. 1 bis 3, §§ 20h, 20j, 20k, 20l, § 20m Abs. 1, 3 - diesbezüglich auch § 20v Abs. 6 Satz 3, 2. Halbsatz - und § 20u Abs. 1, 2 sowie § 20v Abs. 4 Satz 2, Abs. 5 Satz 1 bis 4 (ohne Satz 3 Nr. 2), § 14 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 3, Satz 2 BKAG lediglich für mit der Verfassung unvereinbar zu erklären; die Unvereinbarkeitserklärung ist mit der Anordnung ihrer vorübergehenden Fortgeltung bis zum Ablauf des 30. Juni 2018 zu verbinden. Die Gründe für die Verfassungswidrigkeit dieser Vorschriften betreffen nicht den Kern der mit ihnen eingeräumten Befugnisse, sondern nur einzelne Aspekte ihrer rechtsstaatlichen Ausgestaltung; die Reichweite ihrer Beurteilung als insgesamt verfassungswidrig ergibt sich dabei maßgeblich daraus, dass es an einzelnen übergreifend die Verhältnismäßigkeit sichernden Regelungen, etwa zur Gewährleistung einer effektiven Aufsicht, fehlt. Der Gesetzgeber kann in diesen Fällen die verfassungsrechtlichen Beanstandungen nachbessern und damit den Kern der mit den Vorschriften verfolgten Ziele auf verfassungsmäßige Weise verwirklichen. Angesichts der großen Bedeutung einer wirksamen Bekämpfung des internationalen Terrorismus für den freiheitlichen und demokratischen Rechtsstaat ist unter diesen Umständen ihre vorübergehende Fortgeltung eher hinzunehmen als deren Nichtigkeitserklärung, die dem Bundeskriminalamt bis zu einer Neuregelung zentrale Ermittlungsbefugnisse bei der Abwehr des internationalen Terrorismus nehmen würde.

358

Die Anordnung der Fortgeltung bedarf mit Blick auf die betroffenen Grundrechte jedoch einschränkender Maßgaben. Anzuordnen ist zum einen, dass Maßnahmen gemäß § 20g Abs. 2 Nr. 1, 2 b, 4 und 5 BKAG nur durch das Gericht angeordnet werden dürfen; bei Gefahr im Verzug gilt § 20g Abs. 3 Satz 2 bis 4 BKAG entsprechend. Zum anderen dürfen Maßnahmen gemäß § 20g Abs. 1 Nr. 2, § 20l Abs. 1 Nr. 2 und § 20m Abs. 1 Nr. 2 BKAG nur angeordnet werden, wenn die Voraussetzungen des § 20k Abs. 1 Satz 2 BKAG in der in den Urteilsgründen dargelegten verfassungskonformen Auslegung vorliegen. Schließlich ist eine weitere Verwendung von Daten gemäß § 20v Abs. 4 Satz 2 BKAG oder eine Übermittlung von Daten gemäß § 20v Abs. 5 und § 14 Abs. 1 BKAG betreffend Daten aus Wohnraumüberwachungen (§ 20h BKAG) nur bei Vorliegen einer dringenden Gefahr und betreffend Daten aus Online-Durchsuchungen (§ 20k BKAG) nur bei Vorliegen einer im Einzelfall drohenden Gefahr für die jeweils maßgeblichen Rechtsgüter zulässig.
II.

359

Die Entscheidung ist teilweise mit Gegenstimmen ergangen. Dies gilt insbesondere für die Verwerfung von § 20g Abs. 1 Nr. 2, § 20l Abs. 1 Nr. 2 und § 20m Abs. 1 Nr. 2 BKAG als verfassungswidrig (anstatt sie einer verfassungskonformen Auslegung zuzuführen), für die Annahme der Ermittlungsbefugnisse des § 20g BKAG als kernbereichstypisch, für die Beanstandung unzureichender Aufsichtsbefugnisse, Berichts- und Sanktionspflichten und teilweise auch fehlender Richtervorbehalte, die mit 5:3 Stimmen ergangen sind.

360

Die Auslagenentscheidung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Kirchhof Gaier Eichberger
Schluckebier Masing Paulus
Baer Britz




Abweichende Meinung des Richters Eichberger
zum Urteil des Ersten Senats vom 20. April 2016

- 1 BvR 966/09 -

- 1 BvR 1140/09 -


1

Ich kann das Urteil in einer Reihe der in Bezug auf die angegriffenen Normen gezogenen Schlussfolgerungen und in Teilen der Begründung nicht mittragen.
I.

2

Das Urteil fasst die in der Rechtsprechung des Gerichts entwickelten Grund-sätze zur Datenerhebung und Datenweitergabe bei eingriffsintensiven Ermittlungsmaßnahmen für den hier maßgeblichen Bereich der Terrorismusabwehr zusammen, konsolidiert sie und entwickelt sie in Teilen fort. Den übergreifend formulierten Grundsätzen zu den spezifischen verfassungsrechtlichen Anforderungen an den Einsatz dieser Ermittlungs- und Überwachungsmaßnahmen und an die weitere Verwendung der daraus gewonnenen Erkenntnisse kann ich in weiten Teilen zustimmen. In einer ganzen Reihe von Punkten stellt der Senat jedoch überzogene Anforderungen an die Datenerhebung und -weiterverwendung und insbesondere an die daraus von ihm abgeleiteten Ausgestaltungspflichten für den Gesetzgeber. Zwar bewegt sich das Urteil in den grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Wertungen zur Zulässigkeit von Eingriffen in die Freiheitsrechte aus Gründen der vom Staat zu gewährleistenden Sicherheit wie auch in den daraus im Einzelnen abgeleiteten Anforderungen auf der Linie der hierzu vor allem in den letzten 12 Jahren entwickelten Rechtsprechung des Gerichts. Vorgaben dieser Strenge und Detailgenauigkeit an den Gesetzgeber ließen und lassen sich nach meiner Überzeugung der Verfassung aber nicht entnehmen (vgl. meine bereits in diese Richtung zielende Abweichende Meinung in BVerfGE 125, 380 zum Urteil des Senats zur Vorratsdatenspeicherung - BVerfGE 125, 260).

3

Die vom Senat aufgestellten Grundsätze sind fast ausschließlich auf der Stufe der Verhältnismäßigkeitsprüfung im engeren Sinne vorgenommene Ableitungen aus der Abwägung zwischen den Belastungen eingriffsintensiver Maßnahmen für die Grundrechte der Betroffenen einerseits und den Schutzpflichten des Staates bei der Abwehr terroristischer Gefahren andererseits. Dabei berücksichtigt der Senat nicht ausreichend, dass dem Gesetzgeber auch auf dieser Stufe der Verhältnismäßigkeitsprüfung eine Einschätzungsprärogative in Bezug auf die tatsächliche Beurteilung einer Gefahrenlage und ihre prognostische Entwicklung zukommt. Auch hat der Gesetzgeber einen ersten Zugriff bei der Gewichtung des mit dem Gesetz verfolgten Regelungsziels. Zwar unterliegt die vom Gesetzgeber vorgenommene Abwägung auf der Ebene der Verhältnismäßigkeitsprüfung im engeren Sinne einer grundsätzlich strengen Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht, ohne jedoch die Kontrollperspektive im Hinblick auf tatsächliche Einschätzungsprärogative und den Wertungsspielraum bei der Gewichtung des legitimen Ziels zu verlassen.

4

Auf dieser Grundlage gelange ich schon im Ausgangspunkt zu einer anderen Gewichtung bei der beschriebenen Abwägung, als sie der Entscheidung des Senats zugrunde liegt. Dies führt zu teilweise anderen Ergebnissen bei den Grund-sätzen, insbesondere aber bei den konkreten Schlussfolgerungen für die angegriffenen Maßnahmen. Zwar sind die Grundrechtsberechtigten bereits durch die latente Drohung heimlicher Überwachungs- und Ermittlungsmaßnahmen Belastungen mit höchster Eingriffsintensität ausgesetzt und im Falle ihres Einsatzes auch direkt davon betroffen. Bei der Gewichtung der latenten Bedrohungslage ist jedoch zu berücksichtigen, dass die allermeisten der angegriffenen Normen zu Einzelmaßnahmen und nicht zu generalisierten Datenerhebungen mit großer Streubreite ermächtigen. Sofern durch den konkreten Einsatz von Ermittlungsmaßnahmen Menschen betroffen werden, die keine oder nur in geringem Umfang ihnen zurechenbare Verantwortung für den Ermittlungsanlass gegeben haben, wird ihnen damit in staatsbürgerlicher Inpflichtnahme ein Sonderopfer abverlangt für die öffentliche Gewährleistung von Sicherheit. Es ist bedauerlich, dass diese nach meiner Überzeugung völlig zutreffende Beschreibung und Bewertung der Ermittlungsmaßnahmen gegenüber im polizeirechtlichen Sinne nicht Verantwortlichen keinen Eingang in die Urteilsgründe gefunden hat.

5

Ausgehend davon, dass es sich bei im Grunde all den im Urteil wiedergegebenen übergreifenden Anforderungen an Verfahren und flankierende Schutzbestimmungen bei der Datenerhebung und -weitergabe und bei den daraus für die angegriffenen Normen gezogenen Konsequenzen um Ableitungen aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz handelt, hätte der Senat dem Gesetzgeber weniger detaillierte Vorgaben machen dürfen. Nicht alle der dem Gesetzgeber vorgeschriebenen Anforderungen an Verfahren, Transparenz und Kontrolle sind, selbst wenn viele von ihnen sinnvoll und richtig sein mögen, auch verfassungsrechtlich genau so gefordert. Hier wäre nach meiner Überzeugung deutlich mehr an richterlicher Zurückhaltung geboten gewesen. Stattdessen führt das Urteil durch die Generalisierung früherer Erkenntnisse in einer Art allgemeinen Teil trotz zu begrüßender Konsolidierungsschritte im Ergebnis jedenfalls zu einer problematischen Verfestigung der überzogenen verfassungsrechtlichen Anforderungen in diesem Bereich. Die vom Gesetzgeber zu berücksichtigenden genauen verfassungsrechtlichen Vorgaben für je nach Überwachungs- und Ermittlungsmaßnahme differenzierten Eingriffsschwellen, abgeschichteten Schutzgutanforderungen, an die den Einzelmaßnahmen angepassten flankierenden Schutzvorkehrungen und Weiterverwendungsdirektiven haben damit ein von ihm nur mit enormen Regulierungsaufwand zu bewältigendes Maß an Komplexität erreicht. Die daraus resultierenden umfänglichen Regelwerke in den Bundes- und Landespolizeigesetzen werden auch auf der Ebene des Vollzugs die Polizeibeamten oft vor nur schwer lösbare Probleme stellen. Zwar sind klare gesetzliche Vorgaben gerade im Bereich eingriffsintensiver Überwachungsmaßnahmen unverzichtbar, sollten aber - solange keine gegenteiligen Erkenntnisse vorliegen - auf der Grundlage eines grundsätzlichen Vertrauens auf gesetzmäßiges und insbesondere auch verhältnismäßiges Handeln der Sicherheitsbehörden in ihren Einzelentscheidungen deutlich zurückhaltender ausfallen. Sobald strukturelle Unzuträglichkeiten bekannt würden, bliebe es dem Gesetzgeber unbenommen, hinsichtlich der Eingriffsvoraussetzungen und der flankierenden Schutzmaßnahmen nachzubessern.
II.

6

Trotz des im beschriebenen Umfang abweichenden Ansatzes kann ich einem Großteil der im Urteil formulierten übergreifenden Grundsätze zur Datenerhebung, Datenweitergabe und auch zur Übermittlung ins Ausland zustimmen. Dies gilt über weite Strecken auch im Hinblick auf die daraus für die angegriffenen Regelungen abgeleiteten Schlussfolgerungen. Sie überzeugen und sind gut begründet. Die damit verbundenen Anforderungen an eine anspruchsvolle Gesetzgebung und Erschwernisse des Polizeivollzugs müssen zum Schutz der betroffenen Freiheitsrechte hingenommen werden. In verschiedenen Aussagen der allgemeinen Grundsätze und bei einer Reihe der daraus abgeleiteten gezogenen Schlüsse auf die Verfassungswidrigkeit von Einzelnormen, halte ich den Standpunkt des Urteils - auch wenn es sich dabei um Fortführungen früherer Entscheidungen handelt - jedoch für überzogen und so verfassungsrechtlich nicht gefordert. Hierbei geht es vor allem um folgende Punkte:

7

1. Ungeachtet der bereits prinzipiell angezeigten größeren Zurückhaltung des Gerichts in Bezug auf detaillierte Vorgaben an den Gesetzgeber für die flankierenden Verfahrens- und sonstige Schutzvorschriften halte ich es nach wie vor für überzogen, aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz abzuleiten, dass dem von einer eingriffsintensiven Überwachungsmaßnahme Betroffenen neben dem Zugang zu einer gerichtlichen Rechtmäßigkeitskontrolle auch wirksame Sanktionsmechanismen einschließlich eines etwaigen Ausgleichsanspruchs bei einer Rechtsverletzung zur Verfügung gestellt werden müssten (Urteil C IV 6 c), dass eine Kontrolle der Datenerhebung und -verarbeitung regelmäßig in Abständen durchgeführt werden müsste, deren Dauer ein gewisses Höchstmaß von etwa zwei Jahren nicht überschreiten dürfe (Urteil C IV 6 d) und dass der Gesetzgeber zur Gewährleistung von Transparenz und Kontrolle wegen der Heimlichkeit der Datenerhebung regelmäßige Berichte des Bundeskriminalamts gegenüber Parlament und Öffentlichkeit sicherzustellen habe (Urteil C IV 6 e). Für all diese Sicherungsmaßnahmen gibt es gute, im Urteil nachgewiesene Gründe. Dies allein rechtfertigt es allerdings nicht, sie dem Gesetzgeber als verfassungsrechtlich geboten vorzuschreiben und ihm dadurch andere Lösungswege zu versperren, die er im Rahmen seines Gestaltungsspielraums zur Erreichung eines verfassungsrechtlich gebotenen Sicherheitsniveaus hätte beschreiten können. Es hätte genügt - und Weitergehendes ist auch nicht gerechtfertigt - dem Gesetzgeber lediglich das Sicherheitsniveau vorzugeben.

8

2. In geringerem Umfang verfassungswidrig, als vom Senat angenommen, sind die angegriffenen einzelnen Ermittlungs- und Überwachungsbestimmungen.

9

a) Der Senat hält die Ermächtigungen zu einigen Aufklärungs- und Datenerhebungsmaßnahmen zum Zwecke der Straftatenverhütung für zu unbestimmt und unverhältnismäßig (Urteil C V 1 d bb, 5 b, 6 b), soweit darin lediglich gefordert wird, dass „Tatsachen“ oder auch „bestimmte Tatsachen“ die Annahme rechtfertigen, dass eine Person Straftaten im Sinne des § 129a StGB „begehen wird“ oder „vorbereitet“ (vgl. § 20g Abs. 1 Nr. 2; § 20l Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und § 20m Abs. 1 Nr. 2 BKAG). Damit unterlässt er es ohne Not, den in diesen Fällen möglichen Weg der verfassungskonformen Auslegung zu wählen. Der Senat hat in den allgemeinen Grundsätzen des Urteils die Voraussetzungen einer verfassungsgemäßen Gefahrenschwelle für so weit ins Vorfeld einer konkreten Gefahr verlagerte, eingriffsintensive Aufklärungsmaßnahmen erarbeitet. Demzufolge muss wenigstens ein seiner Art nach konkretisiertes und absehbares Geschehen in Richtung einer der genannten Straftaten erkennbar sein oder alternativ das individuelle Verhalten einer Person die konkrete Wahrscheinlichkeit begründen, dass sie terroristische Straftaten in überschaubarer Zukunft begeht. Die in diesen Formulierungen gelungene Präzisierung des Gefahrbegriffs im Vorfeldbereich der Straftatenverhütung verbunden mit der Ausweitung auf die alternative Möglichkeit einer Anknüpfung an das individuelle Verhalten einer Person sehe ich allerdings als deutlichen Gewinn gegenüber den Vorgaben aus der bisherigen Rechtsprechung, an die hier angeknüpft wird. Die Neuformulierung benennt die Eingriffsvoraussetzungen im Hinblick auf die Eingriffsschwelle in diesem Bereich klarer und trägt den berechtigten Sicherheitsbedürfnissen des Gemeinwesens an dieser Stelle besser als bisher Rechnung. Es widerspricht jedoch weder dem Wortlaut noch dem erkennbaren Willen des Gesetzgebers, die hier in Rede stehenden und für sich genommen insoweit zu offen formulierten Ermittlungsermächtigungen unter Beachtung dieser verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Gefahrenschwelle einschränkend auszulegen. Dann wäre es aus Respekt vor dem Gesetzgeber geboten gewesen, die Normen zu erhalten, zumal mit dem Urteil nunmehr eine präzise Bestimmung der Gefahrenschwelle für die Fälle der Straftatenverhütung vorliegt und im Rahmen des Wortlauts der Normen ohne Weiteres zur Anwendung gebracht werden kann.

10

b) Anders als der Senat halte ich auch das vom Gesetzgeber in § 20g Abs. 3 Satz 5 bis 9 BKAG gewählte Konzept, erst für die Verlängerung eines Großteils der in § 20g Abs. 2 BKAG genannten Überwachungsmaßnahmen einen Richtervorbehalt vorzusehen, für verfassungsrechtlich vertretbar. Die dort vorgesehenen Überwachungsmaßnahmen wiegen zwar teilweise schwer, sind aber durchgängig an die Genehmigung durch den Abteilungsleiter geknüpft und mit einer Protokollierungspflicht verbunden. Damit hat der Gesetzgeber eine noch vertretbare Balance zwischen Aufklärungseffizienz und berechtigten Schutzinteressen der durch die Überwachungsmaßnahmen Betroffenen gefunden, zumal nicht ohne Weiteres davon ausgegangen werden kann, dass das Bundeskriminalamt den im ersten Monat fehlenden Richtervorbehalt regelmäßig zu unverhältnismäßigen Überwachungsmaßnahmen nutzen wird. Sollte sich das Vertrauen des Gesetzgebers in dieses zunächst auf der Ebene des Bundeskriminalamts angesiedelte Kontrollsystem als unberechtigt erweisen, hätte er dies allerdings zu korrigieren.

11

c) Nicht teilen kann ich die Annahme des Senats, § 20g BKAG sei auch deshalb verfassungswidrig, weil er keine Regelungen zum Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung enthält (Urteil C V 1 g).

12

Im Ausgangspunkt stimme ich allerdings dem Standpunkt des Urteils zu, dass der Gesetzgeber bei Normen, die zu typischerweise in den Kernbereich privater Lebensgestaltung eingreifenden Überwachungs- und Ermittlungsmaßnahmen ermächtigen, ein Sicherungs- und Kontrollregime vorsehen muss, das die im Urteil im einzelnen umschriebenen Bedingungen zur Vermeidung bereits der Erhebung solcher Daten vorsieht und - sofern dies nicht auszuschließen ist - dann auf der Auswertungs- und Verwertungsebene entsprechende behördenexterne Filter- und Sichtungsmechanismen enthält (Urteil C IV 3 d). Eine Pflicht des Gesetzgebers, schon im Vorhinein ein solches, auf die jeweilige Überwachungsnorm zugeschnittenes System des Kernbereichsschutzes vorzuschreiben, das solche Maßnahmen dann in aller Regel nur unter womöglich aufwändigen Vorkehrungen in verfahrensmäßiger und personeller Hinsicht erlaubt, ist nach meiner Überzeugung von Verfassungs wegen allerdings nur für solche Überwachungs- und Ermittlungsmaßnahmen geboten, von denen zu erwarten ist, dass sie mit einer gewissen Regelmäßigkeit und damit typischerweise kernbereichsrelevante Situationen erfassen.

13

Eine solche Ermächtigungsnorm für Überwachungsmaßnahmen, die typischerweise zur Erhebung kernbereichsrelevanter Daten führen können, ist § 20g BKAG jedoch nicht. Der Senat begründet seine gegenteilige Auffassung mit der Erwägung, die Vorschrift ermächtige unter anderem zu längerfristigen Bildaufzeichnungen und einem auf eine lange Zeit angelegten Abhören und Aufzeichnen des nichtöffentlich gesprochenen Wortes; sie ermögliche damit Überwachungsmaßnahmen, die typischerweise tief in die Privatsphäre eindringen könnten. Es dürfte zwar in der Tat nicht auszuschließen sein, dass gerade Überwachungsmaßnahmen der beschriebenen Art Situationen erfassen können, die dem Kernbereich privater Lebensgestaltung zuzurechnen sind. Dass solche Maßnahmen im Einzelfall tief in die Privatsphäre eindringen können, bedeutet jedoch nicht, dass sie dies typischerweise tun, und erst recht nicht, dass sie dann auch typischerweise kernbereichsrelevante Vorgänge erfassen. Der Annahme einer solchen Typik steht vor allem entgegen, dass die Maßnahmen des § 20g Abs. 2 BKAG grundsätzlich im öffentlichen Raum stattfinden. Kommt es dann im konkreten Einzelfall dennoch zur Erfassung von Situationen, in denen der dem Kernbereichsschutz unterfallende Personenkreis in der berechtigten Annahme strenger Vertraulichkeit Höchstpersönliches austauscht, hat das Bundeskriminalamt die dann jeweils gebotenen Maßnahmen zum Schutz des Kernbereichs zu treffen (Urteil C IV 3 b).

14

3. Geht mit der weiteren Verwendung aus Überwachungsmaßnahmen gewonnener Daten eine Zweckänderung einher, liegt darin ein erneuter Eingriff in das Grundrecht, in das bereits bei Erhebung der Daten eingegriffen wurde. Das entspricht gefestigter, auch von mir geteilter Rechtsprechung des Gerichts. Die vom Senat geforderten Bedingungen, unter denen eine solche Zweckänderung erfolgen darf, errichten allerdings teilweise zu hohe Hürden. Sie werden insoweit nicht dem Umstand gerecht, dass es sich um die Weiternutzung bereits verfassungsgemäß erhobener Daten handelt.

15

a) Uneingeschränkt zu begrüßen ist allerdings das grundsätzliche Unterfangen des Urteils, die Figur der „hypothetischen Neuerhebung“ als gedanklichen Ansatz zur Bestimmung der Zweckänderungsbedingungen zu präzisieren und zu konsolidieren (Urteil D I). Mit der Unterscheidung zwischen der weiteren Nutzung von Daten (innerhalb der ursprünglichen Zwecksetzung, seitens derselben Behörde und im Rahmen desselben Aufgabenkreises), für die es als Weiternutzungsschwelle lediglich eines bloßen Spurenansatzes bedarf (Urteil D I 1 b), und der darüber hinausgehenden Zweckänderung vorhandener Daten durch die Weitergabe an andere Behörden, die als legitimierenden Anlass lediglich verlangt, dass sich aus den Daten ein konkreter Ermittlungsansatz ergibt (Urteil D I 2 b bb), schafft das Urteil Rechtsklarheit und nimmt überzogene, aus der undifferenzierten Anwendung des Gedankens der hypothetischen Neuerhebung abgeleitete Anforderungen an den Anlass für die Weitergabe der Daten zurück. Damit trägt es dem Umstand Rechnung, dass die weitere Nutzung und insbesondere die Zweckänderung von Daten zwar den ursprünglichen, bei der Gewinnung der Daten erfolgten Grundrechtseingriff fortführen, das Grundrecht aber typischerweise eben nicht erneut in gleicher Intensität beeinträchtigen.

16

b) Nicht mitzutragen vermag ich jedoch die vom Senat im Anschluss an seine frühere Rechtsprechung (BVerfGE 109, 279 <377, 379>) geforderte Ausnahme von diesem Zweckänderungskonzept bei Daten, die aus Wohnraumüberwachung und Online-Durchsuchung gewonnen wurden. Hier verlangt das Urteil unter Berufung auf das besondere Eingriffsgewicht dieser Maßnahmen für jede weitere Nutzung und Zweckänderung die Rechtfertigung durch eine dringende oder eine im Einzelfall hinreichend konkretisierte Gefahr wie bei der Datenerhebung selbst (Urteil D I 1 b, 2 b bb). Der Schluss von der Eingriffsintensität bei der Datenerhebung gerade in diesen beiden Fallgruppen auf die Notwendigkeit einer gleich hohen Anlassschwelle für die Weiternutzung und Zweckänderung überzeugt nicht. In allen anderen Fallgruppen hat der Senat mit dem hier entwickelten neuen Konzept die Notwendigkeit einer Kongruenz zwischen dem gebotenen Erhebungsanlass und dem der Weiterverwendung in dem Urteil soeben zu Recht aufgegeben und stattdessen überzeugend nach dem Grad der Abweichung vom ursprünglichen Erhebungszweck differenziert. Für Daten aus Wohnraumüberwachung und Online-Durchsuchung gilt nichts anderes. Art. 13 Abs. 4 Satz 1 GG fordert eine dringende Gefahr für den Einsatz der Wohnraumüberwachung; zu den Bedingungen der Weiterverwendung der daraus gewonnenen Daten sagt er nichts. Vergleichbar den anderen eingriffsintensiven Überwachungsmaßnahmen erfolgt auch bei der Wohnraumüberwachung die eigentliche, massive Beeinträchtigung der Privatsphäre durch den Ermittlungszugriff auf den geschützten Bereich. Die weitere, auch zweckändernde Nutzung perpetuiert diesen Eingriff zwar, erreicht aber auch bei der Wohnraumüberwachung (und ebenso bei der Online-Durchsuchung) nicht mehr die ursprüngliche Eingriffsintensität. Die Weiternutzung und Zweckänderung aus diesen gewonnener Erkenntnisse hat daher den allgemeinen Regeln zu folgen. Der Senat hätte seine bisherige Rechtsprechung dementsprechend korrigieren sollen.

Eichberger


Abweichende Meinung des Richters Schluckebier
zum Urteil des Ersten Senats vom 20. April 2016

- 1 BvR 966/09 -

- 1 BvR 1140/09 -


1

Soweit das Urteil die zu prüfenden gesetzlichen Bestimmungen von Verfassungs wegen beanstandet, vermag ich ihm in weiten Teilen dieses Ergebnisses und der zugehörigen Begründung nicht zuzustimmen.

2

Das Urteil geht zwar im Ansatz zutreffend davon aus, dass es die Aufgabe des Gesetzgebers ist, zwischen den von den Grundrechtseingriffen, die mit den zu prüfenden Eingriffsgrundlagen im Einzelfall verbunden sein können, und dem Schutzauftrag des Staates für die Grundrechte der Menschen und die Rechtsgüter der Allgemeinheit im Rahmen der Verhinderung terroristischer Straftaten einen angemessenen Ausgleich zu finden. In der Umsetzung dessen führt das jedoch zu einer meines Erachtens in verschiedener Hinsicht verfassungsrechtlich verfehlten Verhältnismäßigkeitsprüfung sowie zu überzogenen Anforderungen an die Bestimmtheit einzelner Regelungen. Die vom Senat vertretenen Positionen haben zugleich erhebliche Auswirkungen auf die Landespolizeigesetze der Länder, ohne dass diese Konsequenzen im Verfahren hinreichend vertieft worden wären. Damit beschneidet das Urteil zugleich die politische Gestaltungsmacht des Bundesgesetzgebers über das gebotene Maß hinaus, mittelbar aber auch diejenige der Landesgesetzgeber. Der Senat setzt mit zahlreichen gesetzgebungstechnischen Detailanforderungen letztlich seine konkretisierenden eigenen Vorstellungen von dem Regelwerk in meines Erachtens zu weit gehender Weise an die Stelle derjenigen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers, der sich für seine Konzeption politisch zu verantworten hat und diese gegebenenfalls auch leicht korrigieren kann.

3

Anders als der Senat meint, wären einige der beanstandeten Bestimmungen auch verfassungskonform auslegbar gewesen (Voraussetzungen nach § 20g Abs. 1 Nr. 2, § 20l Abs. 1 Nr. 2, § 20m Abs. 1 Nr. 2, § 20v Abs. 4 Nr. 1 BKAG). Die von der Senatsmehrheit vermisste ausdrückliche Aufnahme einer kernbereichsschützenden Regelung für die Datenerhebungsmaßnahmen mit besonderen Mitteln namentlich außerhalb von Wohnungen (§ 20g BKAG) in das Gesetz ist verfassungsrechtlich keineswegs geboten, weil insoweit nicht typische Rückzugsräume der Privatheit in Rede stehen. Auch die Ausweitung des Richtervorbehalts für diese Maßnahmen nach § 20g BKAG ist aus Gründen der Verhältnismäßigkeit nicht zwingend. Soweit der Senat für die Auswertung von Überwachungsmaßnahmen zum Kernbereichsschutz die Einrichtung einer „unabhängigen Stelle“ mit maximal einem sachkundigen Bediensteten des Bundeskriminalamts postuliert, beeinträchtigt dies die Wirksamkeit der gerade im Bereich der Gefahrenabwehr oft in besonderem Maße eil- und beschleunigungsbedürftigen Auswertung und Umsetzung von Erkenntnissen. Damit verfehlt er auch insoweit einen angemessenen Ausgleich. Mit den im Einzelnen geforderten zusätzlichen flankierenden verfahrensrechtlichen Maßnahmen, namentlich einer gesteigerten Datenschutzkontrolle und Pflichtkontrollen innerhalb eines bestimmten Zeitraumes sowie Berichtspflichten gegenüber Parlament und Öffentlichkeit und der Einforderung wirksamer Sanktionen bei Rechtsverletzungen werden gesetzesgestaltende Details verlangt, die den Gesetzgeber als Repräsentanten des Souveräns in zu kleinteiliger Weise einschränken. Hinsichtlich der beanstandeten Zweckänderungs- und Übermittlungsvorschriften, die an das Kriterium der hypothetischen Datenneuerhebung anknüpfen, folgen aus der Auffassung des Senats erhebliche Defizite für den Schutz der Grundrechte Dritter und der Rechtsgüter der Allgemeinheit. Dem Rechtsstaat wird partiell ein „Wegsehen“ vor Gefahren für Rechtsgüter und Grundrechte Einzelner angesonnen; den von Gefahren für ihre Rechtsgüter Betroffenen wird damit in bestimmten Konstellationen der erforderliche Schutz vorenthalten.

4

Im Folgenden skizziere ich nur die wesentlichen Punkte näher, in denen meines Erachtens eine andere Beurteilung geboten gewesen wäre. Soweit einzelne Beanstandungen des Senats nicht angesprochen werden, vermag ich das Urteil in wichtigen Teilen auch mitzutragen. Das gilt insbesondere für die vom Senat akzeptierten reduzierten Anforderungen an den Gefahrbegriff, die Anforderungen an die Vorhersehbarkeit des Kausalverlaufs sowie die Maßnahmen der Umfeldüberwachung bei der ins Vorfeld der klassischen Gefahrenabwehr verschobenen Straftatenverhütung. Zu den einzelnen von mir nicht geteilten verfassungsrechtlichen Bewertungen ist anzumerken:
I.

5

Grundsätzlich ist vorweg festzuhalten, dass der Gesetzgeber bei der Verfolgung des Ziels, eine effektive Abwehr terroristischer Gefahren und Straftaten zu gewährleisten mit der von ihm gewählten Ausgestaltung des Spannungsverhältnisses zwischen den Grundrechten der von solchen polizeilichen Maßnahmen Betroffenen und den Eingriffsgrundlagen auf der einen Seite sowie seiner Schutzverpflichtung im Blick auf die Grundrechte der Einzelnen und die verfassungsmäßig verankerten Rechtsgüter der Allgemeinheit auf der anderen Seite einen im Wesentlichen angemessenen und zumutbaren Ausgleich gefunden hat. Der Gesetzgeber trägt damit dem Grundsatz Rechnung, dass der Einzelne sich im Rechtsstaat auf effektiven Schutz durch den Staat ebenso verlassen können muss wie auf den Schutz seiner Freiheitsgewährleistungen vor dem Staat (vgl. meine abw. Meinung in BVerfGE 125, 364 <369>; siehe zur Schutzpflicht bei terroristischen und anderen Bestrebungen auch der Senat in BVerfGE 120, 274 <319>). Soweit damit im Einzelfall auch Grundrechtsträger von solchen Maßnahmen betroffen werden können, die nicht selbst unter Terrorismusverdacht stehen oder die, wie sich später erweist, zu Unrecht in diesen geraten sind, sind die mit den eingreifenden Maßnahmen verbundenen Belastungen grundsätzlich als ihnen von der Gemeinschaft abverlangtes Sonderopfer hinzunehmen.

6

Die Urteilsgründe leiden indessen daran, dass nach den allgemeinen Ausführungen zu Bedeutung und Gewicht der vom Gesetzgeber verfolgten Ziele hinsichtlich der einzelnen Vorschriften keine substantielle Prüfung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne und der Bestimmtheit mehr vorgenommen wird, sondern die verfassungsrechtlichen Beanstandungen einzelner Vorschriften lediglich mit der schlichten Rechtsbehauptung begründet werden, die jeweilige Bestimmung sei unverhältnismäßig oder zu unbestimmt. Eine wirkliche Angemessenheits- und Bestimmtheitsprüfung findet jeweils normbezogen nicht mehr statt. Die vom Senat zudem in ihrer Detailliertheit gemachten Vorgaben unter Berufung auf die Wahrung der Verhältnismäßigkeit verdeutlichen zudem die - wohlgemerkt: nur im Ergebnis - außergewöhnlich hohe Prüfungsdichte, die für die gesetzgebungstechnische Ausgestaltung kaum noch Spielräume belässt, wenn denn der Gesetzgeber die Gefahrenabwehr mit den von ihm gewollten Maßnahmen auszustatten gedenkt. Freilich ist die Vorgabe solcher gesetzgebungstechnischer Einzelheiten in der bisherigen jüngeren Spruchpraxis des Senats angelegt. Sie ist dort vornehmlich aber im Blick auf die spezifischen Grundrechtsgefährdungspotenziale der elektronischen Datenverarbeitung sowie die Breitenwirkung bestimmter Maßnahmen entwickelt worden, etwa in den Entscheidungen zur Antiterrordatei als Verbunddatei, sowie zur Vorratsdatenspeicherung, die die anlasslose Speicherung aller Telekommunikationsverkehrsdaten bei den Netzbetreibern vorsah (vgl. BVerfGE 125, 260 <316 ff.>; 133, 277 <320 ff.>). Im vorliegenden Fall geht es jedoch um einzelfallbezogene Maßnahmen gegen Betroffene, die in den Fokus der Verhütung terroristischer Gewalttaten geraten sind. Diese präventiv-polizeilichen Sachverhalte sind zudem dadurch geprägt, dass die in Rede stehenden Maßnahmen - anders als oft im Bereich der Strafverfolgung - in der Regel eine größere Nähe zu drohenden konkreten Rechtsgutsbeeinträchtigungen aufweisen. Die vom Senat hierzu gestellten Anforderungen werden zugleich erhebliche Folgewirkungen für nahezu alle Landespolizeigesetze haben, die weitgehend ähnliche oder gleiche Maßnahmen für die Abwehr von schwerwiegenden Straftaten der organisierten Kriminalität und der allgemeinen Kriminalität vorsehen, ohne dass diese Konsequenzen hinreichend durchdrungen und vertieft worden wären.

7

Im Ergebnis halte ich die vom Senat vorgenommene enge Verhältnismäßigkeitsprüfung hinsichtlich mehrerer beanstandeter Bestimmungen für nicht überzeugend und zum Teil gar für unangemessen. Dies erhellt sich gerade vor dem Hintergrund, dass das Gesetz mit seinen Eingriffsgrundlagen seit mehr als sieben Jahren in Kraft ist, es - wie die mündliche Verhandlung ergeben hat - seither nur wenige Anwendungsfälle gegeben hat und Misshelligkeiten bei der Gesetzesanwendung bislang nicht zu Tage getreten sind. Im Gegenteil: Die Befragung der zuständigen Beamten des Bundeskriminalamts, die für die operative Anwendung der Vorschriften unmittelbar verantwortlich sind, in der mündlichen Verhandlung hat den Eindruck eines äußerst verantwortungsbewussten Umgangs mit den Eingriffsgrundlagen unter der politischen Ressortverantwortung des zuständigen Ministers und letztlich auch der effektiven parlamentarischen Kontrolle vermittelt.
II.

8

Konkret bleibt zu einzelnen der vom Senat erhobenen Beanstandungen anzumerken:

9

1. Der Senat bemängelt, dass die Eingriffsvoraussetzungen bestimmter Rechtsgrundlagen nicht hinreichend gehaltvoll ausgestaltet und deshalb unverhältnismäßig und unbestimmt seien (§ 20g Abs. 1 Nr. 2, § 20l Abs. 1 Nr. 2, § 20m Abs. 1 Nr. 2 BKAG). Diese Bestimmungen erfordern, dass hinsichtlich der Person, gegen die sich die jeweilige Maßnahme richtet, Tatsachen vorliegen, die die Annahme rechtfertigen, dass sie terroristische Straftaten, wie sie in § 4a Abs. 1 Satz 2 BKAG umschrieben sind, begehen wird (in § 20l und § 20m BKAG ist die Rede von „bestimmten Tatsachen“). Für die vom Gesetzgeber formulierten Eingriffsvoraussetzungen wäre jedoch auf der Grundlage der Ausführungen des Urteils eine verfassungskonforme Interpretation möglich gewesen. Der Normbeanstandung hätte es nicht bedurft. Die benutzten Begrifflichkeiten sind im Bereich der Gefahrenabwehr, aber auch des Strafprozessrechts nicht unüblich. Sie sind der Auslegung zugänglich. Eine weitergehende „gehaltvolle Ausgestaltung“ im Gesetz, wie sie der Senat einfordert, ist angesichts der Vielgestaltigkeit der Lebenssachverhalte schwierig und führt nur zu einer textlichen Ausuferung der Normen mit wiederum notwendigerweise allgemein zu haltenden auslegungsbedürftigen weiteren Begriffen.

10

2. Der Senat vermisst für die in § 20g Abs. 2 BKAG vorgesehenen besonderen Mittel der Datenerhebung eine ausdrückliche gesetzliche Regelung zum Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung auch insoweit, wie die dort aufgeführten Überwachungsmaßnahmen außerhalb von Wohnungen stattfinden und von verschiedener Qualität sein und Nähe zur Privatsphäre haben können. Dazu zählen etwa die längerfristige Observation, die Anfertigung von Bildaufnahmen von Personen außerhalb von Wohnungen oder das Abhören und Aufzeichnen des außerhalb von Wohnungen nicht öffentlich gesprochenen Wortes.

11

Diese Bewertung teile ich nicht. Ein typischer Rückzugsbereich ins Private (vgl. BVerfGE 109, 279 <320 f.>) ist in den Fällen technischer Maßnahmen außerhalb von Wohnungen regelmäßig nicht betroffen. Man mag sich zwar zur Besprechung vertraulicher Dinge - diese Beispiele nennt der Senat - auf einen Spaziergang begeben oder auf eine Autofahrt. Das ändert jedoch nichts daran, dass sich die Betroffenen im Grundsatz „in der Öffentlichkeit“ bewegen, nicht jedoch in besonders geschützten Zonen der Privatheit (vgl. BVerfGE 120, 274 <331>). Ein schutzwürdiges Vertrauen wird sich unter solchen Umständen nicht in dem gleich hohen, schlechterdings nicht überbietbaren Maß herausbilden können wie bei Gesprächen in der eigenen Wohnung oder bezogen auf das eigene informationstechnische System. Deshalb hätte es insoweit keiner ausdrücklichen gesetzlichen kernbereichsschützenden Regelung bedurft. Vielmehr kann der Kernbereichsschutz auf der Rechtsanwendungsebene sichergestellt werden.

12

3. Die Ausweitung des Richtervorbehalts auch auf die erstmalige Anordnung von Maßnahmen nach § 20g Abs. 2 Nr. 1 bis 4 BKAG, namentlich solcher außerhalb von Wohnungen, halte ich aus Gründen der Verhältnismäßigkeit für nicht zwingend geboten. Angesichts der Besonderheiten und der typischen Eigendynamik der Fallgestaltungen bei der Verhütung und Abwehr schwerwiegender oder gar terroristischer Straftaten genügt es meines Erachtens, den Richtervorbehalt für die Verlängerung solcher Maßnahmen vorzusehen (§ 20g Abs. 3 Satz 8 BKAG). Im Übrigen beinhalten auch die meisten Landespolizeigesetze - insbesondere zur Verhinderung organisierter Kriminalität - gleiche oder ähnliche Befugnisse mit der Erstanordnungskompetenz der Behördenleitung, wie sie etwa in § 20g Abs. 2 BKAG normiert sind (vgl. z.B. § 15 Abs. 3, § 16 Abs. 5 Satz 1 HSOG, § 16a Abs. 2 Satz 1 PolG NW). Praktisch ist dies unter anderem bei dem Einsatz von Vertrauenspersonen etwa im Bereich der organisierten Kriminalität, insbesondere der Drogenkriminalität von großer Bedeutung.

13

Allerdings werden sich - nach meinem Verständnis der Urteilsgründe - kaum Auswirkungen auf das Strafprozessrecht ergeben, wo etwa der Einsatz von Vertrauenspersonen der sogenannten Ermittlungsgeneralklausel zugeordnet wird und im Übrigen lediglich in einer Verwaltungsvorschrift geregelt ist (§ 161 StPO; Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren - RiStBV -, Anlage D; kritisch dazu allerdings z.B. Eschelbach, in: SSW-StPO, 2. Aufl. § 110a Rn. 11). Die hier in Rede stehenden präventivpolizeilichen Maßnahmen der Straftatenverhütung im Vorfeld und der Gefahrenabwehr unterscheiden sich von strafprozessrechtlichen Ermittlungsmaßnahmen. Letztere erfolgen unter der Sachleitung eines Justizorgans (Staatsanwaltschaft), bewegen sich im weiteren Verlauf in den schützenden Formen eines differenziert ausgestalteten Verfahrens (Strafprozessordnung) und münden ohnehin regelmäßig in eine richterliche Befassung. Das gilt auch dann, wenn das Verfahren nicht zur Anklage führt, aber andere richterliche Anordnungen im Zuge der Ermittlungen erforderlich werden oder die Maßnahmen nach Verfahrenseinstellung zu einem späteren Zeitpunkt offen gelegt werden.

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4. Nicht mittragen kann ich weiter die vom Senat geforderte Errichtung einer „unabhängigen Stelle“, die auf der Auswertungs- und Verwertungsebene bei Maßnahmen der Wohnraumüberwachung und der Online-Durchsuchung einen nachgelagerten Kernbereichsschutz sicherstellen soll. Der Senat postuliert, dass diese Kontrolle „im Wesentlichen von externen, nicht mit Sicherheitsaufgaben betrauten Personen“ wahrgenommen wird, in deren Händen die „tatsächliche Durchführung und Entscheidungsverantwortung“ liegen soll (zu § 20h Abs. 5, § 20k Abs. 7 BKAG). Die Zuziehung eines Bediensteten des Bundeskriminalamts zur Gewährleistung ermittlungsspezifischen Fachverstandes hält der Senat für nicht ausgeschlossen. Damit geht der Senat über die bisher an den nachgelagerten Kernbereichsschutz gestellten verfassungsrechtlichen Anforderungen weit hinaus (vgl. nur BVerfGE 120, 274 <338 f.> zum Verfassungsschutzgesetz Nordrhein-Westfalen).

15

Entgegen dieser Auffassung halte ich die derzeitige Regelung, die die Sachleitung und mithin auch die Entscheidungsverantwortung des anordnenden Richters vorsieht oder jedenfalls einschließt (§ 20h Abs. 3 Satz 1, Abs. 5 Satz 4, § 20k Abs. 7 Satz 3 BKAG) sowie die Pflicht zur unverzüglichen Löschung von kernbereichsrelevanten Inhalten und die Protokollierung der Löschung zum Zwecke der Kontrolle vorschreibt (§ 20h Abs. 5 Satz 7, § 20k Abs. 7 Satz 5 BKAG) für genügend (so für die unverzügliche Löschung kernbereichsrelevanter Inhalte auch noch der Senat in BVerfGE 120, 274 <339> zu Daten aus informationstechnischen Systemen). Die jetzt vom Senat geforderte „unabhängige Stelle“ für die Auswertung und Verwertbarkeitskontrolle stellt gerade im Rahmen der Gefahrenabwehr und Straftatenverhütung die Wirksamkeit der Maßnahmen infrage, weil es hier typischerweise um Fallgestaltungen geht, bei denen die Auswertung von Erkenntnissen oft in hohem Maße beschleunigungs- und eilbedürftig ist. Dem kommt für die Angemessenheitsbeurteilung - im Blick auf die Wirksamkeit der Maßnahme - große Bedeutung zu. Die postulierte „unabhängige Stelle“ müsste während der Dauer der Überwachungsmaßnahmen zumeist permanent aktionsfähig vorgehalten werden. Ihr die erste Sichtung unter weitgehendem Ausschluss der Sicherheitsbehörde um des nachgelagerten Kernbereichsschutzes willen vorzubehalten, vernachlässigt die besonderen Erfordernisse der Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus und der Verhütung terroristischer Taten (i.S.d. § 4a Abs. 1 BKAG). Anders als oft im strafprozessualen Ermittlungsverfahren liegen bei der Gefahrenabwehr Erhebung und Verwertung der Daten zumeist sehr nahe beieinander. Die gewonnenen Erkenntnisse werden regelmäßig eine schnelle, nicht selten eine sofortige Reaktion erfordern.

16

Wie sich die vom Senat verlangte Lösung bei einer sogenannten Liveüberwachung darstellen soll, bleibt weitgehend im Unklaren. Auch die oft gegebene prozedurale Situation, die bei der Hinzuziehung von Dolmetschern entsteht, wird nicht näher betrachtet. Gerade in fremdsprachigen Konstellationen kommt Sprachmittlern eine zentrale Rolle auch für die Ersteinschätzung von Gesprächen als höchstpersönlich zu. Mitunter werden hier auch sprachliche Besonderheiten (in Mitteleuropa selten vorkommende Sprachen, Dialekte) eine Rolle spielen. Kurzum: Die vom Senat verlangte Lösung trifft mit ihrer Komplizierung die Effektivität der Maßnahmen gerade im Bereich der Wohnraumüberwachung und wird deshalb im Ergebnis den Angemessenheitsanforderungen auf der anderen Seite, nämlich im Blick auf die Verfolgung des gesetzgeberischen Ziels einer wirksamen Abwendung terroristischer Straftaten, nicht hinreichend gerecht. Daran ändert auch nichts die dem Gesetzgeber vom Senat eröffnete Möglichkeit, „die notwendigen Regelungen zu treffen“, um dem Bundeskriminalamt „für Ausnahmefälle bei Gefahr im Verzug auch kurzfristig erste Handlungsmöglichkeiten einzuräumen“. Dabei bleibt nicht nur im Dunkeln, wie diese - in der Praxis ohnehin eher häufiger vorkommenden - Ausnahmefälle sinnvoll von den Sachverhalten abgegrenzt werden sollen, in denen den Urteilsgründen zufolge allein die „unabhängige Stelle“ durchführungs- und kontrollbefugt sein soll, sondern auch, welche „notwendigen Regelungen“ für diese „Ausnahmekonstellationen“ tatsächlich beanstandungsfrei getroffen werden können. Im Übrigen steht dieses Zugeständnis an den Gesetzgeber, in Ausnahmefällen bei Gefahr im Verzug eine erste Sichtung ohne die „unabhängige Stelle“ vorzunehmen, in deutlichem Kontrast zu der Annahme des Urteils, die besondere Schutzbedürftigkeit der Daten gebiete für den Regelfall die nahezu vollständige Herausnahme des Bundeskriminalamts aus der Erstsichtungsverantwortung.

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5. Soweit der Senat auch fehlende flankierende verfahrensrechtliche Regelungen zu den Ermittlungs- und Überwachungsbefugnissen reklamiert, um Transparenz, Rechtsschutz und aufsichtliche Kontrolle in jeder Hinsicht zu gewährleisten, halte ich die auf Verhältnismäßigkeitserwägungen gestützten Anforderungen an die hier in Rede stehenden einzelfallbezogenen Maßnahmen zur Terrorismusabwehr teilweise für übermäßig. Neben Benachrichtigungspflichten und Auskunftsansprüchen auch noch Details einer turnusmäßigen datenschutzrechtlichen Pflichtkontrolle in bestimmten Mindestabständen vorzugeben, wirksame Sanktionsnormen bei Rechtsgutsverletzungen (durch solche Maßnahmen) - wohl über die bestehenden Haftungs- und Entschädigungsnormen hinausgehend - und gesetzlich ausgestaltete Berichtspflichten gegenüber Parlament und Öffentlichkeit einzufordern, erscheint mir in Ansehung der hier zu prüfenden Normen, die nicht die spezifischen Risiken vernetzter Datenverarbeitung oder von Datenerhebungen in großer Streubreite bergen, unangemessen und zum Schutz der Grundrechte derjenigen, die einzelfallbezogen in den Fokus der Verhinderung terroristischer Straftaten und der Gefahrenabwehr geraten, nicht geboten.

18

Diese in letzte Einzelheiten gehenden Anforderungen und Vorgaben halte ich auch im Blick auf das Verhältnis der Verfassungsgerichtsbarkeit zum Gesetzgeber hier für kaum vertretbar. Der Gesetzgeber selbst ist zunächst für die von ihm für zutreffend erachtete Kontroll- und Transparenzdichte politisch verantwortlich. Es ist - abgesehen von besonderen Fallgestaltungen - regelmäßig seine Sache, ob und wie er gegebenenfalls Kontroll- und Transparenzmechanismen in ein Gesetz aufnimmt. Das gilt gerade im Lichte der ohnehin gegebenen parlamentarischen Kontrollmechanismen, wie etwa des Frage- und Informationsrechts der Abgeordneten (vgl. dazu BVerfGE 130, 318 <342> m.w.N.) und des Zitierungsrechts des Bundestages sowie seiner Ausschüsse (Art. 43 Abs. 1 GG). Parlamentarische Anfragen vermögen regelmäßig umfangreiche Antworten der Exekutive auszulösen. Im besonderen Fall kommt die Möglichkeit der Einsetzung eines Untersuchungsausschusses in Betracht. Dabei ist die parlamentarische Verantwortlichkeit des zuständigen Ressortministers ebenso im Auge zu behalten wie die kritische Betrachtung und Bewertung durch die Medien. Den Gesetzgeber nun auch noch in dieser Weise mit zahlreichen Ausgestaltungsanforderungen zu Kontrolle, Transparenz und Rechtsschutz gleichsam „an die Hand nehmen“ zu wollen, ist auch durch die bisherigen, in der mündlichen Verhandlung zu Tage getretenen praktischen Erfahrungen nicht veranlasst und engt die originäre Gestaltungsbefugnis des Gesetzgebers in meines Erachtens verfassungsrechtlich nicht angezeigter Weise ein.
III.

19

Soweit der Senat die Befugnisse zur weiteren Nutzung der im Rahmen der Terrorismusabwehr erhobenen Daten und zu deren Übermittlung an inländische und ausländische Stellen in verschiedener Hinsicht als verfassungswidrig erachtet, vermag ich dem ebenfalls nicht uneingeschränkt zu folgen. Das gilt insbesondere, soweit der Senat die Verwendung der rechtmäßig erhobenen Daten in anderen Zusammenhängen allein zum Schutz derselben oder gleichgewichtiger Rechtsgüter zulassen will. Dies hat allenfalls seine Berechtigung hinsichtlich der Erkenntnisse aus hochinvasiven Eingriffen wie der Wohnraumüberwachung und der Online-Durchsuchung informationstechnischer Systeme, führt jedoch bei anderen Maßnahmen in bestimmten Fallgestaltungen beim Anfall sogenannter Zufallserkenntnisse zu meines Erachtens nicht verantwortbaren Ergebnissen und kann in dieser dogmatischen Rigorosität gewichtige Rechtsgüter Einzelner und der Allgemeinheit schutzlos stellen.

20

1. Das Urteil macht die Übermittlung und Verwendung von Daten zu anderen Zwecken unter anderem davon abhängig, dass diese auch nach der Zweckänderung dem Schutz von Rechtsgütern oder der Aufdeckung von Straftaten eines solchen Gewichts dienen, die verfassungsrechtlich ihre neue Erhebung mit vergleichbar schwerwiegenden Mitteln rechtfertigen könnten (Kriterium der hypothetischen Datenneuerhebung). Diese Sichtweise mag ihre Berechtigung bei Erkenntnissen haben, die mittels hochinvasiver, besonders schwerwiegender Eingriffe gewonnen worden sind, wie das etwa bei der Wohnraumüberwachung und der Online-Durchsuchung informationstechnischer Systeme der Fall ist. Bei anderen Eingriffen, bei denen sogenannte Zufallserkenntnisse anfallen, kann dies jedoch - konsequent in der vom Senat verlangten Weise umgesetzt - zu meines Erachtens kaum erträglichen Ergebnissen führen, weil dies von der rechtsstaatlichen Ordnung nicht mehr und nicht weniger verlangt, als vor drohenden Gefahren für ebenfalls wenigstens gewichtige Rechtsgüter die Augen zu verschließen und die Realisierung von Straftaten und die Beschädigung von Rechtsgütern hinzunehmen. Damit verfehlt der Rechtsstaat insoweit seine Schutzaufgabe.

21

Dies lässt sich an Beispielen verdeutlichen: Für die behördeninterne Zweckänderung lässt sich vorstellen, dass etwa bei einer Maßnahme der Telefonüberwachung eine Zufallserkenntnis anfällt, die für den Bereich der Aufgaben des Personenschutzes durch das Bundeskriminalamt (§ 5 BKAG) Relevanz hat. Geht es etwa um Hinweise auf einen geplanten „Farbbeutel-Anschlag“, so dürfte diese Zufallserkenntnis nicht an die innerhalb des Bundeskriminalamts zuständige Abteilung weitergegeben werden. Würde sie bei einer Leitungsbesprechung erwähnt, dürfte der zuständige Abteilungsleiter daraus nichts herleiten.

22

Für die behördenübergreifende Übermittlung und Verwendung solcher Zufallserkenntnisse lässt sich für den Bereich des Individualrechtsgüterschutzes das Beispiel bilden, dass es um beiläufige Erkenntnisse über eine Verabredung zur Behelligung von Passanten an einem bestimmten Ort geht, um diese unter der Ablenkung zu bestehlen (vgl. § 242 StGB). Weiter ist vorstellbar, dass konkrete Hinweise zur Einleitung von umweltschädlichen Stoffen in Gewässer oder den Boden anfallen (vgl. §§ 324, 325 StGB). Damit stünden jeweils Rechtsgüter in Rede, bei denen etwa eine Telekommunikationsüberwachung nicht statthaft wäre. Das Bundeskriminalamt dürfte in einem solchen Fall die Zufallserkenntnis nach der Dogmatik des Senats mangels Gleichwertigkeit der Rechtsgüter nicht an die örtlich zuständige Polizei weitergeben, um so gewichtige Rechtsgutsverletzungen zu verhindern. Den gefährdeten Rechtsgütern bliebe der gebotene Schutz versagt.

23

Unter der Voraussetzung, dass eine solche Zufallserkenntnis aufgrund eines recht- und damit auch verfassungsmäßigen Eingriffs angefallen ist, halte ich es für eine nicht hinnehmbare Konsequenz, dass der Rechtsstaat hier gezielt „wegsehen muss“ und damit den potentiell betroffenen Einzelnen oder Rechtsgütern der Allgemeinheit der gebotene Schutz vorenthalten wird, um auf der anderen Seite dem Schutz der Daten derjenigen, mit denen sich die Maßnahmen befassen, den Vorrang einzuräumen, zumal es hier eben nicht um die Fallgestaltung der Zweckänderung von anlasslos in großer Breite erhobenen Massendaten geht. Im Blick auf den wirksamen Schutz von Rechtsgütern, dem der Rechtsstaat verpflichtet ist, kann es nicht untersagt sein, einen entsprechenden Hinweis an die zuständige Stelle weiterzugeben, um gefährdete Rechtsgüter vor Schaden zu bewahren. Freilich ist stets Voraussetzung, dass die Erkenntnis bei einem rechtmäßigen Eingriff angefallen ist, dieser sich auch nicht als Umgehungstatbestand erweist und die Verwendung nicht unvereinbar mit der ursprünglichen Zwecksetzung ist (vgl. dazu die Erwähnung dieser Gesichtspunkte in dem Beschluss des Zweiten Senats vom 7. Dezember 2011, BVerfGE 130, 1 <33 f.>; vgl. zum Strafprozess und zur Verwertbarkeit von Zufallserkenntnissen aus einer Telefonüberwachung zwar nicht zu Beweiszwecken , wohl aber als Spurenansatz : BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 29. Juni 2005 - 2 BvR 866/05 -, NJW 2005, S. 2766 m. Anm. Allgayer, NStZ 2006, S. 603 ff.).

24

Die gegenteilige Auffassung des Senats ist zwar in seiner jüngeren Spruchpraxis angelegt, dort aber vornehmlich zu Sachverhalten entwickelt worden, die spezifische Grundrechtsgefährdungen zum Gegenstand hatten, welche sich bei der Vernetzung großer Dateien (Antiterrordatei als Verbunddatei) oder der Verwendung anlasslos in großer Breite von Netzbetreibern erhobener und vorzuhaltender Daten ergeben (vgl. BVerfGE 125, 260; 133, 277). Noch in seinem Urteil zur strafprozessualen Wohnraumüberwachung (vom 3. März 2004, BVerfGE 109, 279 <376>) hat es der Senat für die Zweckänderung ausreichen lassen, dass diese durch Allgemeinbelange gerechtfertigt ist, die die grundrechtlich geschützten Interessen überwiegen, und dass die Verwendungszwecke nicht miteinander unvereinbar sind. Diese Anforderungen sind sukzessive ausgebaut worden und haben jetzt einen Punkt erreicht, an dem die Ergebnisse mir für bestimmte Fallgruppen nicht mehr vertretbar erscheinen. Nach meiner Bewertung darf die Zufallserkenntnis in der beschriebenen Fallgestaltung als Gefahrenverhütungsansatz zur Verhinderung einer gewichtigen Straftat oder zur Abwehr von Gefahren für gewichtige Rechtsgüter sehr wohl weitergegeben werden, weil hier Allgemeinbelange (die Schutzverpflichtung des Rechtsstaats) und die gefährdeten Rechtsgüter Dritter oder der Allgemeinheit das grundrechtlich geschützte Interesse des vom Eingriff Betroffenen überwiegen, nachdem die staatliche Stelle die Zufallserkenntnis auf legale Weise bereits erlangt hat. Das gilt auch dann, wenn das gefährdete Rechtsgut nicht in jeder Hinsicht eine Rechtsgutsäquivalenz zu den Eingriffs- und Datenerhebungsvoraussetzungen aufweist.

25

2. Der Senat hält die Verwendung der nach den in Rede stehenden Regelungen erhobenen personenbezogenen Daten zur Wahrnehmung der Aufgaben des Bundeskriminalamts im Bereich des Zeugenschutzes und des Schutzes von Mitgliedern der Verfassungsorgane (Personenschutz, Innenschutz; §§ 5, 6 BKAG) für in verfassungswidriger Weise unbestimmt. Das vermag nicht zu überzeugen. Eine die hinreichende Bestimmtheit gewährleistende verfassungskonforme Auslegung drängt sich selbst auf der Grundlage der Anforderungen des Senats zur Gleichgewichtigkeit der zu schützenden Rechtsgüter auf. Der nach dem Wortlaut einschränkungslose allgemeine Verweis in § 20v Abs. 4 Satz 2 Nr. 2 BKAG auf die Aufgaben des Bundeskriminalamts nach § 5 und § 6 BKAG erhellt und konturiert sich ohne weiteres aus den Aufgabennormen, auf die verwiesen wird, und ist damit einer einschränkenden verfassungskonformen Auslegung zugänglich. Da die Aufgaben des Personenschutzes, des inneren Schutzes im Sinne des § 5 Abs. 1 Nr. 2 BKAG und des Zeugenschutzes ihrer Natur nach auf den Schutz von Leib, Leben und Freiheit der zu schützenden Personen angelegt sind, stehen hinreichend gewichtige Rechtsgüter in Rede. Werden die anderweit erhobenen personenbezogenen Daten in diesem Sinne verwendet, ist dagegen von Verfassungs wegen selbst auf der Grundlage der maßgeblichen Anforderungen des Senats nichts zu erinnern.

26

3. Ebenso wenig vermag ich der Würdigung des Senats zuzustimmen, wonach § 20v Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 BKAG, der die Übermittlung von Daten zur Verhütung der in § 129a Abs. 1 und 2 StGB genannten Straftaten erlaubt, mangels eingrenzender Konkretisierung des Übermittlungsanlasses unverhältnismäßig weit gefasst sei. Der Senat beanstandet, dass die Bestimmung es zulasse, schon mit Blick auf einen nur potentiellen Informationsgehalt als Spurenansatz die Information zu übermitteln. Er verlangt, dass sich aus der Information zumindest ein konkreter Ermittlungsansatz für die Aufdeckung entsprechender Straftaten ergeben müsse. Dies jedoch stelle die Vorschrift nicht sicher.

27

Damit geht der Senat daran vorbei, dass die Beurteilung der Relevanz der entsprechenden Information oft erst durch die Einfügung in weitere Erkenntnisse möglich ist, die der Zielbehörde vorliegen, und dass die verlangte Bewertung in tragfähiger Weise nur durch diese vorgenommen werden kann. Abgesehen davon wäre aber auch auf der Grundlage der Auffassung des Senats eine verfassungskonforme einengende Auslegung möglich gewesen.

28

4. Anders als der Senat meint, begegnet meines Erachtens auch die Vorschrift des § 14 BKAG, die die Übermittlung von Daten an öffentliche Stellen anderer Staaten regelt, in verfassungskonformer Auslegung keinen durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken. Die vom Senat formulierten Einschränkungen sind zwar unbezweifelbar zutreffend: Durch die Übermittlung darf Menschenrechtsverletzungen in anderen Staaten nicht im Mindesten Vorschub geleistet werden. Insofern ist auch die Anforderung einer Vergewisserung über einen rechtsstaatlichen Umgang mit etwa übermittelten Daten im Empfängerland eine Selbstverständlichkeit. Weitergehend als im Gesetz geschehen hierfür jedoch zusätzlich die Schaffung „normenklarer“ Rechtsgrundlagen und die Sicherstellung einer wirksamen Kontrolle zu fordern, ist angesichts der Vielfalt der in Betracht kommenden Konstellationen und der begrenzten Einwirkungsmöglichkeiten der deutschen Rechtsordnung auf die Standards in anderen Ländern nicht zielführend. Insoweit kommt gerade im Blick auf die mitunter schwierigen Abgrenzungen zwischen den Anforderungen einer effektiven Abwehr terroristischer Gewalttaten und des dafür grundsätzlich unverzichtbaren Austauschs von Informationen im internationalen Rahmen der Einzelfallabwägung sehr große Bedeutung zu. Die Entscheidungspraxis des Bundeskriminalamts ist an Recht und Gesetz, insbesondere an die Grundrechte und Menschenrechte gebunden und letztlich politisch zu kontrollieren und zu verantworten, gegebenenfalls auch fachgerichtlich zu überprüfen. Die Entscheidungen, die hier zu treffen sind, erscheinen auf der Grundlage des § 14 BKAG bei entsprechender Auslegung der Bestimmung als verfassungsrechtlich hinreichend abgesichert. Diese Vorschrift sieht ausdrücklich das Unterbleiben der Übermittlung personenbezogener Daten vor, soweit Grund zu der Annahme besteht, dass durch sie gegen den Zweck eines deutschen Gesetzes verstoßen würde oder im Einzelfall schutzwürdige Interessen der betroffenen Person überwiegen (§ 14 Abs. 7 Satz 4 und 5 BKAG). Zu diesen schutzwürdigen Interessen gehört auch das Vorhandensein eines angemessenen Datenschutzniveaus im Empfängerstaat (§ 14 Abs. 7 Satz 6 BKAG). Weitergehende Übermittlungsverbote und Verweigerungsgründe enthält die gemeinsame Vorschrift des § 27 BKAG (vgl. insbes. § 27 Abs. 1, Abs. 2 Nrn. 2 u. 4, Abs. 3 Nr. 2 Alt. 2 BKAG). § 27 Abs. 2 und 3 BKAG nehmen freilich nur auf die Vorschrift des § 14a BKAG Bezug, die die Übermittlung personenbezogener Daten an Mitgliedstaaten der Europäischen Union betrifft. Die dort aufgeführten detaillierteren Grundsätze sind bei einer systematischen Auslegung jedoch ohne weiteres auch auf die Auslegung der Regelung für die Übermittlung an Stellen von Nicht-EU-Staaten übertragbar, geben jedenfalls eine hinreichende Richtschnur für das Verständnis und die Auslegung des § 14 BKAG.

29

Die vom Senat eingeforderten ergänzenden gesetzlichen Regelungen werden das stets einzelfallbezogene Problem ohnehin nicht wirklich lösen können. Die vom Gesetzgeber nun zu schaffenden Konkretisierungen im Regelwerk werden auch in diesem Zusammenhang nur zu einer das Gegenteil von Normenklarheit bewirkenden textlichen Aufblähung des ohnehin schon überbordenden, nur schwer lesbaren und verständlichen Regelwerks führen. Dem dürfte überdies in der praktischen Anwendung kein nennenswertes Mehr an Schutznutzen für die betroffenen Personen gegenüberstehen.

Schluckebier
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